Experimentelle Musik in Belgrad - Norient

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Experimentelle Musik in Belgrad - Norient
Experimentelle Musik in Belgrad | norient.com                           26 Dec 2021 18:24:13

    Experimentelle Musik in
    Belgrad
    by Theresa Beyer

    An den Swiss Music Days spielten Musiker aus der Schweizer
    Szene für experimentelle und improvisierte Musik auf dem
    Balkan und trafen in «Improvised Encounters» auf die lokale
    Szene in Belgrad. Auch wenn die musikalischen Sprachen
    ähnlich sind, sind die Bedingungen andere. Ein Blick auf die
    Ungleichheiten an den Swiss Music Days.

    «Er ist der Regenmacher. Wenn er will, dass etwas zu Stande kommt, dann
    klappt das.» sagt der Gitarrist Igor Čubrilović (siehe Teil 1) über Bojan
    Djordjević. Wenn es in Belgrad um experimentelle und improvisierte Musik,
    um Jazz und Weltmusik geht, hat Bojan mit ziemlicher Sicherheit seine Finger
    im Spiel. So auch bei den Swiss Music Days, die er gemeinsam mit Jonas
    Kocher leitet.

    Während die Familien im Kalemegdan-Park ihr Eis essen, kurvt Bojan durch
    die lauten Strassen von Belgrad. Im ernsten Leben ist er Anwalt. Jetzt sind
    seine oberen Hemdknöpfe offen und es gilt andere Klienten zu versorgen:
    Bojan garantiert, dass alle Gäste aus der Schweiz vom Flughafen abgeholt
    werden und zur richtigen Zeit am richtigen Ort für Soundcheck und Konzert
    bereit stehen. Dass er diese Koordination mit Seelenruhe und Schweizer

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    Pünktlichkeit ausführt, hängt mit seiner jahrelangen Erfahrung zusammen.
    Seit 18 Jahren ist er der künstlerische Leiter des internationalen Festivals für
    neue Musik Ring Ring.

    Experimentalhunger nach dem Embargo
    Die Swiss Music Days fügen sich in Belgrad ein in eine lange Festivaltradition
    für experimentelle Musik. Gerade die Anfänge des Ring Ring-Festivals sind
    eng mit Belgrads Geschichte verwoben. Während der UNO-Embargos von
    1992 bis 1995 war die Hauptstadt von der Aussenwelt abgeschnitten:
    wirtschaftlich, politisch und kulturell. Bis die Macht von Slobodan Milošević
    brüchig wird, sollte es aber noch einige Jahre dauern. Während des Embargos
    strahlte zwar der oppositionelle Radiosender B92 eine Sendung für
    experimentelle Musik aus. Es war aber kaum möglich, Konzerte zu
    organisieren.

    Mit dem Abkommen von Dayton und dem Ende der kulturellen Apathie kam
    in Belgrad viel in Gang. «Die Leute waren hungrig auf Musik aus dem
    Ausland.» erzählt Bojan von den Ring Ring-Anfängen. «Wir wollten aber nicht
    nur Leute von auswärts einladen, sondern auch der lokalen Szene ein Podium
    geben. Denn es war schwer zu reisen und aufzutreten». Radio B92 war
    damals in der Insel der Freidenker zu Hause, dem Cinema Rex - einem
    ehemaligen jüdischen Kulturzentrum. Dem Underground verpflichtet
    verbreitete das Radio die Nachricht über das neue Festival und die ersten
    Konzerte waren rappelvoll. Im Publikum sassen vor allem junge Leute, denn
    viele intellektuelle Musikerinnen und Zuhörer hatten das Land bereits
    verlassen.

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Experimentelle Musik in Belgrad | norient.com                            26 Dec 2021 18:24:13

    In der Dissertation The Underground Music Scene in Belgrade, Serbia (2001)
    von Milan Todorovic erinnert sich der Videokünstler Milos Kukuricf an das
    zweite, legendäre Jahr des Ring Ring: «I remember 1997 Ring Ring festival
    which was brilliant, […] when those Japanese guys came, […]fucking ‘Ground
    Zero’ from fucking Japan made it in fucking Serbia.»

    Geldströme aus dem Westen
    Das Ring Ring Festival ist in Belgrad schon längst zur Institution geworden.
    Wie Bojan erzählt, hat es Bandgründungen angestossen und jedes Jahr
    Bewegung in die Belgrader Szene für experimentelle Musik gebracht. Ein
    fester Termin ist das Festival im Mai. Alles andere als fest ist die
    Finanzierung: Mit welchem Geld Bojan das Ring Ring auf die Beine stellt oder
    ob er es ganz unabhängig durchführt, ist jedes Jahr ein Kapitel für sich: «Auf
    staatliche Institutionen ist in Serbien kein Verlass: Es dauert ewig, bis die
    Anträge durch alle Kommissionen sind. Einige Male kam der Entscheid sogar
    erst Monate nach dem Festival.» Aussichten, dass die Lage besser wird, gibt
    es wenige: in Serbien wird ein Museum nach dem anderen geschlossen. In
    den Augen des Staates scheinen die wenigen Kulturgelder in
    nationalistischen Projekten besser angelegt zu sein – wie in einer ganzen
    Reihe von 100-Jahr-Feierlichkeiten des «Helden» Gavrilo Princip, der 1914 das
    Attentat auf Erzherzog Franz Ferdinand verübte (siehe DW-Artikel).

    Das Geld aus der Schweiz (Pro Helvetia, Kanton Bern, République et canton
    de Genève, Fondation SUISA, Stadt Biel/Bienne, Ville de Genève) für die
    Swiss Music Days fliesst da verlässlicher. Um die Partnerschaft auch
    finanziell eine Partnerschaft sein zu lassen, wollten Bojan Djordjević und
    Jonas Kocher auch den serbischen Staat ins Boot holen: «Sobald die

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    serbischen Kulturförderer den grossen starken Partner Schweiz im Bunde
    sehen, verlieren sie das Interesse.» Dabei wäre diese serbische Beteiligung
    hinter den Kulissen allein schon symbolisch wichtig, um den typischen
    Hierarchien im Kulturexport entgegen zu wirken.

    Jonas Kocher geht sehr reflektiert mit diesen Ungleichgewichten um, die ihn
    auch vor Ort immer wieder anspringen: «Klar hören die Leute Musik, die sie
    sonst nicht so einfach hören würden. Aber ich finde es schon problematisch,
    wenn man als Schweizer hier her kommt und an einem Abend das verdient,
    was die Leute pro Monat bekommen.»

    Die finanziellen Hierarchien bei interkulturellen Projekten dieser Art sind
    ambivalent und wohl kaum zu lösen. (Siehe auch Norient-Artikel über Boris
    Previsic von Thomas Burkhalter). Aber implizieren finanzielle Hierarchien
    gleich auch kulturelle Hierarchien? Leider ist er nie ganz zu vermeiden, dieser
    Beigeschmack des Hochmutes, wenn ein reiches Land wie die Schweiz seinen
    State of the art im europäischen Transformationsland Serbien präsentiert.

    Ungleiche Begegnungen
    Die Gefahr einer kulturimperialistischen Dynamik ist bei den Swiss Music
    Days aber in vielerlei Hinsicht abgepuffert: Erstens ist das Projekt auf Bojans
    Initiative entstanden und hat schon tiefe Wurzeln: Bojan Djordjević kennt die
    Schweizer Szene durch das Ring Ring-Festival. Jonas Kocher kennt den
    Balkan seit über zehn Jahren, pflegt die Netzwerke sorgfältig und engagiert
    sich – u.a. in seinem Verein Swiss Balkan Creative Music. Zweitens sorgt die
    Zusammenarbeit mit Bojan Djordjević dafür, dass die Musik an den richtigen
    Orten platziert und in der Kulturszene der Stadt wahrgenommen wird.

    Und drittens schufen die «Improvised Encounters» eine offene und ehrliche
    Form der musikalischen Begegnung, in der auch lokale Musikerinnen und
    Musiker zum Zuge kamen. Doch gerade diese hätten die beiden Co-Leiter
    ausbauen können: Von den kurzen «Improvised Ecounters» fanden nur vier
    statt – und auch nur in Belgrad. So konnte man sich dem Gefühl nicht
    entziehen, dass die Locals nur die «Vorbands» sind. Die Konzertabende

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    wurden zumeist ganz von Schweizer Musikern getragen – auf Augenhöhe
    funktionierte hingegen der Mittwochabend, an dem die Swiss Music Days in
    die monatliche Veranstaltungen des Kollektivs ImprovE eingebunden waren.

    Ungleiche Entwicklungen

    Der Mittwochabend und die «Improvised Encounters» ergaben interessante
    chemische Reaktionen, da hier unterschiedliche musikalische
    Selbstverständnisse und Generationen aufeinander trafen (Siehe Teil 1 der
    Reportage). Improvisierte Musik mag in ihrer Abstraktheit mehr mit
    Persönlichkeiten als mit Grenzen zu tun haben. Aber wie Boris Previsic im
    Norient-Interview mit Thomas Burkhalter feststellt, sind auch die
    «vermeintlich universalen Paradigmata der Neuen Musik letztlich ein Produkt
    der europäischen Hochkultur».

    Historisch gesehen, war Belgrad immer Teil dieser europäischen Hochkultur.
    Gerade in den 70er Jahren war die Hauptstadt Jugoslawiens nicht nur eine
    unentbehrliche Austauschplattform für Künstlerinnen und Künstler westlich
    und östlich des eisernen Vorhangs. Sie war auch selbst eine Avantgarde-
    Metropole. Ein Beispiel: Vergleichbar mit dem Studio für akustische Kunst
    des deutschen WDR hatte das dritte Programm von Radio Belgrad offene
    Ohren für experimentelle und Neue Musik. In diesem Geist wurde 1972 das
    Studio für elektronische Musik gegründet.

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    Ungleiche Bedingungen
    In der Schweiz fehlte so eine Institution mit öffentlicher Ausstrahlung.
    Dennoch gab es in der Schweiz kontinuierlich eine aktive Szene mit ihren
    eigenen Festivals und Hot Spots. Dieses Szene ist sicherlich auch nicht ganz
    unschuldig daran ist, dass experimentelle und improvisierte Musik
    zunehmend Teil des Curriculums der Musikhochschulen wird und in
    Dissertationsprojekte Einzug hält. (Siehe Norient Artikel Ist die Freie
    Improvisation am Ende?)

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    Das Repertoire, das an der Musikhochschule in Belgrad unterrichtet wird,
    reicht hingegen nur selten über das 19. Jahrhundert hinaus - umso wichtiger
    sind Festivals wie Ring Ring, das Studium im Ausland, der Austausch über
    das Internet oder über Kollektive – oder Workshops wie der von Diatribes an
    den Swiss Music Days. Nicht nur die fehlende Ausbildung, sondern auch die
    fehlende Förderung bremst die Weiterentwicklung der Belgrader Szene aus –
    viele Musikerinnen und Musiker überleben durch Brotjobs oder Engagements
    im Ausland (siehe Artikel Teil 1). Und diese Bedingungen wirken auch immer
    in die Musik hinein.

    Ungleiche Genderverteilung
    Die sichtbarsten Ungleichgewichte an den Swiss Music Days herrschten
    innerhalb der Schweizer Delegation selbst: dass Vera Kappeler die einzige
    Frau neben 23 männlichen Musikern war, ist schlicht antiquiert.
    Programmationen sollten immer gendersensibel sein, aber erst recht, wenn es
    um kulturelle Repräsentationen geht (diese extreme Männerdominanz ist –
    zum Glück – kein Abbild der Schweizer Szene für experimentelle und
    improvisierte Musik).

    Die Belgrader Szene braucht keinen erhobenen Gender-Zeigefinger, denn
    dort sind fast genauso viele Männer wie Frauen präsent – sie sind nicht nur
    als Musikerinnen, sondern in den Kollektiven (z.B. Svetlana Maraš), Vereinen
    (Manja Ristic) und Ensembles (Milana Zarić) auch in der Programmierung und
    Organisation aktiv. Die «Improvised Encounters» mit der Belgrader Szene
    taten ganz nebenbei also auch der Genderdurchmischung der Swiss Music
    Days gut.

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    Bojan Djordjević parkt vor dem Hotel Slavija und atmete nochmal durch,
    bevor er den mit Quittenschnaps beladenen Koffer von Cyrill Bondi ins Auto
    hieft. Der Genfer Schlagzeuger ist müde vom vielen Umherreisen auf dem
    Balkan, aber erfüllt von den Konzerten und der grossen Herzlichkeit der
    Gastgeber. Bis Mai zum Ring Ring werden die Monate schnell vergehen - auch
    bis dahin wird Bojan durch Belgrad kurven, organisieren, vernetzen und den
    düngenden Regen noch einige mal anknipsen.

    Die Autorin Theresa Beyer war auf Einladung der Swiss Music Days in Belgrad.
    Norient ist Medienpartner des Festivals.

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    → Published on December 06, 2013

    → Last updated on October 20, 2020

    Theresa Beyer gehört seit 2011 als Editorin, Kuratorin und Mitherausgeberin des
    Buches «Seismographic Sounds – Visions of a New World» zum Kernteam von
    Norient und beschäftigt sich mit Themen wie Queeren Musikkulturen,
    experimenteller Musik in Städten wie Belgrad oder Neu Delhi, und reflektiert in
    Vorträgen über die Chancen des multilokalen Kuratierens. Neben ihrer Norient-
    Identität ist sie Musikredaktorin bei Radio SRF 2 Kultur.

    → Topics

          Cultural Diplomacy
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