Existenzlöhne in der globalen Modebranche - Firmencheck 2019 - September 2019 - Bieler Tagblatt
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ZUSAMMENFASSUNG 3 Existenzsichernde Löhne als Schlüssel zu menschenwürdigen Arbeitsbedingungen 3 Reine Absichtserklärungen oder konkrete Fortschritte? 3 Die Arbeiterinnen können nicht länger warten 4 1 WARUM DER EXISTENZSICHERNDE LOHN EIN ZENTRALES THEMA BLEIBT 5 Unternehmen müssen existenzsichernde Löhne gewährleisten und fördern 6 Was ist ein existenzsichernder Lohn? 6 Mindestlöhne reichen nicht zum Leben 8 2 DER AKTUELLE KONTEXT DER LOHNDEBATTE 9 Instrumente zur Überbrückung der Lohnkluft – und deren Grenzen 10 Festsetzung von Mindestlöhnen 10 Kollektive Lohnverhandlungen 10 Die wichtigsten Verhandlungspartner sitzen nicht mit am Tisch 10 Freiwillige Multistakeholder-Initiativen 13 Freiwillige Firmen- und Standardinitiativen 16 3 UMFRAGEERGEBNISSE UND BEWERTUNG 17 Ergebnisorientierte Bewertung 18 Bewertung der Zwischenschritte (themenspezifische Massnahmen) 19 Methode 19 4 SCHLUSSFOLGERUNGEN 29 Freiwilligkeit reicht nicht – es braucht rechtsverbindliche Vereinbarungen 30 Richtwerte für einen Lohn zum Leben sind unerlässlich 30 Transparenz ist ein Muss 30 Empfehlungen 30 ANHANG 1 — DIE BEWERTUNG DER ZWISCHENSCHRITTE (ÜBERSICHT) 32 ANHANG 2 — FIRMENPROFILE 34 ANHANG 3 — METHODIK 79 ENDNOTEN 80 IMPRESSUM Existenzlöhne in der globalen Modebranche. Firmencheck 2019 – September 2019 Herausgeber Die vorliegende deutschsprachige Ausgabe wird herausgegeben von Public Eye (Koordinierungsorganisation der Clean Clothes Campaign Schweiz), Clean Clothes Kampagne Österreich und der Kampagne für Saubere Kleidung (Deutschland). | Redaktion Elisabeth Schenk, Bettina Musiolek, David Hachfeld, Rebekka Koeppel | Layout Anna Sarcletti | Titelbild Kristof Vadino Dieser Bericht ist eine erweiterte Ausgabe des internationalen Berichts der Clean Clothes Campaign « Tailored Wages 2019. The state of pay in the global garment industry » | Autorin Anna Bryher Unterstützung Anne Bienias, Theresa Haas, David Hachfeld, Elisabeth Schenk Übersetzung (aus dem Englischen) Gregoire Seither und Bettina Musiolek. Die Clean Clothes Campaign ist ein globales Netzwerk, das sich für die Verbesserung der Arbeits- bedingungen und die Stärkung der Arbeiterinnen und Arbeiter in der globalen Bekleidungs- und Sportartikelindustrie einsetzt. Public Eye und die Clean Clothes Campaign handeln unabhängig von den vorgestellten Unternehmen. Die abgebildeten Logos unterliegen dem Urheberrecht der Eigentümer. PUBLIC EYE Dienerstrasse 12 | Postfach, 8021 Zürich Tel. +41 44 2 777 999 | kontakt@publiceye.ch www.publiceye.ch | PC 80-8885-4
Zusammenfassung Obwohl sich immer mehr Modefirmen auf dem Papier zu existenz- sichernden Löhnen verpflichten, verdient immer noch kaum eine Arbeiterin, kaum ein Arbeiter in den Lieferketten der untersuchten Firmen genug, um in Würde leben zu können. Das ist – kurz gefasst – das ernüchternde Resultat der vorliegenden Befragung von 45 internationalen Modefirmen. Die Studie zeigt, wo die Modeindustrie und einzelne Firmen beim Thema Existenzlöhne stehen und was es jetzt braucht, um endlich konkrete Fortschritte zu erzielen. Seit Anfang dieses Jahrhunderts haben immer mehr internatio- müssen. Das vorherrschende Geschäftsmodell spielt in einem nale Modefirmen auf dem Papier anerkannt, dass die Löhne der globalen Wettlauf nach unten (« Race-to-the-Bottom ») Land Arbeiterinnen – die überwiegende Mehrheit der in der Textil- gegen Land und Lieferanten gegeneinander aus. Angesichts des 1 industrie Beschäftigten sind Frauen – zum Leben reichen müs- riesigen Drucks auf Preise und Löhne sind fast alle Initiativen sen. Nach der Clean Clothes Campaign (CCC) muss ein Exis- zur Bekämpfung von Armutslöhnen gescheitert. Das Geschäfts- tenzlohn die Grundbedürfnisse einer Arbeiterin und ihrer modell der Firmen und das ihm zugrunde liegende Machtgefäl- Familie abdecken und darüber hinaus ein frei verfügbares Ein- le sind der eigentliche Grund dafür, dass die Beschäftigten wei- kommen übrig lassen. Doch zwei Jahrzehnte später leben die terhin in Armut leben. Armutslöhne sind ein entscheidendes Arbeiterinnen und ihre Familien nach wie vor in bitterer Ar- Charakteristikum der systematischen Ausbeutung in der globa- mut. Die Textilindustrie setzt auf die Produktion in Billiglohn- len Bekleidungsindustrie. Umgekehrt könnten existenzsichern- ländern, um auf dem Rücken der Arbeiterinnen die Gewinn- de Löhne ein Schlüssel zu einem globalen Wandel sein. Löhne, spanne zu maximieren und hohe Profite zu generieren. Die die nicht zum Leben reichen, hängen eng mit anderen Problem- öffentlichkeitswirksamen, aber freiwilligen Selbstverpflichtun- stellungen der Branche wie überlange Arbeitszeiten, schlechte gen der Branche haben kaum oder gar nicht zu konkreten Fort- Wohnsituation der Arbeiterinnen, Mangel- und Unterernäh- schritten hin zu Existenzlöhnen geführt. rung, Gesundheit und dem Risiko von Kinderarbeit zusammen. Die Lohnhöhe ist denn auch ein wesentlicher Indikator dafür, EXISTENZSICHERNDE LÖHNE ob eine Firma zu menschenwürdiger Arbeit für die Menschen, ALS SCHLÜSSEL ZU MENSCHENWÜRDIGEN die unsere Kleider herstellen, beiträgt. ARBEITSBEDINGUNGEN REINE ABSICHTSERKLÄRUNGEN Die Markenfirmen setzen jedes Jahr Millionenbeträge um und ODER KONKRETE FORTSCHRIT TE? sitzen an den Schaltstellen der Wertschöpfungsketten. Sie kön- nen ihre Produktionsstandorte rasch verschieben und zwischen Diese Studie analysiert, wie Firmen die Lohnfrage in ihrer Lie- Billiglohnländern wählen. Sie diktieren die Preise, Auftrags- ferkette angehen. Sie ist eine Nachfolgeuntersuchung zum « Fir- 2 mengen und Qualitätsanforderungen, ohne auf die Auswirkun- mencheck 2014 » der CCC und basiert auf einer Befragung von 3 gen ihrer Einkaufsstrategien auf die Zulieferbetriebe und die 45 Bekleidungsfirmen . Bereits im Jahr 2014 versprachen einige Lebensbedingungen der Arbeiterinnen Rücksicht nehmen zu Firmen, sich um die Zahlung von Existenzlöhnen zu bemühen.
4 Existenzlöhne in der globalen Modebranche – Firmencheck 2019 Fünf Jahre später prüfen wir, was diese Bekenntnisse wert sind DIE ERGEBNISSE IN ZAHLEN und ob die von uns damals identifizierten Programme zu kon- kreten Verbesserungen geführt haben. • Firmen, die sich zu einem existenzsichernden Lohn Die Studie fokussiert auf konkrete Ergebnisse und ganz oder teilweise verpflichtet haben: 27 (60 %). nicht auf Absichtserklärungen oder für die Zukunft angekün- • Firmen, die einige, wenn nicht sogar alle ihrer digte Massnahmen: Was bewirken die Firmenansätze zur Zah- Lieferanten offengelegt haben: 23 (51 %). lung existenzsichernder Löhne derzeit tatsächlich? Das Resul- • Firmen, die einige Lohndaten ihrer Lieferanten tat: Einige Firmen tun zwar mehr als andere für bessere veröffentlichen: 6 (13 %). Lohnpraktiken, aber nur bei zwei der 45 Firmen konnten wir • Firmen mit klaren Zeitplänen, bis wann ein existenz- Anhaltspunkte dafür finden, dass zumindest einem Teil der Be- sichernder Lohn in ihrem Lieferantennetzwerk schäftigten in der Produktion ein existenzsichernder Lohn ge- umzusetzen ist: 2 (4,5 %). zahlt wird. Und nur bei einer von diesen gilt dies auch für Ar- • Firmen, bei denen wir Anhaltspunkte dafür finden konnten, beiterinnen in der Produktion ausserhalb des eigenen Haupt- dass zumindest einem Teil der Beschäftigten in der Produk- sitzlandes (vgl. Kapitel 4). tion ein existenzsichernder Lohn gezahlt wird: 2 (4,5 %). • Anzahl der Markenfirmen, die anhand bestimmter DIE ARBEITERINNEN KÖNNEN Richtwerte (Benchmarks) messen, ob existenzsichernde NICHT LÄNGER WARTEN Löhne gezahlt werden: 18 (40 %). • Anzahl der Bekleidungsfirmen, die berechnen, ob die Preise, die sie an die Lieferanten zahlen, ausreichen, um die Zahlung eines Existenzlohns an die Arbeiterinnen « Es ist dringend, das Menschen- zu ermöglichen: 5 (11 %). recht auf einen existenzsichernden • Bei der aktiven Förderung der Vereinigungsfreiheit sind Lohn endlich umzusetzen. » die Massnahmen der meisten Firmen unzureichend. Fünf Jahre nach dem « Firmencheck 2014 » hatten wir gehofft, über mehr Fortschritte berichten zu können. Unsere Botschaft an die Bekleidungsfirmen ist: « Arbeiterinnen können nicht länger warten. » Es ist dringend und (über-)lebenswichtig, das Menschen recht auf einen existenzsichernden Lohn ohne weitere Verzöge- rungen umzusetzen. Abbildung 1 — ERGEBNISSE IN ZAHLEN Untersuchte Firmen: 45 Verpflichtung zu einem existenzsichernden Lohn 9 ja 18 teilweise 18 nein/kein Hinweis Lieferanten veröffentlicht 11 ja 12 teilweise 22 nein/kein Hinweis Lohndaten veröffentlicht 1 ja 5 teilweise 39 nein/kein Hinweis Klarer Zeitplan zur Umsetzung existenzsichernder Löhne 1 ja 1 teilweise 43 nein/kein Hinweis Anhaltspunkte, dass mindestens ein Teil der Arbeiterinnen Existenzlöhne erhält 0 ja 2 teilweise 43 nein/kein Hinweis 0 15 30 45
6 Existenzlöhne in der globalen Modebranche – Firmencheck 2019 Ein existenzsichernder Lohn ist ein anerkanntes und verbrieftes pflichtungen nicht. Sie geht über die Einhaltung nationaler Menschenrecht: « Jeder Mensch, der arbeitet, hat das Recht Gesetze und Vorschriften zum Schutz der Menschenrechte 5 auf gerechte und befriedigende Entlohnung, die ihm und der hinaus » . Im Zusammenhang mit dem Recht auf eine menschen- eigenen Familie eine der menschlichen Würde entsprechende würdige Entlohnung beschränkt sich die Verantwortung der Existenz sichert » (Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, Firmen also nicht auf die Einhaltung der Lohngesetze der Län- Artikel 23)4. Doch dieses Recht wird systematisch verletzt. der, aus denen sie ihre Waren beziehen. Vielmehr müssen sie si- cherstellen, dass die gezahlten Löhne auch tatsächlich ausrei- chen, um eine menschenwürdige Existenz für die Arbeiterinnen und ihre Familien zu gewährleisten. « Jeder Mensch, der arbeitet, hat das Recht auf gerechte und befriedi- WAS IST EIN EXISTENZSICHERNDER LOHN? gende Entlohnung, die ihm und der eige- Ein Lohn ist existenzsichernd, wenn er ausreicht, um die Grund- nen Familie eine der menschlichen bedürfnisse einer Arbeiterin und ihrer Familie zu decken Würde entsprechende Existenz sichert ». und ein gewisses, frei verfügbares Einkommen übrig lässt (Abbildung 2). Er muss konkret: Der grösste Teil der Arbeiterinnen in der Bekleidungs- und • die Grundbedürfnisse einer Familie mit 6 Sportartikelindustrie erhält keinen existenzsichernden Lohn zwei Erwachsenen und zwei Kindern decken; und ist zu einem Leben in bitterer Armut gezwungen. • zusätzlich ein frei verfügbares Einkommen für unvorhergesehene Ausgaben übrig lassen, das UNTERNEHMEN MÜSSEN EXISTENZSICHERNDE mindestens 10 % des Geldbedarfs zur Deckung LÖHNE GEWÄHRLEISTEN UND FÖRDERN der Grundbedürfnisse entspricht; • für alle Beschäftigten gelten, d. h. Die UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte un- es darf keine tieferen Löhne geben; terstreichen, dass nicht nur Staaten zum Schutz der Menschen- • in einer Standardarbeitswoche von maximal 7 rechte verpflichtet sind, sondern auch Unternehmen eine Ver- 48 Stunden erwirtschaftet werden; antwortung zur Achtung dieser Rechte tragen. Diese Unter- • der Netto-Grundlohn sein, nach Steuern und nehmensverantwortung besteht « unabhängig von der Fähigkeit gegebenenfalls vor Boni, Zulagen oder und/oder Bereitschaft der Staaten, ihre eigenen menschenrecht- Überstundenvergütung. lichen Verpflichtungen zu erfüllen, und schmälert diese Ver- Abbildung 2 — LOHN ZUM LEBEN Der Asia Floor Wage (AFW) berechnet sich auf Basis folgender Annahmen: oder oder Eine Arbeiterin + 2 Erwachsene + 1 Erwachsener + 4 Kinder versorgt mit + 2 Kinder ihrem Lohn sich selbst und 50 % 40 % 10 % des Monatslohns dient Wohnung, Gesundheit, Bildung der Kleiner Sparbetrag für Unvorher- der Ernährung für 3000 kcal Kinder, Bekleidung, Transport gesehenes, Vorsorge für Alter und pro Tag und Erwachsenen Arbeitslosigkeit, Freizeit @ asia.floorwage.org
September 2019 7 Jahrelang argumentierten Modefirmen, es gebe keine allgemein ermöglicht die Berechnung von Richtwerten für einzelne 9 akzeptierten Richtwerte für Existenzlöhne, weshalb es nicht Produktionsregionen. Gute Orientierung bieten ferner soge- möglich sei, ihre Zahlung sicherzustellen. Doch dieses Argu- nannte Lohnleitern. Lohnleitern erfassen unterschiedliche ment überzeugt nicht. Inzwischen gibt es verschiedene fundier- Schätzungen der Lebenshaltungskosten, verfügbare Existenz- te Berechnungen von Existenzlöhnen in den wichtigsten lohnberechnungen, Mindestlöhne und gegebenenfalls weitere Produktionsländern, die auf unterschiedlichen Methoden beru- relevante Lohnvergleichswerte und fügen diese zu einem Ge- hen. Die Clean Clothes Campaign unterstützt die « Asia Floor samtbild zusammen. Auch ohne einen bestimmten Richtwert Wage » - Methode, da sie Arbeiterinnen in das Berechnungsver- auswählen zu müssen, kann man mit Lohnleitern einfach er- fahren einbezieht und einen regionalen Ansatz über Landes- kennen, wo sich die tatsächlich gezahlten Löhne im Vergleich 8 grenzen hinweg verfolgt. Eine andere Berechnungsmethode ist zu Mindestlöhnen und Lohnrichtwerten befinden, und ob sie die « Anker-Methode » von Richard und Martha Anker. Sie sieht den Arbeitnehmenden ein Leben in Würde ermöglichen. umfassende Mindestlebenshaltungskosten-Analysen vor und Abbildung 3 — LOHNLEITERN INDIEN a INR 8 609 Aktueller gesetzlicher Mindestlohnb INR 18 000 c Gewerkschaftsforderung gesetzlicher Mindestlohn 36 % Aktueller Mindestlohn in % des Existenzlohns (jüngste verfügbare AFW-Existenzlohnschätzung). d INR 23 588 Asia Floor Wage (AFW), 2017 INDONESIEN e IDR 2 583 556 b Aktueller gesetzlicher Mindestlohn IDR 4 200 000 f Gewerkschaftsforderung gesetzlicher Mindestlohn 43 % Aktueller Mindestlohn in % des Existenzlohns (jüngste verfügbare AFW-Existenzlohnschätzung). IDR 5 886 112 d Asia Floor Wage (AFW), 2017 BANGLADESCH BDT 8 000 b Aktueller gesetzlicher Mindestlohn BDT 16 000 g Gewerkschaftsforderung gesetzlicher Mindestlohn 21 % Aktueller Mindestlohn in % des Existenzlohns (jüngste verfügbare AFW-Existenzlohnschätzung). BDT 37 661d Asia Floor Wage (AFW), 2017 a Der 2014 überarbeitete branchenspezifische Grundlohn für Tiruppur ist Rs. 5256. Die Zulage für Lebenshaltungskosten (Dearness Allowance) beträgt Rs. 3353, um einen Mindestlohn von Rs. 8609 pro Monat zu erzielen. Dies gilt für Aushilfen und ungelernte Arbeiterinnen. Es gibt jedoch Fabriken in der Region, die stattdessen die Lohntabelle der Strumpfwarenindustrie verwenden, welche ein separates, viel niedrigeres gesetzliches Minimum hat. In zahlreichen Fabriken werden heutzutage Strickwaren als Strumpfwaren eingestuft – Rs. 1848 (Grundlohn) + Rs. 3353 (DA) = Rs. 5201 für eine Aushilfe/ Putzkraft. Für weitere Informationen siehe Sowmya Sivakumar, 2017, « Towards A Living Wage » (letzter Zugriff 20.7.2019) b Mindestlöhne entnommen von Wage Indicator, « Minimum wages around the world » (letzter Zugriff 11.3.2019). c Business Today, 1.1.2019, « Trade unions finalise 20-points charter, demand Rs 18 000 minimum wage » (letzter Zugriff 20.7.2019). d AFW ab 2017. Berechnung Asia Floor Wage (letzter Zugriff 20.7.2019). e Lohndaten für West Java. f Detik finance, 19.10.2018, « Pro Kontra Tuntutan Upah Buruh Naik 25 % » (letzter Zugriff 20.7.2019). g IndustriAll, 2.10.2018, « Bangladeshi unions call for new minimum wage to be doubled » (letzter Zugriff 20.7.2019).
8 Existenzlöhne in der globalen Modebranche – Firmencheck 2019 Abbildung 3 — LOHNLEITERN KAMBODSCHA USD 182b Aktueller gesetzlicher Mindestlohn USD 189h Gewerkschaftsforderung gesetzlicher Mindestlohn 36 % Aktueller Mindestlohn in % des Existenzlohns (jüngste verfügbare AFW-Existenzlohnschätzung). USD 504d Asia Floor Wage (AFW), 2017 TÜRKEI i TRY 1 603 Gesetzlicher Mindestlohn j 26 % TRY 1 893 Gewerkschaftsforderung gesetzlicher Mindestlohn Aktueller Mindestlohn in % des Existenzlohns (jüngste verfügbare CCC-Existenzlohnschätzung). k TRY 6 130 Geschätzter Basis-Existenzlohn CCC, 2018 l CHINA m RMB 2 200 Aktueller gesetzlicher Mindestlohn 46 % RMB 4 547d Asia Floor Wage (AFW), 2017 Aktueller Mindestlohn in % des Existenzlohns (jüngste verfügbare AFW-Existenzlohnschätzung). h Reuters, 5.20.2018, « Cambodia hikes textile workers' minimum wage, falls short of union demands » (letzter Zugriff 3.4.19). i Die türkische Regierung erhöhte den Mindestlohn zum 1.1.2019 auf 2030 TRY, Daily Sabah Economy, 25.12.2018, « Minimum wage in Turkey rises to TL 2,020 with 26 percent increase » (letzter Zugriff 20.7.2019). Um jedoch angesichts der hohen Inflation von 20 % für 2018 in der Türkei die Vergleichbarkeit der Daten insbesondere mit der Existenzlohn-Schätzung (Frühjahr 2018) sicherzustellen, zitieren wir hier den Mindestlohn und die gewerkschaftliche Forderung aus dem Jahr 2018. j NTV, 29.12.2017, « TÜRK-İŞ'TEN 1893 TL TALEBİ2018 » (letzter Zugriff 20.7.2019). k Basierend auf Beschäftigteninterviews im Rahmen der « Turn Around H&M » Recherchen, September 2018, « H&M: fair living wages were promised, poverty wages are the reality » (letzter Zugriff 20.5.2019). l Lohndaten für die Provinz Guangdong. m Shenzen Mindestlohn, Wage Indicator, 2019, « China Minimum Wage by Region 2018 » (letzter Zugriff 29.7.2019). MINDESTLÖHNE REICHEN NICHT ZUM LEBEN Die Daten zeigen, dass die überwiegende Mehrheit der Beschäf- Ein Existenzlohn ist ein verbrieftes Menschenrecht, und er tigten in der globalen Bekleidungsindustrie gerade mal den ge- ist nicht dem gesetzlichen Mindestlohn gleichzusetzen. Unter- setzlichen Mindestlohn verdient, einige nicht einmal diesen. Die nehmen tragen nach den UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Gegenüberstellung (Abbildung 3) zeigt, dass die Mindestlöhne Menschenrechte Verantwortung für die Gewährleistung existenz- viel zu niedrig angesetzt sind, um Arbeiterinnen ein Leben ohne sichernder Löhne. Sie können sich weder auf die Zahlung der na- Armut zu sichern. Sie müssten um den Faktor zwei bis fünf stei- tionalen Mindestlöhne berufen und die Verantwortung an die gen, um Existenzlohn-Niveau zu erreichen. In Indien liegt der Staaten delegieren noch sich damit herausreden, es gebe keine an- Mindestlohn beispielsweise nur bei der Hälfte der gewerkschaft- erkannten Berechnungsgrundlagen für existenzsichernde Löhne. lichen Mindestlohnforderung. Und um den Asia Floor Wage (AFW) zu erreichen, müsste er verdreifacht werden.
September 2019 9 2 Der aktuelle Kontext der Lohndebatte © Clean Clothes Campaign
10 Existenzlöhne in der globalen Modebranche – Firmencheck 2019 INSTRUMENTE ZUR ÜBERBRÜCKUNG 1 e DER LOHNKLUF T – UND DEREN GRENZEN di WIE DIE REGIERUNG BANGLADESCHS tu lls Fa DIE GEWERKSCHAF TEN IM STICH LIESS Die Löhne der Arbeiterinnen in der Textilindustrie reichen also schon jetzt nicht zum Leben, während die Lebenshaltungskos- 2018 passte die bangladeschische Regierung den ten weiter steigen. Das dominante Geschäftsmodell der Branche Mindestlohn zum ersten Mal seit 2013 an. Die Erhöhung baut auf Niedriglöhnen auf, weshalb die Löhne ständig unter von 5 300 Taka auf nur 8 000 Taka war eine grosse starkem Druck stehen. Wie wir im Folgenden zeigen, stossen Enttäuschung für die Gewerkschaften, denn der parallele die derzeitigen Lohnsetzungsmechanismen – die Festsetzung Anstieg der Lebenshaltungskosten seit 2013 macht von Mindestlöhnen und kollektive Lohnverhandlungen (Tarif- die Lohnsteigerung für die Arbeitnehmerinnen fast zu- verhandlungen) – ebenso wie freiwillige Firmen- und Standard- nichte. Dabei war die Ausgangslage für die Verhandlun- initiativen an ihre Grenzen, wenn es um die Gewährleistung gen eigentlich gut, hatten sich doch die Gewerkschaften existenzsichernder Löhne geht. in Bangladesch zum ersten Mal auf eine gemeinsame Mindestlohnforderung von 16 000 Taka geeinigt – ein im FESTSETZUNG VON MINDESTLÖHNEN mer noch längst nicht existenzsichernder Lohn, der aber dennoch eine deutliche Verbesserung gebracht hätte. Obwohl die Regierungen durch Konventionen der Internationa- Was ist also schiefgelaufen? Die BGMEA – der Unter len Arbeiterorganisation (ILO) zur Festsetzung existenzsichern- nehmerverband der Textilexporteure – signalisierte der der Mindestlöhne verpflichtet wären, sind in den meisten Pro- Regierung nachdrücklich, dass jede Lohnerhöhung duktionsländern die Mindestlöhne zu tief, um davon leben zu zu Fabrikschliessungen führen würde, und rief die Marken- können. Das liegt in erster Linie am Standortwettbewerb: Die firmen auf, ihre Einkaufspreise zu erhöhen. Die meisten Bekleidungsindustrie ist höchst mobil und Markenfirmen kön- Firmen ignorierten den Aufruf und unterstützten die Lohn nen zwischen Niedriglohnländern wählen. Regierungen stehen 10 steigerung nicht öffentlich , was zum unbefriedigenden also untereinander im Wettbewerb um internationale Firmen Ausgang der Verhandlungen beitrug. Gerüchten zufolge und viele halten deshalb die Löhne so niedrig wie möglich. wurde auch der noch tiefere Mindestlohn in Myanmar Auch örtliche Unternehmerverbände üben mit der Androhung als Argument ins Feld geführt. von Fabrikschliessungen und Arbeitsplatzverlusten Druck auf die Regierungen aus. Die bestehenden Gremien zur Festsetzung von Min- möglichen Beschäftigten, kollektiv um die Erhöhung der Löhne destlöhnen sind meist zu schwach aufgestellt, um diesem Druck zu kämpfen und Veränderungen in der Industrie zu erreichen. standhalten zu können (Abbildung 4). Um Erhöhungen der In der globalen Textilindustrie gibt es jedoch kaum Beispiele Mindestlöhne zu vermeiden, verzögern einige Regierungen bei- für erfolgreiche kollektive Lohnverhandlungen. Zwar wurden spielsweise die Einberufung dieser Gremien so lange, dass frü- einige Kollektivverträge zwischen Gewerkschaften und Arbeit- here Erhöhungen durch die Inflation bereits wieder weitgehend gebern für verschiedene Teile der Branche unterzeichnet, je- aufgezehrt wurden. Meist sind die Arbeitnehmerinnen auch doch hauptsächlich auf Betriebsebene, und sie bezogen sich nicht gleichberechtigt vertreten. In Bangladesch zum Beispiel meist auf spezifische Fragen wie Überstundenvergütung, Ar- wird die Vertretung der Arbeitnehmerinnen vom Arbeitgeber- beitszeiten, Mutterschaftsgeld oder Urlaub bei Krankheit. Bei verband ernannt, und in Kambodscha stammt die Mehrheit der den von uns untersuchten Kollektivverträgen haben die Ver- Gewerkschaftsdelegierten aus regierungsfreundlichen Gewerk- handlungen nur geringe Lohnsteigerungen von 5 bis 33 % er- schaften. Auch Bekleidungsfirmen – de facto die wirtschaftli- zielen können. Nur in Vietnam und Indien konnten wir Kollek- chen Arbeitgeber der Branche – sitzen bei diesen Verhandlun- tivverträge finden, die für ganze Regionen gelten. Der gen nicht am Tisch. Dies ermöglicht einerseits den Marken- vietnamesische Vertrag deckte 2014 hundert Unternehmen ab firmen, sich aus der Verantwortung zu ziehen, und erlaubt ande- und erreichte eine Erhöhung des Basislohns für ausgebildete 11 rerseits den Fabrikbesitzern, zu argumentieren, dass auch mini- Arbeitnehmerinnen um 21 % . male Lohnerhöhungen ohne eine entsprechende Erhöhung der von den Firmen gezahlten Preise untragbar seien. Nachweise DIE WICHTIGSTEN VERHANDLUNGSPARTNER dafür werden jedoch bisher kaum geliefert. SITZEN NICHT MIT AM TISCH KOLLEKTIVE LOHNVERHANDLUNGEN Zu den Hindernissen für kollektive Lohnverhandlungen zählen unter anderem die mangelnde Bereitschaft der Arbeitgeberseite Die Festsetzung von existenzsichernden Mindestlöhnen gelingt zu Verhandlungen und ein zu geringer gewerkschaftlicher Or- also aufgrund des grossen Drucks auf Regierungen in einer glo- ganisationsgrad, um sie erzwingen zu können. In einigen Län- 12 balisierten Wirtschaft mit erbarmungslosem Standortwettbe- dern (z. B. in Rumänien ) gibt es auch rechtliche Hürden für werb nur unzureichend. Weshalb aber sind kollektive Lohnver- Kollektivverträge. Kommt es doch mal zu Verhandlungen, fehlt handlungen (Tarifverhandlungen) zwischen Arbeitgebern und oft der Spielraum für signifikante Lohnerhöhungen, weil die Arbeitnehmerinnen nicht wirksamer? Lohnverhandlungen er- Unternehmen selbst unter Druck stehen, da sie ihre Aufträge oft
September 2019 11 Abbildung 4 — DRUCK AUF DIE FESTSETZUNG VON MINDESTLÖHNEN DAS GLOBALE WIRTSCHAF TSMODELL , DAS DIE LÖHNE NIEDRIG HÄLT. Lobbyarbeit von Lieferan- Andere Regierungen Fehlende Zusicherungen ten und der Industrie, Drohung der mit unterdurchschnittli- für eine kontinuierliche die die Regierung auffor- Standortverlagerung chen Löhnen in der Auftragsvergabe durch dert, die Löhne niedrig durch einige Firmen Bekleidungsindustrie die Firmen zu halten GREMIEN ZUR MINDESTLOHNFESTSETZUNG Gewerkschaften fordern höhere Löhne und führen Streiks durch 2 e di tu lls WIE PREISDRUCK KOLLEKTIVE Fa LOHNVERHANDLUNGEN IN INDIEN EINSCHRÄNKT Die Gewerkschaften in Tiruppur und Tamil Nadu haben 2016 Die Arbeiterinnen erklärten, wegen der Preisinflation sei erfolgreich einen Industrietarifvertrag mit dem Verband es unmöglich, vom Mindestlohn zu leben. Die kollektiven der Textilexporteure ausgehandelt und unterzeichnet. Er Lohnverhandlungen wurden aber durch den Druck der garantiert den Arbeitnehmerinnen eine Lohnsteigerung von Fabrikanten erschwert und eingeschränkt: Sie wehrten 14 33 % über vier Jahre, 18 % im ersten Jahr und 5 % in jedem sich heftig gegen diese Mindestlohnerhöhungen und folgenden Jahr. Damit stieg der Standardlohn auf rund behaupteten, dass sogar minimale Lohnerhöhungen sie 9 553 Rupien für Zuschneiderinnen, Näherinnen, Büglerinnen in den Bankrott treiben würden. Die grossen Modefirmen, 13 und Packerinnen . Allerdings muss dieser Verhandlungs die de facto wirtschaftliche Hauptarbeitgeber in der erfolg auch im Hinblick darauf bewertet werden, dass der Industrie sind, hielten sich auch hier heraus und äusserten Mindestlohn in Tiruppur seit 2004 eingefroren war. sich nicht öffentlich zu den Lohnverhandlungen.
12 Existenzlöhne in der globalen Modebranche – Firmencheck 2019 © Clean Clothes Campaign nur unregelmässig und von wechselnden globalen Auftrag 3 e di -gebern erhalten und bereits minimale Preisunterschiede aus- WIE ITALIENS BRANCHEN- tu lls schlaggebend sein können. Schliesslich macht es die Grössen- TARIFVERTRAG UNTERGRABEN WIRD Fa ordnung der Lohnlücke fast unmöglich, ausschliesslich mit Den Gewerkschaften in Italien ist es gelungen, einen Kollektivverhandlungen Existenzlöhne zu erreichen: Das Lohn- nationalen Kollektivvertrag – den CCNL (Contratto niveau liegt zwei- bis fünfmal unter dem Betrag, den eine Fami- Collettivo Nazionale di Lavoro) – auszuhandeln, der den lie als menschenwürdige Existenzgrundlage benötigen würde. Arbeitnehmerinnen in der italienischen Industrie Das heisst, es würde mehrere aufeinanderfolgende erfolgreiche einen akzeptablen Lohn (in einigen Fällen sogar einen Lohnrunden erfordern, bis Existenzlöhne erreicht wären, was existenzsichernden Lohn, je nach Arbeitnehmerin selbst im Erfolgsfall noch Jahrzehnte dauern könnte. nengruppe, Familiengrösse und Region) sichert. Doch die Schwierigkeit liegt in der Durchsetzung dieses Vertrags. Die Textilbranche Italiens ist stark geprägt von kleinen, teils an der Grenze der Legalität operierenden « Kollektive Verhandlungen müssen Werkstätten, wo Arbeitnehmerinnen ohne Schutz bleiben. von verbindlichen und durchsetzbaren Darüber hinaus gibt es in dem Sektor, in dem der Einsatz Vereinbarungen mit den Markenfirmen von Subunternehmern bereits weitverbreitet ist, einen zunehmenden Trend zu lokalen Vereinbarungen zwischen begleitet werden. » Arbeitgebenden und Gelegenheitsgewerkschaften, welche das von nationalen Gewerkschaften unterzeich- nete CCNL-Abkommen unterbieten. Doch noch entscheidender ist ein anderes Hindernis: Diese lokalen Vereinbarungen schränken Sozial dass Markenfirmen bisher nicht rechtsverbindlich in kollektive leistungen und andere Schutzmassnahmen der Arbeitneh- Lohnverhandlungen einbezogen werden, obwohl sie de facto merinnen ein und senken das Lohnniveau teils deutlich der wirtschaftliche Hauptarbeitgeber in der Bekleidungsindus- unter die nationale Armutsschwelle. Je weiter hinten in trie sind. Kollektivverhandlungen zwischen Beschäftigten und der Lieferkette, desto schlimmer ist die Situation für die den direkten Arbeitgebern sind wichtig, aber in der heutigen Arbeiterinnen und desto grösser das Risiko von Arbeits- globalisierten Wirtschaft müssen Verhandlungen von verbind- rechtverletzungen. In diesen komplexen Lieferketten lichen und durchsetzbaren Vereinbarungen mit den Markenfir- wäre Transparenz ein Schlüssel zur Aufdeckung illegaler men begleitet werden, in denen sich diese verpflichten, den Be- Praktiken. Doch selbst Luxusmarken, die in Italien pro- schäftigten existenzsichernde Löhne zu gewährleisten und ihre duzieren lassen, weigern sich, ihre Lieferantenlisten Einkaufspreisgestaltung und Auftragsvergabepraxis so zu ge- offenzulegen, und verstecken sich weiterhin hinter wirt- stalten, dass die Spielräume für entsprechende Lohnerhöhun- schaftlichen und wettbewerbsrechtlichen Argumenten. gen auf Fabrikebene vorhanden sind.
September 2019 13 FREIWILLIGE MULTISTAKEHOLDER-INITIATIVEN Wie in Kapitel 2 gezeigt wurde, tragen Modefirmen Verantwor- Mit der Festsetzung von Mindestlöhnen und Tarifverhandlun- tung, existenzsichernde Löhne in ihrer gesamten Lieferkette zu gen kann die bestehende Lohnlücke nicht geschlossen wer- gewährleisten. Wir haben aufgezeigt, dass Firmen bisher oft den – zumindest nicht, solange Markenfirmen weiter im « Race eher Teil des Problems als der Lösung sind – indem sie im Stand- to the Bottom » Druck auf Regierungen ausüben, bei Tarifver- ortwettbewerb Fabriken und Produktionsländer gegeneinander handlungen nicht mit am Tisch sitzen und/oder in ihren Ein- ausspielen, sich bei Lohnverhandlungen nicht klar und öffent- kaufsstrategien keine Preise bezahlen, welche existenzsichern- lich für höhere Löhne einsetzen und keine Garantien für faire de Löhne erlauben würden. Auch die bestehenden freiwilligen Einkaufspreise abgeben. Doch die Firmen hätten es in der Hand, Firmeninitiativen und Multistakeholder-Initiativen haben bis- echte Veränderung für die Arbeiterinnen, die ihre Kleider her- her kaum Ergebnisse in Form von Lohnanstiegen gebracht, sie stellen, zu bewirken – die bisherigen freiwilligen Initiativen al- müssten ihre Mitglieder zu effektiveren Massnahmen zur Ge- lerdings, mit denen Firmen die Lohnfrage in der Branche anzu- währleistung von Existenzlöhnen verpflichten. gehen versprechen, haben bisher nur äusserst bescheidene Ergebnisse vorzuweisen. Die nachfolgende Auflistung ist nicht abschliessend; sie umfasst Initiativen, die von den befragten Firmen in ihren Antworten erwähnt wurden: Beteiligte Marken: C&A, Esprit, H&M, Inditex, Tchibo, Primark, PVH, Zalando Ergebnisse: Keine Lohnerhöhungen Unsere Meinung: ACT will die Löhne branchenweit erhöhen. Wir befürchten allerdings, dass ACT jedoch nicht auch gleichzeitig die teilnehmenden Modefirmen auf rechtsver- ACT (ACTION, COLLABORATION, bindliche und durchsetzbare Weise verpflichtet, ihre Ein- TRANSFORMATION) kaufspreise deutlich zu erhöhen, die sie an die Lieferanten zahlen. Dass Löhne regional, über Ländergrenzen hinweg Das ACT-Programm ist eine 2014 abgeschlossene freiwilli- steigen müssen, um Produktionsverlagerungen zu begegnen, ge Vereinbarung zwischen grossen Modefirmen und der beachtet dieser Ansatz ebenfalls nicht. Darüber hinaus hat Globalen Gewerkschaftsföderation IndustriALL. Sie strebt sich das Programm nicht auf eine Definition für Existenz- nationale Branchentarifverträge (kollektive Lohnverträge) in lohn-Richtwerte festgelegt und erklärt, dass jeder kollektiv der Schuh-, Bekleidungs- und Textilindustrie an. Gewerk- ausgehandelte und tariflich festgeschriebene Lohn ein Exis- schaften und Lieferanten sollen den Lohn auf nationaler tenzlohn sei – was umstritten ist. Durch Branchentarifver- Ebene branchenweit aushandeln. Die teilnehmenden Mode- träge können Löhne steigen, ob jedoch dadurch die Kluft firmen versprechen ihrerseits, die ausgehandelten Tarif- zwischen tatsächlichen und existenzsichernden Löhnen in löhne bei ihren Einkaufspreisen als geschützte Position zu naher Zukunft (oder überhaupt) geschlossen werden kann, berücksichtigen. Kambodscha und die Türkei sind die ersten ist angesichts des globalisierten Wirtschaftsmodells fraglich. Schwerpunktländer. Die Verhandlungen haben bisher noch kein Ergebnis gebracht.
14 Existenzlöhne in der globalen Modebranche – Firmencheck 2019 Beteiligte Firmen: Adidas, ALDI, C&A, Esprit, H&M, DAS DEUTSCHE UND DAS Hugo Boss, KiK, Lidl, Otto Group, Primark, Puma, Tchibo NIEDERL ÄNDISCHE BÜNDNIS FÜR Ergebnisse: Lediglich Zusammenarbeit und Monitoring; NACHHALTIGE TEXTILIEN keine Lohnerhöhungen Die beiden staatlich geförderten Programme sehen für ihre Unsere Meinung: Keine dieser beiden Initiativen trägt etwas Mitgliedsfirmen Instrumente vor, um die Einkaufspraktiken Neues zur Debatte über existenzsichernde Löhne bei. Obwohl zu analysieren und um aufzuzeigen, was sie auf dem Weg zu existenzsichernde Löhne ein Kernanliegen des deutschen einem existenzsichernden Lohn tun können. Das deutsche Bündnisses für nachhaltige Textilien sind, konnten bislang Bündnis ermutigt seine Mitgliedsunternehmen auch zur keine dahingehenden Ergebnisse erzielt werden. Die Verant- Teilnahme an ACT (siehe oben) und wirbt für dessen Instru- wortung für Armutslöhne wird bei Lieferanten gesehen. ment zur Einkaufspreis-Anpassung bei Lohnerhöhungen. Auch die Zusammenarbeit mit ACT und der Fair Wear Foun- dation (FWF) hat bislang keine konkreten Ergebnisse, ge- schweige denn Lohnerhöhungen gezeitigt. Es fehlt an einem Aktionsplan mit klaren, messbaren und zeitgebundenen Etappen- und Gesamtzielen. Ohne solche Strategien fehlt der Existenzlohn-Verpflichtung des Bündnisses die Substanz. Beteiligte Firmen: Adidas, Fruit of the Loom, Nike, PVH, Under Armour, UNIQLO Ergebnisse: keine Lohnerhöhungen Unsere Meinung: Der Vergleich der Löhne auf der Basis von Richtwerten, wie z. B. des Asia Floor Wage, bestätigt das, was wir bereits wissen – aktuelle Lohnniveaus liegen deut- DAS FAIR COMPENSATION lich unter einem existenzsichernden Niveau. Obwohl es für PROGRAMM DER FLA Markenfirmen nützlich sein kann, eine klarere Vorstellung des Problems zu haben, sind konkrete Massnahmen das Ge- Der US-amerikanische Verband FLA (Fair Labour Associa- bot der Stunde. Die FLA sollte als Voraussetzung für die tion) hat ein « Fair Compensation » - Programm entwickelt. Mitgliedschaft eine Verpflichtung zur Zahlung eines existenz- Es soll Mitgliedsfirmen mit Instrumenten, Strategien und sichernden Lohns verlangen. Daten helfen, sich für das Thema zu engagieren. Die bisheri- gen Massnahmen konzentrierten sich auf die Standardisie- rung von Verhaltenskodizes und auf die Entwicklung eines « Fair Compensation Tool » : eine Tabelle, die es Firmen er- möglicht, in Zusammenarbeit mit Lieferanten einen landes- spezifischen Lohnüberblick zu erhalten und ihre Lohndaten mit einer Vielzahl von Richtwerten zu vergleichen. Die Da- ten können verwendet werden, um mit Lieferanten über Lohnerhöhungen zu diskutieren, aber es müssen dabei keine spezifischen Korrekturmassnahmen festgelegt werden.
September 2019 15 DIE « FAIR-WAGE » – METHODE Beteiligte Firmen: H&M, Puma, G-Star RAW Ergebnisse: Einige Projekte innerhalb des Programms Die « Fair-Wage » - Methode, die u. a. von einem Lohnexper- berichten von kleinen Lohnerhöhungen, jedoch nicht bis ten der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) ausgear- auf ein existenzsicherndes Niveau. beitet wurde, bietet Instrumente und Systeme, mit denen in Fabriken eine Vielzahl von Lohnfragen überwacht werden können. Dazu gehören die Entlohnungssysteme in Bezug Unsere Meinung: Solch eine praktische Unterstützung mag auf die Arbeitszeit, Leistung und Qualifikation, die Einhal- für Modefirmen nützlich sein, aber da die Lohnhöhe nur tung von Mindestlöhnen usw. Der existenzsichernde Lohn eine Dimension unter 12 ist, befürchten wir, dass diese Ini- kommt jedoch nur als eine der « 12 Dimensionen eines fai- tiative die Aufmerksamkeit von der Notwendigkeit ablen- ren Lohns » vor. ken wird, auf die Zahlung existenzsichernder Löhne hinzu- arbeiten. Beteiligte Firmen: ALBIRO, Mammut, Odlo, Workfashion Ergebnisse: Zusammenarbeit, Überprüfung, Bericht- erstattung über Firmenaktivitäten, Werkzeuge u. a. zum Lohnvergleich und zur Ermittlung von Einkaufspreisen, welche Existenzlöhne ermöglichen. Keine öffentlichen Daten, die breitenwirksame Lohnerhöhungen jenseits von Insellösungen auf Firmenebene dokumentieren. FAIR WEAR FOUNDATION (FWF) Unsere Einschätzung: Die FWF weist den umfassendsten Ansatz zur Verbesserung der sozialen Bedingungen in Näh- Die FWF ist eine freiwillige Multistakeholder-Initiative zur fabriken auf. Sie verlangt grundsätzlich die Bezahlung eines Verbesserung der Arbeitsbedingungen in Zulieferbetrieben. Existenzlohns, misst die Fortschritte der Mitgliedsfirmen Die Verpflichtung zur Zahlung eines Existenzlohns ist Teil auf dem Weg dorthin und sie nimmt dabei auch Beschäftig- des Verhaltenskodex der FWF. Die Mitgliedschaft in der teninterviews ausserhalb der Arbeitsstätten vor. Die konse- FWF bedeutet jedoch nicht automatisch, dass Beschäftigte quente Umsetzung eines Existenzlohns in der Produktion in der Lieferkette bereits jetzt Existenzlöhne erhalten. Statt- der Mitgliedsfirmen steht aber noch aus. Die FWF sollte of- dessen erwartet die FWF von den Mitgliedsfirmen kontinu- fener über die aktuelle Lohnsituation in den Lieferketten ierliche Anstrengungen und schrittweise Fortschritte hin zu ihrer Mitglieder berichten und mit transparenten, zeitge- Existenzlöhnen. Die FWF stellt dafür Informationen und bundenen Meilensteinen sicherstellen, dass der Existenz- Werkzeuge zu Verfügung und berichtet einmal im Jahr über lohn-Standard zeitnah verwirklicht wird. die Performance jeder Mitgliedsfirma.
16 Existenzlöhne in der globalen Modebranche – Firmencheck 2019 FREIWILLIGE FIRMEN- UND STANDARDINITIATIVEN Beteiligte Firmen: U. a. Coop, Remei AG beziehen sich in ihren Antworten auf SA8000, Gucci, Otto Group, PVH und Tchibo sind Corporate Partner von SAI. Ergebnisse: Es liegen keine Daten über Lohnerhöhungen vor. Unsere Meinung: Das SA8000-Zertifikat bezieht sich auf einzelne Fabriks-Standorte. Die Verantwortung (und die SA8000-STANDARD Kosten) für die Einhaltung der Sozialvorgaben werden da- durch vollumfänglich an die liefernde Fabrik übertragen. Der SA8000-Standard ist ein freiwilliges Zertifizierungs- Die Einkaufspraxis der Markenfirmen, bspw. in Bezug system von Zulieferbetrieben, das von Social Accountability auf Preisstruktur oder Lieferfristen, kann sich negativ auf International (SAI) entwickelt wurde. Im Zertifizierungspro- Löhne und Arbeitszeiten auswirken. Schlechte Arbeits zess werden die Einhaltung der ILO-Kernarbeitsnormen bedingungen sind grundlegende Probleme und hängen und weitere relevante Standards geprüft, auch die Zahlung eng mit dem Verhalten der Markenfirmen zusammen – eines Existenzlohns ist ein Prüfkriterium. Im SA8000-Prüf- ein SA8000-Zertifikat löst die dahinterliegenden Probleme prozess müssen bisher jedoch keine öffentlichen Existenz- daher nicht. lohn-Richtwerte verwendet werden, stattdessen werden einfache fabrikspezifische Existenzlohn-Schätzungen im Zuge von Audits vorgenommen, diese werden nicht veröf- fentlicht und sind somit nicht nachvollziehbar. Derzeit wird geprüft, ob künftig die Existenzlohn-Richtwerte der Global Living Wage Coalition (GLWC), die auf der fundierten An- ker-Methode beruhen, für die SA8000-Zertifizierung ange- wendet werden sollen. Beteiligte Firmen: Adidas, Albiro, ALDI, Amazon, C&A CALIDA Group, Coop, Decathlon, Esprit, Fruit of the Loom, HOLY FASHION GROUP, Hugo Boss, Inditex, Intersport, Lidl, Manor, Migros, Nile, Otto Group, Peek & Cloppenburg, PKZ, Triumph, Workfashion; Chicorée und Tally Weijl verweisen auf amfori-BSCI-Audits bei ihren Zulieferern. Ergebnisse: Es liegen keine Daten über Lohnerhöhungen vor. AMFORI BSCI Unsere Meinung: amfori BSCI (Business Social Compliance Initiative) ist eine Bei der Unternehmensinitiative amfori BSCI sind Gewerk- 2003 gegründete Firmeninitiative, die auf freiwillige Zerti- schaften, NGO und lokale Organisationen im Gegensatz zu fizierung setzt. Bei amfori BSCI wird der Existenzlohn als den meisten Multistakeholder-Initiativen nicht gleichberech- « erstrebenswertes Ziel » angesehen und nicht als unmittel- tigt beteiligt. Bei amfori BSCI liegt die Verantwortung für die bar umzusetzende Verpflichtung. Während der amfori- Umsetzung grundlegender Standards vorwiegend bei den BSCI-Audits werden zwar Existenzlohnrichtwerte ge- Zulieferbetrieben. Die Initiative verlangt von ihren Mitglie- schätzt, diese sind jedoch nicht transparent und somit auch dern keine Verpflichtung zur Bezahlung eines Existenzlohns nicht nachvollziehbar. Obgleich diese Daten erhoben wer- und sie verpflichtet sie auch nicht, ihre Einkaufspolitik und den, besteht bei amfori BSCI keine Pflicht für Firmen, Mass- -praktiken so anzupassen, dass den Fabrikarbeiterinnen ein nahmen zu ergreifen, um die Löhne hin zu Existenzlohn- Existenzlohn bezahlt werden kann. Damit sind keine ausrei- richtwerten zu erhöhen. Zudem werden bei der Berechnung chenden Bemühungen seitens amfori BSCI ersichtlich, welche wesentliche Elemente wie die Gesundheitsausgaben nicht die Einführung eines Existenzlohns in den Lieferketten ihrer berücksichtigt, weshalb der berechnete Existenzlohnricht- Mitglieder effektiv vorantreiben würden. wert niedriger als andere Richtwerte ist.
September 2019 17 3 Umfrageergebnisse und Bewertung © Christoph Vadino
18 Existenzlöhne in der globalen Modebranche – Firmencheck 2019 Mit der Festsetzung von Mindestlöhnen und Tarifverhandl Diese Studie basiert auf einer Befragung von 45 Firmen zu neun ungen kann die bestehende Lohnlücke nicht geschlossen Bereichen. Diese Bereiche sind der « Roadmap to a Living 15 werden – zumindest nicht, solange Markenfirmen weiter im Wage » der CCC entnommen, einem Fahrplan, um existenzsi- « Race to the Bottom » Druck auf Regierungen ausüben, bei chernde Löhne erfolgreich umzusetzen. Tarifverhandlungen nicht mit am Tisch sitzen und/oder in ih- Die Resultate dieser Befragung machen Unterschiede ren Einkaufsstrategien keine Preise bezahlen, welche existenz- bei den Massnahmen deutlich und zeigen auf, welche Mode- sichernde Löhne erlauben würden. Auch die bestehenden frei- firmen sich mehr und welche weniger bemühen. Im Fokus des willigen Firmeninitiativen und Multistakeholder-Initiativen Berichts steht jedoch die Frage nach dem konkreten Ergebnis, haben bisher kaum Ergebnisse in Form von Lohnanstiegen also die Frage: Welche Arbeiterinnen erhalten derzeit einen gebracht, sie müssten ihre Mitglieder zu effektiveren Massnah- Lohn zum Leben? men zur Gewährleistung von Existenzlöhnen verpflichten. « Nur bei zwei der 45 Firmen konnten wir Anhaltspunkte dafür finden, dass zumindest einem Teil der Beschäf- 1 WARUM EIN ERGEBNIS- x Bo ORIENTIERTER ANSATZ? tigten in der Produktion ein existenz- sichernder Lohn gezahlt wird. » Es gibt eine Reihe von Zwischenschritten, die Firmen unternehmen können, um das System in seiner jetzigen Form zu verbessern – sie werden in diesem Kapitel be- Und dieses ergebnisorientierte Fazit ist schockierend: Nur bei schrieben, und in diesen Zwischenschritten sind einige zwei der 45 Firmen konnten wir Anhaltspunkte dafür finden, Unternehmen deutlich weiter als andere. Doch letztend- dass zumindest einem Teil der Beschäftigten in der Produktion lich kommt es für die Arbeiterinnen auf das Ergebnis an: ein existenzsichernder Lohn gezahlt wird. Und nur bei einer dass Existenzlöhne gezahlt werden. Die von uns be- von diesen gilt dies auch für Arbeiterinnen in der Produktion fragten Bekleidungsfirmen haben sich überwiegend dafür ausserhalb des eigenen Hauptsitzlandes. entschieden, nicht selbst zu produzieren, sondern ihre Produktion an Zulieferbetriebe in Asien, Afrika und Ost- ERGEBNISORIENTIERTE BEWERTUNG und Südeuropa auszulagern. Im Wissen, dass dort Arbeitsrechte teilweise nicht gewahrt werden und die Wir haben die Markenfirmen gefragt, ob sie sich verpflichten, Mindestlöhne zwei- bis fünfmal unter dem Niveau den Menschen, die ihre Waren herstellen, einen existenz- eines existenzsichernden Lohns liegen, entziehen sich sichernden Lohn zu gewährleisten (60 % bestätigten dies), wel- die Bekleidungsfirmen teilweise ihrer Verantwortung che Richtwerte sie bei der Definition existenzsichernder Löhne für den Schutz der Arbeitsrechte. Darüber hinaus treffen zugrunde legen und wie viele der Arbeiterinnen, die ihre Waren viele Firmen bewusst die Entscheidung, ihre Geschäfts- herstellen, diesen Lohn auch erhalten. Basierend auf diesen modelle auf möglichst niedrige Preise auszurichten, Daten haben wir die Markenfirmen in Kategorien eingeteilt, sie- und sie üben Druck auf die Lieferanten aus, ihre Kosten he Abbildung 5. so weit wie möglich zu senken. Dies zwingt die Fabriken de facto dazu, Armutslöhne zu zahlen. • 100 % der Arbeiterinnen in der Lieferkette erhalten einen existenzsichernden Lohn. Die Markenfirmen sind in der Wahl ihrer Produktionsländer • 50 % oder mehr der Arbeiterinnen in der Lieferkette frei. Ihre Verantwortung für die Einhaltung der Menschen- erhalten einen existenzsichernden Lohn. rechte gilt jedoch auch, wenn sie in Ländern mit aus- • 25 % oder mehr der Arbeiterinnen in der Lieferkette beuterischen Lohnpraktiken und schwierigen menschen- erhalten einen existenzsichernden Lohn. rechtlichen Situationen produzieren; sie besteht un- • Die Firma hat damit begonnen, zur Zahlung eines abhängig vom nationalen Kontext ihrer Produktions- existenzsichernden Lohns beizutragen, indem sie – standorte (vgl. Kapitel 2, Seite 9). Deshalb bewerten wir basierend auf einem konkreten Existenzlohn-Richt- Firmen nicht primär nach den Massnahmen, die sie wert – deutlich höhere Lohnkosten bei der Einkaufs- ergriffen haben, um die teilweise selbstverschuldeten preisberechnung für alle Lieferanten ansetzt. Probleme zu mildern. Vielmehr haben wir uns entschieden • Die Firma kann keinen Nachweis dafür erbringen, dass zu bewerten, ob und in welchem Umfang die Mass- Beschäftigte einen existenzsichernden Lohn erhalten. nahmen tatsächlich zu Existenzlöhnen für Menschen führen, die die Waren der Firmen herstellen. Wenn Mass- nahmen mehr als PR sein sollen, dann müssen sie auch konkrete, messbare Wirkung entfalten.
September 2019 19 Abbildung 5 — ERGEBNISORIENTIERTE BEWERTUNG ERHALTEN ARBEITERINNEN EINEN EXISTENZLOHN? 16 Lieferkette die einen existenzsichernden Lohn erhalten Anteil der Arbeiterinnen in der Lieferkette, 0% Mindestens 25 % Mindestens 50 % 100 % Adidas, Albiro, Aldi, Amazon, C&A, CALIDA Group, Chicorée, Gucci Nile Coop, Decathlon, Esprit, Fruit of the Loom, Gap, G-Star RAW, (für einige H&M, HOLY FASHION GROUP, Hugo Boss, Inditex, Intersport, italienische KiK, Levi's, Lidl, Mammut, Manor, Maus Frères, Migros, Nike, Produktionen) Odlo, Otto Group, Peek & Cloppenburg, PKZ, Primark, Puma, PVH, Remei AG, Sherpa Outdoor, Tally Weijl, Tchibo, Triumph, Under Armour, UNIQLO, Workfashion, Zalando, Zebra Fashion AG Nur bei zwei der 45 Firmen konnten wir Anhaltspunkte dafür finden, dass zumindest einem Teil der Beschäftigten in der Produktion ein existenzsichernder Lohn gezahlt wird. BEWERTUNG DER ZWISCHENSCHRIT TE METHODE (THEMENSPEZIFISCHE MASSNAHMEN) Die Analyse basiert auf den Aussagen und Dokumenten der Neben dem ernüchternden ergebnisorientierten Resultat hat die Markenfirmen, welche anhand definierter Kriterien aus der Befragung der Firmen zumindest deutliche Unterschiede in den Roadmap bewertet wurden. Einige Bekleidungsfirmen haben Zwischenschritten offengelegt. Wir haben diese in drei Katego- den Fragebogen zur Umfrage nicht ausgefüllt – ALBIRO, rien zusammengefasst: Amazon, Fruit of the Loom, Gap, Levi’s, Lidl, Mammut, Maus Frères S.A., Odlo, Otto Group, Peek & Cloppenburg, Sherpa A) Verpflichtung zur Gewährleistung eines existenzsichernden Outdoor, Triumph, Workfashion und Zalando. In einigen Fällen Lohns. Diese Kategorie prüft, ob sich die Firmen öffentlich haben Firmen uns Dokumente oder Links zu öffentlichen In- zum Konzept eines existenzsichernden Lohns bekennen, ob formationen geschickt, diese wurden, zusammen mit anderen sie dazu Richtwerte anwenden, ob sie eine Strategie zur Er- öffentlich zugänglichen Informationen, in die Analyse einbezo- reichung dieses Ziels haben und ob sie Massnahmen für die gen. Weitere Informationen über die angewandte Methode fin- Umsetzung dieser Strategie in ihrer gesamten Lieferkette ini- den Sie in Anhang 3. tiert haben. B) Unterstützende Massnahmen, die für die Umsetzung eines existenzsichernden Lohns unerlässlich sind. Hier wird un- tersucht, ob Modefirmen ihre Einkaufspraktiken so ange- passt haben, dass die Verpflichtung zum existenzsichernden Lohn auch umsetzbar ist, ob sie sich für höhere gesetzliche Mindestlöhne eingesetzt haben, und ob sie transparent über ihre Lieferantennetzwerke und gezahlten Löhne berichten. C) Unterstützung der Versammlungsfreiheit. In dieser Katego- rie wurde ausgewertet, welche Schritte die Modehändler unternehmen, um die Vereinigungsfreiheit und das Recht auf Tarifverhandlungen über einen existenzsichernden Lohn proaktiv zu unterstützen, und inwieweit der Dialog und die Verhandlungen mit Arbeitsrechtsorganisationen, insbeson- dere mit Gewerkschaften, in ihre Arbeit integriert sind. Auf den folgenden Seiten wird zusammenfassend dargestellt, wo die Markenfirmen in jedem dieser Schlüsselbereiche stehen.
20 Existenzlöhne in der globalen Modebranche – Firmencheck 2019 KATEGORIE A – VERPFLICHTUNG ZU UND wertet. Diverse Firmen verweisen auf den Verhaltenskodex von UMSETZUNG VON MASSNAHMEN ZUR ERREI- amfori BSCI – u. a. CALIDA Group, Chicorée, Coop, HOLY CHUNG EINES EXISTENZSICHERNDEN LOHNS FASHION GROUP, Intersport, Manor, Migros, PKZ, Tally Weijl. Doch amfori BSCI sieht die Zahlung von Existenzlöhnen nur als A.1. VERPFLICHTUNG ZUR GEWÄHRLEISTUNG « erstrebenswertes Ziel » und nicht als unmittelbar umzusetzende EINES EXISTENZSICHERNDEN LOHNS Verpflichtung an. Unternehmen wie Amazon, Levi’s, Maus Frères S.A., Peek & Cloppenburg, Sherpa Outdoor oder Triumph haben Indikator 1.1. – Verpflichtet sich das Unternehmen nicht geantwortet oder bekennen sich nicht öffentlich dazu, dass öffentlich, dass im Lieferantennetzwerk ein den Arbeiterinnen in ihren Lieferketten ein existenzsichernder Existenzlohn gezahlt werden soll? Lohn ausgezahlt werden soll. Die Remei AG erklärt, sich in ihrer gesamten Lieferkette von Spinnerei zu Konfektionierung auf die Anforderungen der SA8000-Zertifizierung zu beziehen, die Exis- tenzlöhne als verbindliches Prüfkriterium einschliesst. Einige andere Firmen verweisen für Teile ihrer Produktion auf SA8000. Zweitens haben wir gefragt, ob die Firmen in ihren So- zialaudits die Zahlung von Existenzlöhnen systematisch kontrol- lieren und ob bei Nichtzahlung entsprechende Massnahmen zur Abhilfe vorgesehen sind. Die Schweizer Marke Nile erfasst in ihren Sozialaudits die Differenz zwischen der Existenzlohnver- pflichtung sowie dem tatsächlich gezahlten Lohn. Mitglieder der FWF wie ALBIRO, Mammut, Odlo und Workfashion kontrollie- ren dies ebenfalls regelmässig in von der FWF durchgeführten 18 nein/kein Hinweis 18 teilweise 9 ja Sozialaudits und diskutieren mit Zulieferern über Lohnerhöhun- gen. Fruit of the Loom, Under Armour und UNIQLO berufen sich Wonach wir gesucht haben und warum: Ein existenzsichernder alle auf das FLA-Programm « Fair Compensation », das jährlich Lohn ist ein Menschenrecht und muss fester Bestandteil der Ge- 5 % der Lieferanten einer Marke auditiert. Dieses Programm sieht schäftspraktiken und Strategien von Unternehmen sein. Firmen zwar Korrekturmassnahmen (Corrective Action Plans) für Lohn- müssen überwachen, dass die gezahlten Löhne angemessen sind, zahlungssysteme vor, überprüft aber leider nur die Einhaltung um die Grundbedürfnisse der Arbeiterinnen und ihrer Familie des gesetzlichen Mindestlohns. « Progressive realisation of a fair zu decken, und andernfalls Abhilfe schaffen. Dies ist die Grund- wage » ist die Formel, die Nike in seinem Lieferantenleitfaden voraussetzung, um Armutslöhne zu beseitigen. verwendet. Darin werden Schritte aufgezeigt, die die Zulieferer unternehmen können, um Fortschritte auf dem Weg zu einem Was wir gefunden haben: Sehr viele Unternehmen sprechen sich « fairen Lohn » zu erzielen, einschliesslich der Belohnung von heute in ihrem Marketing und ihrer Werbekommunikation für Leistung und Erfahrung, von Strategien zur Lohngleichheit zwi- existenzsichernde Löhne aus. Wir haben aber explizit danach ge- schen den Geschlechtern, der Verbraucherpreisentwicklung und schaut, ob sie diese Verpflichtung in ihre Verhaltenskodizes und der Anpassung der Reallöhne. Da die Firma jedoch keinen Richt- Dokumente für die Lieferanten einbezogen haben. Weiter wollten wert für den existenzsichernden Lohn hat, blieb unklar, ob die wir wissen, ob in diesen Dokumenten ein Existenzlohn so defi- Auszahlung eines existenzsichernden Lohns geprüft wird. Die niert ist, dass er die Grundbedürfnisse einer Familie deckt und in überwiegende Mehrheit der Firmen, welche sich in ihren Verhal- der Regelarbeitszeit verdient werden muss, vor Boni, Zulagen tenskodizes zu existenzsichernden Löhnen verpflichtet, auditiert oder Überstundenvergütung (vgl. Definition auf Seite 6). Neun Firmen – ALBIRO, C&A, H&M, Inditex, Mammut, Indikator 1.2. – Überwacht das Unternehmen die Nile, Odlo, Tchibo und Workfashion – haben sich klar zu einem Umsetzung und Einhaltung dieser Verpflichtung existenzsichernden Lohn verpflichtet und berufen sich dabei aus- im gesamten Lieferantennetzwerk? drücklich auf die Deckung der Bedürfnisse einer Familie, dies sowohl in ihrer Unternehmenskommunikation als auch im Liefe- rantenkodex. Einige Firmen verwenden dabei keinen eigenen Verhaltenskodex, sondern wenden einen externen Verhaltensko- dex an, zum Beispiel den FWF Code of Labour Practices. Mehrere Markenfirmen verpflichten sich zwar in ihren Kodizes zu Exis- tenzlöhnen und erwähnen ausdrücklich die Deckung der Grund- bedürfnisse der Beschäftigten, aber ohne klare Einbeziehung der Familie der Beschäftigten. Ferner gibt es Modefirmen wie Zalan- do, die Mitglied freiwilliger Initiativen zur Zahlung existenz- sichernder Löhne sind, aber in ihren Dokumenten für Lieferanten keinerlei Verpflichtung diesbezüglich erwähnen. Die reine Mit- gliedschaft in einer Initiative ohne Hinweis darauf, dass die Ziele auch intern umgesetzt sind, haben wir als nicht ausreichend be- 28 nein/kein Hinweis 17 teilweise 0 ja
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