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04/2018 DAS MAGAZIN DER BUNDESARBEITSGEMEINSCHAFT ARBEIT E.V. Forum Arbeit ZUR SACHE Teilhabe ermöglichen MAGAZIN Nachrichten aus dem Verband TITEL Langzeitarbeitslosen Teilhabe ermöglichen BAG ARBEIT TRIFFT Dr. Matthias Bartke BLICK ÜBER DEN TELLERRAND Dock Gruppe Schweiz VERANSTALTUNGSTIPPS Seminare auf einen Blick NACHGEFRAGT bei Peter Siwon Langzeitarbeitslosen Teilhabe ermöglichen
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Inhalt Foto: Julia Baumgart Zur Sache Teilhabe ermöglichen 2 Claudio Vendramin Soziale Integration durch Bürgerarbeit oder bürgerschaftliches Engagement? 18 Magazin Prof. Dr. Gerd Mutz Sozialer Arbeitsmarkt: Wer kommt Kommentare zum Podium – Was habe für eine Förderung infrage? 3 ich über Digitalisierung auf dem Lena Becher Podium gelernt 22 Dr. Hartmut Hirsch-Kreinsen, Hannes Leber, Die Realität des Digitalen Lernens 4 Thiemo Fojkar, Dr. Martin Noack Dr. Peter Brandt 6 Argumente für mehr Innovation in Jobcentern 6 bag arbeit trifft 24 Susanne Ahlers Dr. Matthias Bartke Buch- und Filmtipp 9 Blick über den Tellerrand Dock Gruppe Schweiz 28 Langzeitarbeitslosen Teilhabe ermöglichen Das BMAS beantwortet die wichtigsten Veranstaltungstipps 30 Fragen zum neuen Gesetz 10 Kann das neue Regelinstrument Nachgefragt 32 Langzeitarbeitslosigkeit langfristig Peter Siwon reduzieren? 14 Kai Whittaker, Bernd Rützel, Sabine Zimmermann, Pascal Kober, Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn
Zur Sache Teilhabe ermöglichen Unser Autor Claudio Vendramin ist Vorstand der bag arbeit und geschäfts- führender Vorstand des Arbeitskreis Recy- cling e.V. und des WIR e.V. Mehr Geld für Langzeitarbeitslose – sehr gut. gern uns dem blanken Kapitalismus, wenn wir Teilhabe für Männer und Frauen – jawohl. Der mit unseren Leuten sinnvoll und nicht (nur) pro- Arbeits-Verwaltung einen eigenen Finanztitel - fitorientiert arbeiten. Wir spotten über Konzern- warum nicht. Langfristige Beschäftigung ermög- vorstandsgehälter (sonst müssten wir weinen) lichen – na endlich. Sozialarbeit für den Arbeits- und von finanzieller Not brauche ich Euch ja wohl markt – naja bitte. nix zu erzählen. Da könnten wir noch lange so weitermachen, ist Der Sinn jedoch, der wird immer wichtiger wer- diese Sichtweise aber nicht doch eingeschränkt? den. Angesichts der bereits heute exponentiellen Gerade unsere Initiativen können neben all den Wachstumsgeschwindigkeiten, mit der Informati- Erfolgen und Reparaturen am Arbeitsmarkt noch onen verarbeitet und verfügbar gemacht werden, andere Ziele für Menschen erreichbar machen, lassen sich zukünftige Szenarien immer schwerer z. B. die Frage nach dem Sinn. Sinn verspricht vorhersagen. Dass die KI (künstliche Intelligenz) die Beschäftigung mit „mehr“ als dem Ertrag in jedoch nicht nur Bandarbeit und Taxifahrer er- unserem Portemonnaie. Das kann die Wahrneh- setzen kann, hat sich bereits herumgesprochen. mung von Mitmenschen, Alten, Kindern, Frem- Betroffen werden Juristen, Steuerfachleute, den, Pflegebedürftigen sein. Das reicht über das Mediziner sein und andere ähnlich hochkarätig humanzentristische Weltbild hinaus in Feld, Wald angesiedelte Berufsbereiche. Sinnvolle Beschäf- und Flur hinein, in Belange von Umwelt und Ge- tigung, Beschäftigung mit Sinn, diesen einen un- sellschaft, Fauna und Flora. Hier entwickeln wir serer Markenkerne können wir erhobene Haup- Ideen und Konzepte, die ganz sicher über ein tes vor uns her tragen. Lasst es uns tun. oder zwei Bundestags-Wahlperioden hinausge- hen, sich um „Nachhaltigkeit“ und ein faires Mit- einander bemühen. Das ist nicht nur ein Trend, das ist gelebte Zukunft, die wir anbieten können. „Die Avantgarde erkennt man an Spott, Verwei- gerung und finanzieller Not“ – TAZ. Wir verwei- 2
Magazin Sozialer Arbeitsmarkt: Wer kommt für eine Förderung infrage? Lena Becher Mindestens 571.000 Hartz-IV-Beziehende in Jahre lang Hartz-IV-Leistungen bezogen haben Deutschland kommen für eine Förderung mit und währenddessen nur kurzfristig beschäftigt dem Instrument „Teilhabe am Arbeitsmarkt“ in- waren. Sonderregelungen gelten für Schwerbe- frage, wie aus einer Auswertung der Bundesagen- hinderte und Eltern mit minderjährigen Kindern tur für Arbeit (BA) hervorgeht. Das Instrument im eigenen Haushalt. richtet sich an über 25-jährige Erwerbsfähige, die in den letzten sieben Jahren mindestens sechs Viele Hartz-IV-Beziehende schaffen es langfris- insgesamt rückläufig ist, leben fast eine Million tig nicht, aus dem Hartz-IV-System herauszu- Menschen, also ein Fünftel der Leistungsbezie- kommen. Knapp 4,25 Millionen Erwerbsfähige henden, seit mindestens einem Jahrzehnt durch- bezogen laut BA-Statistik im Dezember 2017 gängig von Hartz IV. Hartz-IV-Leistungen. Obwohl der Leistungsbezug 3
Magazin Die Realität des Digitalen Lernens Dr. Peter Brandt Die Digitalisierung ist eine große Herausforderung und Chance für die Weiterbildungsbranche. Zieht man aktuelle Studien aus Deutschland und der Schweiz heran, so können zugespitzt folgende Aussa- gen formuliert werden: 1. Die Erwartungen der Bevölkerung an digita- 6. Digitales Lernen findet nur selten in organi- les Lernen sind hoch, aber verbinden sich sierter Weiterbildung statt. mit traditionellen Lernvorstellungen. 7. Knapp die Hälfte der Weiterbildungsangebo- 2. Mit der Digitalisierung verbundene Nutzener- te sind in irgendeiner Form „digital gestützt“. wartungen sind auch in der Branche verbrei- 8. Digitales Lernen trägt noch nicht zur Bil- tet, dort aber bei Leitungskräften deutlich dungsgerechtigkeit bei. ausgeprägter als bei Lehrenden. 9. Lehrende setzten die meisten digitalen Lern- 3. Der Nutzen digitaler Lernformen kann von formen noch nicht ein. den professionellen Akteuren der Weiterbil- 10. Der strategische Stellenwert der Digitalisie- dung oftmals noch nicht beurteilt werden. rung ist in privaten Weiterbildungseinrichtun- 4. Lernende kennen zwar viele digitale Lernfor- gen höher als in öffentlichen. men, aber sie nutzen nur wenige. 5. Wenige digitale Lernformen werden von ih- nen als attraktiv eingeschätzt. 4
Magazin Seine Thesen belegte Dr. Peter Brandt bei seinem Vortrag auf der Jahrestagung der bag arbeit durch Ergebnisse des Adult Education Survey, des Monitors digitale Bildung und der SVEB-Weiterbildungsstudie. Eine Stell- schraube zur Bewältigung des anstehenden Wandels sieht er in Maßnahmen zur Profes- sionalitätsentwicklung des Weiterbildungs- personals. Er stellte einen Selbsttest zur Messung der Medienkompetenz vor, der am 7.12.2018 im Rahmen eines Webinars Inter- essierten erklärt wird. Dieses sowie weitere Informationen zur Digitalisierung der Wei- terbildung bietet das kostenfrei zugängliche Portal wb-web (www.wb-web.de). 5
Magazin 6 Sechs Argumente für mehr Innovation in Jobcentern Was heißt mehr Innovation in Jobcentern? Und wie kann diese funktionieren? Innovation kann ohne gesetzliche Änderungen nur sehr bedingt stattfinden. Erneuerung, Veränderung, die wirklich diesen Namen verdient, braucht grundlegend andere Rahmenbedingungen für Jobcenter als sie sie jetzt haben. Die Organisation eines Jobcenters orientiert sich nicht primär an den Interessen und Bedürfnissen arbeitsloser Menschen, sondern vor allem am SGB II und an den Interessen der Verwaltung. Deshalb müssen wir von der anderen Seite aus Menschen in ganz unterschiedlichen Lebensla- gen und mit verschiedenen Hintergründen davon betroffen sind. Trotzdem glaube ich, dass es eini- ge verallgemeinerbare Antworten gibt. Wir im Jobcenter müssen uns verändern und denken: Was brauchen diejenigen, die keine Er- lernen, zu überzeugen und zu werben. Mit dem werbsarbeit haben, von der sie gut leben kön- bisherigen Vorgehen entsprechend des SGB II nen? Diese Frage müssen wir uns stellen und Prinzips „Fördern und Fordern“ waren wir nicht Lösungen suchen. Das ist nicht einfach, weil wirklich erfolgreich. 1. Existenzminimum ohne Angst Menschen, die keine Arbeit haben, die ihren Le- Sie bewirken oft das Gegenteil: Sie verunsichern 1 bensunterhalt sichert, brauchen ausreichende und führen dazu, sich ausschließlich mit den An- finanzielle Unterstützung. Sie brauchen bezahl- forderungen für den Leistungsbezug zu befassen baren Wohnraum. Und genügend Geld, um sich und nicht mit der eigenen beruflichen Zukunft. gesund zu ernähren und am sozialen und kul- Vereinfachtes Leistungsrecht und Abschaffung turellem Leben teilzunehmen. Und dieses Exis- der Sanktionen kann hier eine Antwort sein. tenzminimum darf nicht in Frage gestellt werden. Denn Sanktionen oder unverständliche gesetzli- che Regelungen, die Angst machen, unterstützen nicht dabei, wieder eine Erwerbsarbeit zu finden. 6
Magazin Unsere Autorin Susanne Ahlers ist Geschäftsführerin des Jobcenters Bremen. Hier ist Sie für die geschäftspolitischen Steu- erung, laufende Geschäfte und die Umsetzung der fachlichen Aufgaben verantwortlich. jobcenter-bremen.geschaeftsfuehrung@job- center-ge.de 2. Qualifizierte und individuelle Beratung 3. Unterstützung bei der Arbeitssuche Arbeitslose Menschen brauchen Beratung, die Wo finde ich einen Arbeitsplatz, was kann ich 3 auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten ist. Das be- machen, um den passenden Arbeitsplatz für 2 deutet, dass Mitarbeiter*innen im Jobcenter die mich zu finden? Das sind wichtige Fragen, die entsprechenden Qualifikationen und Kompeten- wir im Jobcenter beantworten müssen. Das kön- zen benötigen. Und eine gute Beratung kann nur nen wir nur, wenn wir genügend Personal haben. ohne Angst und Abhängigkeit funktionieren. Die Heute kümmert sich eine Integrationsfachkraft Stärken und Möglichkeiten der Einzelnen müssen um mindestens 150, normalerweise um sehr viel gemeinsam identifiziert werden. Menschen, die mehr Personen. Da ist weder eine individuelle, keine Erwerbsarbeit haben, insbesondere über qualifizierte Beratung noch eine tatsächliche Un- einen längeren Zeitraum, befinden sich in der terstützung bei der Arbeitssuche möglich. Regel in einer Krise: ihr Selbstbewusstsein ist er- schüttert, sie haben womöglich gesundheitliche Probleme und weitere Herausforderungen, mit denen sie umgehen müssen. 7
Magazin 4. Weiterbildung bzw. Qualifizierung, die sich 6. Personal in den Jobcentern, das bei glei- an den Ressourcen orientiert, die diejenigen cher Arbeit gleich bezahlt und gut qualifiziert mitbringen wird. 4 6 Für viele wirkt das Angebot, eine Weiterbildung Wenn Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zweier oder eine Qualifizierung machen zu können, Arbeitgeber (Kommune und BA) weiter zusam- nicht wie eine Chance, sondern wie eine Bedro- menarbeiten sollen, muss es gleiche Bezahlung hung. Viele verbinden mit Bildung keine positiven für gleiche Arbeit geben und gleiche Arbeitsbe- Erfahrungen. Hier brauchen wir innovative Ange- dingungen. Nur so werden wir qualifiziertes und bote. Und wir sollten Weiterbildungen finanziell motiviertes Personal in den Jobcentern halten honorieren. Zum ALG II muss es eine zusätzliche und anwerben können. Aufwandsentschädigung geben, die eine Qualifi- Wenn wir arbeitslose Menschen, insbesondere kation attraktiv macht. Langzeitarbeitslose erfolgreich unterstützen wol- len, brauchen wir Mitarbeiter*innen, die gerech- te und gute Arbeitsbedingungen haben. 5. Beschäftigungsmaßnahmen, die zeitlich Hohe Fallzahlen und ein kompliziertes und kaum unbefristet sind, aber durchlässig noch durchschaubares Leistungsrecht sind zwei wichtige Aspekte, die endlich verändert werden Für diejenigen, die motiviert sind und arbeiten müssen, um die Qualität der Arbeit zu steigern. möchten, aber aus ganz unterschiedlichen Grün- den zurzeit keine Chance auf einen Arbeitsplatz auf dem Ersten Arbeitsmarkt haben, brauchen wir unbefristete Angebote zur Teilhabe. Das müs- sen gesellschaftlich sinnvolle Tätigkeiten sein, 5 die existenzsichernd entlohnt werden. Jedes Foto: Jobcenter Bremen Jahr muss geprüft werden: Ist dieser Arbeitsplatz noch der richtige? Ist eine Arbeitsplatzsuche auf dem Ersten Arbeitsmarkt möglich? Macht eine Qualifizierung Sinn? Ist eine andere Unterstüt- zung notwendig? So wird gewährleistet, dass die Personen sich weiter entwickeln können, aber andererseits keine Angst um ihren Arbeitsplatz haben müssen. Sie haben eine Perspektive, sta- bilisieren sich, tun etwas Sinnvolles und werden nicht nach einer bestimmten Zeit wieder nach Hause geschickt – ohne Perspektive. Untersu- chungen zeigen, dass Menschen nach befriste- ten Maßnahmen in ein „tiefes Loch“ fallen und Kompetenzen, die sie sich erarbeitet haben, wie- der verlieren. 8
Magazin Buchtipp Filmtipp Becoming. Meine Geschichte Capernaum - Stadt Michelle Obama (2018) der Hoffnung Michelle Obama beschreibt Libanon/USA (2018) ihr Leben in drei Teilen: Be- Der in Cannes mit dem coming me, Becoming us, großen Preis der Jury aus- Becoming more. Aus einem gezeichnete Film von Na- einfachen Arbeiterviertel dine Labaki erzählt die in Chicago über Princeton, Geschichte von Zain, der Harvard und ihre Ehe mit Barack Obama bis ins seine Eltern verklagt, weil sie ihn zur Welt ge- bracht haben. Sie sollen keine weiteren Kinder Weiße Haus. Selbstkritisch spart Obama dabei bekommen dürfen. Vor Gericht entspannt sich auch schmerzhafte Erfahrungen nicht aus und seine Lebensgeschichte in den libanesischen schafft so ein Buch, das politische und persönli- Slums – von einem mutigen Kind zu einem zwölf- che Geschichte verknüpft. jährigem „Erwachsenen“. Anzeige JETZT IHREN ! PLATZ SICHERN 9
Neue Teilhabechancen für Langzeitarbeitslose Das BMAS beantwortet die wichtigsten Fragen zum neuen Gesetz Allgemeine Fragen Was ist neu an den Förderinstrumenten? Wie werden die Teilnehmenden ausgewählt? Gefördert wird sozialversicherungspflichtige Fördervoraussetzungen sind sechs Jahre Leis- Beschäftigung auf dem allgemeinen und sozi- tungsbezug (§ 16i SGB II) bzw. zwei Jahre Ar- alen Arbeitsmarkt. Die Förderung unterschei- beitslosigkeit (§ 16e SGB II). Schwerbehinderte det sich von bisherigen Regelinstrumenten und und Personen mit mindestens einem minderjäh- Programmen durch Dauer (bis zu fünf Jahren) rigen Kind in der Bedarfsgemeinschaft können und Höhe (bis zu 100 Prozent) sowie durch die bereits nach fünf Jahren Leistungsbezug geför- Einbeziehung aller Arbeitgeber unabhängig ih- dert werden. Ansonsten wählen die Jobcenter rer Art, Rechtsform, Branche und Region. Die die geeigneten Personen aus, diese kennen ihre Kriterien Zusätzlichkeit, öffentliches Interesse Fälle am besten. und Wettbewerbsneutralität entfallen. Neu ist auch die Finanzierung eines Coachings, mit dessen Hilfe die Arbeitsverhältnisse unterstützt und stabilisiert werden. Zudem wurden die neu- en Förderinstrumente transparent und einfach handhabbar gestaltet. Zum neuen § 16i SGB II „Teilhabe am Arbeitsmarkt“ Was soll das neue Instrument leisten? Wie sieht die Bezuschussung konkret aus? Durch die Aufnahme eines sozialversicherungs- Arbeitgeber, die eine Person aus der Zielgruppe pflichtigen Arbeitsverhältnisses und durch eine sozialversicherungspflichtig einstellen, erhalten ganzheitliche beschäftigungsbegleitende Be- für eine Dauer von maximal fünf Jahren einen treuung soll sehr arbeitsmarktfernen Langzeitar- Lohnkostenzuschuss. Dieser beträgt in den ers- beitslosen soziale Teilhabe ermöglicht werden. ten beiden Jahren 100 Prozent auf Grundlage des gesetzlichen Mindestlohns oder eines ge- zahlten Tariflohns und sinkt ab dem dritten Jahr Worin unterscheidet es sich von den übrigen des Arbeitsverhältnisses jährlich um 10 Pro- Instrumenten? zentpunkte. Für notwendige Qualifizierungen können dem Arbeitgeber 3.000 Euro je Förder- Das neue Instrument zeichnet sich durch eine fall erstattet werden. längere Förderdauer von bis zu fünf Jahren und einen hohen, degressiv ausgestalteten Lohn- kostenzuschuss aus. Den Teilnehmenden wird zudem während der Förderung eine ganzheit- liche beschäftigungsbegleitende Betreuung zur Stabilisierung des Arbeitsverhältnisses angebo- ten und notwendige Qualifizierungen sind för- derfähig. 10
Neue Teilhabechancen für Langzeitarbeitslose Was muss ein Arbeitgeber tun, um jemanden Warum gilt das Instrument nur für Personen, mit dieser Bezuschussung einzustellen? die seit sechs Jahren Leistungen nach dem Arbeitgeber können einen Lohnkostenzuschuss SGB II bezogen haben? nach § 16i SGB II erhalten, wenn sie eine Person Mit dem Instrument „Teilhabe am Arbeitsmarkt“ aus der Zielgruppe sozialversicherungspflichtig soll sehr arbeitsmarktfernen Langzeitleistungs- einstellen. Zur Zielgruppe gehören jene Personen, beziehenden wieder eine Perspektive zur Teil- die über 25 Jahre alt sind, in mindestens sechs habe am Arbeitsmarkt eröffnet werden. Denn der letzten sieben Jahre Leistungen zur Sicherung trotz der guten konjunkturellen Entwicklung in des Lebensunterhalts nach dem SGB II bezogen Deutschland und der rückläufigen Arbeitslosen- haben und in dieser Zeit nicht oder nur kurzzeitig zahl in den vergangenen Jahren gibt es nach wie beschäftigt waren. Schwerbehinderte und Perso- vor eine zahlenmäßig bedeutsame Gruppe von nen mit mindestens einem minderjährigen Kind arbeitsmarktfernen Langzeitarbeitslosen, die in der Bedarfsgemeinschaft können bereits nach ohne besondere Unterstützung absehbar keine fünf Jahren Leistungsbezug gefördert werden. Die realistische Chance auf Aufnahme einer ungeför- Förderung muss beim zuständigen Jobcenter vor derten Beschäftigung haben. dem Abschluss des Arbeitsvertrags vom Arbeitge- ber beantragt werden. Quelle: Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) Was muss ein Arbeitsuchender tun, um in die- Kann die Förderdauer von fünf Jahren bei ei- se geförderte Anstellung zu kommen? ner zunehmend positiven Entwicklung vorzei- tig abgebrochen werden? Der Arbeitsuchende muss mit einem Arbeitgeber ein sozialversicherungspflichtiges Arbeitsverhält- Ja. § 16i SGB II ermöglicht eine fristlose Kündi- nis eingehen. Die Entscheidung über die Zuwei- gung durch den Arbeitnehmer, wenn ein Wechsel sung trifft das Jobcenter. in ungeförderte Beschäftigung oder Ausbildung möglich ist. Was passiert mit der geleisteten Bezuschus- sung, wenn Arbeitgeber oder Arbeitnehmer das Anstellungsverhältnis vorzeitig beenden bzw. kurz nach Auslaufen der Förderung? Für die Beendigung des Arbeitsverhältnisses gelten die Vorschriften des allgemeinen Arbeits- rechts. Eine Rückzahlung eines geleisteten Lohn- kostenzuschusses sieht § 16i SGB II nicht vor. 11
Neue Teilhabechancen für Langzeitarbeitslose Zum neuen § 16i SGB II „Teilhabe am Arbeitsmarkt“ Handelt es sich ebenfalls um ein arbeitsmarkt- Warum und wie wird es angepasst? politisches Instrument? Aufgrund der hohen Fördervoraussetzungen und der daraus resultierenden Umsetzungsschwierig- Ja. § 16e SGB II in seiner neuen Fassung zielt dar- keiten profitieren nicht alle Langzeitarbeitslosen, auf ab, Beschäftigungschancen auf dem allgemei- die eine entsprechende Unterstützung brauchen, nen Arbeitsmarkt zu schaffen. von § 16e SGB II aktuelle Fassung. Dies und un- sere Erkenntnisse aus den Bundesprogrammen der letzten Jahre gaben deshalb Anlass, einen neuen Ansatz zu initiieren. Warum und wie wird es angepasst? bitte umblättern > Erkenntnisse, die in § 16e SGB II nun umgesetzt werden sind: Ein möglichst einfach zu handha- bender erhöhter Lohnkostenzuschuss, ergänzt Warum richtet es sich ausschließlich an Per- durch die richtige Arbeitgeberansprache und sonen, die mehr als 2 Jahre ar¬beitslos sind? eine ganzheitliche beschäftigungsbegleitende Was machen die weniger lang arbeitslos sind? Betreuung sind besonders geeignet, die Beschäf- Mit einer mindestens zweijährigen Arbeitslosig- tigungschancen von Langzeitarbeitslosen auf keit gehen in aller Regel zunehmend Vermitt- dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu verbessern lungshemmnisse einher. Eine dauerhafte Lang- und zu stabilisieren. Das gab es in dieser Form zeitarbeitslosigkeit kann zu diesem Zeitpunkt im SGB II noch nicht, § 16e SGB II neue Fassung aber mit einer intensiven und guten Förderung macht es nun möglich: noch vermieden werden. Gefördert werden Arbeitsverhältnisse mit Perso- nen, die trotz vermittlerischer Unterstützung seit mindestens zwei Jahren arbeitslos sind. Der Zu- schuss zum Arbeitsentgelt (tariflich oder ortsüb- lich) beträgt 75 Prozent im ersten und 50 Prozent im zweiten Jahr. Während der Förderdauer findet eine ganzheitliche beschäftigungsbegleitende Betreuung (Coaching) statt. Quelle: Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) 12
Neue Teilhabechancen für Langzeitarbeitslose Finanzierung Was kosten die neuen Förderinstrumente zu- Woher kommt das Geld? sätzlich? Aus dem Bundeshaushalt. Den Jobcentern werden zur Umsetzung bis 2022 vier Mrd. Euro zusätzlich zur Verfügung gestellt. Darüber hinaus wird ein Passiv-Aktiv-Transfer ermöglicht, um Arbeit statt Arbeitslosigkeit zu finanzieren. Wie sie das Geld zum Abbau der Langzeitarbeitslosigkeit einsetzen, entscheiden sie selbst. Quelle: Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) Erfolgskontrolle Was passiert, wenn die neuen Förderinstru- Was gilt als erfolgreich? mente nicht greifen? Es gibt drei gesetzliche Ziele: Die Verbesserung Das BMAS wird die Umsetzung durch Monitoring der sozialen Teilhabe, der Beschäftigungsfähig- und Evaluation laufend überprüfen und ggf. re- keit und der Beschäftigungschancen der Teilneh- agieren. menden. Das erstgenannte Ziel ist beim § 16i SGB II den beiden nachgelagerten Zielen über- geordnet. Die Erreichung genau dieser Ziele wird Wer prüft, ob die neuen Förderinstrumente das IAB überprüfen. erfolgreich sind? Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsfor- schung in Nürnberg (IAB) wird die neuen Instru- Quelle: mente umfassend evaluieren. https://www.bmas.de/DE/Themen/Arbeitsmarkt/ Arbeitsfoerderung/Fragen-und-Antworten-Teilhabechan- cen/faq-teilhabechancen-langzeitarbeitslose.html 13
Neue Teilhabechancen für Langzeitarbeitslose Kann das neue Regelinstrument Langzeitarbeitslosigkeit langfristig reduzieren? Das neue Regelinstrument wird einen Beitrag zum Abbau der Langzeitarbeitslosigkeit leisten. Es kann jedoch nur ein Baustein in einer größer angelegten Strategie sein. Unser Ziel muss wei- ter sein: Vollbeschäftigung. Um dieses Ziel zu er- reichen, brauchen wir ganzheitliche Ansätze zur Integration in Arbeit. Das kürzlich verabschiede- te Teilhabechancengesetz verfolgt solche Ansät- ze und richtet sich dabei an jene Menschen, die seit vielen Jahren Hartz-IV-Leistungen beziehen. Fakt ist, dass rund eine halbe Million Menschen seit 2005 ununterbrochen Leistungen nach dem Zweiten Sozialgesetzbuch beziehen. Mit diesem Kai Whittaker ist seit 2013 direkt gewählter Umstand kann sich die Politik nicht zufrieden ge- CDU-Bundestagsabgeordneter des Wahl- ben. Deshalb sollten wir alles daran setzen, Men- kreises Rastatt. Seit 2013 gehört er dem schen zu befähigen und sie langfristig aus Hartz Bundestagsausschuss für Arbeit und IV herauszuholen. Dafür sind eine intensivere Soziales an. Er ist Berichterstatter der CDU/ Betreuung und eine bessere Beratung von lang- CSU-Bundestagsfraktion für das Thema zeitarbeitslosen Menschen nötig. Es geht dar- Hartz IV und hat sich in dieser Funktion um, den Menschen individuelle Wege in Arbeit auch für das Teilhabechancengesetz aufzuzeigen. Vor diesem Hintergrund muss der verantwortlich gezeigt. Betreuungsschlüssel in den Jobcentern weiter verbessert werden. Darüber hinaus sollte Quali- fizierung oberste Priorität sein. Die schnelle Inte- Qualifizierung schneller und häufiger arbeitslos gration in Arbeit ist in den Jobcentern fest veran- werden. Um diesen Teufelskreislauf zu stoppen, kert. Dieser Ansatz ist nicht nachhaltig. Es wird muss Qualifizierung an erster Stelle stehen - vor verkannt, dass Menschen aufgrund mangelnder allem bei jungen Menschen. 14
Neue Teilhabechancen für Langzeitarbeitslose Je länger die Suche nach Arbeit grenze des Mindestlohns. Es erfolglos bleibt, umso schwieri- geht also nicht um 1-Euro-Jobs, ger wird der Weg in Arbeit. Da- sondern um echte Beschäfti- her braucht es individuell aus- gung bei Unternehmen, Kom- gerichtete Unterstützung, um munen und Trägern. auch denen, die die Hoffnung Ich bin optimistisch, dass es auf Arbeit oft schon aufgege- uns so gelingt, Menschen aus ben haben, eine Perspektive der Arbeitslosigkeit zu holen, und neue Teilhabechancen zu die anders keine Chance er- eröffnen. Deshalb ist das Teil- halten hätten. Das bedeutet so habechancengesetz eingebet- viel, da Arbeit mehr ist als der tet in das Gesamtkonzept „Mit- Broterwerb. Sie bedeutet auch Arbeit“. Neben der Schaffung Anerkennung und soziale Teil- eines sozialen Arbeitsmarkts habe. Wenn es möglich ist, mit in sozialversicherungspflichti- Bernd Rützel (MdB) ist der eigenen Arbeit selbst für ger Beschäftigung, verbessert ordentliches Mitglied der SPD sich und seine Familie sorgen die Bundesregierung damit die im Ausschuss für Arbeit und zu können, dann wirkt das weit intensive Betreuung, gute Bera- Soziales. über die geförderte Person hin- tung und wirksame Förderung aus. Es wirkt bis in die Familie von Langzeitarbeitslosen. hinein, in der Kinder vorgelebt Ein entscheidendes Element bei dem Weg in bekommen, was Arbeit bedeutet, dass es eine dauerhafte Arbeit ist auch, dass dort, wo Tarif- gute Sache ist, etwas zu leisten und Anerken- lohn gezahlt wird, auch Tariflohn gefördert wird. nung zu bekommen. Außerdem gilt selbstverständlich die Lohnunter- Bereits seit über zehn Jahren setzt sich die Frak- von vornherein aus. Weil der soziale Arbeits- tion DIE LINKE. im Deutschen Bundestag für öf- markt erst nach vielen Jahren Hartz-IV-Bezug fentlich geförderte Beschäftigung ein. Dass nun greift, wird zudem der Wiedereinstieg in den auch die Bundesregierung die Zeichen der Zeit Arbeitsmarkt unnötig erschwert. Ferner sol- erkannt hat, begrüße ich deshalb sehr. Der so- len die geförderten Arbeitsplätze auch noch in ziale Arbeitsmarkt, den sie im der Arbeitslosenversicherung neuen § 16i des Zweiten Buchs versicherungsfrei sein. Daher Sozial-gesetzbuch einführt, ist bin ich skeptisch, ob es mit das späte Eingeständnis, dass diesem Gesetz gelingen wird, verfestigte Langzeitarbeitslo- Langzeiterwerbslosigkeit lang- sigkeit nur mit öffentlich ge- fristig zu reduzieren. Verfehlt förderter Beschäftigung erfolg- ist im Übrigen auch die Kon- reich verringert werden kann. zeption als sanktionsfähiges Die konkrete Umsetzung aller- Regelinstrument. Sie bleibt der dings lässt zu wünschen üb- alten Logik des Gängelns ver- rig. Die Zahl der Arbeitsplätze haftet. Zwangsbeschäftigung ist deutlich zu gering bemes- ist nicht nur entwürdigend, sen. Selbst für die geplanten sondern ergibt auch arbeits- 150.000 Arbeitsplätze reichen Sabine Zimmermann (MdB) ist marktpolitisch keinen Sinn, die vorgesehenen Haus-halts- seit 2009 die arbeitsmarktpoli- weil die Arbeits-marktintegrati- mittel nicht ansatzweise. tische Sprecherin der LINKEN on auf diesem Weg in aller Re- Schlimmer noch: Die stren- im Bundestag und ordentliches gel scheitern wird. gen Zugangsvoraussetzun- Mitglied im Ausschuss für gen schließen ei-nen großen Arbeit und Soziales. Teil der Langzeiterwerbslosen 15
Neue Teilhabechancen für Langzeitarbeitslose Die GroKo unternimmt mit dem Teilhabechan- nur dann die volle Wirkung entfalten, wenn sie cengesetz zwar einen Schritt in die richtige Rich- im oder sehr nah am ersten Arbeitsmarkt ange- tung, aber es ist dennoch ein Programm, das legt sind und eine Qualifizierung im Sinne von nur einen kleinen Teil der Langzeitarbeitslosen einem „Training on the Job“ ermöglichen, bzw. erreicht. Positiv ist, dass dieses Instrument mit zur Bewältigung von Tätigkeiten des ersten Ar- Lohnkostenzuschüssen arbeitet, die, wie aus der beitsmarktes befähigen. Das scheint aber nicht Praxis bekannt, zu den wirksamsten Maßnah- wirklich das Ziel zu sein, denn bis heute hat die men gehören. Fakt ist jedoch auch, dass diese GroKo nicht erklärt, wie Arbeitgeber des ersten Arbeitsmarktes für dieses Instrument gewonnen werden sollen. Sodann hätte bei der Auswahl des berechtigten Personenkreises deutlicher un- terschieden werden müssen zwischen jenen, für die der erste Arbeitsmarkt tatsächlich erreichbar erscheint, und jenen, für die Beschäftigung um der Teilhabe willen die realistischere Perspektive ist. Für letztere ist aber die Maximalförderdauer von fünf Jahren eine Enttäuschung. Hier könnte nur die konsequente Umsetzung des Passiv-Ak- tiv-Tauschs eine dauerhafte Hoffnung bedeuten. Verfehlt ist auch, dass Weiterbildungen zusätzlich zur Beschäftigung nicht hinreichend abschlusso- Pascal Kober ist Mitglied des Deutschen rientiert durchfinanziert sind. Eine Verbesserung Bundestags der FDP Bundestagsfraktion. der Chancen von Jugendlichen am Übergang Schule und Beruf fehlt bedauerlicherweise völlig. Reduzierung der Langzeitar- bei dieser Frage. So soll der Zu- beitslosigkeit ist gar nicht das schuss nach einer festen Regel Ziel des Instruments. Im Kern mit der Zeit absinken, was bei geht es darum, Arbeitslosen, manchen Sinn machen kann, die fast keine Chance auf eine bei anderen nicht, bei anderen reguläre Beschäftigung (mehr) kann der Zuschuss vielleicht haben, einen Zugang zum Ar- sogar stärker sinken. Das ist beitsmarkt dadurch zu ermög- jeweils vom Einzelfall abhängig. lichen, dass der Nachteil ge- Bei der ausgewählten Grup- genüber anderen durch einen pe ist eher davon auszugehen, Lohnkostenzuschuss ausgegli- dass der Zuschuss bei vielen Dr. Wolfgang Strengmann- chen wird. Deswegen ist es gut, länger bei 100% bleiben müsste. Kuhn ist Sprecher für dass der Lohnkostenzuschuss Fazit: Vom Grundgedanken her Arbeitsmarktpolitik und für ohne Bedingungen wie Zusätz- europäische Sozialpolitik der handelt es sich um das richtige lichkeit und Wettbewerbsneut- Bundestagsfraktion Bündnis Instrument. Durch die konkrete ralität gewährt werden kann. Es 90/Die Grünen. Ausgestaltung ist aber zu be- ist auch richtig, es auf Arbeits- fürchten, dass die Erfolge sich lose zu beschränken, die wirk- in Grenzen halten, zumal es sich lich kaum eine Chance auf eine Beschäftigung durch die Befristung des Gesetzes doch wieder haben. Das Instrument aber nur für Arbeitslose nicht um ein dauerhaftes Regelinstrument han- einzusetzen, die sechs der letzten sieben Jahre delt. In der nächsten Legislaturperiode muss das Arbeitslosengeld II bezogen haben, ist viel zu Gesetz entfristet werden und sowohl der Zugang spät. Bei vielen ist schon viel früher zu erkennen, als auch die Regeln im Einzelnen flexibilisiert dass andere Instrumente nicht wirken werden. werden. Insgesamt sind die Regelungen zu starr, nicht nur 16
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Neue Teilhabechancen für Langzeitarbeitslose Soziale Integration durch Bürgerarbeit oder bürger- schaftliches Engagement? Prof. Dr. Gerd Mutz Die Frage, ob Bürgerarbeit oder Bürgerschaftli- die in der Regie eines sogenannten Gemeinwohl- ches Engagement zu einer sozialen Integration unternehmers durchgeführt und von einem kom- führt, ist nicht einfach zu beantworten, denn es munalen Ausschuss für Bürgerarbeit organisiert ist erst einmal zu klären, was jeweils darunter wird. Sie soll eine kooperative, selbstorganisierte verstanden werden soll, und zudem zu beachten, Tätigkeit sein, für die es ein Bürgergeld gibt. Bür- dass häufig Modell und Praxis auseinanderfallen. gerarbeit ist folglich sehr voraussetzungsvoll: Ers- Dies gilt es im Folgenden zu klären, bevor im tens wird nicht nur die Freiwilligkeit der Tätigkeit letzten Teil auf den Integrationsbegriff sowie das betont, sondern auch ihr besonderer Charakter: damit verwandte Inklusionskonzept eingegangen Bürgerarbeit soll dem nahe kommen, was in al- wird. ternativen Ansätzen als selbstbestimmte Arbeit bezeichnet wird und der Gemeinwohlunterneh- Das Modell der Bürgerarbeit wurde erstmals mer ist nicht zu verwechseln mit einem Manager 1997 im Rahmen der Kommission für Zukunfts- aus der etablierten Sozialwirtschaft. Mit der Bür- fragen der Freistaaten Bayern und Sachsen von gerarbeit sollte eine andere Organisationsform dem Soziologen Ulrich Beck formuliert. Dabei war von Arbeit erprobt werden. Bürgerarbeit als eine freiwillige, zeitlich begrenz- te Tätigkeit jenseits der Erwerbsarbeit konzipiert, Foto: Bildungspark Heilbronn-Franken 18
Neue Teilhabechancen für Langzeitarbeitslose Foto: Julia Baumgart Zweitens ist deren außergewöhnliche Einbin- Bayern noch in Sachsen dem entsprachen, was dung zu betonen, denn sie wird weder von ei- sich Ulrich Beck gedacht hatte. In der Praxis der nem staatlichen oder kommunalen noch von beiden Bundesländer handelte es sich letztlich einem Privatunternehmer organisiert, sondern um eine Variante einer gering entlohnten, nicht von einem lokalen Ausschuss, in dem politisch sozialversicherungspflichtigen Arbeitsbeschaf- Verantwortliche und Bürger_innen das Sagen fungsmaßnahme. Auch die aktuellen Formen der haben. Die Anlehnung an die Idee der Bürger- Bürgerarbeit, die mit der Vorstellung von einem oder Arbeiterräte war bewusst gewählt. Arbeit Sozialen Arbeitsmarkt verknüpft werden, haben sollte demokratisiert werden – im Kontext der mit der Grundidee Ulrich Becks nichts mehr ge- Debatten der 1990er Jahre um die Zukunft der mein. Das Bürgerschaftliche Engagement zielt Arbeit und Gefährdung der Demokratie machte hingegen nicht auf eine alternative Organisation das durchaus Sinn. Die Arbeitsverwaltung wur- gesellschaftlicher Arbeit, sondern auf den ge- de ausdrücklich nicht mit einbezogen, weil sie sellschaftlichen Zusammenhalt. Es wird, bspw. neben unterstützenden Aufgaben auch Kontroll- von der Enquete-Kommission Zukunft des Bür- und Sanktionsmöglichkeiten haben. gerschaftlichen Engagements 2002, definiert Das Modell der Bürgerarbeit wurde insbesondere als eine freiwillige, gemeinschaftlich-kooperativ von Gewerkschaften kritisiert, weil eine indirekte ausgeübte Tätigkeit, die nicht auf Erwerb bzw. Vergrößerung des Niedriglohnsektors befürchtet Gewinn zielt und sich am Gemeinwohl orientiert. wurde; die Politik konnte mit der Idee der Demo- kratisierung von Arbeit nichts anfangen. Vor dem Hintergrund dieser Kritiken ist nach- vollziehbar, dass die später tatsächlich imple- mentierten Modelle der Bürgerarbeit weder in Unser Autor Prof. Dr. Gerd Mutz ist Wirtschaftssoziologe an der Hochschule für angewandte Wissenschaft München und leitet hier die Weiterbildung „Soziale Arbeit in der Einwanderungsgesellschaft“. 19
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Neue Teilhabechancen für Langzeitarbeitslose Bürgerschaftliches Engagement weist durchaus kratische Prozesse. Dies gilt nach allen Studien Parallelen zur Bürgerarbeit auf: Beide Tätigkeiten sogar für gering bezahltes Engagement: Anders sind freiwillig und selbstbestimmt, hier geht es als bei der Bürgerarbeit (so, wie sie heute ver- jedoch insbesondere um die Teilhabe in einem standen und eingesetzt wird), fühlen sich bspw. demokratischen Gemeinwesen. Dies entspricht engagierte Laienhelfer_innen eingebunden in die den damaligen Debatten um den gesellschaft- gesellschaftlichen Bereiche, in denen sie aktiv lichen Zusammenhalt, den man als gefährdet sind. sah. Gleichwohl gab es schon damals kritische Stimmen, die auf die Gefahr neoliberaler Verein- nahmung hinwiesen – schließlich fand genau zu der glei- chen Zeit der größ- te sozialstaatliche Umbau der Nach- kriegszeit statt: von der kompensatori- schen und statuser- haltenden zur exklu- sionsvermeidenden Foto: Julia Baumgart Sozialpolitik. Die Förderung Bürgerschaftlichen Engagements Komplizierter wird die Betrachtung, wenn man könnte, so die Befürchtung, diese neoliberale das Ziel der Integration selbst in den Blick nimmt. Politik flankieren, indem Engagierte dort einge- Im Falle lang andauernder Erwerbslosigkeit wird setzt werden, wo sich der Sozialstaat zurück- davon ausgegangen, dass es sich um Personen zieht. Und in der Tat wurde schon bald das Bür- mit einem besonderen Unterstützungsbedarf gerschaftliche Engagement in der befürchteten handelt, die in ein erwerbsarbeitsähnliches Sys- Weise instrumentalisiert und bis heute werden tem eingepasst werden müssen. Es wird der Engagierte zunehmend als gering bezahlte Laien- Mangel (z.B. sekundärer Arbeitstugenden) be- helfer eingesetzt. Fragt man nun nach dem in- tont, der Langzeitarbeitslose zu Abweichenden tegrativen Gehalt beider Tätigkeitsformen, so ist macht und der mithin den Integrationserfolg be- die zunächst einfache Antwort: Bürgerarbeit im stimmt. Es wäre aber auch denkbar, arbeitsge- gedachten Sinne könnte durchaus integrierend sellschaftliche Institutionen zu demokratisieren wirken, und zwar nicht nur im Hinblick auf ar- und so zu transformieren, dass dort möglichst beitsgesellschaftliche Teilhabe, sondern auch in alle Menschen mit ihren je unterschiedlichen der Einübung selbstorganisierter kooperativer Ar- Ressourcen und Fähigkeiten einen Platz finden, beitsformen und auch im Hinblick auf die Demo- d.h. das System der Märkte zu demokratisieren, kratisierung arbeitsgesellschaftlicher Prozesse. nicht die Menschen in eine bestimmte Form zu Das, was heute als Bürgerarbeit bezeichnet wird bringen. Dies wäre dann Inklusion im eigentli- (etwa nach dem Programm „Soziale Teilhabe am chen Sinne. Arbeitsmarkt“), hat tatsächlich eher kontrollie- renden und disziplinierenden Charakter, wirkt aber selten integrierend. Anders ist dies beim Bürgerschaftlichen Engage- ment: Es wirkt integrierend, z.B. als Brücke zu einer regulären Erwerbstätigkeit, befördert ge- sellschaftlichen Zusammenhalt und stützt demo- 21
Neue Teilhabechancen für Langzeitarbeitslose Was habe ich auf dem Podium der Jahrestagung der bag arbeit über Digitalisierung gelernt? Unstrittig ist die Bedeutung von Weiterbildung, damit Beschäftigte un- terschiedlicher Qualifikationsniveaus die Dynamik der Digitalisierung bewältigen. Deutlich wurde im Verlauf der Podiumsdiskussion aller- dings zwei oft vernachlässigte Aspekte: Zum einen muss für Beschäf- tigte zeitlich und organisatorisch die Voraussetzung für ein kontinuier- liches „learning-by-doing“ geschaffen werden. Nur dann können sie das nach wie vor unverzichtbare Erfahrungswissen über ihre Arbeits- prozesse aufbauen. Zum zweiten bedarf es aber auch Überlegungen, ob und wie die Ergebnisse solcher „learning-by-doing“ Prozesse zer- tifiziert werden und damit in allgemein anerkannte Qualifikationskom- ponente überführt werden können. Prof. Dr. Hartmut Hirsch-Kreinsen ist emeritierter Professor für Wirtschafts- und Industriesoziologie an der Technischen Universität Dortmund. Die Diskussionen auf dem Podium und mit den Anwesenden haben mir gezeigt, wie drängend die Frage der digitalen Innovation für viele Einrich- tungen ist. Um die Chancen digitaler Instrumente und Kanäle nutzbar zu machen, muss das Perso- nal in Lehre und Beratung frühzeitig einbezogen werden, damit passende Schulungsangebote und Arbeitshilfen entwickelt werden können. So kann Unsicherheiten und Bedenken begegnet werden. Besonders in Zeiten der wachsenden Attraktivität Deutschlands als Zielland für qualifizierte Zuwan- derung bieten digitale Lösungen in Weiterbildung Hannes Leber ist bei der und Beratung spannende Perspektiven. Vom Otto Benecke Stiftung e.V. für den Arbeitgeberservice Sprachkurs bis zur Anpassungsqualifizierung für und Anerkennungs- und die Vermittlung hiesiger Industrie- und Arbeits- Qualifizierungsberatung standards – die Ortsungebundenheit digitaler An- zuständig und Referent für gebote macht sie für international mobile Fach- das IQ Netzwerk Berlin. kräfte besonders interessant. 22
Neue Teilhabechancen für Langzeitarbeitslose Die Digitalisierung wird andere Arbeitsinhalte schaffen und damit auch erhebliche Auswirkungen auf die Kompetenzprofile der Mitar- beiterinnen und Mitarbeiter in den Unternehmen haben. Deshalb werden zielgerichtete Weiterbildungen wichtiger denn je. Geringer Qualifizierte und Arbeitssuchende stehen vor großen Herausfor- derungen, um beim Wandel der Arbeitswelt nicht abgehängt zu werden. Die Weiterbildungsträger werden sich hier sehr stark en- gagieren, um deren Partizipation auch weiterhin zu ermöglichen. Zwar werden vermutlich mehr Arbeitsplätze geschaffen, aber mit anderen Ansprüchen an die Qualifikationsprofile der Mitarbeiten- den. Man muss bei der Digitalisierung den Menschen die Angst nehmen, was auf sie zukommen wird. Denn jede Veränderung birgt Unsicherheiten, aber eben auch Chancen. Auf die müssen wir hin- weisen uns für sie werben. Wir fordern von der Bundesregierung Thiemo Fojkar ist Vorstand der ein Weiterbildungsgesetz, um noch mehr Menschen passgenau bag arbeit und Vorsitzender qualifizieren zu können. Hochqualifizierte Menschen sind in der des Vorstandes des Inter- Lage, virtuelle Plattformen für ihre Weiterbildungsbemühungen zu nationaler Bund (IB) Freier nutzen. Aber für geringer und nicht qualifizierte oder viele arbeits- Träger der Jugend-, Sozial- und lose Menschen wird es darauf ankommen, sie bei ihren Weiterbil- Bildungsarbeit e.V.. dungen aktiv zu begleiten und zu unterstützen. Angesichts der Unvermeidlichkeit des digitalen Wan- dels macht sich die Trägerlandschaft auf den langen Weg, die Chancen der Digitalisierung für die Wer- bung, die Motivation, und den Kompetenzaufbau benachteiligter Teilnehmer*innen zu nutzen. Hierbei werden die Lehrkräfte für neue Rollen als Lernbeglei- ter*innen im blended learning und flipped classroom entwickelt und unterstützt werden müssen. Dr. Martin Noack arbeitet er als Senior Expert der Bertelsmann Stiftung im Projekt „Aufstieg durch Kompetenzen“ an der Entwicklung von Ansätzen für ein System der Anerkennung informellen und non- formalen Lernens in Deutschland. Er twittert @cmgnoack und bloggt gemeinsam mit anderen Autoren auf https://blog.aus-und-weiterbildung.eu 23
bag arbeit trifft Eckpfeiler einer nachhaltigen Arbeitsmarktpolitik Dr. Matthias Bartke ist Mitglied Sehr geehrter Herr Dr. Bartke, das Teilhabe- des Deutschen Bundestages für chancengesetz als neues Regelinstrument soll zum 01. Januar 2019 wirksam werden. An die SPD und Vorsitzender des Aus- welchen Stellen trägt das Gesetz die Hand- schusses für Arbeit und Soziales. schrift ihrer Partei, der SPD? Seit Januar 2016 ist er als Justizi- Dr. Bartke: An fast allen. Die Grundidee ist, dass ar Mitglied des geschäftsführen- wir eine längerfristige Beschäftigung für solche den Vorstands der SPD-Bundes- Langzeitarbeitslose schaffen, die viele aufgrund tagsfraktion. ihrer sehr langen Arbeitslosigkeit schon aufge- geben haben. Der soziale Arbeitsmarkt war ein wesentlicher sozialdemokratischer Erfolg in den Koalitionsverhandlungen. Die CDU/CSU wollte Das Coaching soll alle Aspekte des Lebens ihn nicht. umfassen, also auch familiäre und soziale? Wie soll das konkret gehen? Man muß über eine Dr. Bartke: Wir haben in letzter Minute durchge- setzt, dass das Coaching regelhaft bereits zwei dauerhafte Förderung Monate vor Arbeitsaufnahme beginnt, damit nachdenken persönliche Probleme bereits vor Arbeitsbeginn angegangen werden können. Zum ganzheitlichen Ansatz des Coachings gehört, dass psychosozia- Das Programm soll 150.000 Personen för- le und gesundheitliche Aspekte einbezogen wer- dern. Darauf angesprochen hören wir im po- den. Dafür ist eine neutrale Vertrauensperson litischen Berlin immer wieder: Qualität geht notwendig. vor Quantität. Was bedeutet das? Warum werden (fachliche) Weiterbildung und Dr. Bartke: Von mir hören Sie das nicht. Im Ge- Qualifizierung nur in geringem Umfang geför- genteil, ich möchte, dass die Langzeitarbeitslo- dert? sen gerade auf einfachen und nicht zu stark for- dernden Arbeitsplätzen beschäftigt werden. Dr. Bartke: Das werden sie nicht. In diesem Punkt hat die SPD noch einmal massive Nachbesserun- gen durchgesetzt. Künftig können Fortbildungen mit hundert Prozent der Kosten bis zu insgesamt 3.000 Euro gefördert werden. 24
bag arbeit trifft Eine wiederholte Inanspruchnahme des Inst- Langzeitarbeitslose zwar erfolgreich stabilisiert ruments ist nicht möglich. Was passiert mit wurden, sie aber dennoch nicht in nennenswer- Teilnehmenden, die auch nach Ablauf der fünf tem Umfang den allgemeinen Arbeitsmarkt integ- Jahre noch nicht fit für den ersten Arbeits- riert wurden. Ich finde, dass man dann über eine markt sind? dauerhafte Förderung nachdenken muss. Dr. Bartke: Das hängt sicherlich vom jeweiligen Einzelfall ab. Ich kann natürlich nicht ausschlie- ßen, dass wir in fünf Jahren feststellen, dass 25
bag arbeit trifft jahr in Anspruch genommen werden können. Zum ganzheitlichen Ansatz Der Umschichtungsbedarf wird damit erheblich reduziert. Wir wollen den Jobcentern aber nicht des Coachings gehört, dass verbieten, die Mittel umzuschichten. Denn sie psychosoziale und gesund- wissen vor Ort am besten, wie sie ihre Mittel ein- setzen müssen, um Arbeitssuchende in Arbeit zu heitliche Aspekte einbezo- bringen. gen werden. Dafür ist eine neutrale Vertrauensperson Ein Systemwechsel (z.B. bedingungslose Grundeinkommen) wird von einem Großteil notwendig. der Politik ausgeschlossen. Was macht Sie sicher, dass sie mit diesem Instrument Lang- zeitarbeitslosigkeit nachhaltig abbauen kön- Der EGT wird um 4 Milliarden aufgestockt. nen? Wie stellen Sie sicher, dass dieses Geld tat- sächlich der Arbeitsförderung zukommt und Dr. Bartke: Ich beschäftige mich schon zu lan- eine Umwidmung zugunsten des Verwal- ge mit Arbeitsmarktpolitik, um mir über geplan- tungstitels ausgeschlossen ist? te Auswirkungen von Arbeitsmarktinstrumenten „sicher“ zu sein. Aber zigtausende schwerst Ver- Dr. Bartke: Wir haben nicht nur den EGT um 4 mittelbare in neuen Beschäftigungsverhältnissen Mrd. Euro sondern auch den Verwaltungstitel um wären auf jeden Fall ein großartiger Erfolg im zusätzlich eine halbe Milliarde aufgestockt. Hin- Kampf gegen die Langzeitarbeitslosigkeit. zu kommt, dass zusätzlich bis zu 400 Mio. Euro jährlich an nicht verausgabten Mitteln im Folge- Kommentar Felix Banaszak seit Januar 2018 Landesvorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen Nordrhein-Westfalen. Ab 2019 gilt das Teilhabechancengesetz, Langzeit- arbeitslose sollen auf dem zweiten – jetzt sozial genannten - Arbeitsmarkt neue Chancen erhalten. Schon jetzt ist klar: Für die tiefgreifenden Verände- rungen unserer Wirtschafts- und Arbeitswelt sind die Reformen viel zu kurz gesprungen. Ja, das neue Gesetz ist ein Erfolg für die SPD in der Koalition. Und ja, das neue Gesetz schafft Möglich- keiten, Menschen für ihre Arbeit zu bezahlen, die im harten Wettbewerb des ersten Arbeitsmarkts immer wieder ausgegrenzt werden. Die heute an- gesichts immer neuer Enttäuschungen oft völlig demotiviert aufgeben. 26
bag arbeit trifft Die Schritte gehen in die richtige Richtung. Doch für den sich ständig verändernden Arbeitsmarkt es hakt es oft in den Details – und letztlich bleiben sollte darauf einen Rechtsanspruch haben – die Schritte viel zu klein. Es ist ein sachlich nicht statt gezwungen zu werden, wie bisher das erst- begründbarer Koalitionskompromiss, die Förderung beste Jobangebot anzunehmen. nur einmalig zu gewähren. Denn gerade die, um die • Weg mit dem Misstrauen: Kümmern wir uns es geht, brauchen auch Unterstützung bei einem endlich darum, dass Erwerbslose individuell ge- zweiten oder dritten Anlauf. Und es ist ein Irrglaube, fördert werden, statt alle erstmal so zu behan- dass eine „One-fits-all“-Lösung in Bezug auf die An- deln, als seien sie potentielle Drückeberger. spruchsbedingungen – Stichwort Bezugsdauer von • Sanktionen abschaffen: Die heute noch ver- ALG II – den Anforderungen gerecht wird. Letztlich hängten Sanktionen sind kontraproduktiv. Sie ist das Gesetz ein richtiger, aber maximal ein erster treiben Menschen in Kriminalität, Schwarzarbeit Schritt auf dem Weg, aus der Arbeitslosen- eine Ar- und aus dem System. Wir brauchen einen Pa- beitsversicherung zu machen. Eine Welt mit rapiden, radigmenwechsel von Sanktionierung zu Ermu- oftmals disruptiven Veränderungen, einer galoppie- tigung. renden Digitalisierung und technologischen Revolu- • Leistungen, die Chancen eröffnen: Eine echte tionen im Monatstakt sorgt schon allein durch das Grundsicherung muss Zahlungen vorsehen, die ungeheure Tempo für große Unsicherheiten. eine echte Teilhabe ermöglichen – und Bildungs- Auf dieses Tempo muss Politik mit einem System chancen bieten. Wenn ein Staat wie bisher reagieren, das Beständigkeit bietet, Sicherheiten monatlich rund 1 Euro für Bildung einrechnet, schafft und so Chancen eröffnet. Das setzt in gewis- macht er sich mit dem Anspruch auf lebensbe- ser Weise einen Bruch mit dem voraus, das Anfang gleitendes Lernen lächerlich. der 2000er-Jahre als „Agenda 2010“ vielen als die richtige Antwort auf vollkommen andere Herausfor- Gerade für Langzeitarbeitslose wäre ein solcher Um- derungen galt stieg in ein System der Sicherheiten, Chancen und Unser bisheriger Umgang mit (Langzeit-)Arbeits- Anreize eine echte Revolution. Es geht um ein Sys- losen ist geprägt von Misstrauen, Bürokratie und tem, das sie nicht länger als lästige Bittstellerinnen Anreizen dazu, möglichst viele Menschen aus der und Bittsteller behandelt, sondern ihre individuellen Statistik verschwinden zu lassen. Schuld daran sind Potentiale hebt und fördert Es ist nicht falsch, rich- nicht die Mitarbeiter*innen der Jobcenter. Sie agie- tige Schritte im falschen System zu machen. Aber ren in einem System, das genau diese Merkmale klüger, und den großen Herausforderungen unserer trägt, sie machen den Job, den das System Hartz IV Zeit angemessener, wäre, das System grundlegend für sie vorsieht. zu reformieren. Wir Grüne fordern: • weniger Bürokratie: Die Auszahlung von Leistun- gen muss von der Vermittlung der Arbeitslosen getrennt werden – Jobcenter sollen sich um Jobs kümmern. • Echte Anreize: Wer einen Job annimmt, soll ei- nen viel größeren Anteil seines Lohns behalten dürfen – statt ihn wie bisher mit dem ALG II ver- rechnen zu müssen. • Echte Weiterbildung: Wer sich fit machen will 27
Blick über den Tellerrand Dock Gruppe AG Sophie Schimmel Sozialunternehmerische Arbeitsintegration im Wandel Integration kennt viele Facetten und wird mit den zuweisenden Stellen vom Zeitpunkt der Menschen nur gerecht, wenn sie auf ihre Anmeldung und Zieldefinition an ist deshalb Fähigkeiten, Möglichkeiten und ihre Bereitschaft elementar. zur Integration in die freie Wirtschaft ausgerichtet Wir unterscheiden grundsätzlich zwischen ist. Die Schweiz kennt seit dem Sommer 2018 den Attributen Können (Fähigkeit), Wollen eine sogenannte Stellenmeldepflicht, die eine (Bereitschaft) und Dürfen (Arbeitsbewilligung). Deklaration u.a. sämtlicher Hilfsarbeiter-Vakanzen Während Letzteres durch uns nicht beeinflussbar beim Arbeitsamt erfordert. Um ihre Chancen zu ist, arbeiten wir hauptsächlich rund um Fähigkeit erhöhen, verschafft das Arbeitsamt arbeitslosen und Bereitschaft der Arbeitnehmenden. Diese und arbeitsmarktfähigen Personen verfrühten können in unterschiedlicher Kombination und Zugang zu diesen Stellen. Diesen Zugang erhält Ausprägung verschiedene Integrationsziele somit nur, wer auch als arbeitsmarktfähig gilt. nach sich ziehen. Wer kann und will und somit Unser Integrationsmodell muss daher auf die arbeitsmarktfähig ist, soll schnell Zugang zu den Kriterien der Arbeitsmarktfähigkeit abgestimmt meldepflichtigen Stellen erhalten. Für andere sein. soll es möglich, sich in diese Richtung noch zu Wir erachten es als zentral, dass nicht entwickeln, oder bei geringen Chancen auch nur zwischen sozialer Integration und längerfristig im Zweiten Arbeitsmarkt arbeitstätig Arbeitsintegration unterschieden wird. Menschen bleiben zu dürfen. Wir wollen Menschen befinden sich grundsätzlich auf einem Weg, und unabhängig ihrer Integrationsziele in ihrer Kraft gerade wer lange nicht gearbeitet hat, dessen erleben, indem sie auch einmal eine dritte oder Integrationsziele sollen sich bei Änderung ihrer vierte Chance erhalten. Lebens- und Arbeitsalltagsumstände ändern können. Eine enge Zusammenarbeit Foto: Dock Gruppe AG 28
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