FACHLICH APPROBATIONSORDNUNG - DIE APPROBATIONSORDNUNG 2020 - INTERDISZIPLINÄRE ZAHNMEDIZIN & KFO DR. GEORG RISSE, MÜNSTER - INSTITUT FÜR ...
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fachlich Approbationsordnung Die Approbationsordnung 2020 - interdisziplinäre Zahnmedizin & KFO Dr. Georg Risse, Münster Bedeutung Der vorliegende Artikel thematisiert die neue Bezie- Die Approbationsordnung 2020 und die Interdiszipli- hung der primären „allgemeinen“ medizinischen Aus- näre Zahnmedizin und Kieferorthopädie, id-ZM/id-KFO bildung mit dem Spezialwissen der Fachdisziplinen ZÄApprO 2020: Nach Verordnung des BMG, Bundes- und der Weiterbildung. Mit der Approbationsordnung ministerium für Gesundheit zur Neuregelung der zahn- 2020 erfolgt eine Vernetzung der „Spezialkenntnisse“ ärztlichen Ausbildung vom 08. Juli 20191 aus den „Gebiets-“ und „Einzeldisziplinen“ mit dem Ge- samtorganismus. Hieraus ist eine „Interdisziplinarisie- Zusammenfassung rung“ der Fachdisziplinen abzuleiten. Wissenschaftli- che Einzelerkenntnisse müssen ihre Bedeutung für den Ziel Gesamtorganismus darstellen. Klinisch bedeutet die Einführung in die interdisziplinäre Medizin, Zahnmedi- interdisziplinäre Perspektive der Approbationsordnun- zin und Kieferorthopädie als Folge der neuen Appro- gen 2020 der Medizin und Zahnmedizin eine deutlich bationsordnungen der Medizin und speziell der Zahn- erweiterte „fachübergreifende“ ursächliche Zuständig- medizin und Kieferorthopädie vom 08. Juli 2019 mit keit der Zahnmedizin und Kieferorthopädie. Umsetzung zum 01. Oktober 2020 (ZÄApprO 2020). Einleitung: Primäre Darstellung der Problematik Problematik durch den Wissenschaftsrat (WR)2 In der Medizin bestand die grundlegende Problema- tik in einer zunehmenden Spezialisierung, so dass der Ausgang zur offiziellen interdisziplinären Ausrichtung Gesamtorganismus und die interdisziplinären Wechsel- der Zahnmedizin war ein Gutachten des Wissenschafts- wirkungen innerhalb des Organismus stärker aus dem rats 2005 über die mangelnde interdisziplinäre Aus- Blickfeld der Diagnostik, Therapie und insbesondere richtung der Zahnmedizin in Forschung, Lehre und der Wissenschaft geriet. Ausbildung. Der Wissenschaftsrat berät die Bundesre- gierung und die Regierungen der Länder in Fragen der Folgen inhaltlichen und strukturellen Entwicklung der Hoch- Aus dieser eingeschränkten Sichtweise ergaben sich schulen, der Wissenschaft und der Forschung sowie unbefriedigende Behandlungsverläufe. Zur Korrektur des Hochschulbaus. dieser Entwicklung war eine grundlegende Neustruktu- rierung der Approbationsordnungen notwendig. Hier- Kurzfassung der Ergebnisse des Gutachtens des WR2 aus ergibt sich eine grundlegende Neuorientierung der von 2005: Fachbereiche und der Weiterbildung sowie der Wissen- schaft auf interdisziplinäre Zusammenhänge. „Forschung: Um das wissenschaftliche Leistungsvermögen zu stei- Schlussfolgerungen gern, muss nach Auffassung des Wissenschaftsrates Die ÄApprO und die ZÄApprO beinhalten eine inter- nicht nur der Anteil des wissenschaftlichen Personals disziplinäre Neuausrichtung der medizinischen und und der Forschungsressourcen erhöht werden, son- zahnmedizinischen Ausbildung. Die Fachbereiche der dern zugleich die mangelhafte Interaktion zwischen Medizin und Zahnmedizin mit speziellem „Fachwissen“ Zahn- und Humanmedizin innerhalb der medizinischen müssen dieser „interdisziplinären“ Neuausrichtung der Fakultäten überwunden werden. Medizin insgesamt Folge leisten. In diesem Zusam- menhang spielt u.a. die Kieferorthopädie eine zentrale Lehre und Ausbildung: Rolle, da „Kieferorthopädie“ nicht nur „das schöne Lä- Die aktuelle Prüfungsordnung (Approbationsordnung cheln“ gestaltet, sondern die Funktion des gesamten von 1955) für Zahnärzte trägt weder der fachlichen Kauorgans – sowie Funktionen des Craniocervicalen Weiterentwicklung noch den Anforderungen an eine Bereichs, da „Kopf und Hals“ eine Funktionseinheit bil- moderne und interdisziplinär ausgerichteten Lehre den. „Das Ganze ist mehr als die Einzelteile“. Rechnung. Der Wissenschaftsrat empfiehlt daher eine 20 J. Compr. Dentof. Orthod. + Orthop. (COO) Umf. Dentof. Orthod. u. Kieferorthop. (UOO) No. 1-2 / 2020 (c)
Approbationsordnung fachlich grundlegende Neugewichtung der Ausbildungsinhal- C. Alternativen: te.“ Die aktuelle Verordnung des Bundesministeriums Keine für Gesundheit, BMG vom 08. Juli 2019 ist den gutach- terlichen Vorgaben des Wissenschaftsrats von 2005 Folgerungen nachgekommen [Ausschnitt]: • Aus dieser interdisziplinären Ausrichtung der Appro- „Verordnung des Bundesministeriums für Gesundheit bationsordnung 2020 folgt zwingend auch eine in- terdisziplinäre Ausrichtung der Fachbereiche selbst. Verordnung zur Neuregelung der zahnärztlichen Aus- • Die neue (interdisziplinäre) Ausrichtung der Fachbe- bildung reiche, der Weiterbildung und Fortbildung besteht in einer Vernetzung der zahnmedizinischen und der A. Problem und Ziel medizinischen Fachdisziplinen durch Fokussierung Die Ausbildung der Studierenden in der Zahnmedizin fachübergreifender Wirkungen von Organen. Ins- erfolgt derzeit auf der Grundlage der aus dem Jahr 1955 besondere fachübergreifende Wirkungen dysfunk- stammenden und seitdem weitgehend unveränderten tioneller Organe sind von besonderer Bedeutung Approbationsordnung für Zahnärzte. Ziel des Verord- sowohl für den Patienten wie für Versicherungen, nungsvorhabens ist eine grundlegende Novellierung als auch für die Volksgesundheit. der Approbationsordnung für Zahnärzte. Die Novellie- • Der Zuständigkeitsbereich der einzelnen Fachberei- rung ist angesichts der fachlichen Weiterentwicklung che erweitert sich somit vom „Gebietsbereich“ auf der Zahnmedizin und der veränderten Anforderungen den Wirkungsbereich von Organen. an eine moderne und interdisziplinäre Lehre dringend erforderlich, um auch künftig die Qualität der zahnärzt- Die metrische Definition von Fachbereichen lichen Ausbildung als Voraussetzung für die zahnme- Der Zuständigkeitsbereich der Zahnmedizin und Kie- dizinische Versorgung der Patientinnen und Patienten ferorthopädie ist sowohl vom Zahnheilkundegesetz in einer älter werdenden Gesellschaft sicherzustellen. 1955 als auch von der aktuellen fachlichen Seite nach Gebieten, Bereichen und metrischen Kriterien definiert: B. Lösungen: In der Zahnmedizin wird das „Craniomandibuläre Sys- Zur Reform des Studiums der Zahnmedizin werden im tem“ und die „Craniomandibuläre Dysfunktion, CMD“ Wesentlichen folgende Maßnahmen getroffen: thematisiert, und in der Kieferorthopädie wird das „Oro- 1. Neustrukturierung der zahnärztlichen Ausbildung faziale System“ als Behandlungsgebiet benannt. 2. Angleichung der Studiengänge Medizin und Zahn- medizin in der Vorklinik Kieferorthopädie 3. Neugewichtung der Ausbildungsinhalte 4. Bessere Abbildung von Allgemeinerkrankungen im Metrische Definition der rezenten Kieferorthopädie / Zahnmedizinstudium Zuständigkeitsgebiet: 5. Fächerübergreifende Ausbildung „Kieferorthopädie ist die Lehre von der Erkennung, 6. Verbesserung der Betreuungsrelation Verhütung und Behandlung von Dysgnathien. Der Be- 7. Modellklausel / interdisziplinäre Modellstudiengän- griff Eugnathie beinhaltet die harmonische Kombination ge einzelner Fakultäten von Form und Funktion der im Gebiss- und Gesichts- 8. Stärkung des Strahlenschutzes in der zahnärztli- bereich vorhandenen Strukturen. chen Ausbildung 9. Stärkere wissenschaftliche Kompetenz Für Gebissanomalie wird heute der Terminus Dysgna- thie verwendet. Er beinhaltet alle morphologischen Zugleich werden Änderungen an der Approbations- und funktionellen Abwegigkeiten im Bereich des oro- ordnung für Ärzte vorgenommen, die durch die Anglei- fazialen Systems.“ [Kahl- Nieke] 3 (Die kursiv gedruck- chung von medizinischer und zahnmedizinischer Aus- ten Begriffe beinhalten einen metrischen Hintergrund.) bildung im vorklinischen Studienabschnitt bedingt sind. 21 J. Compr. Dentof. Orthod. + Orthop. (COO) Umf. Dentof. Orthod. u. Kieferorthop. (UOO) No. 1-2 / 2020 (c)
fachlich Approbationsordnung Bildliche Darstellung der rezenten metrisch definier- Offizielle Begutachtungen der rezenten Kieferortho- ten Kieferorthopädie pädie Abb. 1 2001: Rüdiger Saekel4 , Ministerialrat a.D.: Statisti- sche Erfolgsquote in der Kieferorthopädie: Das Gesundheitsministerium stellt nach Rüdiger Sa- ekel, Ministerialrat a.D. für die Ergebnisqualität rezenter kieferorthopädischer Behandlungen fest: • Nur ca. 37,8% kieferorthopädischer Behandlungs- abschlüsse sind als akzeptabel einzustufen.“ „In Deutschland stellen Patienten in rd. 40% der Fälle Rezidive, rückläufige Veränderungen nach einer kie- ferorthopädischen Behandlung, fest.“ • Auch eine hohe Anzahl von Verlängerungsanträgen spricht für eine erhebliche Anzahl von Rezidiven.“ (Ein Verlängerungsantrag wird in der Regel nach ei- ner Behandlungsdauer von 4 Jahren gestellt.) Das Gutachten R. Saekel zieht den Schluss: • Trotz langer Behandlungszeit, • regelmäßiger Betreuung und Das orofaziale Behandlungsgebiet der rezenten KFO. Einord- • laufender Kontrollen der Patienten nung des Zuständigkeitsgebietes der rezenten KFO in der in- terdisziplinären craniocervicalen Funktionseinheit: rotes Gebiet. • sowie hoher Behandlungskosten Eine interdisziplinäre klinische Perspektive und Ausrichtung der • sei es nicht zweifelsfrei gelungen, positive Langzei- konventionellen KFO über den oben dargestellten Gebietsbe- reich hinaus, wie es vom Gesetzgeber durch die neue Approbati- teffekte kieferorthopädischer Behandlungen für die onsordnung ZÄApprO 2020 vorgesehen ist, ist nicht erkennbar. Mundgesundheit zu belegen.“ Abb. 2 Bildliche Darstellung des Behandlungsgebietes der konventionellen Kieferorthopädie nach Kahl-Nieke und durch das wissenschaftliche Fachjournal der Deutschen Gesellschaft für Kieferorthopädie 22 J. Compr. Dentof. Orthod. + Orthop. (COO) Umf. Dentof. Orthod. u. Kieferorthop. (UOO) No. 1-2 / 2020 (c)
Approbationsordnung fachlich 2008 KFO-Gutachten im Auftrag des BMG/DIMDI 2018 IGES-Gutachten Kieferorthopädie im Auftrag [Ausschnitt] des BMG6 Wilhelm Frank, Karin Pfaller, Brigitte Konta5: Mund- Kritik des Bundesrechnungshofs an fehlendem Nutzen- gesundheit nach kieferorthopädischer Behandlung nachweis in der Kieferorthopädie Anlass war Kritik des mit festsitzenden Apparaten / HTA-Bericht 66; DIMDI Bundesrechnungshofs. Die Behörde hatte im Frühjahr deutsche Agentur für HTA des Deutschen Instituts für 2018 das unzureichende Wissen über den Nutzen kie- Medizinische Dokumentation und Information ferorthopädischer Behandlungen bemängelt. Sie sieht dieses Evidenzdefizit nicht mit dem Wirtschaftlichkeits- 1. Die Frage der Indikationsstellungen bleibt aus der gebot in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) wissenschaftlichen Literatur völlig offen. vereinbar. 2. Forschung zur Absicherung der Indikation fehlt na- hezu gänzlich. Generell fanden die IGES-Forscher in der weltweiten 3. Es verstärkt sich der Eindruck, dass eine große Kluft Literatur nur wenige Untersuchungen, bei denen die zwischen der praktischen Anwendung kieferortho- langfristigen Auswirkungen auf die Mundgesundheit pädischer Maßnahmen und der wissenschaftlichen erfasst wurden. Erforschung ihrer Wirksamkeit existiert. 4. Es wird viel Forschungsarbeit im Bereich der IGES Institut Berlin: Anja Hoffmann, Simon Krupka, Weiterentwicklung von Geräten oder Techniken Cornelia Seidlitz, Stephanie Sussmann, Inga Sander, erbracht, jedoch äußerst wenig im Bereich Inter- Holger Gothe: Kieferorthopädische Behandlungsmaß- ventionsbedarf, Analyse der Nachhaltigkeit, Ein- nahmen flussfaktoren auf den Erfolg oder Quantifizierung von Nebenwirkungen z. B. Karies oder Wurzelre- Die interdisziplinäre Bedeutung des Behandlungser- sorptionen. gebnisses der „Kieferorthopädie“ für den Patienten, 5. Um die professionelle Arbeit der Kieferorthopädie den Zahnarzt und die „Volksgesundheit“ (KFO) nicht in den Nahbereich von Bedarfsindu- zierung oder unbelegter Indikationsstellungen zu 1. Das Behandlungsergebnis des Kieferorthopäden bringen, ist eine Beforschung dieses Themas ganz ist die Grundlage für jegliche weitere zahnärztliche wesentlich. Tätigkeit zeitlebens. 6. Die für die Interventionsabsicherung existierenden 2. Die Kieferorthopädie beeinflusst während des Indizes, wie der Index of Treatment Need (IOTN), Wachstums: [KIG] scheinen eine akademische Bedeutung zu haben, die in der täglichen Praxis irrelevant er- • alle Zahnstellungen und - Winkelstellungen je Kiefer, scheinen. [KIG: Ausschluss der Funktionsdiagnos- • alle dentalen Zahnbeziehungen in der Okklusion, tik] • alle Belastungsvektoren der Okklusion und der Kie- 7. Der Frage, welche Indikationsstellungen nun für fergelenke, KG / (Thema: „Zwangsbiss“ / Scherkon- die Intervention als wissenschaftlich abgesichert takte) gelten können, muss unverzüglich große Aufmerk- • alle strukturellen, funktionellen und skelettalen Be- samkeit geschenkt werden. ziehungen der Kiefer und des Schädels durch 8. Die Veröffentlichung von methodisch völlig unver- wertbaren oder mit zahlreichen offensichtlichen (a) adaptative Umbauvorgänge und Fehlern behaftete Studien ist zu Beginn des 21. (b) zusätzlich durch Wachstumsvorgänge. Jahrhunderts […] inakzeptabel. 3. nach Ende des Wachstums, WT. verändert die KFO adaptativ „nur“ noch Zahnstellungen und Zahnbo- genformen in 3D. [Neu: CMD-KFO] 23 J. Compr. Dentof. Orthod. + Orthop. (COO) Umf. Dentof. Orthod. u. Kieferorthop. (UOO) No. 1-2 / 2020 (c)
fachlich Approbationsordnung Fazit: Problematik Charakteristisch für diese Gebiets-Position der aktuel- • Die „Kieferorthopädie“ mit Wachstum (WT) íst ext- len Lehre der DGFDT, Deutsche Gesellschaft für Funk- rem „nachhaltig“ (invasiv) im Positiven wie im Ne- tionsdiagnostik und -therapie ist die Betrachtung des gativen. Tätigkeitsbereichs als „Gebiet“: Craniomandibuläres • Die „Kieferorthopädie“ definiert den funktionellen System. Zustand des Kauorgans als Basis für alle nachfol- genden Tätigkeiten des Zahnarztes zeitlebens. Das oben im Text von Ahlers/Jakstat erwähnte „Kau- • Die „Kieferorthopädie“ wirkt über das „Kauorgan“ organ“ wird im Rahmen des „Craniomandibulären Sys- fachübergreifend und interdisziplinär auf Strukturen tems“, CMS als Gebiet gesehen. Das Kauorgan wird und Organe des gesamten „Bereichs“ von Kopf und ausdrücklich - auch mit Verweis auf „rechtliche Gren- Hals als Funktionseinheit. zen“ - auf den Gebietsbereich des Kauorgans einge- • Kieferorthopädie hat den höchsten Grad an Invasi- grenzt. Das Problem hierbei: vität in der Medizin und ist Schicksal bestimmend. Ein Gebiet kann keine Wirkung haben - im Gegensatz Zahnmedizin zu einem Organ, dessen Aufgabe es ist, u.a. Wirkun- gen im Rahmen des Organsystems des Organismus zu Allgemeine rezente Zahnmedizin / Zuständigkeitsge- haben. biet und Folgen Abb. 3 Aktueller Stand der interdisziplinären Zahnmedizin „in Diagnostik und Therapie bei Verdacht auf CMD“7 [Ah- lers/Jakstat]: „Die klassischen zahnärztlichen Mittel beinhalten je- doch beispielsweise keine Verfahren, mit denen Mus- kel- und Gelenkerkrankungen direkt beeinflussbar sind. Die funktionstherapeutisch ausgerichtete Zahn- heilkunde hat daher in der Vergangenheit verschiede- ne Maßnahmen eingeführt, um diese Einschränkung zu überwinden. Neben physikalischen Anwendungen zählen hierzu physiotherapeutische Übungen und na- türlich das psychosomatisch wirkende ärztliche Aufklä- rungs- und Beratungsgespräch. Die frühe Spezialisierung in der Ausbildung, die Akzep- tanz von Seiten der Patienten und der Rechtsrahmen, setzen der zahnärztlichen Diagnostik jedoch Grenzen. So ist der Zahnarzt nach aktueller Rechtsprechung zu- ständig für alle Erkrankungen, die neben den Zähnen und dem Zahnhalteapparat im engeren Sinne auch den Bereich des Kauorgans und der dafür erforderlichen Gewebe im weiteren Sinne umfassen. Seine Zuständigkeit endet somit jenseits der Kieferge- lenke bzw. der für die Kaufunktion erforderlichen Mus- Der Zahnarzt als Gatekeeper“ nach Ahlers/Jakstat 7, S. 392: Klini- sche Funktionsanalyse kulatur und Stützgewebe.“ (Abb. 3) 24 J. Compr. Dentof. Orthod. + Orthop. (COO) Umf. Dentof. Orthod. u. Kieferorthop. (UOO) No. 1-2 / 2020 (c)
Approbationsordnung fachlich Die Wirkungen des Kauorgans und speziell die dys- • Die Termini „Craniomandibuläres System“ oder „Cra- funktionellen Wirkungen eines Kauorgans werden aus- niomandibuläre Dysfunktion, CMD“ erlauben keine drücklich ausgegrenzt. Die neue Approbationsordnung (ausreichende) Krankheitsdefinition. Die Diagnose 2020 lenkt aber den Schwerpunkt speziell auf die Wir- „CMD“ wird auch von der DGFDT als „Sammelbe- kungen bzw. auf die dysfunktionellen Wirkungen von griff“ eingestuft, deren „spezifischen“ Befunde bzw. Organen auf die vernetzten Nachbarorgane, -Gewebe Symptome im „CMD-Kurzbefund“ definiert werden: und -Funktionsräume. „Mundöffnung asymmetrisch oder eingeschränkt, Geräusche der Kiefergelenke bzw. der Okklusion, Die Auslegungen des Zuständigkeitsbereiches der schmerzhafte Muskulatur und exzentrische Okklu- sog. Nebendiagnosen bzw. insbesondere der sog. Dif- sion“. ferenzialdiagnosen nach Ahlers/Jakstat, DGFDT ent- • Während der Begriff CMD als ein Sammelbegriff ein- sprechen nicht mehr den Ansprüchen der neuen Sicht- gestuft wird, wird eine verfeinerte Differenzierung weise der aktuellen Approbationsverordnung 2020. vorgenommen in: „Differenzierte Initialdiagnosen“ bzw. Primärdiagnosen“: „Okklusopathie“, „Myopa- Unverständliche Logik der DGFDT thie“ und „Arthropathie“. Während nach Ahlers/Jakstat, DGFDT fachübergrei- • Weitere „Beschwerden“ und „ Beobachtungen“ (Ah- fende Wirkungen eines Dysfunktionellen Kauorgans lers/Jakstat S. 322 / 323), welche eine interdiszipli- auf Nachbardisziplinen weitgehend ausgeschlossen näre Perspektive beinhalten, werden unter „Neben- werden – und damit auch den Zuständigkeitsbereich diagnosen“ definiert, „welche in der Regel jedoch der Zahnmedizin bzw. der Kieferorthopädie - räumen nicht durch zahnärztliche Maßnahmen zu behandeln obige Autoren und Instanzen umgekehrt insbesonde- sind.“ re „den verschiedenen Einflüssen anderer Organsys- • „Im Gegensatz zu den beschriebenen Nebendi- teme auf die Funktion des Kauorgans“ eine richtungs- agnosen stehen ‚Differenzialdiagnosen‘ nicht in weisende Präferenz ein. Hierdurch werden Wirkungen kausalem Zusammenhang mit craniomandibulären in umgekehrter Richtung von der Zahnmedizin auf die Dysfunktionen. Sie erfordern daher eine umgehen- Humanmedizin von Ahlers/Jakstat weitestgehend aus- de Überweisung an die diesbezüglich zuständigen geschlossen: S. 393: Fach- bzw. Gebietsärzte.“ [S.326] Dieser kategori- „Die nachfolgenden Kapitel beschreiben daher die sche Ausschluss der Zuständigkeit der Zahnmedi- verschiedenen Einflüsse anderer Organsysteme auf zin / Kieferorthopädie von „Differenzialdiagnosen“ die Funktion des Kauorgans sowie die Möglichkeiten ist aus der „Gebietsperspektive“ nachvollziehbar, der entsprechenden medizinischen Nachbardiszipli- widerspricht jedoch der Organperspektive und der nen in der konsiliarischen Diagnostik und Therapie.“ Ausrichtung der neuen interdisziplinären Perspekti- Offensichtlich wird in der rezenten Zahnmedizin nicht ve der ÄApprO 2020 und der ZÄApprO 2020. erkannt, dass das Kauorgan als Organ eine Wirkung hat - auch eine Wirkung auf andere Organe – umge- Die Schlussfolgerung der begrenzten Perspektive der kehrt aber wohl. Diese widersprüchlichen Grundlagen aktuellen Zahnmedizin und Kieferorthopädie wird im auf der Basis von metrischen Gebietsperspektiven wi- richtungsweisenden Buch „Klinische Funktionsdiag- dersprechen der Intention der aktuellen Approbations- nostik“, Ahlers/Jakstat der DGFDT auch auf S. 116 be- ordnung 2020. stätigt: Folgerung: „Es wurde dargestellt, dass die Symptomatik „CMD“ Die metrisch begrenzten Definitionen der Fachdiszi- sehr facettenreich ist. Deshalb kann sie auch so leicht plinen Zahnmedizin und Kieferorthopädie widerspre- durch das „diagnostische Sieb“ fallen. Warum (?): Es chen der Grundstruktur des Organismus mit interdiszi- fehlt ein Leitsymptom!“ plinärer Vernetzung, der Intention des Gutachtens des Wissenschaftsrates 2005 und der richtungsweisenden Neuorientierung der Approbationsordnung 2020: 25 J. Compr. Dentof. Orthod. + Orthop. (COO) Umf. Dentof. Orthod. u. Kieferorthop. (UOO) No. 1-2 / 2020 (c)
fachlich Approbationsordnung Zum näheren Verständnis: Die Organstruktur des Or- Allgemeine / interdisziplinäre Folgerung ganismus (Abb. 4) Das „Fehlende Leitsymptom“ der rezenten Zahnme- Die Gebietsmedizin/Fachdisziplin geht vom Organ als dizin und Zahnheilkunde ist nicht augenscheinlich im „Gebiet“ und „Gebietszuständigkeit“ aus, und forscht Zahnheilkundegesetz zu erkennen; es ist jedoch aus „in die Tiefe“ mit Verlust der Perspektive „vom Ganzen“. dem Terminus „Krankheit“ abzuleiten: Die Approbationsordnungen der Medizin und Zahn- §1, Absatz (3) Ausübung der Zahnheilkunde ist die medizin 2020 führen nun zur Vernetzung der „Spezi- berufsmäßige auf zahnärztlich wissenschaftliche Er- alkenntnisse“ der „Organmedizin“ mit den Organsys- kenntnisse gegründete Feststellung und Behandlung temen zum Gesamtorganismus. von Zahn-, Mund- und Kieferkrankheiten. Als Krank- heit ist jede von der Norm abweichende Erscheinung „Das Ganze ist mehr als seine Einzelteile“. im Bereich der Zähne, des Mundes und der Kiefer an- zusehen, einschließlich der Anomalien der Zahnstel- lung und des Fehlens von Zähnen. Es fehlt eine medizinische Definition der Zahnmedizin und Kieferorthopädie, welche auch der interdisziplinä- ren Perspektive der neuen medizinischen Approbati- onsordnungen der Allgemeinmedizin und Zahnmedizin entspricht. Daher wird eine medizinische Definition von Zahnmedizin und Kieferorthopädie formuliert: Abb. 4 Die medizinische Definition der Zahnheilkunde und Kieferorthopädie als Organmedizin: Die interdisziplinäre Zahnheilkunde und -Kieferortho- pädie, id-ZM / id-KFO Die id-ZM und id-Kfo ist die Lehre von (A) der Grundbeschaffenheit des Organs • vom Bau, • von der Funktion, • von der Funktionsentwicklung, • von den Funktionsstörungen • und von den Erkrankungen des Kau-Schluckorgans, • seinen Anhangsorganen und • deren medizinischen Behandlung (B) Entwicklungsprozess und Wirkungsprozess • Die medizinische Definition der Zahnheilkunde und Kieferorthopädie erfolgt bei der id- ZM und id-KFO über das Kau-Schluck-Organ, KSO. • Das Kau-Schluckorgan entwickelt sich aus dem pri- Darstellung des Organismus und seine biologische Struktur. Das mären Saug-Schluckorgan über und durch erlernte Organ stellt den bisherigen „Scheideweg“ der Fachdisziplinen Fertigkeiten und Fähigkeiten. zum Organismus dar. • Das KSO wirkt als Organ interdisziplinär. 26 J. Compr. Dentof. Orthod. + Orthop. (COO) Umf. Dentof. Orthod. u. Kieferorthop. (UOO) No. 1-2 / 2020 (c)
Approbationsordnung fachlich Erweiterte interdisziplinäre Zuständigkeit des Zahn- Schlussfolgerungen arztes und des Kieferorthopäden • Interdisziplinäre Zusammenarbeit der Medizin, der Die Neuausrichtung der interdisziplinären medizini- Zahnmedizin und Kieferorthopädie basiert auf der schen Zuständigkeit der Zahnmedizin und Kieferor- Grundlage der Wirkung von Organen und der Or- thopädie nach der Approbationsordnung 2020 ergibt ganvernetzung. sich aus dem funktionellen Wirkungsbereich des Kau- Schluckorgans und der Funktionseinheit von Kopf und • Aus dem „Fachübergreifenden Wirkungsbereich“ Hals (Abb. 5): des Kau-Schluck-Organs, KSO ergibt sich mit der „Konsiliarabstimmung“ zwingend eine deutliche, in- terdisziplinäre Erweiterung der ursächlichen Zustän- digkeit des Zahnarztes und des Kieferorthopäden. • Die „orofaziale“ Ausrichtung der rezenten Kieferor- thopädie ist als Grundlagenfehler einzustufen. Literatur Abb. 5 1. ZÄApprO 2020: Nach Verordnung des BMG, Bundesministe- rium für Gesundheit zur Neuregelung der zahnärztlichen Aus- bildung vom 08. Juli 2019 2. Wissenschaftsrat, WR: Konzentrationsprozess in der Zahn- medizin an den Universitäten erforderlich: Pressemitteilung 05/05; Berlin, 31. Januar 2005 3. Kahl-Nieke, B. Einführung in die Kieferorthopädie, S. 3; Deutsch. Zahnärzteverlag, 3. Auflage.] 4. Rüdiger Saekel, Ministerialrat a.D.; Bundesministerium für Gesundheit: Gutachten Kieferorthopädie 2001: Statistische Erfolgsquote in der Kieferorthopädie [Ausschnitt] 5. Wilhelm Frank, Karin Pfaller, Brigitte Konta: Mundgesundheit nach kieferorthopädischer Behandlung mit festsitzenden Ap- paraten /2008 KFO-Gutachten im Auftrag des BMG / DIMDI, HTA-Bericht 66; DIMDI deutsche Agentur für HTA des Deut- schen Instituts für Medizinische Dokumentation und Informa- tion 6. GES Institut Berlin, Gutachten Kieferorthopädie 2018: Anja Hoffmann, Simon Krupka, Cornelia Seidlitz, Stephanie Suss- mann, Inga Sander, Holger Gothe: Kieferorthopädische Be- handlungsmaßnahmen 7. Ahlers/Jakstat, Klinische Funktionsanalyse. S. 391, 392; Den- taConcept, 2011, 4. Auflage Darstellung der interdisziplinären Neuorientierung durch die Approbationsordnungen 2020 nach dem Wirkungsprinzip von Organen 27 J. Compr. Dentof. Orthod. + Orthop. (COO) Umf. Dentof. Orthod. u. Kieferorthop. (UOO) No. 1-2 / 2020 (c)
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