Fremdenhass aus der Sicht der Sozialpsychologie Erich Fromms - Internationale Erich-Fromm-Gesellschaft

Die Seite wird erstellt Marius Henning
 
WEITER LESEN
Property of the Erich Fromm Document Center. For personal use only. Citation or publication of material pro-
                  hibited without express written permission of the copyright holder.
                  Eigentum des Erich Fromm Dokumentationszentrums. Nutzung nur für persönliche Zwecke. Veröffentlichun-
                  gen – auch von Teilen – bedürfen der schriftlichen Erlaubnis des Rechteinhabers.

                    Fremdenhass aus der Sicht der Sozialpsychologie Erich Fromms

                                                    Petra Tauscher

              Vortrag anlässlich der Tagung der Internationalen Erich-Fromm-Gesellschaft zum Thema Frem-
              denhass - Ursachen und Bewältigungskonzepte, die vom 6. Bis 8. November 1992 in Tübingen
              stattfand. Erstveröffentlichung im Jahrbuch der Internationalen Erich-Fromm-Gesellschaft, Band
              5 1994: Vom Umgang mit dem Fremden 7 Dealing with the Alien, Münster: LIT-Verlag, 1994, S.
              15-29.

              Copyright © 1994 and 2021 by Petra Tauscher.

 Analytische Sozialpsychologie und Fremdenhass                         Fragen wir also nach der Entstehung von
                                                                  Fremdenhass beim einzelnen Menschen, so erfah-
„Fremdenhass” aus der Sicht der Analytischen Sozi-                ren wir damit gleichzeitig, wie sich in einer Gruppe
alpsychologie Erich Fromms zu verstehen heißt, sich               von Menschen, die ein ähnliches Lebensschicksal
zunächst in das Kernstück des Frommschen wissen-                  teilen, das sich aus ihrer Stellung in dieser Gesell-
schaftlichen Denkens zu begeben.                                  schaft ergibt, Fremdenhass als Gruppenphänomen
     Die Analytische Sozialpsychologie geht histo-                entwickeln kann. Und nicht nur entwickeln, sondern
risch vor. Sie fordert, wie Fromm in Über Methoden                auch potenzieren kann, wie ja die Ereignisse seit
und Aufgaben einer Analytischen Sozialpsychologie                 den Rostocker Krawallen im August 1992 beweisen,
bereits 1932 schreibt, „Verständnis der Triebstruk-               die, nachdem die Angriffe auf Ausländer und Asy-
tur aus dem Lebensschicksal”. (Erich Fromm, 1932a,                lanten erst einmal in Gang gekommen waren, auch
GA I, S. 38)                                                      in anderen Gebieten Deutschlands, vor allem je-
     Fromm entwickelte die Analytische Sozialpsy-                 doch in den neuen Bundesländern, in einer Ketten-
chologie als Synthese und Erweiterung von Psycho-                 reaktion zum Ausbruch kamen.
analyse und Marxismus, die er als materialistische
Wissenschaften ausweist. Beide gehen nicht von                    Wie sieht die sozialpsychologische Sichtweise
Ideen, sondern vom irdischen Leben, von Bedürfnis-                Fromms nun genauer aus?
sen und der menschlichen Erfahrung aus. Der histo-
rische Materialismus erklärte das Bewusstsein als                        „Die Psychoanalyse scheint so alle Vorausset-
Ausdruck des gesellschaftlichen Seins, dessen vor-                       zungen mitzubringen, die ihre Methoden auch
rangigste Grundlage in der Sozio-Ökonomie zu se-                         brauchbar für sozialpsychologische Untersu-
hen ist. Freud hatte im Unbewussten, den Trieben,                        chungen machen und alle Konflikte mit der So-
den Schlüssel zum Verständnis des menschlichen                           ziologie ausschalten. Sie fragt nach den den
Verhaltens gefunden.                                                     Mitgliedern einer Gruppe gemeinsamen seeli-
     Die Gesetzmäßigkeiten der Individualpsycholo-                       schen Zügen, und sie versucht, diese gemein-
gie gelten - sozialpsychologisch gesprochen - auch                       samen seelischen Haltungen aus gemeinsamen
für die Soziologie. Fromm hierzu: „Denn auch die                         Lebensschicksalen zu erklären. Diese Lebens-
‘Gesellschaft’ besteht aus einzelnen lebendigen In-                      schicksale liegen aber nicht - je größer die
dividuen, die keinen anderen psychologischen Ge-                         Gruppe ist, um so weniger - im Bereich des Zu-
setzen unterliegen können als denen, die die Psy-                        fälligen und Persönlichen, sondern sie sind
choanalyse im Individuum entdeckt hat.” (1932a,                          identisch mit der sozial-ökonomischen Situati-
GA I, S. 40)                                                             on eben dieser Gruppe. Analytische Sozialpsy-

                                                                                                                  Seite 1 von 10
                                                Tauscher, P., 1992
                           Fremdenhass aus der Sicht der Sozialpsychologie Erich Fromms
Property of the Erich Fromm Document Center. For personal use only. Citation or publication of material pro-
                   hibited without express written permission of the copyright holder.
                   Eigentum des Erich Fromm Dokumentationszentrums. Nutzung nur für persönliche Zwecke. Veröffentlichun-
                   gen – auch von Teilen – bedürfen der schriftlichen Erlaubnis des Rechteinhabers.

     chologie heißt also: die Triebstruktur, die libi-             schaftsmitgliedern teilt.
     dinöse, zum großen Teil unbewusste Haltung                         Und „viertens lässt sich anmerken, dass Fromm
     einer Gruppe aus ihrer sozial-ökonomischen                    zwar ein konstitutionelles Moment bei der Entste-
     Struktur heraus zu verstehen.” (E. Fromm,                     hung von seelischen Haltungen anerkennt, das je-
     1932a, GA I, S. 42)                                           doch weitgehend durch den Einfluss des Lebens-
                                                                   schicksals modifizierbar ist, was mit seiner grundle-
Und weiter:                                                        genden Alternative von „biophiler” bzw. „nekrophi-
                                                                   ler” Lebensentfaltung zusammenhängt, wie ich
     „Die konsequente Anwendung der Methode                        noch ausführen werde.
     der analytischen Personalpsychologie auf sozi-
     ale Phänomene ergibt folgende sozialpsycho-
     logische Methode: Die sozialpsychologischen                                  Fremdenhass als Ausdruck
     Erscheinungen sind aufzufassen als Prozesse                                 des Gesellschafts-Charakters
     der aktiven und passiven Anpassung des
     Triebapparates an die sozial-ökonomische Si-                  Wie sich nun die Bedingungen der Gesellschaft im
     tuation. Der Triebapparat selbst ist - in gewis-              einzelnen Menschen niederschlagen, vermittelt
     sen Grundlagen - biologisch gegeben, aber                     Fromm über den Begriff des „Charakters” bzw. über
     weitgehend modifizierbar; den ökonomischen                    seine Gesellschafts-Charaktertheorie, die als zwei-
     Bedingungen kommt die Rolle als primär for-                   tes wesentliches Kernstück seines Gedankengutes
     menden Faktoren zu. Die Familie ist das we-                   zu bezeichnen ist. Er schreibt:
     sentlichste Medium, durch das die ökonomi-
     sche Situation ihren formenden Einfluss auf                          „Untersucht man die psychologischen Reakti-
     die Psyche des einzelnen ausübt. Die Sozial-                         onen einer Gesellschaftsgruppe, so hat man es
     psychologie hat die gemeinsamen - sozial rele-                       mit der Charakterstruktur der Mitglieder die-
     vanten - seelischen Haltungen und Ideologien -                       ser Gruppe, d. h. mit individuellen Personen zu
     und insbesondere deren unbewusste Wurzeln                            tun. Wir interessieren uns hier jedoch nicht so
     - aus der Einwirkung der ökonomischen Bedin-                         sehr für die Besonderheiten, durch welche sich
     gungen auf die libidinösen Strebungen zu er-                         diese Personen voneinander unterscheiden,
     klären.” (E. Fromm, 1932a, GA I, S. 46)                              sondern für den Teil ihrer Charakterstruktur,
                                                                          welcher den meisten Mitgliedern der Gruppe
In diesen Frommschen Zitaten stecken die wesentli-                        gemeinsam ist. Ich bezeichne diesen Charakter
chen Grundgedanken, die für das Verständnis des                           als Gesellschafts-Charakter. Der Gesellschafts-
Fremdenhasses aus sozialpsychologischer Sicht cha-                        Charakter ist notwendigerweise weniger spezi-
rakteristisch sind:                                                       fisch als der Individual-Charakter. Beschreibt
     „Erstens impliziert der Begriff „Analytische So-                     man letzteren, so befasst man sich mit der Ge-
zialpsychologie” ein Verständnis des Fremdenhas-                          samtheit der Wesenszüge, die in ihrer beson-
ses sowohl auf einer individualpsychologischen                            deren Konfiguration die Persönlichkeitsstruk-
Ebene, als auch auf einer gesellschaftstheoretischen                      tur des betreffenden Menschen ausmachen.
Ebene.                                                                    Der Gesellschafts-Charakter dagegen umfasst
     „Zweitens ist Fremdenhass als ideologisches                          nur eine Auswahl aus diesen Wesenszügen,
Bewusstseinsmoment vor allen Dingen in seiner un-                         und zwar den wesentlichen Kern der Charak-
bewussten Dimension zu begreifen.                                         terstruktur der meisten Mitglieder einer Grup-
     „Drittens werden die individualpsychologi-                           pe, wie er sich als Ergebnis der grundlegenden
schen Grundlagen für die Entwicklung des Frem-                            Erfahrungen und der Lebensweise dieser
denhasses in der Familie, der „psychologischen                            Gruppe entwickelt hat. (...) Der Begriff des Ge-
Agentur der Gesellschaft” (E. Fromm, 1932a, GA I, S.                      sellschafts-Charakters ist ein Schlüsselbegriff
42), geschaffen, die gesellschaftlichen Grundlagen                        für das Verständnis des Gesellschaftsprozesses
dagegen wurzeln in der sozio-ökonomischen Situ-                           überhaupt. Der Charakter im dynamischen
iertheit, die eine größere Gruppe von Gesell-                             Sinn der analytischen Sozialpsychologie ist die

                                                                                                                   Seite 2 von 10
                                                 Tauscher, P., 1992
                            Fremdenhass aus der Sicht der Sozialpsychologie Erich Fromms
Property of the Erich Fromm Document Center. For personal use only. Citation or publication of material pro-
                   hibited without express written permission of the copyright holder.
                   Eigentum des Erich Fromm Dokumentationszentrums. Nutzung nur für persönliche Zwecke. Veröffentlichun-
                   gen – auch von Teilen – bedürfen der schriftlichen Erlaubnis des Rechteinhabers.

     besondere Form, in welche die menschliche                            Teil des Mittelstandes von jeher kennzeich-
     Energie durch die dynamische Anpassung                               nend waren: seine Vorliebe für die Starken
     menschlicher Bedürfnisse an die besonderen                           und sein Hass auf die Schwachen, seine Klein-
     Daseinsformen einer bestimmten Gesellschaft                          lichkeit, seine feindselige Haltung, seine über-
     gebracht wird.” (E. Fromm, 1941a, GA I, S.                           triebene Sparsamkeit sowohl in bezug auf sei-
     379f.)                                                               ne Gefühle wie auch in bezug auf das Geld,
                                                                          und ganz besonders seine asketische Einstel-
Der Charakter beschreibt also die spezifische Form                        lung. Der Horizont des Kleinbürgertums war
der Kanalisierung der menschlichen Energie. Im Ge-                        eng begrenzt, es verachtete und hasste die
sellschafts-Charakter findet man dies vor allem über                      Fremden, es war neugierig und neidisch auf
die Normen und Werte der Gesellschaft vermittelt,                         die eigenen Bekannten, spionierte sie aus und
das, was bewusst werden darf und was unbewusst                            rationalisierte seinen Neid als moralische Ent-
bleiben muß, damit diese Gesellschaft weiterhin                           rüstung. Sein ganzes Leben gründete sich auf
fortbestehen kann.                                                        das Prinzip der Sparsamkeit - wirtschaftlich
                                                                          und psychologisch. Sozio-ökonomisch ist diese
In „Die Furcht vor der Freiheit (1941) und „Psycho-                       Haltung in der materiellen Verunsicherung und
analyse und Ethik (1947) arbeitet Fromm heraus, in                        Verelendung speziell dieser Schicht in der Fol-
welcher Weise unbewusstes und bewusstes Den-                              ge des Ersten Weltkrieges und während der
ken, Fühlen und Handeln durch den Gesellschafts-                          Weimarer Republik zu suchen.” (E. Fromm,
Charakter geprägt wird. In „Die Furcht vor der Frei-                      1941a, GA I, S. 340f.)
heit entwickelt er die Grundzüge des autoritären
Charakters in Verbindung mit der „Psychologie des                  Die Angst vor der Isolierung in der Gesellschaft, die
Nazismus”, in „Psychoanalyse und Ethik wird bereits                Angst ausgestoßen zu sein, treiben den Durch-
die erste Gesellschafts-Charaktertypologie deutlich.               schnittsmenschen dazu, wie Fromm analysiert, sich
Er unterscheidet die rezeptive, ausbeuterische, hor-               der herrschenden Meinung anzupassen, sich sys-
tende und die Marketing-Orientierung, grundlegend                  temkonform zu verhalten. So hat die Partei, ist sie
ist jedoch die Unterscheidung zwischen produktiven                 einmal an die Macht gekommen, leichtes Spiel.
und nicht-produktiven Orientierungen. Mit seinem                   Nachdem Hitler und seine Partei die Regierungsge-
Buch „Die Seele des Menschen (1964) wird diese                     walt innehatten, bedeutete ein Widerstand gegen
Typologie um den narzisstischen und nekrophilen                    ihn, dass man sich von der Gemeinschaft der Deut-
bzw. biophilen Charakter erweitert.                                schen ausschloss.
                                                                         Über den Begriff des „individuellen” und des
                                                                   „Gruppen-Narzissmus” arbeitet Fromm heraus, wie
   Der autoritäre, narzisstische und nekrophile                    im Menschen durch eine fehlende Bezogenheit zur
 Charakter in seiner Beziehung zum Fremdenhass                     Welt, die durch Frustration und Lebensenttäu-
                                                                   schung zustande kommt, der Wert des eigenen
Für unsere Thematik ist in erster Linie die Beschäfti-             Selbst, der eigenen Familie, der eigenen Nation etc.
gung mit dem autoritären Charakter, dem narzissti-                 in irrationaler Weise aufgebläht wird, was gleichzei-
schen und dem nekrophilen bzw. biophilen Charak-                   tig die Abwertung des Anderen, Fremden beinhal-
ter notwendig.                                                     tet. Fromm schreibt:
      Den Fremdenhass im Nationalsozialismus ana-
lysierte Fromm gesellschafts-charakterolo-gisch als                       „Der Durchschnittsmensch von heute erhält
Folge der autoritären Ideologie. Insbesondere wur-                        sein Identitätsgefühl aus seiner Zugehörigkeit
de das Kleinbürgertum von der Nazi-Ideologie ange-                        zu einer Nation und nicht aus dem Gefühl, ein
sprochen, was in seiner besonderen Identität, die                         Menschenkind zu sein. Seine Objektivität, d. h.
durch Unsicherheit und Minderwertigkeitsgefühle                           seine Vernunft wird durch diese Fixierung ver-
gekennzeichnet war, begründet lag.                                        fälscht. Er beurteilt den Fremden nach ande-
                                                                          ren Kriterien als die Mitglieder des eigenen
     „Es gibt gewisse Charakterzüge, die für diesen                       Klans. Auch seine Gefühle dem Fremden ge-

                                                                                                                   Seite 3 von 10
                                                 Tauscher, P., 1992
                            Fremdenhass aus der Sicht der Sozialpsychologie Erich Fromms
Property of the Erich Fromm Document Center. For personal use only. Citation or publication of material pro-
                   hibited without express written permission of the copyright holder.
                   Eigentum des Erich Fromm Dokumentationszentrums. Nutzung nur für persönliche Zwecke. Veröffentlichun-
                   gen – auch von Teilen – bedürfen der schriftlichen Erlaubnis des Rechteinhabers.

     genüber sind verfälscht. Wer uns nicht durch                         wird.” (E. Fromm, 1947a, GA II, S. 137)
     die Bande von Blut und Boden vertraut ist (wie
     sie in der gemeinsamen Sprache, in gemein-                    Fromm sieht eine der wesentlichen gesellschaftli-
     samen Sitten, gleicher Ernährungsweise etc.                   chen Grundlagen der nekrophilen Charakter-
     zum Ausdruck kommen), wird voller Argwohn                     Orientierung im Prozess der zunehmenden Automa-
     angeschaut. Bereits bei der geringsten Provo-                 tisierung, Abstrahierung und Rationalisierung, die
     kation kann es zu paranoiden Wahnvorstellun-                  den einzelnen immer mehr von der konkreten sinn-
     gen kommen.” (E. Fromm, 1955a, GA IV, S.                      lichen Wahrnehmung und damit von seiner Emoti-
     44f.)                                                         onalität entfremden und ihn gleichzeitig sich als
                                                                   immer weniger wirkmächtig in der gesellschaftli-
Allerdings reicht die Analyse des autoritären und                  chen Mitverantwortung erfahren lassen.
narzisstischen Gesellschafts-Charakters noch nicht                       Seit dem Grauen des Faschismus in Deutsch-
aus, um ein derartiges Ausmaß an rassistischem                     land hat nun dieser gesellschaftliche Prozess eine
Massenvernichtungswahn, an bösartiger Zerstörung                   extreme Beschleunigung erfahren, so dass wir also
zu erklären. Der sado-masochistische, „autoritäre”                 mit einer „Zunahme des nekrophilen Gesellschafts-
Charakter will sein Objekt beherrschen, eine                       Charakters zu rechnen haben. Diese Erkenntnis an-
Machtposition ausüben, der Nekrophile dagegen                      gesichts des wiederauflebenden Fremdenhasses
will es zerstören. Nekrophilie ist eine Form der De-               macht betroffen und nachdenklich, um nicht zu sa-
struktivität, die nicht mehr als Form der Verteidi-                gen, dass sie mich das Gruseln lehrt. Für die Analyse
gung des eigenen Lebens anzusehen ist, sondern bei                 und das Verständnis der gegenwärtigen gesell-
der die Zerstörung Selbstzweck ist. Für Fromm ent-                 schafts-charakterologischen Ursachen der rassisti-
wickelt sich die Nekrophilie in dem Maße, wie die                  schen Gewaltakte reicht der Rückgriff auf Analysen
Biophilie, die Liebe zum Leben, durch Versagungen                  des Nationalsozialismus allein nicht mehr aus. Ähn-
und Enttäuschungen beschränkt wird, anders als                     liche Strukturen kann die Analyse des autoritären
Freud es annahm, der im Dualismus von Lebens-                      Gesellschafts-Charakters, wie er exemplarisch im
trieb und Todestrieb ein naturgegebenes Prinzip                    Kleinbürgertum anzutreffen ist, aufdecken. Ich den-
sah. Fromm fragt: „Ist der Mensch von Natur aus                    ke jedoch, dass die Theoriedebatte hier durch
gut oder böse?” (1947a, GA II, S. 134) oder „Ist der               Fromm eine wesentliche Bereicherung erfahren
Mensch Wolf oder Schaf?” (1964a, GA II, S. 164)                    kann, wenn sie überhaupt erst das Ausmaß und die
und antwortet, dass beide Prinzipien im Menschen                   Bedeutung      des     nekrophilen     Gesellschafts-
möglich sind, jedoch durch biophile oder nekrophile                Charakters in seiner radikalen Analyse ernst nimmt.
Lebensentfaltung überhaupt erst entwickelt wer-
den, ähnlich einer Pflanze, die überhaupt erst
wachsen kann, wenn sie unter den ihr gemäßen Le-                               Die Pathologie der Normalität:
bensbedingungen aufwächst. Das biophile Prinzip,                          Fehlende Bezogenheit und Entfremdung
die Tendenz zu wachsen, ist jedoch das Grundle-                                als Ursache von Fremdenhass
gende im Menschen. Fromm schreibt:
                                                                   Fromm hat diesen Zustand unserer Gesellschaft be-
     „Wird der Tendenz des Lebens, nämlich zu                      reits in seinem Buch „Wege aus einer kranken Ge-
     wachsen und zu leben, entgegengearbeitet,                     sellschaft (1955) als „Pathologie der Normalität” di-
     dann macht die gehemmte Energie einen                         agnostiziert, die eben dadurch als normal erscheint,
     Umwandlungsprozess durch und bildet sich in                   da ihre Pathologie durch ihre weite Verbreitung bei
     lebenszerstörende Energie um. Die Destrukti-                  ihren Gesellschaftsmitgliedern kaum noch auffällt.
     vität ist die Folge ungelebten Lebens. Die indi-              Das Hauptcharakteristikum dieser Pathologie ist die
     viduellen und gesellschaftlichen Bedingungen,                 Unfähigkeit des Menschen, von sich aus liebend und
     die eine solche Blockierung der lebensför-                    aktiv und überhaupt bezogen auf seine Welt zu
     dernden Energie bewirken, bringen die De-                     sein. Hiermit sind wir im Zentrum der Frommschen
     struktivität hervor, die ihrerseits zur Quelle der            Begrifflichkeit angelangt, beim Begriff der „Bezo-
     verschiedensten Manifestationen des Bösen                     genheit”. Die Art und Weise der Bezogenheit des

                                                                                                                   Seite 4 von 10
                                                 Tauscher, P., 1992
                            Fremdenhass aus der Sicht der Sozialpsychologie Erich Fromms
Property of the Erich Fromm Document Center. For personal use only. Citation or publication of material pro-
                   hibited without express written permission of the copyright holder.
                   Eigentum des Erich Fromm Dokumentationszentrums. Nutzung nur für persönliche Zwecke. Veröffentlichun-
                   gen – auch von Teilen – bedürfen der schriftlichen Erlaubnis des Rechteinhabers.

Menschen ist es, die sein Verhältnis zur Welt be-                  sungen, die sich durch Missachtung der grundle-
stimmt und durch den Charakter geprägt wird. Der                   genden Erfordernisse der menschlichen Identitäts-
Charakter ist als Ersatz für die fehlenden Instinkte               bildung ergeben und in den Widersprüchen der
des Menschen zu betrachten, durch seine Art und                    menschlichen Existenz wurzeln:
Weise des Bezogenseins muss er sich seine Welt
erst erschaffen.                                                          „Genau wie sein Bedürfnis nach Bezogenheit,
      Die pathologische Bezogenheit des modernen                          nach Verwurzelung und Transzendenz ist auch
Menschen sieht Fromm in einer wachsenden Ent-                             dieses Bedürfnis nach Identitätserleben so le-
fremdung von sich selbst, von anderen Menschen,                           benswichtig und gebieterisch, dass der
von der Natur, der Welt in uns und außerhalb von                          Mensch nicht gesund bleiben könnte, wenn er
uns insgesamt. „Wörtlich bedeutet Entfremdung,                            nicht irgendeine Möglichkeit fände, es zu be-
dass wir uns selbst Fremde geworden sind oder                             friedigen. Das Identitätsgefühl des Menschen
dass die äußere Welt uns fremd geworden ist.” (E.                         entwickelt sich in dem Prozess, in dem er sich
Fromm 1991, S. 59) In dieser Frommschen Grundka-                          aus den primären Bindungen löst, die ihn an
tegorie „Entfremdung” ist das Wort „fremd” enthal-                        die Mutter und die Natur binden.” (E. Fromm,
ten. Entfremdung, Entfremdung von sich selbst,                            1955a, GA IV, S. 46)
vom anderen - bis hin zum Hass - als zentraler Be-
standteil     des   gegenwärtigen      Gesellschafts-              Der Mensch muss nach Fromm immer wieder neu
Charakters ist also keineswegs eine Randerschei-                   geboren werden, er muss sich sein Leben lang im-
nung, sondern Begleiterscheinung und Folge der ge-                 mer wieder zwischen den progressiven und den re-
sellschaftlichen Entwicklung überhaupt. Eine der                   gressiven Kräften entscheiden. Durch Unsicherhei-
wesentlichen Ursachen der zunehmenden Entfrem-                     ten und Minderwertigkeitsgefühle, materieller oder
dung liegt in den Folgen der Anpassungsleistungen                  psychischer Natur, wird eine stabile Identität, die
des Menschen an die Erfordernisse des modernen                     Voraussetzung für eine progressive Entwicklung und
Marktes und der Konsumgesellschaft, die ihn immer                  Grundlage für objektives Erkennen ist, verhindert,
mehr eine Rolle spielen lassen, je nachdem, wie der                und es kommt zu Kompensationsmechanismen, wo-
Markt es gerade fordert. Fromm hat den Marketing-                  für der „Hass auf das Fremde” ein Indiz sein kann.
Charakter eingehend analysiert, ich will es hier je-               Die zunehmenden Ohnmachtserfahrungen inner-
doch für unseren Zusammenhang dabei bewenden                       halb unserer Gesellschaft, wofür ich nur beispielhaft
lassen. Nur soviel sei zusammengefasst: Die Ver-                   zunehmende Arbeitslosigkeit, zunehmende materi-
dinglichung des Menschen bewirkt den Verlust des                   elle und psychische Verelendung bei immer mehr
Kontaktes des Menschen zu sich selbst und zu den                   Menschen, zunehmende Umweltzerstörung und
anderen, da er sich selbst immer weniger zum Maß-                  apokalyptische Visionen über unsere Zukunft nen-
stab wird und verlernt hat, auf seine eigene innere                nen will, sind die erschreckenden Indizien dafür, wie
Stimme, auf sein „humanistisches Gewissen” zu                      es um die Identität sehr vieler Menschen bestellt
horchen.                                                           sein muß.
                                                                        Sozialpsychologisch gesprochen, ist es immer
                                                                   die Beziehung, die der Mensch zu sich selbst hat,
    Individuelle und gesellschaftliche Ursachen                    die auch sein Verhältnis zu seinen Mitmenschen be-
                 von Fremdenhass:                                  stimmt. Die Alternative zur nekrophilen Gesellschaft
          Brüche in der Identitätsfindung                          ist das messianische Zeitalter, das den „Einen”, uni-
     und ihre Überwindung als Voraussetzung                        versalen Menschen zur Voraussetzung hat. Fromm
            der biophilen Gesellschaft                             schreibt:

Aus dem bisher Gesagten wird deutlich, dass Frem-                         „Alles Wissen um den anderen beruht auf ge-
denhass als Bestandteil des Gesellschafts-                                meinsamer Erfahrung. Ich kann in einem ande-
Charakters in seiner autoritären, narzisstischen und                      ren Menschen nicht verstehen, was ich nicht
nekrophilen Ausprägung zu betrachten ist. Seine                           selbst erfahren habe. Menschlich sein bedeu-
Ursachen liegen, individuell betrachtet, in Entglei-                      tet, dass wir in uns selbst die ganze Mensch-

                                                                                                                   Seite 5 von 10
                                                 Tauscher, P., 1992
                            Fremdenhass aus der Sicht der Sozialpsychologie Erich Fromms
Property of the Erich Fromm Document Center. For personal use only. Citation or publication of material pro-
                   hibited without express written permission of the copyright holder.
                   Eigentum des Erich Fromm Dokumentationszentrums. Nutzung nur für persönliche Zwecke. Veröffentlichun-
                   gen – auch von Teilen – bedürfen der schriftlichen Erlaubnis des Rechteinhabers.

     heit tragen - und damit auch alles, was den                          ren zu verletzen und zugleich selber unberührt
     Fremdling angeht.” (E. Fromm, 1966a, GA VI,                          zu bleiben. Die Achtung vor dem Leben, dem
     S. 194)                                                              fremden, wie dem eigenen, gehört zum Le-
                                                                          bensvollzug selbst und ist eine Bedingung für
Und umgekehrt gilt ebenso :                                               die psychische Gesundheit. In gewisser Hin-
                                                                          sicht stellt die gegen andere gerichtete De-
     „Nur wenn ich das Herz des Fremdlings kenne,                         struktivität ein pathologisches Phänomen dar,
     blicke ich hinter die soziale Kulisse, die mich                      vergleichbar mit selbstmörderischen Impul-
     vor mir selbst als menschliches Wesen ver-                           sen.” (E. Fromm, 1947a, GA II, S. 141f.)
     deckt, nur dann erkenne ich mich selbst als
     den universalen Menschen. Wenn ich erst                       Und weiter:
     einmal den Fremdling in mir erkannt habe,
     kann ich den Fremden außerhalb meiner selbst                         „Wenn der Mensch die Kluft überwunden hat,
     nicht mehr hassen, weil er aufgehört hat, für                        die ihn von seinem Mitmenschen und von der
     mich ein Fremder zu sein.” (E. Fromm, 1966a,                         Natur trennt, wird er mit denen, von denen er
     GA VI, S. 194)                                                       bisher getrennt war, in echtem Frieden leben.
                                                                          Um zum Frieden zu gelangen, muss der
Anhand dieser Frommschen Worte wird deutlich,                             Mensch zuerst zum Einswerden hinfinden; der
dass die Beziehung zum Anderen, Fremden                                   Friede ist das Resultat einer inneren Verände-
schlechthin, in mir selbst und in anderen, eine Frage                     rung des Menschen, bei der die Vereinigung an
der seelischen Gesundheit ist, die mich auch erst in                      die Stelle der Entfremdung getreten ist. So ist
der Beziehung zu mir selbst meine „Ganzheit” fin-                         die Idee des Friedens in der Auffassung der
den lässt. Die Erfahrung von Einssein, von innerem                        Propheten nicht von der Idee der Verwirkli-
und äußerem Frieden hängt von dieser Beziehung                            chung der Humanität zu trennen. Friede ist
ab. Erst dadurch wird die Entfremdung, individual-                        mehr als Nicht-Krieg; er bedeutet Harmonie
psychologisch gesehen, aufgehoben. Fromm                                  und Vereinigung aller Menschen, Überwin-
schreibt hierzu:                                                          dung der Abgesondertheit und Entfremdung.”
                                                                          (E. Fromm, 1966a, GA VI, S. 159)
     „Sogar wenn ein Mensch nur anderen gegen-
     über destruktiv zu sein scheint, verletzt er das              Auf der gesellschaftstheoretischen Ebene sieht
     Lebensprinzip in sich selbst ebenso wie in an-                Fromm folgende Voraussetzungen als notwendig
     deren. In religiöser Sprache wurde dieses Prin-               zur Entwicklung einer biophilen Gesellschaft an:
     zip so ausgedrückt, dass der Mensch nach dem
     Bilde Gottes geschaffen sei und jede Verlet-                         „Sicherheit in dem Sinn, dass die materiellen
     zung eine Sünde gegen Gott bedeute. In säku-                         Grundlagen für ein menschenwürdiges Dasein
     larer Sprache würden wir sagen, dass wir alles,                      nicht bedroht sind, Gerechtigkeit in dem Sinn,
     was wir einem anderen antun - es mag gut o-                          dass niemand als Mittel zum Zweck für andere
     der böse sein - auch uns selbst antun. ‘Was du                       ausgenutzt werden kann, und Freiheit in dem
     nicht willst, das man dir tu, das füg auch kei-                      Sinn, dass jedermann die Möglichkeit hat, ein
     nem andern zu’, lautet eines der grundlegen-                         aktives und verantwortungsbewusstes Mit-
     den Prinzipien der Ethik. Aber mit gleicher Be-                      glied der Gesellschaft zu sein.” (1964a, GA II, S.
     rechtigung kann man sagen: „Was du andern                            191)
     antust, das tust du auch dir selber an. In ir-
     gendeinem menschlichen Wesen die Kräfte zu
     verletzen, die auf das Leben gerichtet sind,                        Fremdenhass im vereinigten Deutschland
     schlägt unfehlbar auf uns selbst zurück. Unser
     eigenes Wachstum, unser Glück und unsere                      Mit diesen Grundkategorien der Analytischen Sozi-
     Stärke beruhen auf der Achtung vor diesen                     alpsychologie, dem pathologischen Gesellschafts-
     Kräften, und es ist nicht möglich, sie in ande-               Charakter als Folge von gestörter Identität und Ent-

                                                                                                                   Seite 6 von 10
                                                 Tauscher, P., 1992
                            Fremdenhass aus der Sicht der Sozialpsychologie Erich Fromms
Property of the Erich Fromm Document Center. For personal use only. Citation or publication of material pro-
                   hibited without express written permission of the copyright holder.
                   Eigentum des Erich Fromm Dokumentationszentrums. Nutzung nur für persönliche Zwecke. Veröffentlichun-
                   gen – auch von Teilen – bedürfen der schriftlichen Erlaubnis des Rechteinhabers.

fremdung durch individualpsychologische, in erster                 Unfähigkeit, sich auch mit den eigenen Anteilen in
Linie in der familiären Sozialisation geschaffene Ur-              dieser Problematik auseinander zu setzen, die Sün-
sachen auf der einen, durch gesellschaftliche Ursa-                denböcke sind in diesem Fall die Skins. Von „linker”
chen auf der anderen Seite habe ich in groben Zü-                  Seite werden ebenso Ausgrenzungen geschaffen:
gen die Erklärungen für die Entstehung von Frem-                   Mit Sprüchen wie „Nazis raus!” oder „Ob Ost oder
denhass aus sozialpsychologischer Sicht umrissen.                  West - nieder mit der Nazi-Pest”, oder mit der Auf-
Diese Prozesse verlaufen in erster Linie unbewusst.                fassung, man müsse nur genügend Aufklärung über
Um so schwieriger ist es, ihnen politisch, sozial-                 die Geschichte des Faschismus an den Schulen
pädagogisch, wie auch immer, zu begegnen. Aus der                  schaffen, dann würden Anti-Faschisten erzogen.
psychoanalytischen Praxis wissen wir, wie schwierig                Aufklärung allein reicht längst nicht aus, um liberale
die Arbeit mit den Abwehrmechanismen ist, die die                  Kinder zu erziehen.
Aufdeckung des Unbewussten verhindern sollen -                          Die Hilflosigkeit auch bei ehrlich um Aufklärung
schwierig, aber nicht unmöglich.                                   und Veränderung bemühten Geistern zeigt nur, wie
     Die Hilflosigkeit der Politiker angesichts der                recht Fromm mit der Analyse des Fremdenhasses
Bedrohungen unserer Demokratie durch die Zu-                       als Ausdruck des Gesellschafts-Charakters in dieser
nahme der sozialen Spannungen, wie sie sich seit                   fundamentalen Bedeutung hat. Fremdenhass, das
der deutsch-deutschen Vereinigung verschärft ha-                   Verhältnis zum Anderen, Fremden in uns selbst wie
ben, und in der Folge durch die Zunahme rechtsra-                  in anderen rührt in dieser Pathologie an die Grund-
dikaler Gewaltakte, macht die tiefgreifende Krise                  lagen der gesamtgesellschaftlichen Verfasstheit der
unseres Gesellschaftssystems deutlich. Mit autoritä-               Menschen überhaupt. Der provokativ geäußerte
ren Maßnahmen sollen die gewalttätigen Ausschrei-                  Fremdenhass der Rechtsradikalen ist - gesellschafts-
tungen in Schach gehalten werden. Der Fraktions-                   charakterologisch betrachtet - eben nicht nur eine
chef der CDU/CSU, Herr Schäuble, hat als Maßnah-                   Randerscheinung, sondern die sichtbare Spitze ei-
men die Verschärfung des Polizei- und Versamm-                     nes Eisbergs vom gesellschafts-charakterologischen
lungsrechtes, die Ausweitung des Haftrechtes, die                  Zustand unserer Gesellschaft.
Umorganisierung des angeblich zu laschen Strafvoll-                     Hass gegen Ausländer und Asylanten ist nur ein
zuges, die Einrichtung von Erziehungsanstalten für                 besonders markanter und betroffen machender As-
kriminelle Kinder oder die Steigerung des Poli-                    pekt in dieser tiefgreifenden Problematik, da er sich
zeihaushaltes zu bieten („Der Spiegel vom 31.8.92,                 in Gewalttätigkeiten und zum Teil bürgerkriegsähn-
S. 29). Diese Antworten auf die Zunahme rechtsext-                 lichen Zuständen bemerkbar macht. Man könnte
remistischer Tendenzen in unserem Land zeigen,                     jedoch ebenso gut das Verhältnis der Ost- und
dass hier auch von anderer Seite Feindbilder ge-                   Westdeutschen untereinander zum Thema nehmen,
schaffen werden, die die Skins als Kriminelle verur-               das von immer mehr zunehmenden gegenseitigen
teilen sollen. Dass diese Erscheinungen aber bereits               Feindbildern geprägt ist, nachdem die gegenseitigen
Ausdruck eines gesamtgesellschaftlichen Zustands                   Enttäuschungen durch die deutsche Vereinigung
sind, wobei die Rechtsradikalen eine Art Vorhut bil-               zugenommen haben.
den, wird in keiner Weise bemerkt. Die Regierung                        Überall in Europa ist eine Ausweitung der Aus-
versuchte, die Rostocker Gewaltakte eingereisten                   länderfeindlichkeit festzustellen, jedoch macht er
Neonazis in die Schuhe zu schieben oder gar, wie                   sich nirgends so schnell breit wie in Deutschland.
unser Herr Bundeskanzler Helmut Kohl, Stasi-                       Nach einer „Spiegel-Umfrage des „Emnid-Instituts
Leuten, die alles „generalstabsmäßig” organisiert                  stieg das Verständnis für rechtsradikale Tendenzen
hätten („Der Spiegel vom 31. 8. 92, S. 18). Exper-                 wegen des Ausländerproblems von 24 % im Dezem-
tenanalysen bewiesen jedoch, dass zwei Drittel der                 ber 1991 auf 38 % im Juni 1992. Im Osten Deutsch-
Randalierer Jugendliche aus dem Raum Rostock wa-                   lands wird die Bonner Ausländerpolitik noch schär-
ren, die „quasi als Exekutivorgane des elterlichen                 fer kritisiert als in Westdeutschland. 60 % der Ost-
Frustes die Ausländer angegriffen” hätten („Der                    deutschen fanden es laut „ZDF-Politbarometer im
Spiegel, a. a. O., S. 26).                                         Juni 92 nicht in Ordnung, dass so viele Ausländer in
     Sozialpsychologisch gesprochen, sind diese                    Deutschland leben. Im Mai waren es erst 51 %. In
Abwehrmechanismen ein deutliches Zeichen für die                   den alten Bundesländern stieg die Zahl der Auslän-

                                                                                                                   Seite 7 von 10
                                                 Tauscher, P., 1992
                            Fremdenhass aus der Sicht der Sozialpsychologie Erich Fromms
Property of the Erich Fromm Document Center. For personal use only. Citation or publication of material pro-
                   hibited without express written permission of the copyright holder.
                   Eigentum des Erich Fromm Dokumentationszentrums. Nutzung nur für persönliche Zwecke. Veröffentlichun-
                   gen – auch von Teilen – bedürfen der schriftlichen Erlaubnis des Rechteinhabers.

derfeinde inzwischen von 35 auf 40 %. Nach einer                   laps der DDR-Wirtschaft, der Verlust der traditionel-
Untersuchung des Berliner „Instituts für sozialwis-                len Absatzmärkte, die mangelnde Wettbewerbsfä-
senschaftliche Studien wollen 85 % der Ostdeut-                    higkeit in der westlichen Leistungsgesellschaft auf
schen keine Türken mehr ins Land lassen. 82 % he-                  der einen Seite, hohe Arbeitslosigkeit, Perspektivlo-
gen Aversionen gegen Afrikaner oder Asiaten und                    sigkeit gerade bei jungen Menschen und Verlust so
rund 60 % lehnen Osteuropäer ab. (Die statistischen                ziemlich aller Werte, die alle einmal etwas galten,
Daten sind dem „Spiegel vom 31. 8. 1992 entnom-                    auf der anderen Seite. Mit einem Wort: der Verlust
men, S. 21-29)                                                     von „Identität”.
      Und noch ein paar Daten: Nach Auskunft des                         Parallel dazu verläuft eine Entwicklung, die zu
Verfassungsschutzes für das Jahr 1991 waren 425                    einer steigenden Flut von Asylanträgen führt. Einige
Rechtsextreme im Land registriert. Dieses Jahr sind                Zahlen hierzu: 1990 waren 193000 Asylanträge ge-
es bereits (August 1992) mehr als 1000. Noch im                    stellt worden, 1991 waren es 256000 und bis zum
August 1991 waren 84 rechtsextremistische Ge-                      Jahresende 1992 werden es ca. 500000 sein. Keine
waltakte registriert worden, im September, dem                     politische Partei hat mehr eine Antwort darauf, wie
Monat der gewalttätigen Akte in Hoyerswerda, wa-                   sie diesem Problem gerecht werden will. Die Aus-
ren es bereits 224. Im Oktober schnellte die Zahl auf              länder und Asylanten in unserem Land, das sind die
490 in die Höhe. Im August 1992 wurden bereits                     Schwachen, ohne politische und gesellschaftliche
740 Gewaltverbrechen der Rechtsradikalen regis-                    Rechte. Mit der Analyse des „kleinbürgerlichen, au-
triert. 288 dieser Taten wurden in Ostdeutschland                  toritären Charakters” hat Fromm hinreichend dar-
verübt, das ist überproportional viel. Dieses Jahr                 gelegt, in welcher Weise die Erfahrung von Ohn-
hatte es bis zu diesem Zeitpunkt mindestens zehn                   macht, Bedeutungslosigkeit, materieller Unsicher-
Todesfälle durch rechtsextremistische Gewalt gege-                 heit etc. an noch Schwächeren abreagiert wird. Wie
ben, mit der Ausnahme von 1980 (13 Menschen                        tief diese Identitätskrise geht, mögen drei Zitate,
wurden beim Münchner Oktoberfest getötet) ist                      von ostdeutschen Bürgern nach den Rostocker Kra-
das seit 1945 nicht mehr vorgekommen.                              wallen geäußert, belegen: „Das Volk hat Frust”, er-
      Laut Verfassungsschutz gibt es in Deutschland                klärte ein älterer Bürger. „Wir sind doch die Türken
derzeit rund 40 OOO Neonazis, davon rund 4200                      im eigenen Land”, sagte eine Bankangestellte. Ein
gewaltbereite Skinheads. Demoskopen melden,                        17jähriger Maurerlehrling formulierte es noch dras-
dass derzeit die Republikaner überall die 5 %-Hürde                tischer: „Wir sind hier die Scheiße an der Wand.”
schaffen würden.                                                   („Der Spiegel vom 31. 8. 1992, S. 18f.)
      Ich denke, die Trends sprechen für sich, wenn                      Soziologische Analysen unterliegen nun leicht
wir an die Frommsche These von der Ausweitung                      dem Vorwurf, dass sie zwar viel erklären, aber we-
der „Pathologie der Normalität” in unserer Gesell-                 nig verändern können. Dem ist entgegenzuhalten,
schaft denken. Dass dies gerade jetzt, und gerade in               dass die Analyse natürlich auch die vorrangigste
Ostdeutschland insbesondere geschieht, ist nach                    Aufgabe von Gesellschaftstheorie ist. Allerdings hat
unserer vorangehenden Analyse der individuellen                    Fromm in der Psychologie und Soziologie und in ih-
und gesellschaftlichen Entstehungszusammenhänge                    rer Konsequenz, der Analytischen Sozialpsychologie,
von      Fremdenhass        angesichts  der    sozio-              immer auch eine ethische Aufgabe gesehen. Mit der
ökonomischen und gesellschafts-politischen Verän-                  Veränderung, die psychoanalytisch beim einzelnen
derungen durch die deutsch-deutsche Vereinigung                    durch die Aufdeckung der Verdrängung ansetzt,
insbesondere - und weltweit insgesamt - nicht mehr                 verbindet sich ein gesellschafts-politisches Engage-
verwunderlich.                                                     ment, das der Aufdeckung der Unbewusstheit und
      „Die Rechtsextremisten im Osten, sagt ein                    der Tabuisierungen der Gesellschaft dient. Fromm
norddeutscher Sicherheitsexperte, agierten ‘sehr                   selbst hat in seinem Leben sein ethisches Engage-
viel brutaler, sehr viel elementarer und mit sehr viel             ment in Form zahlreicher politischer Aktivitäten
mehr Rückhalt in der Bevölkerung’.”(„Der Spiegel                   bewiesen.
vom 31. 8. 1992, S. 27) Ich brauche Sie nur in Stich-                    Ich möchte betonen, dass in dieser Konse-
worten daran zu erinnern, was sich seit der Wende                  quenz das Frommsche Konzept vom Gesellschafts-
für die Menschen aus der DDR getan hat. Der Kol-                   Charakter gerade seine „Wissenschaftlichkeit” in

                                                                                                                   Seite 8 von 10
                                                 Tauscher, P., 1992
                            Fremdenhass aus der Sicht der Sozialpsychologie Erich Fromms
Property of the Erich Fromm Document Center. For personal use only. Citation or publication of material pro-
                   hibited without express written permission of the copyright holder.
                   Eigentum des Erich Fromm Dokumentationszentrums. Nutzung nur für persönliche Zwecke. Veröffentlichun-
                   gen – auch von Teilen – bedürfen der schriftlichen Erlaubnis des Rechteinhabers.

Abgrenzung zu Ansätzen bezieht, die man verhal-                    Literaturnachweise
tenstheoretisch bzw. positivistisch nennt und die z.
B. die Beschäftigung mit dem Charakter als unwis-                  Fromm, E.: „Gesamtausgabe in 10 Bänden, herausgege-
                                                                          ben von Rainer Funk, Stuttgart (Deutsche Verlags-
senschaftlich abtun. Fromms „Wissenschaft vom
                                                                          Anstalt) 1980/81.
Menschen” beweist sich gerade in ihrem humanisti-
                                                                   - 1932a: „Über Methode und Aufgabe einer Analytischen
schen Engagement, indem Theorie nicht mehr als                            Sozialpsychologie. Bemerkungen über Psychoana-
reine Faktensammlung dient, sondern Soziologie                            lyse und historischen Materialismus”, GA I, S. 37-
und gesellschaftspolitische Dimension hier wieder                         57.
zusammenfließen. Die Überwindung der „Patholo-                     - 1941a: „Die Furcht vor der Freiheit, GA I, S. 215-392.
gie der Normalität”, die seelische Gesundheit, ist                 - 1947a: „Psychoanalyse und Ethik. Bausteine zu einer
von der Beziehung abhängig, die ich zum Anderen,                          humanistischen Charakterologie, GA II, S. 1-157.
Fremden schlechthin habe. Auch der Gesundheits-                    - 1955a: „Wege aus einer kranken Gesellschaft, GA IV, S.
                                                                          1-254.
zustand der Gesellschaft ist davon abhängig. So ist
                                                                   - 1964a: „Die Seele des Menschen. Ihre Fähigkeit zum Gu-
also umgekehrt der Zustand unserer Gesellschaft
                                                                          ten und zum Bösen, GA II, S. 159-268.
daran abzulesen, in welcher Weise sie mit dem                      - 1966a: „Ihr werdet sein wie Gott. Eine radikale Interpre-
Fremdenhass fertig wird. Unser Glück ist von dem                          tation des Alten Testaments und seiner Tradition,
Glück der anderen nicht zu trennen.                                       GA VI, S. 83-226.
                                                                   - 1991a: „Die Pathologie der Normalität. Zur Wissenschaft
                                                                          vom Menschen. Schriften aus dem Nachlaß, Band
                                                                          6, herausgegeben von Rainer Funk, Weinheim und
                                                                          Basel 1991.
                                                                   DER SPIEGEL vom 31.8.1992: „Ernstes Zeichen an der
                                                                          Wand”, Hamburg 1992, S. 18 - 29.

Summary: Xenophobia in the View of Erich Fromm’s Social Psychology

If we are to grasp the meaning of xenophobia from Fromm’s social-psychological perspective, we must first
comprehend the essence of his analytic social psychology - which is a synthesis of psychoanalytic and Marxist
thought. Xenophobia, accordingly, is studied in terms of its individual-psychological and social causality; its core
is traced back to social character. A key point is that xenophobia, qua expression of social character, is essen-
tially an unconscious phenomenon. On the one hand, its groundwork is laid in that „psychological agency of so-
ciety”, the family; while, on the other, it results from the socio-economic situation of a particular social group
or even of a whole society. From our point of view, the analysis of the authoritarian, narcissistic and necrophilic
character types is of paramount importance. Fromm interprets the xenophobic component in National Social-
ism as a characterological consequence of an authoritarian ideology. The petty bourgeoisie, in particular,
proved receptive to the Nazi ideology; Fromm traces back this receptivity to this class’s specific identity, which
was marked by vacillation and feelings of inferiority. Invoking the notion of the narcissistic character, Fromm
demonstrates how anxiety, existential frustration and the absence of adequate individual anchoring in the
world can touch off xenophobia as a mass phenomenon. However, this analysis of theauthoritarian and narcis-
sistic social character structures is incapable of explaining how such a malevolent destructive urge, such a mass
orgy of racial destruction, could be unleashed. At this point, Fromm introduces the notion of the necrophilic
character type - which he sees as having expanded its hold in recent decades, egged on by increasing automati-
zation, abstraction, and rationalization. Right at the conceptual heart of Fromm’s thinking is the idea of „an-
choring”, of „being in touch”, which specifies how humans ideally relate to the world. Alienation and what
Fromm called „the pathology of normality” both result in a deficient sense of identity, thus paving the way for a
dislocated relation to one’s own self and „the other” alike.

                                                                                                                   Seite 9 von 10
                                                 Tauscher, P., 1992
                            Fremdenhass aus der Sicht der Sozialpsychologie Erich Fromms
Property of the Erich Fromm Document Center. For personal use only. Citation or publication of material pro-
                    hibited without express written permission of the copyright holder.
                    Eigentum des Erich Fromm Dokumentationszentrums. Nutzung nur für persönliche Zwecke. Veröffentlichun-
                    gen – auch von Teilen – bedürfen der schriftlichen Erlaubnis des Rechteinhabers.

Riassunto: L’odio dell’estraneo dal punto di vista della psicologia sociale di Erich Fromm

Per capire l’odio dell’estraneo dalla prospettiva sociopsicologica di Erich Fromm occorre anzitutto porsi al cen-
tro della sua psicologia sociale analitica, che è una sintesi del pensiero psicoanalitico e marxista. L’odio
dell’estraneo viene quindi indagato nelle sue cause sociali e psicologiche individuali. Il suo nucleo risiede nel ca-
rattere sociale. L’importante è che l’odio dell’estraneo, come espressione del carattere sociale, è anzitutto in-
conscio. Da un lato le sue basi vengono create nel „rappresentante psicologico della società”, cioè nella fami-
glia, dall’altro sono radicate nella situazione socioeconomica di un gruppo sociale o di un’intera società. Nel no-
stro contesto dobbiamo occuparci soprattutto del carattere autoritario, narcisistico e necrofilo. Fromm ha ana-
lizzato l’odio dell’estraneo nel nazionalsocialismo dal punto di vista del carattere sociale come conseguenza
dell’ideologia autoritaria. In particolare, l’ideologia nazista si rivolgeva alla piccola borghesia, radicata nella sua
particolare identità, che era caratterizzata da insicurezza e sensi di inferiorità. Riguardo al concetto di carattere
narcisistico, Fromm spiega come da un rapporto individuale carente col mondo, dall’ansia e dalla delusione vi-
tale, può risultare il fenomeno di gruppo dell’odio dell’estraneo. In ogni caso, l’analisi del carattere sociale au-
toritario e narcisistico non basta a spiegare un tale grado di delirio di annientamento razzistico di massa, di di-
struttività maligna. A questo punto Fromm introduce il concetto del carattere sociale necrofilo, che negli ultimi
decenni, attraverso il processo di crescente automatizzazione, astrazione e razionalizzazione, ha subito
un’accelerazione. Al centro concettuale di Fromm sta il concetto di „relazionalità”, che regola il rapporto
dell’uomo col mondo. L’alienazione e la „patologia della normalità” portano ad un’identità carente e pongono
le basi per un rapporto deviato sia con se stessi che con l’„estraneo”.

Resumen: Xenofobia desde el punto de vista de la psicología social de Erich Fromm

Entender la xenofobia desde la perspectiva psicosocial de Erich Fromm significa en primer término dirigirse al
centro de su análisis psicosocial, que es una síntesis de pensamiento psicoanalítico y marxista. Por
consiguiente, la xenofobia se investiga desde un punto de vista socológico individual y social, encontrándose su
núcleo en el carácter de la sociedad. Lo importante es que la xenofobia como expresión del carácter de la
sociedad es sobre todo algo inconsciente. Por una parte se crean sus bases en la „agencia psicológica de la
sociedad” o sea la familia, y por otra parte se originan en la situación socio-económica de un grupo de la
sociedad, o bien en toda la sociedad. En nuestro contexto, es sobre todo necesario ocuparse del carácter
autoritario del narcisista y del necrófilo. Así, Fromm analizó la xenofobia desde el punto de vista
caracterológico de la sociedad en el Nazismo como consecuencia de la ideología autoritaria.
     La ideología nazista le agradaba especialmente a la pequena burguesía, que estaba basada en una
identidad especial caracterizada por sentimientos de inseguridad e inferioridad. Con el concepto del carácter
narcisista Fromm explica cómo por la falta de relación con el mundo, en una perspectiva individualista, y
debido al miedo y a las desilusiones de la vida, puede darse el fenómeno colectivo de xenofobia. Pero, el
análisis de la sociedad autoritaria y narcisista no alcanza a aclarar el despliegue de destructividad racista. Por
eso, Fromm introduce el concepto del carácter de la sociedad necrófila que en las últimas décadas aumentó
rápidamente con el proceso de la creciente automatización, abstracción y racionalización. Como noción central
de Fromm está su concepto de relacionamiento que regula la relación del ser humano con el mundo. La
enajenación y la „patología de la normalidad” conducen a una identidad defectuosamente formada y crean las
bases para una relación deformada tanto consigo mismo como con el „extranjero”.

                                                                                                                   Seite 10 von 10
                                                  Tauscher, P., 1992
                             Fremdenhass aus der Sicht der Sozialpsychologie Erich Fromms
Sie können auch lesen