Diskursivität in Schule und Unterricht - Anstöße zur Weiterentwicklung einer bildungstheoretischen Didaktik - Ingenta Connect

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PR 2021, 75. Jahrgang, S. 275-292
             © 2021 Ludwig Duncker / Katja Siepmann - DOI https://doi.org/10.3726/PR032021.0026

                             Ludwig Duncker / Katja Siepmann

           Diskursivität in Schule und Unterricht
                      Anstöße zur Weiterentwicklung einer
                        bildungstheoretischen Didaktik

Um eine bildungstheoretische Begrün-                        Qualität von Lerninhalten und Lehrmateria-
dung und Weiterentwicklung didaktischen                     lien Maßstäbe setzen kann, sondern auch
Denkens und Handelns ist es in der er-                      die Formen der Aneignung und Auseinan-
ziehungswissenschaftlichen und fachdi-                      dersetzung des Lernens betrifft. Im Prinzip
daktischen Diskussion seit geraumer Zeit                    der Diskursivität erscheint es möglich, Bil-
sehr still geworden. Seit Wolfgang Klafkis                  dungsansprüche an Schule und Unterricht
Entwürfen, die zuletzt in die Formulierung                  didaktisch auszulegen. Folgendes Ver-
von Schlüsselproblemen als Frage der                        ständnis von Diskursivität wird den folgen-
Auswahl und Bestimmung von Lernin-                          den Überlegungen zugrunde gelegt:
halten einmündeten1, haben andere Auf-                           In formaler Hinsicht erschließt der Be-
merksamkeiten das Feld der didaktischen                     griff der Diskursivität ein komplexes Bündel
Diskussion besetzt. Dies betrifft weniger                   von Tätigkeiten des Denkens, die den Kern
die Fortschreibung des Bildungsbegriffs                     der Auseinandersetzung mit einem Thema
selbst, der in verschiedenen Kontexten                      betreffen. Es geht darum, Bedeutungszu-
immer wieder aufgegriffen wird und als                      sammenhänge zu erarbeiten, Widersprü-
Bezugspunkt für pädagogische Reflexio-                      che und Probleme zu entdecken, Aspekte
nen dient2, aber speziell für die Allgemeine                einer Sache aus verschiedenen Perspekti-
Didaktik scheint eine Theorie der Bildung                   ven zu betrachten und dabei Standpunkte
keine gesuchte Plattform mehr zu sein, um                   zu erproben und die dabei gewonnenen
Ansprüche an die Gestaltung von Lern-                       Sichtweisen argumentativ aufeinander zu
prozessen in Schule und Unterricht zu for-                  beziehen. Wer sich diskursiv mit einem
mulieren. Damit droht jedoch eine Qualität                  Thema befasst, erkundet vorläufige Wahr-
verloren zu gehen, die den Kern des Bil-                    heiten, bleibt offen für neue Einsichten und
dungsauftrags der Schule berührt.                           kann spielerisch mit möglichen Argumen-
    Ausgehend von einer Kritik aktueller                    ten umgehen. Diskursivität bezieht die Be-
Tendenzen in der Diskussion um didakti-                     reitschaft und Befähigung zu Dialog und
sche Orientierungen soll deshalb der An-                    Verständigung ein und beschreibt damit
spruch der Bildung hier neu in den Blick                    eine Disponibilität, die für eine Streitkultur
genommen werden. Dabei wird der As-                         wie für eine gemeinsame Suche nach Ge-
pekt der Diskursivität in besonderer Weise                  wissheiten und Wahrheiten gleichermaßen
hervorgehoben, weil er nicht nur für die                    bedeutsam ist. Es geht, um es mit Worten

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von Jörg Schlömerkemper zu formulieren,                     didaktische Prinzip der Diskursivität auch
um die Entfaltung einer „Diskurs-Kultur“,                   rückgebunden an die Praxis einer demo-
die auch eine „Antinomie-Sensibilität“                      kratischen Kultur von Schule und Unter-
einschließt3. Als „antinomie-sensibel“ be-                  richt und an ein dialogisch konzipiertes
zeichnet er eine Haltung, „die grundsätz-                   Verständnis des Zeigens.5
lich dafür offen und aufmerksam ist, dass
in scheinbar unlöslichen Gegensätzen,
aber auch in scheinbaren Eindeutigkeiten
                                                            Der Verlust des
‚Antinomien‘ wirksam sein können, die zu-
nächst verstanden sein sollten, um flexibel                 Bildungsanspruchs in
und wirksam(er) mit ihnen umgehen zu                        aktuellen Entwicklungen
können.“4                                                   von Schule und Unterricht
     In inhaltlicher Hinsicht sind solche
Texte, Bilder und andere Medien als dis-                    Aktuelle bildungspolitische und schulpä-
kursiv zu bewerten, die sich durch eine                     dagogische Entwicklungen bergen die
Vielschichtigkeit und Problemhaltigkeit                     Gefahr eines Verlusts der Bedeutung von
auszeichnen und damit erst einen An-                        Diskursivität für das Lernen in der Schu-
regungscharakter für eine intellektuel-                     le. Einerseits wird zwar vielfach die Aus-
le Auseinandersetzung enthalten. Sie                        bildung von Kompetenzen beschworen
erschließen Themen, die unterschiedliche                    und zum Programm der Neuausrichtung
Sichtweisen ermöglichen, herausfordern                      eines sogenannten „kompetenzorientier-
oder gar provozieren und nicht allein eine                  ten Unterrichts“6 erklärt. In diesem Zu-
Feststellung von Tatsachen erlauben. Dis-                   sammenhang wird oft von eigenständigem
kursive Inhalte überschreiten die Welt                      und selbsttätigem Lernen gesprochen.
eines naiven didaktischen Positivismus,                     Aber andererseits stehen diese Zielvor-
indem sie die Fragwürdigkeit eindeutiger                    stellungen im Kontext bildungspolitisch
Urteile aufzeigen und zur Einnahme distan-                  gesteuerter Entwicklungen, die derzeit
zierender und divergierender Perspektiven                   geradezu einen Paradigmenwechsel in
auffordern.                                                 der Gestaltung von Schule bewirken. Die
     Gewiss, auch das Prinzip der Diskur-                   Maßnahmen einer ökonomisch motivierten
sivität kennt Grenzen. Sie liegen dort, wo                  Schulsteuerung, die Lernprozesse unter
Lernen nicht nur als Qualität eines Pro-                    das Diktat der Messbarkeit stellen und
zesses der argumentativen Auseinander-                      die auch vorsehen, die Effizienz von Lern-
setzung und des Suchens nach Wahrheit                       prozessen mit den Ansprüchen der Ob-
begründet liegt. Grenzen liegen dort, wo                    jektivierung von Lernleistungen und ihrer
die Fragen nach der Gültigkeit von Er-                      vergleichenden Bewertung in Rankings
kenntnis, nach tragfähigen Orientierun-                     zu verknüpfen, verkehren das Konzept
gen, nach der Beständigkeit gewonnener                      der Kompetenzorientierung oft ins Gegen-
Einsichten, nach der Stabilität erworbener                  teil dessen, was mit ihm beabsichtigt war.
Erkenntnisse und Überzeugungen zu be-                       Es ist ein unübersehbares Paradox, das
antworten sind. Aber ohne die Mühen einer                   hier die Lehrerschaft in nahezu unlösbare
diskursiven Erarbeitung und Auseinander-                    Widersprüche bringt. Denn die Formulie-
setzung und ohne die Beanspruchung der                      rung von Kompetenzen war ursprünglich
damit verbundenen Denkleistungen droht                      gedacht als Versuch, den weiten Begriff
eine bloße Vermittlung von Wissen und                       der Bildung zu konkretisieren, kleinzu-
Wahrheit zur Instruktion oder gar Indokt-                   arbeiten und damit auch didaktisch hand-
rination zu verkommen. Insofern bleibt das                  habbar zu machen.7 Dies allein ist schon

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ein anspruchsvolles Anliegen, das wegen                           gegen den Versuch, pädagogische
der darin eingeschlossenen Deduktions-                            Prozesse in der Schule insgesamt
problematik kaum überzeugend gelingen                             einer ökonomischen Rationalität zu
konnte. Durch die in Messverfahren und                            unterwerfen. „In zum Teil endlos
Evaluationsprozessen angelegte Tendenz                            erscheinenden Debatten ist man
zur Vereindeutigung von Lerninhalten und                          darum bemüht, Bildungs- und Quali-
Lernoperationen entstand jedoch am Ende                           fikationsziele in betriebswirtschaftlich
ein Verständnis von Unterricht, in dem die                        operationalisierbare Sequenzen zu
Konstruktion von Themen wieder Gefahr                             zerlegen und somit der ökonomischen
lief, in eine Reproduktion von Wissen und                         Steuerungslogik gerecht zu werden
die Formulierung von Merksätzen einzu-                            und einer externen Evaluation zuzu-
münden.                                                           arbeiten“.8 Gegen diese Debatten
     Die Folgen sind enorm und höhlen das                         formuliert er einen pädagogischen
Bildungsverständnis des Lernens aus:                              Einspruch. Er verweist darauf, dass
Offene Fragen und Probleme werden zu-                             die „Outcomesteuerung“9 gegenwär-
nehmend ausgeklammert, Schwierigkei-                              tiger Schulentwicklung Lernen als
ten, die in der Sache begründet liegen,                           einen Produktionsprozess begreife.
eingeebnet, Zweideutigkeiten ignoriert,                           Dieser unterstelle ein Verständnis von
Spannungsfelder und Widersprüche aus-                             Lernen, als sei es vollständig plan-
geblendet. Am Ende werden dadurch                                 bar und beherrschbar. Lernen habe
Urteilskraft und Kritikfähigkeit, eigentlich                      jedoch einen „responsiven Charak-
hoch erwünschte Kompetenzen, im An-                               ter“10, der „als Antwort auf einen frem-
satz verfehlt. Selbstständigkeit im Denken,                       den Anspruch“11 begriffen werden
die Einnahme distanzierender Perspekti-                           müsse. Schule kann – und damit stellt
ven und spielerische, aber doch ernsthaft                         sich Dreßler in eine lange Tradition,
betriebene Überlegungen, wie alles auch                           die – ausgehend von Platon über Otto
anders sein oder man alles auch anders                            Friedrich Bollnow, Martin Wagen-
sehen könnte, werden allzu leicht über-                           schein, Bernhard Waldenfels, Käte
gangen. Mit anderen Worten: Das, was                              Meyer-Drawe bis hin zu Klaus Prange
Lernen spannend, anregend und bildend                             reicht – „das Lernen demnach ab-
machen könnte, kommt unter die Räder.                             sichtsvoll anstoßen und wahrschein-
Schüler werden dann bevorzugt bean-                               licher machen, sie kann es aber nicht
sprucht als Objekte von Instruktion und                           erzwingen“.12
Belehrung, die Schule verliert ihren Sinn                   •     Walter Herzog analysiert die leitenden
als Ort der Auseinandersetzung und des                            Konzepte gegenwärtiger Bildungs-
Gesprächs.                                                        reform und geht dabei vor allem den
     Was hier gewiss in einer etwas zuge-                         theoretischen Grundlagen einer For-
spitzten Weise angesprochen wird, füllt                           mulierung von Bildungsstandards
inzwischen eine ganze Reihe kritischer                            und Kompetenzen auf den Grund. Er
Stellungnahmen zum aktuellen Bildungs-                            sieht in den Bildungsstandards „Inst-
geschehen. Aus dem Chor der Kritiker                              rumente der Normierung“13, die einer
seien hier exemplarisch drei Stimmen                              Vergleichbarkeit von Bildungseinrich-
herausgegriffen:                                                  tungen und den in ihnen erbrachten
                                                                  Schülerleistungen dienen. Es geht
•    Jens Dreßler stellt die Logik des Öko-                       dabei um eine Vereinheitlichung von
     nomischen kontrastiv der des Päda-                           Maßstäben, die jedoch eine Mess-
     gogischen gegenüber und stellt sich                          barkeit von Leistungen voraussetzen.

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Die Kritik an einem zweckrationa-                          ist“.17 Sogar ein Rückfall hinter das,
      len Denken, das hier Einzug erhält,                        was Adorno schon 1959 als Halb-
      schließt auch eine Kritik der Kompe-                       bildung bezeichnet habe, sei beob-
      tenzorientierung des Unterrichts ein:                      achtbar. Denn die „Partikularisierung,
      „Da Kompetenzen ein funktionales                           Fragmentierung und gleichzeitig uni-
      Verständnis von Bildung zugrunde                           verselle Verfügbarkeit des Wissens
      liegt, scheint ein kompetenzorien-                         lässt sich auf keine verbindliche Bil-
      tierter Unterricht Garantie zu bieten,                     dungsidee mehr beziehen, auch nicht
      dass die Schülerinnen und Schüler                          in einem kritischen Sinn“.18 Die Idee
      aufs Leben vorbereitet werden“.14 Um                       der Bildung habe aufgehört, „Ziel und
      das Versprechen an Klarheit und Ein-                       Maßstab für die zentralen Momente
      deutigkeit einlösen zu können, erfolge                     der Wissensproduktion, der Wissens-
      eine Reduktion der Feststellung von                        vermittlung und der Wissensaneig-
      Schulleistungen auf der Verhaltens-                        nung zu sein“.19 Effizienzsteigerung,
      ebene, die unterschwellig ein beha-                        ein anderes Stichwort moderner Bil-
      vioristisches Verständnis von Lernen                       dungsreform, gehorche schlicht dem
      wiederbelebe. Im Zusammenhang                              „Prinzip der Industrialisierung“.20 Die
      kybernetisch orientierter Maßnahmen                        Kritik Liessmanns ist vernichtend. Er
      einer Outcomesteuerung, die bislang                        spricht von einem „Geist der Unbil-
      bevorzugte Prinzipien einer Input­                         dung“21, der sich in den Maßnahmen
      steuerung ablösen, entstehe so das                         einer Bildungsreform ausgebreitet
      Bild einer „Schule als Fabrik“.15 Damit                    habe und fasst seine Position wie folgt
      hält ein Taylorisimus, der bereits An-                     zusammen:
      fang der 1970er Jahre kritisiert und
                                                                
                                                                Bildung hatte einst mit dem An-
      als untauglich für ein tragfähiges Bil-
                                                                spruch zu tun, die vermeintlichen
      dungsverständnis von Schule verwor-
                                                                Gewissheiten einer Zeit ihres illu-
      fen wurde16, erneut eine Renaissance.
                                                                sionären Charakters zu überführen.
      Walter Herzog ist es zu verdanken,
                                                                Eine Gesellschaft, die im Namen
      dass er die problematischen wissen-
                                                                vermeintlicher Effizienz und geblen-
      schaftstheoretischen Prämissen aktu-
                                                                det von der Vorstellung, alles unter
      eller Maßnahmen der Bildungsreform
                                                                Kontrolle des ökonomischen Blicks
      offenlegt.
                                                                unterwerfen zu können, die Freiheit
•     Schließlich sei drittens noch auf
                                                                des Denkens beschneidet und sich
      Konrad Paul Liessmann und seine
                                                                damit die Möglichkeit nimmt, Illusio-
      „Theorie der Unbildung“ (2006) hin-
                                                                nen als solche zu erkennen, hat sich
      gewiesen. Liessmann bindet die Maß-
                                                                der Unbildung verschrieben, wieviel
      nahmen um eine Ökonomisierung
                                                                an Wissen sich in ihren Speichern
      des Bildungswesens ein in eine Kritik
                                                                auch angesammelt haben mag.22
      der Wissensgesellschaft. „Vieles von
      dem, was unter dem Titel Wissensge-                  Es gibt also allen Anlass, auch das di-
      sellschaft propagiert und proklamiert                daktische Denken und Handeln wieder
      wird, erweist sich bei genauerem                     verstärkt in einen bildungstheoretischen
      Hinsehen als eine rhetorische Geste,                 Horizont einzubinden und der Freiheit des
      die weniger einer Idee von Bildung                   Denkens und der kritischen Auseinander-
      als handfesten politischen und öko-                  setzung mit der Wirklichkeit mehr Raum zu
      nomischen Interessen geschuldet                      geben.

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Die Überwindung der                                         Verstehens. Bildung ereignet sich auf dem
Affirmativität – Qualitäten                                 Weg der Aneignung, des Wechsels sowie
                                                            der Bewertung neuer Perspektiven. Dass
einer vielperspektivischen
                                                            Ergebnisse dabei auch offen und streitbar
Auseinandersetzung mit                                      sein können, stellt eine bedeutsame Er-
der Wirklichkeit                                            kenntnis dar. In einem bildenden Unterricht
                                                            ist die Welt nicht einfach zu zeigen, wie sie
Bislang wurde in der didaktischen Dis-                      angeblich ist, sondern – ganz im Sinne
kussion, wenn es darum ging ein rein                        eines moderaten Konstruktivismus – wie
bestätigendes Denken und die Repro-                         sie wahrgenommen wird, je nach Betrach-
duktion scheinbar sicherer Wahrheiten                       ter und dessen von ihm eingenommener
und vermeintlich klarer Eindeutigkeiten im                  Perspektive.27
Unterricht zu vermeiden, das didaktische                         In diesen Aussagen sind nun einige
Prinzip der Perspektivenvielfalt herange-                   Differenzierungen vorzunehmen, die als
zogen.23 Relevant sind das Befragen und                     Merkmale von Qualitäten der Perspekti-
Hinterfragen von Aussagen als Befreiung                     venvielfalt unterscheidbar sind:
aus Scheinklarheiten, das Überprüfen von                         Die Abgrenzung von Perspektivenviel-
Wahrheiten und das Aushalten offener                        falt erfolgt, wie oben angedeutet, in einer
Fragen. Auch der Umgang mit Pluralität,                     Überwindung von Affirmativität. Diese
mit Konsens und Dissens, die Auseinan-                      meint einen bejahenden, bestätigenden
dersetzung mit dem Konträren und Frem-                      Zugriff auf die Wirklichkeit. Hier zählt die
den24 wird dabei beachtet. Subjektive                       Eindeutigkeit, d.h. die Erarbeitung oder
Sichtweisen sind dabei genauso zu klären,                   Einübung eindeutigen Wissens und Kön-
wobei es erforderlich wird, von sich selbst                 nens. Schritte und Ergebnisse sind un-
abzusehen25 sowie zu versuchen, objekti-                    strittig. Der Inhalt erzeugt weder offene
ve, kulturelle und wissenschaftliche Stand-                 Fragen noch Probleme. Aufgaben werden
punkte einzunehmen. Es geht im Grunde                       in einem affirmativen Unterricht formuliert,
darum, die Welt mit anderen Augen be-                       um eindeutige Sachverhalte festzustellen
trachten zu lernen26 und neue Standpunk-                    wie zum Beispiel das Zusammentragen
te spielerisch einzunehmen. Sich aufgrund                   und Sicherstellen von Fakten, Informatio-
divergierender Ansichten mit den Aspek-                     nen und unproblematischem Wissen.
ten eines Gegenstands zu befassen, ist
für Bildungsprozesse elementar. Diese                       •     In der Kategorie der Pluralität erfolgt
Perspektiven gilt es zu artikulieren, zu pro-                     nun eine erste Überschreitung von
filieren und argumentativ zu begründen.                           Affirmativität, indem Aspekte eines
Unterricht wird dadurch zu einem Ort der                          Themas gesammelt und aufgelistet
Horizonterweiterung, der kommunikativen                           werden. Der Qualitätssprung liegt
Verständigung und der Interpretation der                          darin, dass durch Pluralität die Ein-
Welt im Spiegel von Texten und Bildern.                           sicht entsteht, dass Themen und In-
Gewohnte, vertraute Sichtweisen gilt es                           halte sich aspektreich erschließen
mittels eines Perspektivenwechsels zu                             lassen. Der Begriff der Perspektive
überschreiten. Im Unterricht sollte deshalb                       verbietet sich hier noch, da noch nicht
nicht die Vermittlung eines überprüfbaren,                        deutlich wird, dass die Aspekte auch
eindeutigen und messbaren Wissens im                              rückgebunden sind an Standpunk-
Vordergrund stehen. Vielmehr geht es in                           te, die ausgewählt werden, um einen
einem Unterricht mit Bildungsanspruch                             Lerngegenstand zu betrachten. Es
um das Erschließen neuer Horizonte des                            entstehen vielmehr Sammlungen von

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Merkmalsbeschreibungen wie auch                            Standpunkte wählbar sind, entsteht
      von Ideen, Meinungen, Vorurteilen.                         ein Bewusstsein von Perspektivität
      Eine solchermaßen gewonnene Viel-                          der Erkenntnis. Auch wird deutlich,
      falt erhält einen noch unsortierten und                    dass sich Perspektiven wechselsei-
      rein additiven Charakter. Es gibt eben                     tig ergänzen oder ausschließen kön-
      das und jenes und man kann die ge-                         nen. Ein vergleichender Blick lässt
      sammelten Aspekte in fast beliebiger                       erkennen, dass sich Perspektiven
      Anzahl aufreihen und nebeneinander-                        in ihrer Gültigkeit einschränken und
      stellen. Pluralität ist Ausdruck einer                     eingrenzen können. Die neue Quali-
      prinzipiell unendlichen Vielfalt. Kritisch                 tät der Relativität bezieht sich darauf,
      anzumerken ist hier, dass diese Viel-                      dass aussagekräftige Perspektiven
      falt auch verwirren und im postmoder-                      bevorzugt und andere dagegen aus-
      nen Credo des ‚Anything goes‘ enden                        geklammert und nicht weiterverfolgt
      kann. Das Aufzählen verschiedener                          werden. Erkannt wird dabei, dass
      Möglichkeiten der Betrachtung und                          eine Perspektive nur relativ gültig ist
      ihrer prinzipiellen Ergänzungs- und                        und nicht den Gesamtzusammenhang
      Erweiterungsfähigkeit ist gegenüber                        eines Themas erfassen kann. Eine Be-
      der Einengung auf Eindeutigkeit ge-                        liebigkeit der Vielfalt wird vermieden,
      wiss ein Fortschritt, weil sie immerhin                    weil nicht alle gefundenen Aspekte im
      ein buntes Bild einer Sache aufzeigen                      selben Maße zur Klärung eines Sach-
      kann. Man könnte auch sagen, Plura-                        verhalts oder zur Verständigung etwas
      lität schafft auf diese Weise ein Mo-                      Sinnvolles beitragen. Die Existenz
      saik heterogener Bausteine, die die                        oder auch nur die denkbare Möglich-
      Phantasie anregen und eine Sache                           keit mehrerer Perspektiven relativie-
      interessant und abwechslungsreich                          ren die Berechtigung jeder einzelnen
      erscheinen lassen. Empirische Unter-                       Sicht auf die Welt.
      suchungen zeigen, dass vor allem im                  •     Der Horizont der Diskursivität und
      Grundschulunterricht solche Formen                         Kontroversität erfordert nun ein
      des Sammelns von Facetten einer                            schlussfolgerndes,        begründendes
      Sache verbreitet sind.28 Aber auch im                      und methodisches Vorgehen und zielt
      gymnasialen Unterricht sind solche                         auf die Sichtbarmachung unterschied-
      Verengungen auffindbar.29                                  licher Perspektiven auf die Sache,
•     Eine andere Qualität besteht in der                        den damit verbundenen Perspektiven-
      Kategorie der Relativität. Hier wird in-                   wechsel in der Auseinandersetzung
      sofern eine bloß additive Aufzählung                       und im Gespräch. Das Nachdenken
      überschritten, als die gewonnenen As-                      über die Standortgebundenheit und
      pekte als Resultate unterschiedlicher                      die Grenzen von Perspektiven sind
      Perspektiven thematisierbar werden.                        hier wichtig. Impulse, Aufgaben und
      Es entstehen Einsichten, die nun rück-                     Lehrmaterialien sollen eine spielerische
      gebunden sind an die bewusste Ein-                         Erprobung von Standpunkten und
      nahme von Standpunkten, von denen                          Perspektiven anregen. Die Qualität
      aus ein je anderer Blick auf die Sache                     der Diskursivität und Kontroversität ist
      genommen wird. Solche Standpunkte                          erreicht, wenn Anregungen erfolgen,
      sind wählbar, seien sie fachlich, kul-                     die auf die Thematisierung von Wider-
      turell, politisch, historisch oder durch                   sprüchen, Gegensätzen und Grenzen
      subjektive Erfahrung begründet. Weil                       von Perspektiven zielen und dadurch

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die Kontroversität und Problemhaltig-                        Bedingungen, die für eine Begrün-
     keit einer Sache sichtbar machen.                            dung herangezogen werden. Nicht
     Naive Annahmen über die Wirklich-                            immer entstehen dabei eindeutige
     keit werden hier irritiert und hinterfragt.                  Entscheidungen. Auch das Festhal-
     Didaktische Impulse dienen dazu die                          ten offener Fragen, vorläufiger und
     subjektive Weltsicht zu überschreiten,                       mit Bedacht geäußerter Vermutungen
     Scheinklarheiten zu entlarven und ein                        bis hin zum Eingeständnis des Nicht-
     kommunikatives Aushandeln subjek-                            Wissens können Ergebnisse einer
     tiver Weltdeutungen anzuregen. Zur                           diskursiven Auseinandersetzung sein.
     Klärung von Kontroversen werden                              Kultiviert wird dabei die Einstellung,
     fachliche Kenntnisse genutzt. Auch                           dass man sich auch irren kann und die
     werden Gegensätze und Widersprü-                             Gültigkeit einer Position immer wieder
     che zwischen fachlichen Aussagen                             neu zu überprüfen ist. Ein Risiko bleibt
     entdeckt. Didaktische Anregungen                             jedoch bestehen: Wenn Positionalität
     haben dabei das Ziel die Absolutheit                         nicht im Durchgang durch Diskursivi-
     von Erkenntnissen aufzubrechen und                           tät gesichert wird, droht der Absturz in
     das Wissen an die Formulierung hypo-                         Affirmativität und blinde Normativität.
     thetischer Wahrheiten zurückzubinden.
•    Einmünden kann – muss aber nicht –                     Die genannten Differenzierungen wollen
     eine diskursive Bearbeitung von The-                   zeigen, dass Diskursivität auf dem didak-
     men in das Prinzip der Positionalität.                 tischen Prinzip der Perspektivenvielfalt
     Die Qualität der Positionalität wird er-               beruht und eine didaktische Trivialisierung
     reicht, wenn aus der Auseinanderset-                   dieses Prinzips unterbinden möchte. Dies
     zung und Erörterung Entscheidungen                     bedeutet aber nicht, dass nicht auch in
     erwachsen, die nun argumentativ ver-                   den Aspekten der Pluralität und Relativität
     treten werden können. Hier wird eine                   gewinnbringende Momente enthalten sind.
     begründete Auswahl von Perspek-                        Aber ein Unterricht, der einen bildenden
     tiven getroffen, die als neue Einsicht                 Anspruch anmelden möchte, ist ohne Dis-
     und Erkenntnis hervorgehen und zu                      kursivität kaum denkbar.
     eigenen Bewertungen und Stellung-
     nahmen führen. Im Mittelpunkt steht
     die Kompetenz der Urteilskraft im dis-                 Diskursivität in ausgewählten
     kursiven Durchgang durch die Sache.                    didaktischen Konzepten
     Anschlussfähig sind diese Ausführun-
     gen an den Begriff des „argumenta-                     Diskursivität im Unterricht ist in der didak-
     tiven Handelns“30, den Vielhaber im                    tischen Diskussion nicht grundsätzlich
     Kontext eines Verständnisses von dis-                  neu. Es gibt in einigen didaktischen Kon-
     kursivem Unterricht prägt, und der die                 zepten wertvolle Ansatzpunkte, die hier
     rationale Auseinandersetzung mit und                   aufgegriffen werden und als Bausteine
     die Überprüfung von Meinungen und                      einer diskursiven Didaktik herangezogen
     Normen hervorhebt. Die Qualität der                    werden können. Exemplarisch seien hier
     Positionalität bezieht sich zum einen                  vier solcher Konzepte angesprochen. Für
     auf persönliche Urteile; zum anderen                   den Entwurf einer Theorie Allgemeiner Di-
     entstehen sachlich begründete Stel-                    daktik, die das Prinzip der Diskursivität in
     lungnahmen im Rückgriff auf wissen-                    bildungstheoretischer Sicht neu formuliert,
     schaftliche Argumente und kulturelle                   bieten sie geeignete Bezugspunkte.

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Philosophieren im Unterricht als                            Kants – „Was kann ich wissen?“, „Was
dialogische Form von Diskursivität                          soll ich tun?“, „Was darf ich hoffen?“,
                                                            „Was ist der Mensch?“ – kleingearbeitet
Seit über 30 Jahren erfreut sich das Kon-                   und exemplarisch ausgelegt werden kön-
zept des Philosophierens mit Kindern                        nen.32 Wenn Kinder sich damit befassen,
wachsender Beliebtheit.31 Auch wenn                         wie Fragen eigentlich in ihren Kopf kom-
es, von wenigen Ausnahmen abgesehen,                        men, überlegen sie immer auch, was der
noch kaum eine institutionelle Verankerung                  Mensch wissen kann. Die Frage nach den
in der Schule gefunden hat, entdecken zu-                   Notwendigkeiten und Grenzen mensch-
nehmend mehr Lehrkräfte die Potenziale                      lichen Helfens berührt das ethische
des Philosophierens für die Etablierung                     Problem, was der Mensch tun soll. Die
einer Gesprächskultur, die in Zeiten einer                  Beschäftigung mit dem Unterschied von
Einengung des Lernens auf überprüfbare                      Tag- und Nachtträumen konkretisiert die
und messbare Bildungsleistungen einen                       Perspektive der Hoffnung. Und die Frage,
wohltuenden Kontrast zum Lernen im                          ob die Katze weiß, dass sie eine Katze
Schulalltag bedeutet. Dies heißt aber nicht,                ist, kann dem anthropologisch bedeutsa-
dass in philosophischen Gesprächen mit                      men Thema zugeordnet werden, was der
Kindern keine Leistungen sichtbar wür-                      Mensch im Unterschied zu einem Tier sei.
den. Nur folgen sie keinen im Vorhinein                          „Kinder haben bisweilen überraschen-
festgelegten Anforderungen und entfalten                    de philosophische Einsichten, in denen
sich bevorzugt dann, wenn in einer offe-                    man im Kern die Gedanken der großen
nen Atmosphäre des Dialogs eine Nach-                       Philosophen wiederfindet“.33 Dies ist für
denklichkeit entsteht und sich Räume für                    viele Autoren Anlass, philosophische Ge-
spontane Ideen, mutige Behauptungen,                        spräche thematisch zu ordnen und in den
für Einsprüche und Widersprüche und                         Kontext der Philosophie zu stellen, so
die manchmal auch mühsame Suche                             zum Beispiel bei Freese34, Nida-Rümelin/
nach Argumenten öffnen. Kinder fühlen                       Weidenfeld35 und Tetens36. Fragen und
sich ernst genommen, wenn sie nicht nur                     Äußerungen von Kindern aufzugreifen,
vorgegebene Lernpensen zu bewältigen                        anzuregen und weiterzuführen geschieht
haben, sondern auch eigene Fragen ein-                      jedoch dabei nur sekundär in der Absicht,
bringen können, die sich auf Grundfragen                    ein philosophisches Wissen zu vermitteln
der menschlichen Existenz beziehen und                      und einen festgelegten Kanon von Lern-
deren Reichweite sich auch in die Kindheit                  inhalten abzuarbeiten. Bedeutsamer ist
erstrecken. Solche Fragen in gemeinsa-                      vielmehr der Prozess des Denkens und
mem Austausch zu erörtern und sich dabei                    die Durchführung von Gedankenexperi-
auf die Suche nach Wahrheit zu begeben,                     menten, die Raum lassen für die Entfal-
macht den Kern philosophischer Gesprä-                      tung einer Phantasie und Vorstellungskraft
che aus.                                                    sowie für das Abwägen eines Für und
    In inhaltlicher Hinsicht lassen sich viele              Wider bei der Erprobung von Positionen
Themen des Philosophierens mit Kindern                      und Einsichten.
den vier Grundfragen Immanuel Kants zu-                          Für die Qualität philosophischer Ge-
ordnen, auch wenn selbstverständlich mit                    spräche entscheidend ist nun der Aspekt,
Kindern im Grundschulalter keine Lektüre                    wie Fragen aufgegriffen und angeregt
Kants philosophischer Schriften erfolgen                    werden und wie sie einer diskursiven Aus-
kann. Barbara Brüning hat im Anschluss                      einandersetzung zugänglich gemacht wer-
an Ekkehard Martens mit vielen Beispie-                     den. Das „Selber denken“37 entfaltet sich
len aufgezeigt, wie die vier großen Fragen                  leichter, wenn die Themen und Inhalte ein

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Interesse auslösen und mit Vorerfahrungen                   sind allerdings einige Regeln zu beach-
verknüpft werden können. Es ist die Auf-                    ten, die eingehalten werden müssen. Phi-
gabe einer sensiblen Gesprächsleitung,                      losophische Gespräche erfordern eine
einerseits spontane Ideen und assoziative                   Gesprächsdisziplin, die zunächst darin
Äußerungen zuzulassen, dann aber doch                       besteht, dass die Kinder einander zuhören
über eine Phase des Brainstormings hin-                     und auf die Äußerungen der Mitschüler
aus in eine Formulierung von Annahmen                       eingehen, sei es zustimmend oder abwei-
und Hypothesen zu gelangen, für deren                       chend, erweiternd oder präzisierend. Und
Gültigkeit oder Widerlegung Gründe ge-                      umgekehrt muss auch jedes Kind von den
nannt werden müssen. In philosophischen                     anderen erwarten dürfen, dass diese ihm
Gesprächen mit Annahmen zu arbeiten                         zuhören, wenn es selbst einen Beitrag
und sie in ihrer hypothetischen Vorläufig-                  zur Diskussion leistet. Diese Grundregel
keit sichtbar zu machen, kann deshalb                       mag trivial klingen, ist aber gerade in einer
auch eine wirksame Prophylaxe gegen                         Schule, die oft nur auf eine Vermittlung
vorschnelle Urteile gelten. Wo schon Kin-                   fertigen Wissens abzielt, eine nicht selbst-
dern bewusst wird, dass etwas nicht so                      verständliche Praxis. Den Gedanken eines
sein muss, wie es auf den ersten Blick                      Vorredners aufzugreifen und weiterzuent-
aussieht und dass möglicherweise sogar                      wickeln, ist eine Kunst, die geübt sein will.
das Gegenteil einer Annahme richtig sein
könnte, werden sie aufmerksam für einen                     Diskursivität, Perspektivenvielfalt und
vorsichtigen Umgang mit Aussagen, die                       Fremdverstehen im fremdsprachlichen
schon in der Art ihrer Formulierung einen                   Unterricht
zunächst unumstößlichen Wahrheitsan-
spruch behaupten.                                           Auch im fremdsprachlichen Unterricht
     Ein Vorteil der Formulierung von An-                   nimmt das Prinzip der Diskursivität eine
nahmen besteht darin, dass sie dabei                        wichtige Rolle ein und wird mit dem di-
helfen, philosophische Gespräche zu                         daktischen Konzept des Fremdverstehens
strukturieren. Sie bündeln eine themati-                    in Verbindung gebracht, welches als ein
sche Aufmerksamkeit, indem es im weite-                     wichtiges Ziel des Fremdsprachenunter-
ren Verlauf der Gespräche darum gehen                       richts gilt.38 Das Fremde, das Andere ist ein
muss, sich mit dem Wahrheitsgehalt einer                    relationaler Begriff und ist stets mit Bezug
These auseinanderzusetzen und Argumen-                      auf etwas, was nicht als fremd wahrgenom-
te zu finden, die für oder gegen sie spre-                  men wird, zu bestimmen.39 So entscheidet
chen. Sie helfen dabei, einen roten Faden                   die Perspektive auf etwas die eigene Be-
im Blick zu behalten und zu vermeiden,                      wertung einer Sache. Daher muss es in
dass Gespräche sich im assoziativen Vie-                    einem fremdsprachlichen Unterricht, der
lerlei verlieren. Annahmen fokussieren das                  Bildungsprozesse fördert, um mehr als ein
Gespräch darauf, ihre Akzeptanz oder Ab-                    reines Vokabeltraining gehen. Das Niveau
lehnung zu erarbeiten und dafür geeignete                   der Affirmativität, die beispielsweise im blo-
Gründe zu nennen.                                           ßen Auswendiglernen von Alltagsfloskeln
     Die wechselseitige Anregung und                        für Urlaube liegt, ist zu überwinden, damit
Kritik im Gespräch gehören zu den dialogi-                  neue kulturelle Perspektiven und kontrover-
schen Formen von Diskursivität, die auch                    se Standpunkte, zum Beispiel dargestellt in
in der Schule kultiviert werden können.                     fremdsprachlichen literarischen Texten, er-
Damit solche Gespräche fruchtbar wer-                       schlossen werden können.
den und zu einem produktiven Austausch                          Zu unterscheiden ist der Phonetik-,
von Gedanken und Argumenten führen,                         Wortschatz- und Grammatikunterricht

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sowie der fremdsprachliche Literatur-                       Erstsprache oder zu weiteren Fremdspra-
unterricht, der auch historische und kul-                   chen gebildet werden, wenn untersucht
turelle Zusammenhänge behandelt. Denn                       wird, wie der fremdsprachliche Begriff
literarische Texte sind immer Produkte und                  entstanden ist und wenn keine reine Eins-
Bestandteil kultureller Praxis, die es zu ver-              zu-Eins-Übersetzung stattfindet, sondern
stehen gilt. Das mündliche und schriftliche                 nach sinnhaften Gebrauchskontexten
Kommunizieren in der fremden Sprache im                     gesucht wird und ein reines Auswendig-
Sinne des Prinzips der Diskursivität geht                   lernen von Vokabeln überschritten wird.
über eine rein bestätigende Verwendung                      Aussprache, Wortschatz und Grammatik
von Sprache hinaus. Es kann nicht das                       sowie die kulturellen Kontexte der Sprach-
ausschließliche Ziel sein einen Fremd-                      praxis werden in einem diskursiven Ver-
sprachenerwerb zu fokussieren, welcher                      ständnis nicht nur als System von Sprache
die rein funktional verstandene kommuni-                    betrachtet, sondern auch als „Sprache in
kative Handlungsfähigkeit zum Beispiel für                  Aktion“.42 Sprachliche Grundlagen wer-
die Urlaubsreise oder das Bewerbungs-                       den erst bedeutungsvoll in ihrem kultu-
gespräch in den Fokus nimmt. Vielmehr                       rellen Kontext und in ihrem praktischen
muss er darüber hinaus einen Perspekti-                     Gebrauch, daher sind Wörter und gram-
venwechsel fördern, das Nachdenken und                      matische Strukturen stets zusammen mit
Sprechen über Sprachstrukturen anregen                      ihren Gebrauchskontexten und in mög-
und Themen in den Blick nehmen, die in                      lichst authentischen Gesprächssituationen
dem jeweiligen Land diskutiert werden.                      zu erlernen. Erst kulturelle Kontexte geben
Hintergrund des diskursiven Ansatzes im                     den Inhalten Sinn. So kann auch die Be-
Fremdsprachenunterricht ist die Annah-                      gegnung mit dem Fremden stattfinden, die
me, dass Sprache die Weltwahrnehmung                        über eine bloße Kompetenzvermittlung der
prägt und die Wahrnehmung sich wiede-                       sprachlichen Grundlagen einer Fremd-
rum in der Sprache niederschlägt. Auch                      sprache im Sinne eines plakativen und
sieht die Welt in anderen Sprachen – durch                  stereotypbehafteten Verständnisses der
die Brille einer anderen Sprache gesehen                    Fremdsprache hinausreicht.
– anders aus. Die Sprache ist immer ein                          Das Konzept des Fremdverstehens
Spiegel einer Kultur.40 Mit jeder neu erlern-               wird in einem bildenden, diskursiven
ten Sprache erwirbt man eine neue Sicht                     Unterrichtsverständnis mit der didakti-
auf die Welt, denn Sprache prägt die Art                    schen Kategorie des Perspektivenwech-
und Weise des Denkens über eine Sache.                      sels verknüpft, da das Lernen fremder
Der Gebrauch einer Sprache unterschei-                      Sprachen und die Begegnung mit fremd-
det sich nach den lebensweltlichen Bege-                    sprachlicher Literatur das Fremdver-
benheiten. So besitzen beispielsweise die                   stehen fördern: Lernende werden durch
Inuit zahlreiche Begriffe, die nur im Kontext               die Perspektivenvielfalt, ausgelöst durch
als Schnee-Wörter verstanden werden                         fremdsprachliche, mehrdeutige Texte, mit
können. Die Schotten besitzen gar 421                       neuen Weltansichten konfrontiert, was
Wörter für Schnee, eben weil der Schnee                     wiederum gegen eine Herausbildung von
und das Wetter konstituierende Lebens-                      Stereotypen und Vorurteilen wirkt. Durch
faktoren in Schottland darstellten. Bedeut-                 die Analyse der Perspektivenvielfalt in lite-
sam ist, dass Fremdsprachenunterricht                       rarischen Texten, durch den intuitiv vollzo-
den Schülern diese „sprachlich vermit-                      genen, im Literaturunterricht reflektierten
telte kulturelle Gebundenheit“41 bewusst                    und im Gespräch nachvollzogenen Per­
macht. Diskursiv wird der Fremdsprachen-                    spektivenwechsel wird die Fähigkeit zum
unterricht dann, wenn etwa Analogien zur                    Fremdverstehen gefördert, welche sich

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als eine komplexe Fähigkeit zum Perspek-                    Wirklichkeitssichten komplett übernimmt.
tivenwechsel darstellt.43 Literarische Texte                Mit dem Hineinversetzen in einen anderen
zeigen die Wirklichkeit perspektivisch                      Bezugsrahmen lässt sich ein eigener Ego-
gebrochen und sensibilisieren den Leser                     zentrismus überwinden. Auf der anderen
so für die Perspektivengebundenheit von                     Seite ist die Beurteilung der fremden Per-
Wirklichkeitserfahrung. Der Rezipient                       spektive aus dem eigenen Bezugsrahmen
wird durch Literatur mit unterschiedli-                     heraus erforderlich, um sich nicht unkri-
chen Perspektiven auf die Wirklichkeit                      tisch der jeweiligen Innenperspektive des
konfrontiert. Diese Erfahrung von Per­                      Gegenübers auszusetzen.45 Diese zwei
spektivenvielfalt trägt zum Fremdverste-                    Perspektiven stehen bei dem Verstehen
hen bei, da die Leser andere Perspektiven                   des Fremden in einem spannungsvollen
übernehmen und miteinander vergleichen                      Wechselverhältnis zueinander, welches im
müssen. Dies geschieht im Unterricht vor-                   Unterricht in einem dialogischen Prozess
wiegend durch das Unterrichtsgespräch.                      reflektiert werden muss. Beim Verstehen
Subjektive, kulturell geprägte literarische                 des Fremden wird das Eigene umgestal-
Darstellungen von Imaginationen und Er-                     tet, denn das Verstehen des anderen wirkt
fahrungen bieten Lernenden die Möglich-                     auf das eigene Selbstverständnis zurück
keit im Gespräch mit anderen die eigene                     und ist somit Teil eines Bildungsprozes-
Perspektive zu vergleichen, zu wechseln                     ses, in welchem gleichzeitig im Sinne
oder zu relativieren.                                       Gadamers von sich selbst abgesehen
    Im Gegensatz zu Sachtexten, die eine                    werden muss, aber auch das Eigene mit-
eher rationale Beschäftigung mit ‚dem                       gebracht und reflektiert werden muss.46
Fremden‘ forcieren, zielen literarische                     Jedes Verstehen kann jedoch auch etwas
Texte im Fremdsprachenunterricht auf die                    Unverstandenes zurücklassen, welches im
exemplarische emotionale Erfahrbarkeit                      Unterricht produktiv genutzt werden kann.
und Nachvollziehbarkeit ‚des Fremden‘.                      Die Verständigung über unterschiedliche
Die diskursive Auseinandersetzung mit lite-                 Perspektiven und die Erweiterung des
rarischen Texten kann die Fähigkeit zu Em-                  Deutungshorizontes nach dem diskursi-
pathie und Perspektivenwechsel fördern                      ven Durchgang durch die Sache sind die
und damit zur Entwicklung eines Sinns für                   Ziele. Differenzen, Unverstandenes oder
alternative Lebensentwürfe beitragen und                    Irritierendes sind produktiv auszuhalten.
somit das Verstehen von Menschen aus                        Es geht darum das Fremde in seiner An-
anderen Kulturkreisen in der außerschu-                     dersartigkeit zu verstehen, welches die
lischen Lebenswelt unterstützen. Durch                      Differenzierung des eigenen Erfahrungs-
eine diskursive Erörterung kann ein Pro-                    horizontes einschließt. Genau dies ist der
blembewusstsein für die Komplexität ver-                    Anspruch eines diskursiv verstandenen
schiedener Formen des kulturellen (Miss-)                   Fremdsprachenunterrichts.
Verstehens entstehen.44
    Das Hineinversetzen in eine fremde                      Diskursivität und das Denken in Bildern
Perspektive muss keine völlige Aufgabe der
eigenen Perspektive bedeuten. Um einen                      In didaktischer Hinsicht ist im Unterricht
Perspektivenwechsel hervorzurufen, muss                     immer auch die Verwendung von Bildern
(zeitweilig) das Wahrnehmungsschema                         bedeutsam. In der Regel spielen sie je-
geändert werden, aber ein nachvollziehen-                   doch eine nur untergeordnete Rolle. Sie
des Verstehen eines fremden Menschen                        sollen die Menge der Textflut erträglich
im Sinne der Perspektivenübernahme                          machen, indem sie auflockernd und il-
heißt nicht zwangsläufig, dass man dessen                   lustrierend als schmückendes Beiwerk

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dienen oder einen abstrakten Gedanken                       eine Hervorhebung und eine Perspektive,
beispielhaft veranschaulichen. Sie dienen                   so dass auch Bilder immer rückgebun-
meist als Animationshilfen, Motivations-                    den sind an Erkenntnisabsichten und In-
instrumente und Anlässe zum eröffnenden                     teressen, an kulturelle Einfärbungen und
Unterrichtsgespräch, auf das dann die                       subjektive Vorlieben und Erfahrungen der
Beschäftigung mit Texten folgt. Dabei wird                  Konstrukteure.
jedoch übersehen, dass Bilder auf gleiche                       Das Konzept der Bildliteralität versucht,
Augenhöhe wie Texte gestellt werden                         solche Konstruktionsprozesse im „Lesen“
können, dass sie in ähnlicher Weise wie                     und „Schreiben“ von Bildern anhand eines
Texte Aussagen enthalten, die „gelesen“                     diskursiven Bildmaterials zu verdeutlichen
werden müssen und interpretationsbe-                        und didaktisch zu erschließen. Es sind vor
dürftig sind. Gewiss, es gibt Bilder, die                   allem die Prinzipien des Symbolisierens
einfach und unstrittig sind und nur einen                   und Metaphorisierens, des Collagierens
Gegenstand abbilden. Man kann hier von                      und Montierens, der Zitation und Übertrei-
affirmativen Bildern sprechen. Sie sind                     bung, die hier didaktisch relevant werden
dort zu finden, wo auf einen Sachver-                       und die mit bildsprachlichen Mitteln arbei-
halt informierend hingewiesen wird, wo                      ten. Sie zeigen, wie Vorstellungen „ge-
in instruierender Absicht auf Handlungen                    macht“ werden können und ähnlich wie
und Anwendungen aufmerksam gemacht                          Texte die Welt interpretieren. Dabei können
wird oder schlicht objektiv greifbare Vor-                  sowohl aufklärerische Absichten wie auch
gänge gezeigt werden. Von solchen affir-                    manipulative Interessen zum Tragen kom-
mativen Bildern, die in Schulbüchern und                    men. Auch ironisierende, emotionalisieren-
didaktischen Materialien vorherrschen47,                    de, kritisierende Perspektiven können in
sind solche Bilder zu unterscheiden, die                    diskursiven Bildern entdeckt werden. Bei-
man als diskursiv bezeichnen kann.48 Sie                    spielhaft sei hier auf Karikaturen hingewie-
führen hinein in ein Konzept der „Bildlite-                 sen. Sie zeigen nicht etwas, „wie es ist“,
ralität“49, in dem – metaphorisch gespro-                   sondern wählen eine distanzierende Per-
chen – das „Lesen“ und „Schreiben“ von                      spektive, indem sie Personen und Szenen
Bildern als Programm einer ästhetischen                     in einen anderen Kontext stellen, mit me-
Alphabetisierung entworfen wird. Es geht                    taphorischen Anspielungen arbeiten und
hier um die Theorie und Praxis eines „äs-                   damit auch ironisierende, übertreibende,
thetischen Denkens“50 und eines „Den-                       mitunter auch boshafte Interpretationen
kens in Bildern“51, in denen Formen eines                   vermitteln. Bilder können in einem diskur-
„verstehenden Sehens“52 geübt werden.                       siven Sinne Kontroversen stiften, da sie
Sich ein Bild von etwas zu machen, wird                     Unterschiede in der Wahrnehmung aufzei-
in Anlehnung an den Konstruktivismus als                    gen und eine Entdeckung zuvor unerkann-
ein Akt des Entwurfs bildhafter Vorstellun-                 ter Aspekte erlauben. Im Austausch über
gen begriffen, die dem Konstrukt einen                      Bilder erkennt man, dass jeder die Welt
Sinn verleihen und damit nicht identisch                    mit anderen Augen sieht. Diese offenen
sind mit dem, was außerhalb der sinn-                       und differenten Interpretationen machen
lichen Wahrnehmung vielleicht objektiv                      Argumentationsprozesse notwendig und
gegeben sein mag. Das Bild, das ent-                        zeigen so einen vielperspektivischen Um-
steht, ist kein identisches Abbild und das                  gang mit Bildern. Affirmative Bilder, d.h.
Bild von der Welt, das man sich macht,                      bloße Illustrationen, triviale und eindeuti-
ist nicht die Welt selbst. Jedes Bild ent-                  ge Bilder, die Stereotype fördern und den
hält immer eine Auswahl und Reduktion,                      Betrachter nur bestätigen, können einem

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Bildungsanspruch nicht gerecht werden.                      bieten die Chance zur Erweiterung der
Sie können zwar informieren und motivie-                    eigenen Erkenntnis.
ren, nicht aber irritieren oder etwas infrage
stellen.                                                    Literaturunterricht: Das literarische
    Affirmative Bilder, wie sie in Schulbü-                 Gespräch als diskursive Perspektivität
chern überwiegen, stehen in einem star-
ken Kontrast zu der Bilderwelt, die Schüler                 Der hier exemplarisch beleuchtete Litera-
außerhalb der Schule wahrnehmen, etwa                       turunterricht im Fach Deutsch bietet eine
in journalistischen Produkten und in der                    geeignete Gelegenheit für den Umgang
Werbung. Sämtliche Bildmedien zeigen                        mit Ambivalenz, Kontingenz und Vielfalt
Kindern und Jugendlichen eine bildge-                       im Kontext eines Bildungsverständnisses,
waltige Wirklichkeit, die mit oft raffinierten              das Diskursivität sowohl in formaler als
bildästhetischen Mitteln Aufmerksamkeit                     auch in inhaltlicher Hinsicht betont. Auch
erzwingt und damit einen starken Einfluss                   hier lohnt es sich die Unterscheidung vom
auf ihre Wahrnehmung ausübt. Diese Bil-                     affirmativen und diskursiven Umgang mit
der übertreiben, verzerren und verfrem-                     literarischen Texten in den Blick zu neh-
den. Schulischer Unterricht muss dieser                     men. Insbesondere das literarische Unter-
Entwicklung Rechnung tragen und sie in                      richtsgespräch als „intensives Gespräch
der Auswahl von Bildern berücksichtigen.                    über das Gelesene“54 mit echten Fragen,
    Eine besondere Chance für einen                         die nicht in eine ‚Abfragerei‘ münden,
produktiven Umgang mit diskursivem                          bietet sich für einen diskursiven Durch-
Bildmaterial bietet eine „Didaktik der Ver-                 gang an, indem eine diskursive Praktik
fremdung“53. Bilder, welche verfremden,                     verfolgt wird, in der Fragen an den Text
regen zu einem Perspektivenwechsel an                       im Gespräch entdeckt werden und die
und bieten mit Irritationen sowie Differenz-                Einzigartigkeit des Textes anerkannt wird.
und Distanzerfahrungen vielfältige Ge-                      Grundlage eines literarischen Gesprächs
sprächs- und Diskussionsanlässe. Durch                      kann beispielsweise ein als besonders auf-
das ästhetische Mittel der Verfremdung                      fällig empfundenes Zitat aus einem Roman
wird nicht etwas dargestellt, wie es ist,                   sein, welches provoziert, zum Nachden-
sondern das Bekannte in ein neues, frem-                    ken anregt oder gar philosophischen
des Licht gerückt, so dass man es neu                       Charakter annimmt und über welches die
und anders sieht. Verfremden bedeutet,                      Schüler beim Lesen stolpern. Insbeson-
sich das scheinbar Bekannte und Vertrau-                    dere mehrperspektivische, kontroverse
te wieder fremd zu machen. Wenn Dinge                       und problemhaltige Literatur wie etwa der
aus ihrer gewohnten Selbstverständ-                         Jugendroman Blueprint – Blaupause von
lichkeit herausgelöst werden, führt dies                    Charlotte Kerner, der das Thema Klonen
dazu, gewohnte Sichtweisen aufzubre-                        aufarbeitet, regt einen diskursiven Litera-
chen und (sich) neue Fragen zu stellen.                     turunterricht an.
Neues wird in seiner Ungewöhnlichkeit,                           Das Prinzip des dialogischen Verste-
Bekanntes auf eine ungewöhnliche Weise                      hens greift hier, da in der Methode des
dargestellt. Dies kann auch als Irritation                  literarischen Unterrichtsgesprächs Lesen
und Provokation geschehen, führt dann                       als Dialog begriffen wird. Es geht darum im
aber zu einer reflexiven Verarbeitung.                      Dialog den Text zu begreifen und nachzu-
Verfremdungen sind somit Anstöße zum                        vollziehen – auch in distanzierender Weise
Nachdenken, zum Überschreiten selbst-                       und nicht in bloß affirmativer Hinsicht. Der
verständlich gewordener Horizonte und                       bejahende, bestätigende, zustimmende

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Blick auf Literatur ist nicht fruchtbar. Litera-            dem Postulat der Schule als Ort des
tur und die Gespräche über sie leben von                    Gesprächs ein ganzes Stück näher. Un-
gegensätzlichen Meinungen, die gegen-                       vorhergesehenes und Nichtmessbares rü-
einander abgewogen werden und deren                         cken in den Vordergrund und das Zuhören
Interpretationsansätze in dem literarischen                 als intellektuelles Vermögen wird von den
Stück wiedergefunden werden müssen.                         Schülern gefordert. In einem literarischen
Das Belegen am Text, das Stützen der                        Unterrichtsgespräch müssen die Schüler
eigenen Meinung durch Texthinweise, dies                    stärker als sonst zuhören, da es nicht nach
lässt die Schüler miteinander ins Gespräch                  dem Prinzip ‚Lehrkraft fragt – Schüler ant-
kommen. Auch entstehen hier Spannun-                        wortet‘ funktioniert, sondern es sich an
gen, die nicht aufgelöst werden können,                     dem ‚natürlichen‘ Alltagsgespräch orien-
sondern ausgehalten werden müssen.                          tiert. Die Entwicklung der Deutungen ist
    Damit der Austausch von Meinungen                       entscheidend; nicht der Erhalt von Stich-
und Fragen nicht auf dem Niveau der addi-                   wörtern seitens der Schüler, die der Lehr-
tiven Vielfalt stehenbleibt, sondern vielmehr               kraft im fragend-entwickelten Unterricht
eine thematische Diskursivität einfordert,                  das Fortspinnen des geplanten Unter-
die den Schülern auch argumentative Pro-                    richtsfadens erlaubt. Wichtig sind die An-
zesse abverlangt, d.h. eine argumentative                   näherung an das literarische Werk und im
Entscheidung für eine Position, müssen                      Verlauf des Gesprächs die Entwicklung
sie ihre Meinung begründet darlegen, d.h.                   eigener Deutungshypothesen sowie die
schlussfolgernd, methodisch vorgehend,                      Auseinandersetzung mit anderen Deu-
am Text belegend. Die intuitive Meinung                     tungshypothesen in ihrer Vielstimmigkeit,
darf nicht unbestätigt stehen bleiben. Die                  Polyvalenz und Offenheit.
eigenen Perspektiven als die Auslegung                           Dabei nimmt die dialektische Be-
des Textes, d.h. die eigene Interpretation,                 wegung zwischen Verstehen und Nicht-
ist stets an den literarischen Text zurück-                 Verstehen eine wichtige Rolle ein. Das
zubeziehen und zu belegen. Die Grenze                       Nicht-Verstehen ist Teil des Verstehenspro-
entgegen einem ‚Anything goes‘, dass                        zesses und es provoziert weitere Ansätze
nicht jede Interpretation toleriert wird, ist               den Text zu verstehen. Das Verstehen ist
der Text. Eine Lehrkraft, die dazu befragt                  dabei nicht als etwas Absolutes anzuse-
wurde, formuliert dies wie folgt: „Es gibt                  hen; eher ist es graduell erreichbar und nie
so viele richtige Interpretationen, wie es                  vollständig. In diesem Sinn meint Nicht-
aufmerksame Leser gibt, die am Text ihre                    Verstehen nicht das absolute Unverständ-
Auslegungen belegen können“.55 Trotz der                    nis, sondern, dass das Zusammenbringen
Offenheit in der Interpretation von Litera-                 von disparaten Texteindrücken aktuell nicht
tur gibt der Text Fragen vor. Dies darf aber                machbar ist. Gerade bei Texten mit wider-
nicht in eine inszenierte Eindeutigkeit in der              sprüchlichen Deutungen wird dies sicht-
Interpretation einmünden, sondern idea­                     bar, so dass wiederholtes Suchen nach
lerweise in eine echte Kontroverse mittels                  der Deutung mit Momenten des Nicht-Ver-
des Aufnehmens, Aufbereitens und der                        stehens nötig ist. So gelangen die Schüler
Weitergabe der Gedanken der Anderen.56                      in einer Dialektik zwischen Verstehen und
    Mit dem literarischen Unterrichts-                      Nicht-Verstehen zu dem Sinn des Werks.
gespräch, welches sich von dem                              Das Erklären seitens der Lehrkraft rundet
fragend-entwickelnden, gelenkten Leh-                       den kommunikativen Prozess mit dem Ziel
rer-Schüler-Gespräch         deutlich    unter-             der argumentativen Entscheidungsfindung
scheidet57, kommt der Literaturunterricht                   ab. Ganz im Sinne Foucaults58 werden

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hier Diskurse als Praktiken angesehen, die                  Anmerkungen
systematisch die Gegenstände bilden, von
denen sie sprechen.                                         1     Vgl. Klafki, Wolfgang (1995): Neue Studien
                                                                  zur Bildungstheorie und Didaktik. 5. Aufl.
                                                                  Weinheim und Basel: Beltz.
Diskursivität als Bildungsprinzip                           2     Vgl. z.B. Schäfer, Alfred (2011): Das Ver-
                                                                  sprechen der Bildung. Paderborn u.a.: Schö-
Die Skizzierung von vier ausgewählten di-                         ningh; Girmes, Renate (2012): Der Wert
daktischen Konzepten kann zeigen, dass                            der Bildung. Menschliche Entfaltung jen-
es sinnvoll ist, den Anspruch der Diskur-                         seits von Knappheit und Konkurrenz. Pader-
sivität auch schulstufen- und fachspezi-                          born u.a.: Schöningh; Rittelmeyer, Christian
                                                                  (2012): Bildung. Ein pädagogischer Grund-
fisch auszulegen. Auch für andere, hier
                                                                  begriff. Stuttgart: Kohlhammer; Sander,
nicht angesprochene Schulfächer wäre                              Wolfgang (2018): Bildung. Ein kulturelles
dies möglich, weshalb sich Diskursivität                          Erbe für die Weltgesellschaft. Frankfurt a.M.:
insgesamt als Prinzip der Allgemeinen Di-                         Wochenschau.
daktik erweist, das für die Sicherung einer                 3     Vgl. Jörg Schlömerkemper (2021): Pädago-
Qualität der Auseinandersetzung steht,                            gische Diskurs-Kultur. Über den sensiblen
die über eine bloß affirmative Bestätigung                        Umgang mit Widersprüchen in Erziehung
                                                                  und Bildung. Opladen u.a.: Barbara Budrich,
und Aneignung von Wissen hinausreicht.
                                                                  S. 21.
Diskursivität verhindert den Absturz auf                    4     A.a.O., S. 21.
Trivialität und Eindeutigkeit, wo Themen                    5     Vgl. zum Prinzip des Zeigens Giel, Klaus
und Inhalte es erfordern, unterschiedliche                        (1969): Studie über das Zeigen. In: Bollnow,
Perspektiven einzunehmen und Positionen                           Otto Friedrich (Hrsg.): Erziehung in anthropo-
und Behauptungen auf ihre Tragfähigkeit                           logischer Sicht. Zürich: Morgarten, S. 51-75;
                                                                  Duncker, Ludwig (1996): Zeigen und Han-
hin zu untersuchen. Auch spielerische
                                                                  deln. Studien zur Anthropologie der Schule.
Formen eines Denkens „als ob“ schaf-                              Langenau – Ulm: Armin Vaas; Prange, Klaus
fen Räume für eine experimentelle Sicht                           (2005): Die Zeigestruktur der Erziehung.
auf Probleme, die erst abgetastet und                             Grundriss der Operativen Pädagogik. Pader-
erkundet werden müssen, bevor eigene                              born u.a.: Schöningh.
hypothetische Annahmen formuliert und                       6     Paechter, Manuela u.a. (Hrsg.) (2012): Hand-
argumentativ begründet werden. In all sol-                        buch Kompetenzorientierter Unterricht. Wein-
                                                                  heim Basel: Beltz.
chen Such- und Denkbewegungen zeigt
                                                            7     Vgl. Klieme, Eckart u.a. (2003): Zur Entwick-
sich ein Bildungsanspruch der Schule. Er                          lung nationaler Bildungsstandards. Eine Ex-
wehrt sich gegen ein bloßes Durchnehmen                           pertise. Bonn: Bundesministerium für Bildung
von „Schulstoff“ und eine Anhäufung ab-                           und Forschung.
fragbaren Wissens, das nicht durchdacht                     8     Dreßler, Jens (2016): Wider eine ökonomi-
und in seiner Bedeutung für ein besseres                          sche Sicht auf Schule? In: Heinrich, Martin /
Verständnis der Wirklichkeit erkannt wird.                        Kohlstock, Barbara (Hrsg.): Ambivalenzen
                                                                  des Ökonomischen. Analysen zur „neuen
In einer Welt, die der Menschheit immer
                                                                  Steuerung“ im Bildungssystem. Wiesbaden:
wieder unvorhersehbare Probleme zumu-                             Springer VS, S. 63.
tet, bedarf es nachwachsender Genera-                       9     A.a.O., S. 68.
tionen, die beweglich im Denken, fähig zu                   10    A.a.O., S. 65.
argumentieren und stark im Urteilen sind.                   11    Ebd.
Diskursivität erweist sich deshalb in Form                  12    Ebd.
                                                            13    Herzog, Walter (2013): Bildungsstandards.
und Inhalt als unverzichtbares Bildungs-
                                                                  Eine kritische Einführung. Stuttgart: Kohlham-
prinzip.                                                          mer, S. 12.
                                                            14    A.a.O., S. 35.

3 / 2021                                 Pädagogische Rundschau                                                 289

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                             wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
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