Fremdenhass aus der Sicht der Sozialpsychologie Erich Fromms - Internationale Erich-Fromm-Gesellschaft
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Property of the Erich Fromm Document Center. For personal use only. Citation or publication of material pro- hibited without express written permission of the copyright holder. Eigentum des Erich Fromm Dokumentationszentrums. Nutzung nur für persönliche Zwecke. Veröffentlichun- gen – auch von Teilen – bedürfen der schriftlichen Erlaubnis des Rechteinhabers. Fremdenhass aus der Sicht der Sozialpsychologie Erich Fromms Petra Tauscher Vortrag anlässlich der Tagung der Internationalen Erich-Fromm-Gesellschaft zum Thema Frem- denhass - Ursachen und Bewältigungskonzepte, die vom 6. Bis 8. November 1992 in Tübingen stattfand. Erstveröffentlichung im Jahrbuch der Internationalen Erich-Fromm-Gesellschaft, Band 5 1994: Vom Umgang mit dem Fremden 7 Dealing with the Alien, Münster: LIT-Verlag, 1994, S. 15-29. Copyright © 1994 and 2021 by Petra Tauscher. Analytische Sozialpsychologie und Fremdenhass Fragen wir also nach der Entstehung von Fremdenhass beim einzelnen Menschen, so erfah- „Fremdenhass” aus der Sicht der Analytischen Sozi- ren wir damit gleichzeitig, wie sich in einer Gruppe alpsychologie Erich Fromms zu verstehen heißt, sich von Menschen, die ein ähnliches Lebensschicksal zunächst in das Kernstück des Frommschen wissen- teilen, das sich aus ihrer Stellung in dieser Gesell- schaftlichen Denkens zu begeben. schaft ergibt, Fremdenhass als Gruppenphänomen Die Analytische Sozialpsychologie geht histo- entwickeln kann. Und nicht nur entwickeln, sondern risch vor. Sie fordert, wie Fromm in Über Methoden auch potenzieren kann, wie ja die Ereignisse seit und Aufgaben einer Analytischen Sozialpsychologie den Rostocker Krawallen im August 1992 beweisen, bereits 1932 schreibt, „Verständnis der Triebstruk- die, nachdem die Angriffe auf Ausländer und Asy- tur aus dem Lebensschicksal”. (Erich Fromm, 1932a, lanten erst einmal in Gang gekommen waren, auch GA I, S. 38) in anderen Gebieten Deutschlands, vor allem je- Fromm entwickelte die Analytische Sozialpsy- doch in den neuen Bundesländern, in einer Ketten- chologie als Synthese und Erweiterung von Psycho- reaktion zum Ausbruch kamen. analyse und Marxismus, die er als materialistische Wissenschaften ausweist. Beide gehen nicht von Wie sieht die sozialpsychologische Sichtweise Ideen, sondern vom irdischen Leben, von Bedürfnis- Fromms nun genauer aus? sen und der menschlichen Erfahrung aus. Der histo- rische Materialismus erklärte das Bewusstsein als „Die Psychoanalyse scheint so alle Vorausset- Ausdruck des gesellschaftlichen Seins, dessen vor- zungen mitzubringen, die ihre Methoden auch rangigste Grundlage in der Sozio-Ökonomie zu se- brauchbar für sozialpsychologische Untersu- hen ist. Freud hatte im Unbewussten, den Trieben, chungen machen und alle Konflikte mit der So- den Schlüssel zum Verständnis des menschlichen ziologie ausschalten. Sie fragt nach den den Verhaltens gefunden. Mitgliedern einer Gruppe gemeinsamen seeli- Die Gesetzmäßigkeiten der Individualpsycholo- schen Zügen, und sie versucht, diese gemein- gie gelten - sozialpsychologisch gesprochen - auch samen seelischen Haltungen aus gemeinsamen für die Soziologie. Fromm hierzu: „Denn auch die Lebensschicksalen zu erklären. Diese Lebens- ‘Gesellschaft’ besteht aus einzelnen lebendigen In- schicksale liegen aber nicht - je größer die dividuen, die keinen anderen psychologischen Ge- Gruppe ist, um so weniger - im Bereich des Zu- setzen unterliegen können als denen, die die Psy- fälligen und Persönlichen, sondern sie sind choanalyse im Individuum entdeckt hat.” (1932a, identisch mit der sozial-ökonomischen Situati- GA I, S. 40) on eben dieser Gruppe. Analytische Sozialpsy- Seite 1 von 10 Tauscher, P., 1992 Fremdenhass aus der Sicht der Sozialpsychologie Erich Fromms
Property of the Erich Fromm Document Center. For personal use only. Citation or publication of material pro- hibited without express written permission of the copyright holder. Eigentum des Erich Fromm Dokumentationszentrums. Nutzung nur für persönliche Zwecke. Veröffentlichun- gen – auch von Teilen – bedürfen der schriftlichen Erlaubnis des Rechteinhabers. chologie heißt also: die Triebstruktur, die libi- schaftsmitgliedern teilt. dinöse, zum großen Teil unbewusste Haltung Und „viertens lässt sich anmerken, dass Fromm einer Gruppe aus ihrer sozial-ökonomischen zwar ein konstitutionelles Moment bei der Entste- Struktur heraus zu verstehen.” (E. Fromm, hung von seelischen Haltungen anerkennt, das je- 1932a, GA I, S. 42) doch weitgehend durch den Einfluss des Lebens- schicksals modifizierbar ist, was mit seiner grundle- Und weiter: genden Alternative von „biophiler” bzw. „nekrophi- ler” Lebensentfaltung zusammenhängt, wie ich „Die konsequente Anwendung der Methode noch ausführen werde. der analytischen Personalpsychologie auf sozi- ale Phänomene ergibt folgende sozialpsycho- logische Methode: Die sozialpsychologischen Fremdenhass als Ausdruck Erscheinungen sind aufzufassen als Prozesse des Gesellschafts-Charakters der aktiven und passiven Anpassung des Triebapparates an die sozial-ökonomische Si- Wie sich nun die Bedingungen der Gesellschaft im tuation. Der Triebapparat selbst ist - in gewis- einzelnen Menschen niederschlagen, vermittelt sen Grundlagen - biologisch gegeben, aber Fromm über den Begriff des „Charakters” bzw. über weitgehend modifizierbar; den ökonomischen seine Gesellschafts-Charaktertheorie, die als zwei- Bedingungen kommt die Rolle als primär for- tes wesentliches Kernstück seines Gedankengutes menden Faktoren zu. Die Familie ist das we- zu bezeichnen ist. Er schreibt: sentlichste Medium, durch das die ökonomi- sche Situation ihren formenden Einfluss auf „Untersucht man die psychologischen Reakti- die Psyche des einzelnen ausübt. Die Sozial- onen einer Gesellschaftsgruppe, so hat man es psychologie hat die gemeinsamen - sozial rele- mit der Charakterstruktur der Mitglieder die- vanten - seelischen Haltungen und Ideologien - ser Gruppe, d. h. mit individuellen Personen zu und insbesondere deren unbewusste Wurzeln tun. Wir interessieren uns hier jedoch nicht so - aus der Einwirkung der ökonomischen Bedin- sehr für die Besonderheiten, durch welche sich gungen auf die libidinösen Strebungen zu er- diese Personen voneinander unterscheiden, klären.” (E. Fromm, 1932a, GA I, S. 46) sondern für den Teil ihrer Charakterstruktur, welcher den meisten Mitgliedern der Gruppe In diesen Frommschen Zitaten stecken die wesentli- gemeinsam ist. Ich bezeichne diesen Charakter chen Grundgedanken, die für das Verständnis des als Gesellschafts-Charakter. Der Gesellschafts- Fremdenhasses aus sozialpsychologischer Sicht cha- Charakter ist notwendigerweise weniger spezi- rakteristisch sind: fisch als der Individual-Charakter. Beschreibt „Erstens impliziert der Begriff „Analytische So- man letzteren, so befasst man sich mit der Ge- zialpsychologie” ein Verständnis des Fremdenhas- samtheit der Wesenszüge, die in ihrer beson- ses sowohl auf einer individualpsychologischen deren Konfiguration die Persönlichkeitsstruk- Ebene, als auch auf einer gesellschaftstheoretischen tur des betreffenden Menschen ausmachen. Ebene. Der Gesellschafts-Charakter dagegen umfasst „Zweitens ist Fremdenhass als ideologisches nur eine Auswahl aus diesen Wesenszügen, Bewusstseinsmoment vor allen Dingen in seiner un- und zwar den wesentlichen Kern der Charak- bewussten Dimension zu begreifen. terstruktur der meisten Mitglieder einer Grup- „Drittens werden die individualpsychologi- pe, wie er sich als Ergebnis der grundlegenden schen Grundlagen für die Entwicklung des Frem- Erfahrungen und der Lebensweise dieser denhasses in der Familie, der „psychologischen Gruppe entwickelt hat. (...) Der Begriff des Ge- Agentur der Gesellschaft” (E. Fromm, 1932a, GA I, S. sellschafts-Charakters ist ein Schlüsselbegriff 42), geschaffen, die gesellschaftlichen Grundlagen für das Verständnis des Gesellschaftsprozesses dagegen wurzeln in der sozio-ökonomischen Situ- überhaupt. Der Charakter im dynamischen iertheit, die eine größere Gruppe von Gesell- Sinn der analytischen Sozialpsychologie ist die Seite 2 von 10 Tauscher, P., 1992 Fremdenhass aus der Sicht der Sozialpsychologie Erich Fromms
Property of the Erich Fromm Document Center. For personal use only. Citation or publication of material pro- hibited without express written permission of the copyright holder. Eigentum des Erich Fromm Dokumentationszentrums. Nutzung nur für persönliche Zwecke. Veröffentlichun- gen – auch von Teilen – bedürfen der schriftlichen Erlaubnis des Rechteinhabers. besondere Form, in welche die menschliche Teil des Mittelstandes von jeher kennzeich- Energie durch die dynamische Anpassung nend waren: seine Vorliebe für die Starken menschlicher Bedürfnisse an die besonderen und sein Hass auf die Schwachen, seine Klein- Daseinsformen einer bestimmten Gesellschaft lichkeit, seine feindselige Haltung, seine über- gebracht wird.” (E. Fromm, 1941a, GA I, S. triebene Sparsamkeit sowohl in bezug auf sei- 379f.) ne Gefühle wie auch in bezug auf das Geld, und ganz besonders seine asketische Einstel- Der Charakter beschreibt also die spezifische Form lung. Der Horizont des Kleinbürgertums war der Kanalisierung der menschlichen Energie. Im Ge- eng begrenzt, es verachtete und hasste die sellschafts-Charakter findet man dies vor allem über Fremden, es war neugierig und neidisch auf die Normen und Werte der Gesellschaft vermittelt, die eigenen Bekannten, spionierte sie aus und das, was bewusst werden darf und was unbewusst rationalisierte seinen Neid als moralische Ent- bleiben muß, damit diese Gesellschaft weiterhin rüstung. Sein ganzes Leben gründete sich auf fortbestehen kann. das Prinzip der Sparsamkeit - wirtschaftlich und psychologisch. Sozio-ökonomisch ist diese In „Die Furcht vor der Freiheit (1941) und „Psycho- Haltung in der materiellen Verunsicherung und analyse und Ethik (1947) arbeitet Fromm heraus, in Verelendung speziell dieser Schicht in der Fol- welcher Weise unbewusstes und bewusstes Den- ge des Ersten Weltkrieges und während der ken, Fühlen und Handeln durch den Gesellschafts- Weimarer Republik zu suchen.” (E. Fromm, Charakter geprägt wird. In „Die Furcht vor der Frei- 1941a, GA I, S. 340f.) heit entwickelt er die Grundzüge des autoritären Charakters in Verbindung mit der „Psychologie des Die Angst vor der Isolierung in der Gesellschaft, die Nazismus”, in „Psychoanalyse und Ethik wird bereits Angst ausgestoßen zu sein, treiben den Durch- die erste Gesellschafts-Charaktertypologie deutlich. schnittsmenschen dazu, wie Fromm analysiert, sich Er unterscheidet die rezeptive, ausbeuterische, hor- der herrschenden Meinung anzupassen, sich sys- tende und die Marketing-Orientierung, grundlegend temkonform zu verhalten. So hat die Partei, ist sie ist jedoch die Unterscheidung zwischen produktiven einmal an die Macht gekommen, leichtes Spiel. und nicht-produktiven Orientierungen. Mit seinem Nachdem Hitler und seine Partei die Regierungsge- Buch „Die Seele des Menschen (1964) wird diese walt innehatten, bedeutete ein Widerstand gegen Typologie um den narzisstischen und nekrophilen ihn, dass man sich von der Gemeinschaft der Deut- bzw. biophilen Charakter erweitert. schen ausschloss. Über den Begriff des „individuellen” und des „Gruppen-Narzissmus” arbeitet Fromm heraus, wie Der autoritäre, narzisstische und nekrophile im Menschen durch eine fehlende Bezogenheit zur Charakter in seiner Beziehung zum Fremdenhass Welt, die durch Frustration und Lebensenttäu- schung zustande kommt, der Wert des eigenen Für unsere Thematik ist in erster Linie die Beschäfti- Selbst, der eigenen Familie, der eigenen Nation etc. gung mit dem autoritären Charakter, dem narzissti- in irrationaler Weise aufgebläht wird, was gleichzei- schen und dem nekrophilen bzw. biophilen Charak- tig die Abwertung des Anderen, Fremden beinhal- ter notwendig. tet. Fromm schreibt: Den Fremdenhass im Nationalsozialismus ana- lysierte Fromm gesellschafts-charakterolo-gisch als „Der Durchschnittsmensch von heute erhält Folge der autoritären Ideologie. Insbesondere wur- sein Identitätsgefühl aus seiner Zugehörigkeit de das Kleinbürgertum von der Nazi-Ideologie ange- zu einer Nation und nicht aus dem Gefühl, ein sprochen, was in seiner besonderen Identität, die Menschenkind zu sein. Seine Objektivität, d. h. durch Unsicherheit und Minderwertigkeitsgefühle seine Vernunft wird durch diese Fixierung ver- gekennzeichnet war, begründet lag. fälscht. Er beurteilt den Fremden nach ande- ren Kriterien als die Mitglieder des eigenen „Es gibt gewisse Charakterzüge, die für diesen Klans. Auch seine Gefühle dem Fremden ge- Seite 3 von 10 Tauscher, P., 1992 Fremdenhass aus der Sicht der Sozialpsychologie Erich Fromms
Property of the Erich Fromm Document Center. For personal use only. Citation or publication of material pro- hibited without express written permission of the copyright holder. Eigentum des Erich Fromm Dokumentationszentrums. Nutzung nur für persönliche Zwecke. Veröffentlichun- gen – auch von Teilen – bedürfen der schriftlichen Erlaubnis des Rechteinhabers. genüber sind verfälscht. Wer uns nicht durch wird.” (E. Fromm, 1947a, GA II, S. 137) die Bande von Blut und Boden vertraut ist (wie sie in der gemeinsamen Sprache, in gemein- Fromm sieht eine der wesentlichen gesellschaftli- samen Sitten, gleicher Ernährungsweise etc. chen Grundlagen der nekrophilen Charakter- zum Ausdruck kommen), wird voller Argwohn Orientierung im Prozess der zunehmenden Automa- angeschaut. Bereits bei der geringsten Provo- tisierung, Abstrahierung und Rationalisierung, die kation kann es zu paranoiden Wahnvorstellun- den einzelnen immer mehr von der konkreten sinn- gen kommen.” (E. Fromm, 1955a, GA IV, S. lichen Wahrnehmung und damit von seiner Emoti- 44f.) onalität entfremden und ihn gleichzeitig sich als immer weniger wirkmächtig in der gesellschaftli- Allerdings reicht die Analyse des autoritären und chen Mitverantwortung erfahren lassen. narzisstischen Gesellschafts-Charakters noch nicht Seit dem Grauen des Faschismus in Deutsch- aus, um ein derartiges Ausmaß an rassistischem land hat nun dieser gesellschaftliche Prozess eine Massenvernichtungswahn, an bösartiger Zerstörung extreme Beschleunigung erfahren, so dass wir also zu erklären. Der sado-masochistische, „autoritäre” mit einer „Zunahme des nekrophilen Gesellschafts- Charakter will sein Objekt beherrschen, eine Charakters zu rechnen haben. Diese Erkenntnis an- Machtposition ausüben, der Nekrophile dagegen gesichts des wiederauflebenden Fremdenhasses will es zerstören. Nekrophilie ist eine Form der De- macht betroffen und nachdenklich, um nicht zu sa- struktivität, die nicht mehr als Form der Verteidi- gen, dass sie mich das Gruseln lehrt. Für die Analyse gung des eigenen Lebens anzusehen ist, sondern bei und das Verständnis der gegenwärtigen gesell- der die Zerstörung Selbstzweck ist. Für Fromm ent- schafts-charakterologischen Ursachen der rassisti- wickelt sich die Nekrophilie in dem Maße, wie die schen Gewaltakte reicht der Rückgriff auf Analysen Biophilie, die Liebe zum Leben, durch Versagungen des Nationalsozialismus allein nicht mehr aus. Ähn- und Enttäuschungen beschränkt wird, anders als liche Strukturen kann die Analyse des autoritären Freud es annahm, der im Dualismus von Lebens- Gesellschafts-Charakters, wie er exemplarisch im trieb und Todestrieb ein naturgegebenes Prinzip Kleinbürgertum anzutreffen ist, aufdecken. Ich den- sah. Fromm fragt: „Ist der Mensch von Natur aus ke jedoch, dass die Theoriedebatte hier durch gut oder böse?” (1947a, GA II, S. 134) oder „Ist der Fromm eine wesentliche Bereicherung erfahren Mensch Wolf oder Schaf?” (1964a, GA II, S. 164) kann, wenn sie überhaupt erst das Ausmaß und die und antwortet, dass beide Prinzipien im Menschen Bedeutung des nekrophilen Gesellschafts- möglich sind, jedoch durch biophile oder nekrophile Charakters in seiner radikalen Analyse ernst nimmt. Lebensentfaltung überhaupt erst entwickelt wer- den, ähnlich einer Pflanze, die überhaupt erst wachsen kann, wenn sie unter den ihr gemäßen Le- Die Pathologie der Normalität: bensbedingungen aufwächst. Das biophile Prinzip, Fehlende Bezogenheit und Entfremdung die Tendenz zu wachsen, ist jedoch das Grundle- als Ursache von Fremdenhass gende im Menschen. Fromm schreibt: Fromm hat diesen Zustand unserer Gesellschaft be- „Wird der Tendenz des Lebens, nämlich zu reits in seinem Buch „Wege aus einer kranken Ge- wachsen und zu leben, entgegengearbeitet, sellschaft (1955) als „Pathologie der Normalität” di- dann macht die gehemmte Energie einen agnostiziert, die eben dadurch als normal erscheint, Umwandlungsprozess durch und bildet sich in da ihre Pathologie durch ihre weite Verbreitung bei lebenszerstörende Energie um. Die Destrukti- ihren Gesellschaftsmitgliedern kaum noch auffällt. vität ist die Folge ungelebten Lebens. Die indi- Das Hauptcharakteristikum dieser Pathologie ist die viduellen und gesellschaftlichen Bedingungen, Unfähigkeit des Menschen, von sich aus liebend und die eine solche Blockierung der lebensför- aktiv und überhaupt bezogen auf seine Welt zu dernden Energie bewirken, bringen die De- sein. Hiermit sind wir im Zentrum der Frommschen struktivität hervor, die ihrerseits zur Quelle der Begrifflichkeit angelangt, beim Begriff der „Bezo- verschiedensten Manifestationen des Bösen genheit”. Die Art und Weise der Bezogenheit des Seite 4 von 10 Tauscher, P., 1992 Fremdenhass aus der Sicht der Sozialpsychologie Erich Fromms
Property of the Erich Fromm Document Center. For personal use only. Citation or publication of material pro- hibited without express written permission of the copyright holder. Eigentum des Erich Fromm Dokumentationszentrums. Nutzung nur für persönliche Zwecke. Veröffentlichun- gen – auch von Teilen – bedürfen der schriftlichen Erlaubnis des Rechteinhabers. Menschen ist es, die sein Verhältnis zur Welt be- sungen, die sich durch Missachtung der grundle- stimmt und durch den Charakter geprägt wird. Der genden Erfordernisse der menschlichen Identitäts- Charakter ist als Ersatz für die fehlenden Instinkte bildung ergeben und in den Widersprüchen der des Menschen zu betrachten, durch seine Art und menschlichen Existenz wurzeln: Weise des Bezogenseins muss er sich seine Welt erst erschaffen. „Genau wie sein Bedürfnis nach Bezogenheit, Die pathologische Bezogenheit des modernen nach Verwurzelung und Transzendenz ist auch Menschen sieht Fromm in einer wachsenden Ent- dieses Bedürfnis nach Identitätserleben so le- fremdung von sich selbst, von anderen Menschen, benswichtig und gebieterisch, dass der von der Natur, der Welt in uns und außerhalb von Mensch nicht gesund bleiben könnte, wenn er uns insgesamt. „Wörtlich bedeutet Entfremdung, nicht irgendeine Möglichkeit fände, es zu be- dass wir uns selbst Fremde geworden sind oder friedigen. Das Identitätsgefühl des Menschen dass die äußere Welt uns fremd geworden ist.” (E. entwickelt sich in dem Prozess, in dem er sich Fromm 1991, S. 59) In dieser Frommschen Grundka- aus den primären Bindungen löst, die ihn an tegorie „Entfremdung” ist das Wort „fremd” enthal- die Mutter und die Natur binden.” (E. Fromm, ten. Entfremdung, Entfremdung von sich selbst, 1955a, GA IV, S. 46) vom anderen - bis hin zum Hass - als zentraler Be- standteil des gegenwärtigen Gesellschafts- Der Mensch muss nach Fromm immer wieder neu Charakters ist also keineswegs eine Randerschei- geboren werden, er muss sich sein Leben lang im- nung, sondern Begleiterscheinung und Folge der ge- mer wieder zwischen den progressiven und den re- sellschaftlichen Entwicklung überhaupt. Eine der gressiven Kräften entscheiden. Durch Unsicherhei- wesentlichen Ursachen der zunehmenden Entfrem- ten und Minderwertigkeitsgefühle, materieller oder dung liegt in den Folgen der Anpassungsleistungen psychischer Natur, wird eine stabile Identität, die des Menschen an die Erfordernisse des modernen Voraussetzung für eine progressive Entwicklung und Marktes und der Konsumgesellschaft, die ihn immer Grundlage für objektives Erkennen ist, verhindert, mehr eine Rolle spielen lassen, je nachdem, wie der und es kommt zu Kompensationsmechanismen, wo- Markt es gerade fordert. Fromm hat den Marketing- für der „Hass auf das Fremde” ein Indiz sein kann. Charakter eingehend analysiert, ich will es hier je- Die zunehmenden Ohnmachtserfahrungen inner- doch für unseren Zusammenhang dabei bewenden halb unserer Gesellschaft, wofür ich nur beispielhaft lassen. Nur soviel sei zusammengefasst: Die Ver- zunehmende Arbeitslosigkeit, zunehmende materi- dinglichung des Menschen bewirkt den Verlust des elle und psychische Verelendung bei immer mehr Kontaktes des Menschen zu sich selbst und zu den Menschen, zunehmende Umweltzerstörung und anderen, da er sich selbst immer weniger zum Maß- apokalyptische Visionen über unsere Zukunft nen- stab wird und verlernt hat, auf seine eigene innere nen will, sind die erschreckenden Indizien dafür, wie Stimme, auf sein „humanistisches Gewissen” zu es um die Identität sehr vieler Menschen bestellt horchen. sein muß. Sozialpsychologisch gesprochen, ist es immer die Beziehung, die der Mensch zu sich selbst hat, Individuelle und gesellschaftliche Ursachen die auch sein Verhältnis zu seinen Mitmenschen be- von Fremdenhass: stimmt. Die Alternative zur nekrophilen Gesellschaft Brüche in der Identitätsfindung ist das messianische Zeitalter, das den „Einen”, uni- und ihre Überwindung als Voraussetzung versalen Menschen zur Voraussetzung hat. Fromm der biophilen Gesellschaft schreibt: Aus dem bisher Gesagten wird deutlich, dass Frem- „Alles Wissen um den anderen beruht auf ge- denhass als Bestandteil des Gesellschafts- meinsamer Erfahrung. Ich kann in einem ande- Charakters in seiner autoritären, narzisstischen und ren Menschen nicht verstehen, was ich nicht nekrophilen Ausprägung zu betrachten ist. Seine selbst erfahren habe. Menschlich sein bedeu- Ursachen liegen, individuell betrachtet, in Entglei- tet, dass wir in uns selbst die ganze Mensch- Seite 5 von 10 Tauscher, P., 1992 Fremdenhass aus der Sicht der Sozialpsychologie Erich Fromms
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West - nieder mit der Nazi-Pest”, oder mit der Auf- Diese Prozesse verlaufen in erster Linie unbewusst. fassung, man müsse nur genügend Aufklärung über Um so schwieriger ist es, ihnen politisch, sozial- die Geschichte des Faschismus an den Schulen pädagogisch, wie auch immer, zu begegnen. Aus der schaffen, dann würden Anti-Faschisten erzogen. psychoanalytischen Praxis wissen wir, wie schwierig Aufklärung allein reicht längst nicht aus, um liberale die Arbeit mit den Abwehrmechanismen ist, die die Kinder zu erziehen. Aufdeckung des Unbewussten verhindern sollen - Die Hilflosigkeit auch bei ehrlich um Aufklärung schwierig, aber nicht unmöglich. und Veränderung bemühten Geistern zeigt nur, wie Die Hilflosigkeit der Politiker angesichts der recht Fromm mit der Analyse des Fremdenhasses Bedrohungen unserer Demokratie durch die Zu- als Ausdruck des Gesellschafts-Charakters in dieser nahme der sozialen Spannungen, wie sie sich seit fundamentalen Bedeutung hat. Fremdenhass, das der deutsch-deutschen Vereinigung verschärft ha- Verhältnis zum Anderen, Fremden in uns selbst wie ben, und in der Folge durch die Zunahme rechtsra- in anderen rührt in dieser Pathologie an die Grund- dikaler Gewaltakte, macht die tiefgreifende Krise lagen der gesamtgesellschaftlichen Verfasstheit der unseres Gesellschaftssystems deutlich. Mit autoritä- Menschen überhaupt. Der provokativ geäußerte ren Maßnahmen sollen die gewalttätigen Ausschrei- Fremdenhass der Rechtsradikalen ist - gesellschafts- tungen in Schach gehalten werden. Der Fraktions- charakterologisch betrachtet - eben nicht nur eine chef der CDU/CSU, Herr Schäuble, hat als Maßnah- Randerscheinung, sondern die sichtbare Spitze ei- men die Verschärfung des Polizei- und Versamm- nes Eisbergs vom gesellschafts-charakterologischen lungsrechtes, die Ausweitung des Haftrechtes, die Zustand unserer Gesellschaft. Umorganisierung des angeblich zu laschen Strafvoll- Hass gegen Ausländer und Asylanten ist nur ein zuges, die Einrichtung von Erziehungsanstalten für besonders markanter und betroffen machender As- kriminelle Kinder oder die Steigerung des Poli- pekt in dieser tiefgreifenden Problematik, da er sich zeihaushaltes zu bieten („Der Spiegel vom 31.8.92, in Gewalttätigkeiten und zum Teil bürgerkriegsähn- S. 29). Diese Antworten auf die Zunahme rechtsext- lichen Zuständen bemerkbar macht. Man könnte remistischer Tendenzen in unserem Land zeigen, jedoch ebenso gut das Verhältnis der Ost- und dass hier auch von anderer Seite Feindbilder ge- Westdeutschen untereinander zum Thema nehmen, schaffen werden, die die Skins als Kriminelle verur- das von immer mehr zunehmenden gegenseitigen teilen sollen. Dass diese Erscheinungen aber bereits Feindbildern geprägt ist, nachdem die gegenseitigen Ausdruck eines gesamtgesellschaftlichen Zustands Enttäuschungen durch die deutsche Vereinigung sind, wobei die Rechtsradikalen eine Art Vorhut bil- zugenommen haben. den, wird in keiner Weise bemerkt. Die Regierung Überall in Europa ist eine Ausweitung der Aus- versuchte, die Rostocker Gewaltakte eingereisten länderfeindlichkeit festzustellen, jedoch macht er Neonazis in die Schuhe zu schieben oder gar, wie sich nirgends so schnell breit wie in Deutschland. unser Herr Bundeskanzler Helmut Kohl, Stasi- Nach einer „Spiegel-Umfrage des „Emnid-Instituts Leuten, die alles „generalstabsmäßig” organisiert stieg das Verständnis für rechtsradikale Tendenzen hätten („Der Spiegel vom 31. 8. 92, S. 18). Exper- wegen des Ausländerproblems von 24 % im Dezem- tenanalysen bewiesen jedoch, dass zwei Drittel der ber 1991 auf 38 % im Juni 1992. Im Osten Deutsch- Randalierer Jugendliche aus dem Raum Rostock wa- lands wird die Bonner Ausländerpolitik noch schär- ren, die „quasi als Exekutivorgane des elterlichen fer kritisiert als in Westdeutschland. 60 % der Ost- Frustes die Ausländer angegriffen” hätten („Der deutschen fanden es laut „ZDF-Politbarometer im Spiegel, a. a. O., S. 26). Juni 92 nicht in Ordnung, dass so viele Ausländer in Sozialpsychologisch gesprochen, sind diese Deutschland leben. Im Mai waren es erst 51 %. In Abwehrmechanismen ein deutliches Zeichen für die den alten Bundesländern stieg die Zahl der Auslän- Seite 7 von 10 Tauscher, P., 1992 Fremdenhass aus der Sicht der Sozialpsychologie Erich Fromms
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(Die statistischen ziemlich aller Werte, die alle einmal etwas galten, Daten sind dem „Spiegel vom 31. 8. 1992 entnom- auf der anderen Seite. Mit einem Wort: der Verlust men, S. 21-29) von „Identität”. Und noch ein paar Daten: Nach Auskunft des Parallel dazu verläuft eine Entwicklung, die zu Verfassungsschutzes für das Jahr 1991 waren 425 einer steigenden Flut von Asylanträgen führt. Einige Rechtsextreme im Land registriert. Dieses Jahr sind Zahlen hierzu: 1990 waren 193000 Asylanträge ge- es bereits (August 1992) mehr als 1000. Noch im stellt worden, 1991 waren es 256000 und bis zum August 1991 waren 84 rechtsextremistische Ge- Jahresende 1992 werden es ca. 500000 sein. Keine waltakte registriert worden, im September, dem politische Partei hat mehr eine Antwort darauf, wie Monat der gewalttätigen Akte in Hoyerswerda, wa- sie diesem Problem gerecht werden will. Die Aus- ren es bereits 224. Im Oktober schnellte die Zahl auf länder und Asylanten in unserem Land, das sind die 490 in die Höhe. Im August 1992 wurden bereits Schwachen, ohne politische und gesellschaftliche 740 Gewaltverbrechen der Rechtsradikalen regis- Rechte. Mit der Analyse des „kleinbürgerlichen, au- triert. 288 dieser Taten wurden in Ostdeutschland toritären Charakters” hat Fromm hinreichend dar- verübt, das ist überproportional viel. Dieses Jahr gelegt, in welcher Weise die Erfahrung von Ohn- hatte es bis zu diesem Zeitpunkt mindestens zehn macht, Bedeutungslosigkeit, materieller Unsicher- Todesfälle durch rechtsextremistische Gewalt gege- heit etc. an noch Schwächeren abreagiert wird. Wie ben, mit der Ausnahme von 1980 (13 Menschen tief diese Identitätskrise geht, mögen drei Zitate, wurden beim Münchner Oktoberfest getötet) ist von ostdeutschen Bürgern nach den Rostocker Kra- das seit 1945 nicht mehr vorgekommen. wallen geäußert, belegen: „Das Volk hat Frust”, er- Laut Verfassungsschutz gibt es in Deutschland klärte ein älterer Bürger. „Wir sind doch die Türken derzeit rund 40 OOO Neonazis, davon rund 4200 im eigenen Land”, sagte eine Bankangestellte. Ein gewaltbereite Skinheads. Demoskopen melden, 17jähriger Maurerlehrling formulierte es noch dras- dass derzeit die Republikaner überall die 5 %-Hürde tischer: „Wir sind hier die Scheiße an der Wand.” schaffen würden. („Der Spiegel vom 31. 8. 1992, S. 18f.) Ich denke, die Trends sprechen für sich, wenn Soziologische Analysen unterliegen nun leicht wir an die Frommsche These von der Ausweitung dem Vorwurf, dass sie zwar viel erklären, aber we- der „Pathologie der Normalität” in unserer Gesell- nig verändern können. Dem ist entgegenzuhalten, schaft denken. Dass dies gerade jetzt, und gerade in dass die Analyse natürlich auch die vorrangigste Ostdeutschland insbesondere geschieht, ist nach Aufgabe von Gesellschaftstheorie ist. Allerdings hat unserer vorangehenden Analyse der individuellen Fromm in der Psychologie und Soziologie und in ih- und gesellschaftlichen Entstehungszusammenhänge rer Konsequenz, der Analytischen Sozialpsychologie, von Fremdenhass angesichts der sozio- immer auch eine ethische Aufgabe gesehen. Mit der ökonomischen und gesellschafts-politischen Verän- Veränderung, die psychoanalytisch beim einzelnen derungen durch die deutsch-deutsche Vereinigung durch die Aufdeckung der Verdrängung ansetzt, insbesondere - und weltweit insgesamt - nicht mehr verbindet sich ein gesellschafts-politisches Engage- verwunderlich. ment, das der Aufdeckung der Unbewusstheit und „Die Rechtsextremisten im Osten, sagt ein der Tabuisierungen der Gesellschaft dient. Fromm norddeutscher Sicherheitsexperte, agierten ‘sehr selbst hat in seinem Leben sein ethisches Engage- viel brutaler, sehr viel elementarer und mit sehr viel ment in Form zahlreicher politischer Aktivitäten mehr Rückhalt in der Bevölkerung’.”(„Der Spiegel bewiesen. vom 31. 8. 1992, S. 27) Ich brauche Sie nur in Stich- Ich möchte betonen, dass in dieser Konse- worten daran zu erinnern, was sich seit der Wende quenz das Frommsche Konzept vom Gesellschafts- für die Menschen aus der DDR getan hat. Der Kol- Charakter gerade seine „Wissenschaftlichkeit” in Seite 8 von 10 Tauscher, P., 1992 Fremdenhass aus der Sicht der Sozialpsychologie Erich Fromms
Property of the Erich Fromm Document Center. For personal use only. Citation or publication of material pro- hibited without express written permission of the copyright holder. Eigentum des Erich Fromm Dokumentationszentrums. Nutzung nur für persönliche Zwecke. Veröffentlichun- gen – auch von Teilen – bedürfen der schriftlichen Erlaubnis des Rechteinhabers. Abgrenzung zu Ansätzen bezieht, die man verhal- Literaturnachweise tenstheoretisch bzw. positivistisch nennt und die z. B. die Beschäftigung mit dem Charakter als unwis- Fromm, E.: „Gesamtausgabe in 10 Bänden, herausgege- ben von Rainer Funk, Stuttgart (Deutsche Verlags- senschaftlich abtun. Fromms „Wissenschaft vom Anstalt) 1980/81. Menschen” beweist sich gerade in ihrem humanisti- - 1932a: „Über Methode und Aufgabe einer Analytischen schen Engagement, indem Theorie nicht mehr als Sozialpsychologie. Bemerkungen über Psychoana- reine Faktensammlung dient, sondern Soziologie lyse und historischen Materialismus”, GA I, S. 37- und gesellschaftspolitische Dimension hier wieder 57. zusammenfließen. Die Überwindung der „Patholo- - 1941a: „Die Furcht vor der Freiheit, GA I, S. 215-392. gie der Normalität”, die seelische Gesundheit, ist - 1947a: „Psychoanalyse und Ethik. Bausteine zu einer von der Beziehung abhängig, die ich zum Anderen, humanistischen Charakterologie, GA II, S. 1-157. Fremden schlechthin habe. Auch der Gesundheits- - 1955a: „Wege aus einer kranken Gesellschaft, GA IV, S. 1-254. zustand der Gesellschaft ist davon abhängig. So ist - 1964a: „Die Seele des Menschen. Ihre Fähigkeit zum Gu- also umgekehrt der Zustand unserer Gesellschaft ten und zum Bösen, GA II, S. 159-268. daran abzulesen, in welcher Weise sie mit dem - 1966a: „Ihr werdet sein wie Gott. Eine radikale Interpre- Fremdenhass fertig wird. Unser Glück ist von dem tation des Alten Testaments und seiner Tradition, Glück der anderen nicht zu trennen. GA VI, S. 83-226. - 1991a: „Die Pathologie der Normalität. Zur Wissenschaft vom Menschen. Schriften aus dem Nachlaß, Band 6, herausgegeben von Rainer Funk, Weinheim und Basel 1991. DER SPIEGEL vom 31.8.1992: „Ernstes Zeichen an der Wand”, Hamburg 1992, S. 18 - 29. Summary: Xenophobia in the View of Erich Fromm’s Social Psychology If we are to grasp the meaning of xenophobia from Fromm’s social-psychological perspective, we must first comprehend the essence of his analytic social psychology - which is a synthesis of psychoanalytic and Marxist thought. Xenophobia, accordingly, is studied in terms of its individual-psychological and social causality; its core is traced back to social character. A key point is that xenophobia, qua expression of social character, is essen- tially an unconscious phenomenon. On the one hand, its groundwork is laid in that „psychological agency of so- ciety”, the family; while, on the other, it results from the socio-economic situation of a particular social group or even of a whole society. From our point of view, the analysis of the authoritarian, narcissistic and necrophilic character types is of paramount importance. Fromm interprets the xenophobic component in National Social- ism as a characterological consequence of an authoritarian ideology. The petty bourgeoisie, in particular, proved receptive to the Nazi ideology; Fromm traces back this receptivity to this class’s specific identity, which was marked by vacillation and feelings of inferiority. Invoking the notion of the narcissistic character, Fromm demonstrates how anxiety, existential frustration and the absence of adequate individual anchoring in the world can touch off xenophobia as a mass phenomenon. However, this analysis of theauthoritarian and narcis- sistic social character structures is incapable of explaining how such a malevolent destructive urge, such a mass orgy of racial destruction, could be unleashed. At this point, Fromm introduces the notion of the necrophilic character type - which he sees as having expanded its hold in recent decades, egged on by increasing automati- zation, abstraction, and rationalization. Right at the conceptual heart of Fromm’s thinking is the idea of „an- choring”, of „being in touch”, which specifies how humans ideally relate to the world. Alienation and what Fromm called „the pathology of normality” both result in a deficient sense of identity, thus paving the way for a dislocated relation to one’s own self and „the other” alike. Seite 9 von 10 Tauscher, P., 1992 Fremdenhass aus der Sicht der Sozialpsychologie Erich Fromms
Property of the Erich Fromm Document Center. For personal use only. Citation or publication of material pro- hibited without express written permission of the copyright holder. Eigentum des Erich Fromm Dokumentationszentrums. Nutzung nur für persönliche Zwecke. Veröffentlichun- gen – auch von Teilen – bedürfen der schriftlichen Erlaubnis des Rechteinhabers. Riassunto: L’odio dell’estraneo dal punto di vista della psicologia sociale di Erich Fromm Per capire l’odio dell’estraneo dalla prospettiva sociopsicologica di Erich Fromm occorre anzitutto porsi al cen- tro della sua psicologia sociale analitica, che è una sintesi del pensiero psicoanalitico e marxista. L’odio dell’estraneo viene quindi indagato nelle sue cause sociali e psicologiche individuali. Il suo nucleo risiede nel ca- rattere sociale. L’importante è che l’odio dell’estraneo, come espressione del carattere sociale, è anzitutto in- conscio. Da un lato le sue basi vengono create nel „rappresentante psicologico della società”, cioè nella fami- glia, dall’altro sono radicate nella situazione socioeconomica di un gruppo sociale o di un’intera società. Nel no- stro contesto dobbiamo occuparci soprattutto del carattere autoritario, narcisistico e necrofilo. Fromm ha ana- lizzato l’odio dell’estraneo nel nazionalsocialismo dal punto di vista del carattere sociale come conseguenza dell’ideologia autoritaria. In particolare, l’ideologia nazista si rivolgeva alla piccola borghesia, radicata nella sua particolare identità, che era caratterizzata da insicurezza e sensi di inferiorità. Riguardo al concetto di carattere narcisistico, Fromm spiega come da un rapporto individuale carente col mondo, dall’ansia e dalla delusione vi- tale, può risultare il fenomeno di gruppo dell’odio dell’estraneo. In ogni caso, l’analisi del carattere sociale au- toritario e narcisistico non basta a spiegare un tale grado di delirio di annientamento razzistico di massa, di di- struttività maligna. A questo punto Fromm introduce il concetto del carattere sociale necrofilo, che negli ultimi decenni, attraverso il processo di crescente automatizzazione, astrazione e razionalizzazione, ha subito un’accelerazione. Al centro concettuale di Fromm sta il concetto di „relazionalità”, che regola il rapporto dell’uomo col mondo. L’alienazione e la „patologia della normalità” portano ad un’identità carente e pongono le basi per un rapporto deviato sia con se stessi che con l’„estraneo”. Resumen: Xenofobia desde el punto de vista de la psicología social de Erich Fromm Entender la xenofobia desde la perspectiva psicosocial de Erich Fromm significa en primer término dirigirse al centro de su análisis psicosocial, que es una síntesis de pensamiento psicoanalítico y marxista. Por consiguiente, la xenofobia se investiga desde un punto de vista socológico individual y social, encontrándose su núcleo en el carácter de la sociedad. Lo importante es que la xenofobia como expresión del carácter de la sociedad es sobre todo algo inconsciente. Por una parte se crean sus bases en la „agencia psicológica de la sociedad” o sea la familia, y por otra parte se originan en la situación socio-económica de un grupo de la sociedad, o bien en toda la sociedad. En nuestro contexto, es sobre todo necesario ocuparse del carácter autoritario del narcisista y del necrófilo. Así, Fromm analizó la xenofobia desde el punto de vista caracterológico de la sociedad en el Nazismo como consecuencia de la ideología autoritaria. La ideología nazista le agradaba especialmente a la pequena burguesía, que estaba basada en una identidad especial caracterizada por sentimientos de inseguridad e inferioridad. Con el concepto del carácter narcisista Fromm explica cómo por la falta de relación con el mundo, en una perspectiva individualista, y debido al miedo y a las desilusiones de la vida, puede darse el fenómeno colectivo de xenofobia. Pero, el análisis de la sociedad autoritaria y narcisista no alcanza a aclarar el despliegue de destructividad racista. Por eso, Fromm introduce el concepto del carácter de la sociedad necrófila que en las últimas décadas aumentó rápidamente con el proceso de la creciente automatización, abstracción y racionalización. Como noción central de Fromm está su concepto de relacionamiento que regula la relación del ser humano con el mundo. La enajenación y la „patología de la normalidad” conducen a una identidad defectuosamente formada y crean las bases para una relación deformada tanto consigo mismo como con el „extranjero”. Seite 10 von 10 Tauscher, P., 1992 Fremdenhass aus der Sicht der Sozialpsychologie Erich Fromms
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