Immigration, Religion und erneute Straffälligkeit bei jugendlichen Straftätern
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.SIAK-Journal – Zeitschrift für Polizeiwissenschaft und polizeiliche Praxis Giebel, Stefan/Rainer, Martin (2013): Immigration, Religion und erneute Straffälligkeit bei jugendlichen Straftätern SIAK-Journal − Zeitschrift für Polizeiwissenschaft und polizeiliche Praxis (1), 33-44. doi: 10.7396/2013_1_C Um auf diesen Artikel als Quelle zu verweisen, verwenden Sie bitte folgende Angaben: Giebel, Stefan/Rainer, Martin (2013). Immigration, Religion und erneute Straffälligkeit bei jugendlichen Straftätern, SIAK-Journal − Zeitschrift für Polizeiwissenschaft und polizeiliche Praxis (1), 33-44, Online: http://dx.doi.org/10.7396/2013_1_C. © Bundesministerium für Inneres – Sicherheitsakademie / Verlag NWV, 2013 Hinweis: Die gedruckte Ausgabe des Artikels ist in der Print-Version des SIAK-Journals im Verlag NWV (http://nwv.at) erschienen. Online publiziert: 07-2013
1/2013 .SIAK-JOURNAL Immigration, Religion und erneute Straffälligkeit bei jugendlichen Straftätern Der folgende Artikel bietet erstmalig eine Zusammenfassung der Ergebnisse einer Studie aus der Bundesrepublik Deutschland – im vorliegenden Fall der rheinland-pfälzischen Untersuchung der Entlassungsjahrgänge 1996 bis 2000 aus dem Jugendstrafvollzug – hinsichtlich einer möglichen Beziehung zwischen erneuter Straffälligkeit und Religions- zugehörigkeit bzw. Immigration, sowie eine entsprechende Interpretation. Es stellt sich heraus, dass gerade die religiöse Bindung und die Verwurzelung in der Kultur des Heimatlandes eine präventive Wirkung auf die generelle Straffälligkeit haben kann, und STEFAN GIEBEL, sich möglicherweise mit zunehmender Assimilation in die aktuellen deutschen Gesell- Leiter des Kriminologischen schaftsverhältnisse eine Erhöhung der erneuten Straffälligkeit ergibt. Darüber hinaus Dienstes für den Justizvollzug des Freistaates Thüringen. zeigt die Studie, dass nicht die Religion oder die Kultur Ursache der Straffälligkeit ist, sondern vielmehr die fehlende soziale Vernetzung und der Mangel an gesellschaftlicher Integration unabhängig von einer ethnischen Zugehörigkeit oder Religion. Zu beachten ist, dass innerhalb dieser ersten länderspezifischen Evaluation nur indirekt auf die Wirkung der Religion und der Kultur geschlossen werden kann. Eine differenzierte Sichtweise auf die jugendlichen Straftäter erfordert zwangsläufig eine mit dieser Unter- suchung erst begonnene Auseinandersetzung mit den jeweiligen Religionen und Kul- turen der Herkunftsregionen sowie mit den funktionalen Wirkungsweisen von Religion und Kultur in der heutigen Gesellschaft. MARTIN RAINER, Leiter des ENAMEC Institutes und Professor für Angewandte Mathematik am Zentrum für Risiko- 1. EINLEITUNG solcher erscheint. So weist ein Großteil der management der Universität Würz- Immer wieder wird in der politischen Immigranten in Deutschland eher einen burg sowie affiliiert an der METU in Ankara. Debatte1 und in den Medien2 ein Zusam- niedrigen sozioökonomischen Status6 und menhang zwischen Immigration oder be- ein geringes Bildungsniveau7 auf, und hat sonderen Merkmalen der Immigranten allein dadurch schon ein erhöhtes Risiko, wie Religionszugehörigkeit3, Teilen der straffällig zu werden. Ganz abgesehen Kultur4, Rechtsverständnis5 etc. und der davon, dass bei der ausländischen Bevöl- Kriminalität behauptet. kerung nicht von einer mit der deutschen Selbst wenn sich solche statistischen auch nur ansatzweise vergleichbaren Kon- Zusammenhänge ergäben, so darf man trolldichte auszugehen ist.8 nicht vergessen, dass erstens ein Zusam- Deutschland hatte die Gastarbeiteran- menhang noch lange keine Kausalität be- werbung ehemals nur als Ausgleich zum deutet, und zweitens eine Korrelation noch damaligen Arbeitskräftemangel in gering keinen direkten Zusammenhang beweist, qualifizierten Bereichen9 betrieben. Eine sondern eventuell nur vordergründig als Integration der Gastarbeiterfamilien in die 33
.SIAK-JOURNAL 1/2013 deutsche Gesellschaft war nicht geplant. dieser Herangehensweise ist, dass alle un- Mit deren Zuzug und dauerhaften Auf- tersuchten Personen zumindest hinsicht- enthalt ist sie aber unvermeidlich gewor- lich ihrer strafrechtlichen Vorbelastung den. Folgerichtig erkannte der ehemalige eher als vergleichbar einzustufen sind. Die Bundespräsident Wulff, dass mit den Ein- Daten sind von den Anstalten erfasst wor- wanderern auch ihre Religion und Kultur den und damit auch valide. ein nicht mehr wegzudenkender Teil des Nachdem die statischen Ergebnisse in heutigen Deutschlands geworden sind.10 Folge valider und vergleichbarer Daten er- Der Blick in die ferne Vergangenheit und mittelt worden sind, ist es sinnvoll, gesell- auf vermeintliche historische Wurzeln11, schaftliche Hintergründe der wichtigsten verbunden mit der Negierung der Fakten Herkunftsregionen kurz zu beleuchten, in der Gegenwart, ist dabei nicht zielfüh- insbesondere in Hinblick auf mögliche Er- rend. So stellen mittlerweile die Muslime klärungen und Deutungen der Ergebnisse. 5 % der Bevölkerung der Bundesrepublik Wegen der besonderen Relevanz in der ak- Deutschland dar. Fast die Hälfte davon hat tuellen politischen Diskussion stellen wir bereits die deutsche Staatsbürgerschaft.12 darüber hinaus die potentiellen positiven Gründe für die immer wieder geführte Rückkopplungen einer in der Familien politische Debatte um den Zusammenhang kultur verankerten und gelebten Religion, zwischen Immigration und Kriminalität ist insbesondere auch des Islams, dar. die Herstellung eines Wir-Gefühls13, ei- ner eigenen Identität14 gerade angesichts 2. STATISTISCHE ERHEBUNGEN der Globalisierung. Mit der Suche nach UND UNTERSUCHUNGEN ZUR der Identität wird mangels Auseinan- STUDIE DER RÜCKFÄLLIGKEIT dersetzung mit dem Eigenen häufig die Seit 1996 wurde eine Erhebung im rhein- Ausgrenzung15 des jeweils Anderen ver- land-pfälzischen Jugendstrafvollzug durch- bunden. Eine pauschale Ausgrenzung der geführt. Zum damaligen Zeitpunkt war sie Anderen, ohne genaue Spezifizierung der als länderbezogene Rückfalluntersuchung tatsächlich ungewollten Eigenschaften der einmalig. Die Erhebung umfasst alle sozialen Individuen, führt dazu, dass die männlichen jugendlichen Inhaftierten, die eigentlich notwendige Auseinanderset- zwischen 1996 und 2000 entlassen wurden. zung mit ungewollten Eigenschaften und Grund für die Untersuchung war eine An- Charakteristika der eigenen Gesellschaft frage des Parlaments zur Neuerrichtung vermieden wird. der Anstalt in Schifferstadt. Die Untersu- chung umfasste vier Zeitpunkte: Unabhängig von der politischen Debatte 1. Erhebung bei Aufnahme, werden die bisher länderbezogenen ein 2. Maßnahmenplanung, maligen Ergebnisse der rheinland-pfälzi- 3. Umsetzung der Maßnahmen und schen Untersuchung bei jugendlichen In- 4. Abfrage der Bundeszentralregisteraus- haftierten aus den Jahren 1996 bis 2000 in züge vier Jahre nach Entlassung zur Be- Bezug auf erneute Straffälligkeit, Immigra- stimmung der erneuten Straffälligkeit. tion und Religion bewertet.16 Immigration und Religion lassen sich für Deutschland Es konnten abschließend 400 männliche nur im Zusammenhang betrachten und jugendliche Inhaftierte mit Registerauszü- bewerten, da ein Großteil der Zuwande- gen erfasst werden. Sie waren durchschnitt- rer sich gerade durch die Religion von der lich älter als 20 Jahre. Die Spannweite Gesamtbevölkerung unterscheidet. Vorteil reicht von 14 bis 25 Jahre. Anzumerken für 34
1/2013 .SIAK-JOURNAL diese Untersuchung ist dabei das Ergebnis, gression zwar mit kategorialen Variablen dass je jünger ein jugendlicher Straftäter arbeiten kann, jedoch den Abständen zwi- ist, er desto eher erneut straffällig wird. schen den Kategorien eine gleiche Bedeu- Die jugendlichen Inhaftierten verbrachten tung beimisst. durchschnittlich 20 Monate in Haft. Die Spannweite liegt zwischen sechs Mona- Um sich dem Zusammenhang zwischen ten und sechs Jahren. Der Vergleich zur Religion, Herkunftskultur und Delinquenz Längsschnittuntersuchung „Entwicklungs- zu nähern, ist zunächst insbesondere auf folgen der Jugendstrafe“ des Kriminolo- eine ausreichende Validität der Daten zu gischen Forschungsinstitutes Niedersach- achten. Dies ist durch die auf den Voll- sen (KFN), die sich nur auf männliche zugsplänen und den Registerauszügen deutsche Erstinhaftierte konzentrierte, ist beruhenden Informationen gegeben. Die bereits eingehend behandelt worden.17 untersuchte Gruppe sollte sich weniger im Zusätzlich konnten fünf weibliche Straf- Bereich des sozioökonomischen Hinter- täter erfasst werden. Sie hatten alle die grunds und der bisherigen strafrechtlichen deutsche Staatsangehörigkeit und keinerlei Vorbelastung unterscheiden. Wie bereits Migrationshintergrund. Es zeigte sich be- oben erläutert, ergibt sich infolge der so- reits in der damaligen Untersuchung, dass ziodemografischen Merkmale ein erhöhter zukünftig in Folge der Auflösung der bis- Anteil an Ausländern und damit verbun- herigen Geschlechterrollen und der damit den an Muslimen. Darüber hinaus tauchen auch abnehmenden sozialen Kontrolle in der Haftpopulation und Polizeikrimi- von einer Zunahme der Kriminalität bei nalstatistik auch Ausländer auf, die kei- den Frauen auszugehen ist. Erstaunlich nen Aufenthalts- oder Duldungsstatus in in dieser Untersuchung war bereits, dass Deutschland haben. Die statistischen Ver- alle weiblichen jugendlichen Gefangenen fahren sind den eher nominal skalierten mit Gewalttaten und Drogen aufgefallen Daten entsprechend zu wählen. Dies ist waren und der Anteil der generell erneut durch den Test gewährleistet. Straffälligen dem der männlichen Straf täter nahezu entsprach18. 2.1. UNTERSUCHUNG DER Die von Baier et al. (Baier et al. 2010) ERNEUTEN STRAFFÄLLIGKEIT verwendete KFN-Studie zur Schülerbe- NACH HERKUNFTSREGIONEN fragung kann nicht als valide für einen Deutsche Jugendliche sitzen durchschnitt- Zusammenhang zwischen Religion und lich 99 Tage in Untersuchungshaft, Tür- Delinquenz herangezogen werden. Die ken 134 Tage und Jugendliche aus dem Selbstangaben der Schüler sind ohnehin ehemaligen Jugoslawien 183 Tage. Das zweifelhaft. Relevante Faktoren, wie die Strafmaß liegt bei deutschen Jugendlichen bisherige strafrechtliche Vorbelastung, die bei 20 Monaten. Türkische Jugendliche sozioökonomische Herkunft und Normen werden im Durchschnitt zu drei Monaten der Herkunftskultur, können nur bedingt länger verurteilt und Jugendliche aus dem kontrolliert werden. Methodisch löst die- ehemaligen Jugoslawien sogar zu sechs ses Problem auch nicht die Verwendung Monaten mehr. der Logistischen Regression, die unter der Unter Rückfälligkeit ist die erneute Straf Voraussetzung der Unabhängigkeit die fälligkeit nach der Entlassung zu verstehen. Stärke, die Richtung und die Relevanz der In dieser Untersuchung wurde die erneute betrachteten Merkmale bestimmt. Ganz Straffälligkeit über einen Beobachtungs- abgesehen davon, dass die Logistische Re- zeitraum von vier Jahren betrachtet, und 35
.SIAK-JOURNAL 1/2013 zwar nur in Form der verhängten spezi- schen ist der Wegzug aus der bisherigen fischen Sanktion (z.B. einer Freiheitsstra- Heimat und dem dortigen sozialen Um- fe). 58 % der Jugendlichen sind in Form feld. Alkohol- und Drogenkonsum zeich- einer Freiheitsstrafe mit oder ohne Bewäh- net diese Gruppe aus. 40 aller untersuchten rung verurteilt. 4 % werden polizeilich ge- Jugendlichen haben Heroin konsumiert sucht. Die Rückfallquote in Form jedwe- (10 %), aber bereits 14 der im Ausland ge- den strafrechtlichen Eintrags beträgt 78 %. borenen Deutschen (38,9 %). 110 Jugend- Werden deutsche und ausländische Ju- liche in der Gesamtgruppe geben einen gendliche hinsichtlich ihrer Rückfallquote regelmäßigen Alkoholkonsum an (28 %), in Form einer Freiheitsstrafe oder einer po- hingegen 13 der im Ausland geborenen lizeilichen Suche miteinander verglichen, Deutschen (36,1 %). 16 der im Ausland ergibt sich eine Rückfallquote von 68 % bei geborenen deutschen Jugendlichen werden den deutschen Jugendlichen (190 von 280) sogar als „abhängig“ eingestuft (44,4 %). und bei den ausländischen eine von 48 % Die Rückfallquote für die türkischen Ju- (57 von 120). gendlichen beträgt 37 % (16 von 43), für Für die Untergruppe der Deutschen, die die arabischen Jugendlichen 43 % (neun nicht in Deutschland geboren sind, ergibt von 21) und für die Jugendlichen aus dem sich eine Rückfallrate in Form einer Frei- ehemaligen Jugoslawien 57 % (25 von 44). heitsstrafe oder polizeilichen Suche von Verglichen mit den deutschen Jugend- 58 % (21 von 36). 22 der nicht in Deutsch- lichen ist die Möglichkeit einer Ab- land geborenen Deutschen stammen aus schiebung oder Ausreise zu beachten, der GUS, fünf aus Tadschikistan, vier aus bei allen Jugendlichen die Möglichkeit Polen, zwei aus Rumänien und je einer aus einer Einweisung in die Psychiatrie. Beides dem ehemaligen Jugoslawien, Afrika und führt statistisch zu einer (scheinbaren) Ver Arabien. Diese Untergruppe unterschei- ringerung des Rückfallrisikos. det sich enorm hinsichtlich ihrer Kultur, Bei der Betrachtung der Rückfallquote Traditionen und Religion. So sind die aus sind diejenigen, die abgeschoben oder nach Tadschikistan stammenden Jugendlichen Entlassung in eine Psychiatrie zwecks Be- mehrheitlich Muslime (vier von fünf). treuung eingewiesen wurden, aus der Unter- Insgesamt beträgt der Anteil der Muslime suchung herauszunehmen. In der Studie von 11,1 % (vier von 36). Die Mehrheit mit Jehle et al. (Jehle et al. 2003) konnte eine 52,8 % ist evangelisch, gefolgt von nahe- solche Differenzierung nicht vorgenommen zu einem Drittel Katholiken (11 von 36; werden. Für die deutschen Jugendlichen lässt 30,6 %). Die Auslandsdeutschen unter- sich sagen, dass keiner nach der Entlassung scheiden sich somit deutlich von der übri in die Psychiatrie eingewiesen worden ist. gen Haftpopulation hinsichtlich der Kon- Unter Beachtung der Abschiebung von fession: Sie sind im Vergleich zu dieser fünf Jugendlichen und einer Einweisung in überwiegend evangelisch gebunden. die Psychiatrie ergibt sich eine Rückfall- Die Rückfallrate in Form von Freiheits rate der türkischen Jugendlichen von 43 % strafe oder polizeilicher Suche der in (16 von 37). Die Chance eines Rückfalls Deutschland geborenen Deutschen liegt beträgt bei Deutschen ca. 7:3, hingegen bei bei 69 % (169 von 244). Es gibt keinen den Türken ca. 4:6. signifikanten Unterschied bezüglich der Als mögliche soziale Gründe für die nied- erneuten Straffälligkeit zu den im Aus- rigere Rückfallquote türkischstämmiger land geborenen Deutschen. Wesentliches Jugendlicher können die folgenden ange- Merkmal der im Ausland geborenen Deut- führt werden: 36
1/2013 .SIAK-JOURNAL Niedrigere Scheidungsrate bei Eltern von 17). Ein Vergleich der jugoslawischen türkischer Jugendlicher: Für die türki mit den deutschen Jugendlichen ist ange- schen Jugendlichen, welche in Deutsch- sichts der häufigen (dann aber illegalen) land geboren wurden, beträgt die Tren- Wiedereinreise nach erfolgter Abschie- nungsrate der Eltern lediglich 12 % (vier bung sinnlos. Es sind mehr Personen wie- von 34), hingegen kann bei Eltern in der der rückfällig geworden als Personen nach Türkei geborener Jugendlicher keine Abschiebung hätten wieder straffällig wer- einzige Trennung dokumentiert werden. den können. Türkische Jugendliche haben seltener eine Heimkarriere hinter sich: Nur in 2.2. RÜCKFÄLLIGKEIT NACH RE vier von 43 Fällen kommt es zu mehr als LIGIONSZUGEHÖRIGKEIT einem Heimaufenthalt (9 %), während In der vorliegenden Erhebung ist die er- in der gesamten Erhebung 79 Jugend fasste Religionszugehörigkeit der unter- liche mehr als einen Heimaufenthalt suchten Personen zu 41,3 % die katholische, hinter sich haben (19 %). zu 24,5 % die evangelische, zu 25,8 % der Eine stärkere Verbundenheit der tür- Islam und 7,8 % haben keine Konfessions- kischen Familie mit dem inhaftierten zugehörigkeit. Jugendlichen macht sich vor allem Bezogen auf die Wiederholungstäter in durch entsprechende Besuchskontakte Form jedweden strafrechtlich relevanten mit der Familie bemerkbar. Eintrags innerhalb der verschiedenen reli- Eine nicht weiter messbare Möglichkeit giösen Gruppen ergibt sich eine Rückfall- einer Ausreise. Trotz Bereinigung der quote unter den Muslimen von zwei Drittel Daten kann die freiwillige Ausreise nur (64 %), unter den Katholiken von mehr als bedingt durch Selbstangaben des Ge- drei Viertel (79 %), unter den Protestanten fangenen gemessen werden. Dies be- von mehr als vier Fünftel (89 %) und nahe- trifft auch die Deutschen, insbesondere zu auf gleichem Niveau liegen diejenigen die im Ausland geborenen. ohne ein Bekenntnis (87 %). Quelle: Giebel Weiter auffällig ist, dass der Anteil der Katholisch Evangelisch Muslime Ohne erneut Straffälligen bei Geburt in Deutsch- „Keine 21,2% (n=35) 11,2% (n=11) 35,9% (n=37) 12,9% (n=4) land erhöht ist. So sind von den 30 tür- Eintragungen“ kischen Jugendlichen, die in Deutschland „Erneut 78,8% (n=130) 88,8% (n=87) 64,1% (n=66) 87,1% (n=27) straffällig“ geboren sind und nicht abgeschoben oder in eine Psychiatrie eingewiesen wurden, Tabelle 1: Zusammenhang zwischen Religionszu gehörigkeit und erneuter Straffälligkeit bei jugend- 21 wieder straffällig geworden (70 %) und lichen Inhaftierten vier Jahre nach Entlassung neun in Form einer Freiheitsstrafe (43,3 %), während von den sieben in der Türkei ge- Die Wahrscheinlichkeit, dass der erneute borenen und nicht abgeschobenen Jugend- strafrechtliche Eintrag unabhängig von der lichen drei überhaupt wieder strafrechtlich Religionszugehörigkeit zu sehen ist, liegt in Erscheinung getreten sind und zwar alle nach dem -Test (auf Zufälligkeit) unter in Form von Freiheitsstrafen (42,8 %). einem Signifikanzniveau von 5 %. Damit Der Familienzusammenhalt bei arabi ist von einem relevanten Zusammenhang schen Jugendlichen ist ähnlich zu denen auszugehen. Es fällt offensichtlich auf, dass der Türken zu bewerten. Vier arabische Muslime in diesem Fall seltener (24,7 % Jugendliche sind abgeschoben worden. weniger als die Evangelischen) erneut straf Daher beträgt die Rückfallrate 53 % (neun fällig werden. 37
.SIAK-JOURNAL 1/2013 Betrachtet man die Rückfälligkeit in Form ben. Den hohen Anteil bei den Muslimen einer erneuten Freiheitsstrafe, so ist nur von mehr als einem Zehntel (10,7 %) mit noch von einer Tendenz zu sprechen. Mit polizeilicher Suche bei gleichzeitig feh- dem angegebenen Signifikanzniveau ist lender justizieller Rückfälligkeit könnte von einer Unabhängigkeit der Religionen man einerseits mit der erhöhten gesell- und der Delinquenz weiterhin auszugehen. schaftlichen Sensibilität gegenüber dieser Rein deskriptiv ist auch hier zu erwähnen, Religionsgruppe zu erklären versuchen, dass die Muslime etwa 16,9 % weniger oft andererseits ist aber auch zu beachten, rückfällig werden als die Evangelischen. dass durch den erhöhten Ausländeranteil Quelle: Giebel in dieser Gruppe die Statistik durch de- Katholisch Evangelisch Muslime Ohne ren Fluchtmöglichkeiten ins Ausland ent- „nicht 35,8% (n=59) 31,6% (n=31) 39,4% (n=50) 41,9% (n=13) sprechend nach oben verzerrt wird. Bei rückfällig“ obiger differenzierter Betrachtung ergibt „rückfällig“ 64,2% (n=106) 68,4% (n=67) 51,5% (n=53) 58,1% (n=18) sich aber in jedem Falle, dass Muslime Tabelle 2: Zusammenhang zwischen Religionszu- von allen Religionszugehörigkeiten am gehörigkeit und Rückfälligkeit in Form eines Frei- wenigsten erneut straffällig werden. Das heitsentzugs oder polizeilicher Suche bei jugend- lichen Inhaftierten vier Jahre nach Entlassung Ergebnis wurde mit dem Signifikanztest von Craddock und Flood (Craddock/Flood Eine noch differenziertere Betrachtung der 1970) entsprechend überprüft. Rückfälligkeit erhält man, wenn man mit- tels eines Filters aus der Gesamtheit der- 2.3. STRAFRECHTLICHE jenigen, die bereits einmal zu einem Frei- VORBELASTUNG UND AUF heitsentzug verurteilt wurden, diejenigen FÄLLIGKEITEN IM VOLLZUG herausnimmt, die zwar von der Polizei er- Im folgenden Abschnitt untersuchen wir neut gesucht wurden, dabei eventuell nach detailliert Beziehungen jeglicher Religions- Festnahme auch erneut verurteilt würden. zugehörigkeit mit der Art der strafrechtli- So ergibt sich das in Tabelle 3 beschrie- chen Vorbelastung und der Auffälligkeiten bene Bild. im Vollzug. Dafür wird die strafrechtliche Quelle: Giebel Vorbelastung in drei Kategorien unterteilt: Katholisch Evangelisch Muslime Ohne „nicht 35,8% (n=59) 31,6% (n=31) 39,4% (n=50) 41,9% (n=13) „Gewalt“ in Form von Körperverletzung, rückfällig“ Vergewaltigung, sexueller Missbrauch „polizeiliche 2,4% (n=4) 6,3% (n=1) 10,7% (n=11) 0% (n=0) Suche“ und Mord, „rückfällig“ 61,8% (n=102) 67,1% (n=66) 39,8% (n=41) 58,1% (n=18) „Drogen“ in Form von Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz (Handel Tabelle 3: Zusammenhang zwischen Religionszu- gehörigkeit und Rückfälligkeit in Form eines Frei- und Erwerb), heitsentzugs sowie der polizeilichen Suche bei ju- „Eigentumsdelikte“ in Form von Dieb- gendlichen Inhaftierten vier Jahre nach Entlassung stahl, Raub und Erpressung. Für die obigen Daten liegt die Wahr- Lediglich beim Verstoß gegen das Be- scheinlichkeit einer Unabhängigkeit von täubungsmittelgesetz ergibt sich ein signi erneuter Straffälligkeit und Religions- fikanter Zusammenhang. Die Muslime er zugehörigkeit unter dem Signifikanzni- reichen mit fast einem Drittel (32 %, n=33) veau. Insbesondere ist dies dann der Fall, mit Verstoß gegen das Betäubungsmittel wenn die noch ungeklärten Fälle in Form gesetz den höchsten Wert und die „ohne der polizeilichen Suche unbeachtet blei- Religion“ mit 16,1 % (n=5) den niedrigs 38
1/2013 .SIAK-JOURNAL ten. Hinsichtlich der Rückfälligkeit führt (n=23) und bei Personen ohne eine genannte ein Drogendelikt bei der Vorbelastung zu religiöse Zugehörigkeit in 25,8 % (n=8) einer signifikant niedrigeren Rückfallrate der Fälle zu einem mehrfachen Heimauf- bei Betrachtung aller drei Kategorien. Da enthalt. Für junge Muslime liegt die Wahr- Drogendelikte stark von der Kontroll- scheinlichkeit für ein Heimkarriere bei dichte abhängen, ist der höhere Anteil an 5 % (n=5). Dies steht im Gegensatz zu den Muslimen und damit auch an Ausländern beiden christlichen Konfessionen mit über auf die stärkere Kontrollintensität zurück- 23 % und den anderen (nicht-konfessio- zuführen. nellen) mit über 25 %. Diese deutlich Hinsichtlich Auffälligkeiten im Vollzug effektivere Wirkung der Religion in der unterscheiden sich die Religionsgruppen Familie und Erziehung wird auch durch nicht signifikant voneinander. Eine Dis- das KFN in seinem Forschungsbericht be ziplinarmaßnahme wurde bei 49,7 % aller stätigt. Bei den muslimischen Familien ist Katholiken, bei 61,2 % aller evangelischen die Religion eben deutlich lebensrelevanter Jugendlichen, bei 52,4 % aller Muslime im Alltag als bei den anderen Gruppen. und 45,2 % aller Konfessionslosen ver- Der geringe Anteil an Heimkarrieren hängt. Beim Missbrauch von Lockerungen führt auch zu einem geringeren Anteil er- unterscheiden sich die Konfessionen sig neuter Straffälligkeit. Während Personen nifikant. Evangelische Jugendliche miss- mit mehrfachen Heimaufenthalten zu 77 % brauchen die Lockerungen zu 16,3 %, (n=57) erneut strafrechtlich in Form einer Katholiken zu 18,8 %, Muslime zu 4,9 % Freiheitsstrafe wieder in Erscheinung und Konfessionslose zu 9,7 %. Dabei ist treten, sind es nur 53,6 % (n=170) der zu beachten, dass die Eignung für eine jenigen ohne mehrfachen Heimaufenthalt. Lockerung nicht nur von der strafrecht- Jugendliche mit einem Heimwechsel sind lichen Vorbelastung und dem Verhalten damit häufiger rückfällig als Jugendliche im Vollzug abhängt, sondern auch von ohne Heimwechsel. Dies entspricht den An- der Gefahr einer Entweichung. Bei Aus- nahmen über die Bedeutung einer sozialen ländern und damit auch vermehrt bei den Vernetzung und der Familie als Institution. Muslimen wird von einer erhöhten Flucht- gefahr ausgegangen. 2.5. ERZIEHUNG IN ABHÄNGIG KEIT VON KULTUR UND 2.4. HEIMWECHSEL UND RELIGIONSZUGEHÖRIGKEIT HEIMAUFENTHALT In der vorliegenden Untersuchung lässt Wenn dem Jugendamt erhebliche Auffällig- sich ein signifikanter Zusammenhang zwi- keiten in der Familie bekannt werden oder schen Religionszugehörigkeit und der Er- gar das Kindeswohl in Gefahr ist, kann es ei- fahrung von regelmäßiger Gewalt in der ne Heimunterbringung anordnen. Besonders Erziehung nachweisen. Bei Katholiken dramatisch für die Biografie des Jugend- liegt der Anteil bei 4,9 % (acht von 163), lichen ist, wenn es zu mehrfachen Heim bei evangelischen Jugendlichen bei 7,1 % unterbringungen kommt. Ein soziales Netz (sieben von 98), bei Muslimen bei 4,0 % kann dann, wenn überhaupt, nur bedingt auf- (vier von 101) und bei Konfessionslosen gebaut werden. Dies führt auch in der wei- bei 16,1 % (fünf von 31). Dabei ist zu be- teren Karriere des Jugendlichen eher zu ei- achten, dass diese Informationen auf den ner negativen Legal- und Sozialprognose. Selbstangaben des Gefangenen beruhen Bei Katholiken kommt es in 23 % und nicht explizit nach Gewalt gefragt wur- (n=38), bei evangelischen Christen in 23,5 % de, sondern lediglich nach der Erziehung. 39
.SIAK-JOURNAL 1/2013 Der Zusammenhang deutet darauf hin, tatsächlich auswirkt. Auch die Häufigkeit dass eine fehlende religiöse Einbindung des Gottesdienstbesuchs lässt per se kaum innerhalb der Familie mit einem erhöhten Rückschlüsse auf eine alltagsrelevante ge- Risiko für Erfahrung von Gewalt in der lebte Religiosität zu. Familie einhergeht. Umgekehrt kann also Andererseits haben gerade die funktio gerade ein religiöser Wertehintergrund der nalen Zwänge, die die moderne Gesell- Familie das Risiko für Gewalterfahrungen schaft auf die Menschen ausübt, als Reak- verringern. Voraussetzung ist jedoch, dass tion eine zunehmende Individualisierung die Religion tatsächlich aber auch mit ih- bewirkt, eine teilweise verzweifelte Suche rem alltagsrelevanten Wertekontext in der der Menschen nach dem Selbst sowie no- Familie aktiv gelebt wird. Hierfür sind torisches Streben nach Einzigartigkeit und allerdings die Voraussetzungen in den Freiheit, unter Verwerfung aller bishe- jeweiligen Herkunftsgesellschaften sehr rigen gesellschaftlichen Lebensweisen und verschieden. Im Folgenden sollen diese Wertvorstellungen. Somit hat das soziale genauer beleuchtet werden. Auseinanderfallen der Gesellschaft letzt- lich bewirkt, dass paradoxerweise eine eher 3. SOZIALE RELEVANZ UND von sozialen Bindungen losgelöste Lebens- PRÄVENTIVE WIRKUNG weise gesellschaftskonform geworden ist. GELEBTER KULTURELLER UND Weit verbreitet ist das pauschale Vorur- RELIGIÖSER WURZELN teil, dass Religion gefährlich sei und der Gerade wegen der Relevanz nicht-mate- Gewalt in der Welt Vorschub leiste. Die- rieller innerer Faktoren für das Handeln ses Klischee wird derzeit sogar von den des Menschen im gesellschaftlichen Kon- gehobenen Medien willfährig bedient.19 text muss versucht werden, den Einfluss Paradoxerweise zielt die populistische von Faktoren wie Kultur und Religion im Diffamierung „gewaltfördernd“ zu sein Rahmen einer logisch-funktionalen Ana- ausgerechnet auf die Religionen der Ver- lyse zu verstehen. Dies kann dann dazu söhnung und des Friedens, nämlich das beitragen, potentiell präventive Einflüsse Christentum und den Islam. Eine Stan im Herkunftskontext aufzuspüren. Umge- dardmethode dabei ist, die Instrumenta- kehrt kann die Analyse auch helfen, mög- lisierung der Religion an sich anzulasten, liche (Fehl-)Schlüsse auf der brüchigen anstatt den jeweiligen Missbrauch zu ent- Basis einer zu wenig differenzierenden larven. Gewalttäter werden paradoxer- Statistik zu vermeiden. weise als „religiös motiviert“ dargestellt, anstatt sie einfach als Kriminelle zur Re- 3.1. RELIGION IN DER chenschaft zu ziehen. MODERNEN GESELLSCHAFT Weite Teile der aufgeklärten Gesell- Hierzu ist grundsätzlich anzumerken, dass schaft selbst verkennen dabei auch oft, die eingetragene Religionszugehörigkeit dass die menschliche und soziale Relevanz noch nichts darüber aussagt, inwieweit der Religion nicht von formaler oder gar überhaupt ein Glaube an eine übergeord- zwanghafter Frömmigkeit der Gläubigen nete nicht-materielle Instanz vorhanden ist getrieben wird (ein Bild zu dem Kirchen und diese im konkreten Leben der Betrof- und Fundamentalisten ihren Teil beigetra- fenen eine Rolle spielt. Noch schwieriger gen haben), sondern dem Menschen einen ist es, individuell festzustellen, ob und wie Weg zur inneren Befreiung bietet sowie sich eine spezielle konfessionelle Glau- Rechtleitung im Alltag und der Gesell- bensform auf das Leben der Betroffenen schaft somit soziale Entspannung. 40
1/2013 .SIAK-JOURNAL Die Abneigung der abendländischen Eingriffe in die Familien, mit dem Ziel, Gesellschaft gegenüber Religion hat aktu deren innere Kultur zu reglementieren ell besonders gegenüber dem Islam stark und gleichzuschalten. Dies führte bei der zugenommen. Dies steht im krassen bürgerlichen Intelligenz teilweise zu Stra- Wid erspruch zum aktuellen Stand der tegien des Widerstands und des heimlichen sozialwissenschaftlichen und theologi Erhalts kultureller und religiöser Tradition, schen Forschung, denn die inhärente Ge- bei den weniger gebildeten Schichten aller- waltlosigkeit des Islam ist bekannt und in dings oft auch zur Auslöschung einer indi- verschiedenen Kontexten ausführlich un- viduellen Familienkultur. tersucht.20 Die ablehnende Haltung des Bezüglich des ehemaligen Ostblocks ist Islam gegenüber Gewalt im Besonderen anzumerken, dass die sozialistische Unter- sowie die Verurteilung krimineller Hand- drückung der Religion im 20. Jahrhundert lungen lassen sich anhand einschlägiger mit schwankender Intensität sowohl gegen Textstellen des Koran klar belegen.21 Kri- Christen als auch Muslime praktiziert wurde. minelle Handlungen, insbesondere Ge- Die Rückfälligkeit bei Russlanddeutschen waltdelikte, stehen im Widerspruch zu den und anderen Osteuropäern korreliert heute Leitlinien des Islam. So wie für Christen jeweils mit dem Maß, in dem die Herkunfts- die Bibel, so ist der Koran für Muslime die regionen von sozialen (z.B. christlichen) Quelle der Rechtleitung, d.h. Inspiration für Werten befreit wurden. Prekärerweise er- gottgefälliges und ethisch gutes Handeln.22 scheinen gerade die Russlanddeutschen in Noch viel mehr als das Christentum fordert unserer Studie praktisch gleich rückfällig der Islam aktiv gelebte Werte im Alltag ein. wie die in Deutschland Geborenen. In bei- Deshalb führt ein extremes Laizismus-Kon- den Fällen sind also die Familien als Trä- zept, wie es antireligiöse Gesellschaften oft ger der Wertegemeinschaft nur noch ver- als Leitkultur vertreten, notwendigerweise mindert präsent. Bei fehlendem Rückhalt zu Konflikten mit dem Islam. in der Familie oder der Gesellschaft sind die zu integrierenden Jugendlichen labiler 3.2. SOZIALE VORAUSSETZUN und anfälliger für einen Rückfall. GEN WICHTIGER HERKUNFTS Bewerkenswert ist, dass die Rückfällig REGIONEN keit sogar bei Herkunft aus Osteuropa und Im Folgenden werden die wichtigsten der russischsprachigen Herkunftsregion Herkunftsregionen von Migranten nach nicht höher ist als bei den Deutschen Deutschland und Mitteleuropa vor dem selbst, obwohl man dies in diesen Regio Hintergrund der vorliegenden Datenerhe- nen auf Grund der dort verbreiteten sozi- bung und Auswertung betrachtet, mit dem alen Härte, Skrupellosigkeit und erhöhten Ziel, diese mit möglichen Wirkungsme Gewaltbereitschaft eigentlich erwarten chanismen und generellen Tendenzen ab- würde. Umgekehrt könnte dies auch ein zugleichen. Auf eine entsprechende Ana- Hinweis darauf sein, dass in Deutschland, lyse für Deutschland und Mitteleuropa wenngleich dies auf den ersten Blick ak- selbst muss hier verzichtet werden. tuell noch nicht immer wahrgenommen wird, bereits eine derartige soziale Härte 3.2.1. EHEMALIGE SOWJET und Kälte existieren, dass sie entspre- UNION UND OSTEUROPA chende Rückfälligkeitsraten von Jugend- Unter der atheistisch-materialistischen lichen produzieren, die mindestens genau Doktrin des real existierenden Staatssozia- so hoch sind wie die der aus Osteuropa lismus erlaubte sich der Staat ideologische stämmigen Jugendlichen. Dies könnte 41
.SIAK-JOURNAL 1/2013 auch ein Hinweis darauf sein, dass die so- tag einer Konsum- und Mediengesellschaft zialen Herausforderungen, die ein zeitlich zu assimilieren im Stande zu sein scheint. versetzter Zusammenbruch der Sozialsys Aspekte sozialer Gerechtigkeit und nach- teme in Europa in Zukunft noch mit sich haltiger Lebensbedingungen in der Türkei bringen könnte, die des zusammengebro- bleiben dabei weitgehend auf der Strecke. chenen Staatskapitalismus weit übertref- Im Zuge eines idealisierten Fehlver- fen könnten. ständnisses von Modernität wurde im 20. Jahrhundert versucht, den Islam in 3.2.2. TÜRKEI seiner Gesellschaftswirksamkeit zu mar- In der heutigen Türkei findet man eine ginalisieren und gleichzeitig dabei die heterogene Gesellschaft vor, die von ver türkische Gesellschaft von ihrer Kultur schiedenen widersprüchlichen Strömun entwurzelt – unter anderem durch die gen geprägt ist. Immer noch sind jahr- Einführung einer neuen Schrift. Mit dem hundertealte Clan-Strukturen präsent, 21. Jahrhundert ist die Unterdrückung des wenngleich auch quantitativ weniger Islams zwar seitens der Regierung von verbreitet als vor Beginn der Moderne, oben weitgehend aufgehoben, aber in der anderseits sind diese gerade in den neuen Praxis der staatlichen Organe immer noch politisch-ökonomischen Oligarchien noch präsent, z.B. mit Repressionen gegen Mus- heute von erheblichem Einfluss. Die aktu- lime und insbesondere gegen Muslimas, ellen Ausprägungen des Islam haben ein die z.B. auch an staatlichen Institutionen breites Spektrum, das von einer unverän- wie Universitäten gerne ein Kopftuch dert-rückständigen Religionspraxis der tragen würden. Die Repressionen in der bildungsfernen Schichten über ein bürger- Türkei gehen einher mit Unterdrückung lich-konservatives Religionsverständnis jeglicher Andersartigkeit, sei diese religiös bis zu einem modernen freiheitlich-demo- oder ethnisch, durch einen bis heute beste- kratischen Islamverständnis reicht. Seitens henden Komplex aus Militär, Milizen und der türkischen Oberschicht wurde eine ver- Polizei. meintlich moderne, säkulare Lebensweise Diesen Hintergrund muss man insbeson- oberflächlich und unkritisch übernommen, dere bei türkischen Migranten verstehen, ohne aber dabei auch die zugehörigen die nach Europa kommen mit der Erwar- tiefer liegenden säkularen Normen Europas, tung einer freiheitlichen toleranten Gesell- z.B. hinsichtlich der Menschenrechte, an- schaft. Wenn man dies weiß, dann ist klar, zunehmen oder gar mit dem gewachsenen dass es unter diesem gesellschaftlichen Wertegefüge der traditionellen türkischen Anspruch nicht angehen kann, bestimmte Gesellschaft zu verbinden. Kleidungsweisen und Lebensarten vorzu- Dabei orientiert sich das türkische Bil- schreiben, auch nicht den Muslimen, und dungssystem der Studenten bis heute insbesondere denen nicht, die aus einem überwiegend an den USA und nur nach- Land wie der Türkei stammen, in dem die rangig an der europäischen Gesellschaft. Religion seitens des Staates über mehrere Die Staatsführung selbst propagiert zwar Generationen hinweg geächtet wurde. offiziell mehr Freiheit, anderseits hat sich In dem Maße, in dem für türkischstäm- aber zusammen mit der „new economy“ mige Mitglieder unserer Gesellschaft ihre ein neuer türkischer Nationalismus ent- Akzeptanz lediglich an deren Assimilation wickelt, der gleichermaßen den neotür- gekoppelt ist, wird auch deren Bedürfnis kischen Islam als formale Ideologie sowie genährt, sich lieber in einer eigenen Pa den kapitalistischen Materialismus im All- rallelgesellschaft einzurichten, was wie- 42
1/2013 .SIAK-JOURNAL derum dem Ziel einer gelebten Integration kausalen Zusammenhangs zwischen Im- entgegensteht. migration und Religionszugehörigkeit Anderseits hat eben gerade die teilweise einerseits und kriminellem Verhalten an- erhaltene kulturelle Eigenständigkeit bei derseits. Im Gegenteil lässt sich feststel- den türkischstämmigen Migranten dazu len, dass mit zunehmender Assimilation geführt, dass die türkische Kultur und die der Jugendlichen an die aktuelle deutsche ethisch-religiösen Werte insbesondere im Gesellschaft deren erneute Straffälligkeit Kontext der Familie bei dieser Gruppe oft steigt. Risikofaktoren – wie zerrüttetes El- bewusster im Alltag gelebt werden als bei ternhaus und Heimaufenthalte – sind bei den Türken in den säkularisierten Groß- deutschem Hintergrund erhöht. Ein Grund städten der heutigen Türkei. hierfür liegt im aktuellen gesellschaft- Trotz der derzeitigen Liberalisierung lichen Umfeld, das den Familienverband im unpolitischen Bereich ist das Verhält- eher schwächt als fördert. Somit geht des- nis der Türkei zu ihren nicht-türkischen sen präventive Wirkung mit zunehmender Volksgruppen (z.B. Kurden) weiterhin Assimilation verloren. angespannt, anderseits präsentiert sich Die Religionszugehörigkeit an sich spielt die Türkei im Äußeren insbesondere ge- in der Sozial- und Legalprognose keine genüber den Turkvölkern der ehemaligen direkte Rolle. Vielmehr sind die sich er- Sowjetunion nicht nur als verheißungs- gebenden Zusammenhänge eine Folge der volles Muster für wirtschaftlichen Erfolg, mit der Religion verknüpften Werte, so- sondern erhebt dabei auch den Führungs- weit diese in der Familie gelebt werden anspruch unter einem neuen pantürkischen (können). Gesellschaftliche Akzeptanz und Nationalismus. Konsequenz ist, dass eth- Förderung kultureller Selbstbestimmung nisch nicht-türkische Migranten aus der der Familien dienen dem Gemeinwohl. Türkei nach Europa gekommen sind und Deshalb ist die Mehrheitsgesellschaft kommen, um hier die kulturelle Freiheit gut beraten, für gelebte Werte, im Sinne und Selbstbestimmung als Menschenrecht des gelebten Pluralismus in den Familien zu finden. selbst dann offen zu sein, wenn die kultu- Umso problematischer ist es, wenn die rellen oder religiösen Kontexte der famili- Mehrheitsgesellschaften Europas kaum ären Werte im Einzelnen, der Mehrheits- Alternativen zur Assimilation lassen. Die gesellschaft fremd bleiben. Wesentlich ist Alternativen, die sich für Migranten aus lediglich deren positive Rückwirkung auf der Türkei in Deutschland momentan den Einzelnen, insbesondere auch in sei- bieten, beschränken sich entweder auf nem Sozialverhalten in der Gesellschaft. Assimilation an die deutsche Mehrheits- Dies dient der Reduktion der Jugendkri- gesellschaft oder Assimilation an die Pa minalität, der Rückfälligkeit sowie den rallelgesellschaft der Deutsch-Türken oder dadurch verursachten materiellen und ide- die Außenseiterrolle am Rande der Gesell- ellen Kosten für die Gesellschaft. Die Pfle- schaft. Diese gesellschaftlichen Strukturen ge und Förderung der Religion als Quelle gilt es auch hinsichtlich ihrer Auswir- sittlicher Werte, insbesondere bei Christen kungen auf jugendliche Straftäter verstärkt und Muslimen, sowie Schutz und Förde- zu beleuchten. rung der Familien als deren Katalysatoren, sind hinsichtlich der Prävention von Kri- 4. FAZIT minalität eine vordringliche Aufgabe, die Die vorliegende Untersuchung widerlegt diesbezüglich ein grundlegendes Umden- die verbreitete Hypothese eines einfachen ken gerade auch in Deutschland erfordert. 43
.SIAK-JOURNAL 1/2013 1 17 Sarrazin 2010. Giebel et al. 2009. Giebel, S. M./Taefi, A. (2009). Ansätze 2 18 http://www.spiegel.de/politik/ausland/ Giebel 2008. zur polizeilichen Prävention bei jugend- 19 0,1518,654249,00.html. Siehe z.B. Tügel 2012. lichen Straftätern – Jugendstrafvollzug 3 20 Baier et al. 2011. Siehe z.B. die Expertenstudie von Paige und Rückfall, Der Kriminalist (2), 78–81. 4 Grünewald 2010. et al. 2001. Giebel, S./Simonson, J. (2009). Criminal 5 21 Wagner 2011. Siehe auch (Re-)Sozialisierende Leit behaviour as the result of ethnic origin, 6 http://www.diw.de/documents/ linien des Islam, Giebel/Rainer 2012. Annales XLI (58), 37–54. 22 publikationen/73/diw_01.c.364398.de/ Siehe z.B. Bobzin 2011, Kapitel 7. Giebel, S./Rainer, M. (2012). Islam und 10-49-1.pdf. Kriminalität, Der Kriminalist (2), 15–19. 7 Bundesministerium für Bildung und Quellenangaben Grünewald, A. (2012). Tötungen aus Forschung 2010, 7. Baier, D./Pfeiffer, C. et al. (2010). Kinder Gründen der Ehre, Neue Zeitschrift für 8 http://www.datenschutz.hessen.de/_old_ und Jugendliche in Deutschland: Gewalt Strafrecht, Sammelband, 19. content/tb22/k3p3.htm. erfahrungen, Integration, Medienkon- Jehle, J.-M./Heinz, W./Sutterer, P. (2003). 9 http://www.bpb.de/themen/6XDUPY, sum: Zweiter Bericht zum gemeinsamen Legalbewährung nach strafrechtlichen 0,0,Von_der_GastarbeiterAnwerbung_ Forschungsprojekt des Bundesministeri- Sanktionen: eine kommentierte Rückfall- zum_Zuwanderungsgesetz.html. ums des Innern und des KFN (KFN-For- statistik, Mönchengladbach. 10 http://www.focus.de/politik/ schungsbericht Nr. 109), Hannover. Paige, G. D./Satha-Anand, C./Gilliatt, deutschland/20-jahre-wende/christian- Bobzin, H. (2001). Der Koran – Eine Ein- S. (eds.) (2001). Islam and Nonviolence, wulff-der-islam-gehoert-zu-deutschland führung, München. Honolulu. _aid_558481.html. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge Sarrazin, T. (2010). Deutschland schafft 11 http://www.welt.de/politik/deutschland/ (2009). Muslimisches Leben in Deutsch- sich ab, München. article12691814/Innenminister-Islam- land, Nürnberg. Schobert, A./Jäger, S. (Hg.) (2004). Mythos gehoert-nicht-zu-Deutschland.html. Bundesministerium für Bildung und For- Identität. Fiktion mit Folgen, Münster. 12 Bundesamt für Migration und Flücht- schung (2010). Bildung in Deutschland Tügel, H. (2012). Wie gefährlich ist Reli- linge 2009, 11. 2010, http://www.bildungsbericht.de/ gion? Glaube und Fanatismus, Geo (4), 13 Winkler 2007. daten2010/wichtige_ergebnisse_presse 62–84. 14 Schobert 2004. 2010.pdf. Wagner, J. (2011). Richter ohne Gesetz, 15 http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/ Craddock, J. M./Flodd, C. R. (1970). The Berlin. 0,1518,798209,00.html. distribution of c statistic in small conting Winkler, H. A. (2007). Wie viel National- 16 Für eine Vorabstudie zur Rückfälligkeit ency tables, Applied Statitics (19), 173–181. staat verträgt Europa? Deutsches und und Religionszugehörigkeit siehe auch Giebel, S. (2008). Relapse of juvenile europäisches Wir-Gefühl gehören zu- Giebel 2012 und hinsichtlich Immigra- offenders in Rhineland-Palatinate from sammen, Berliner Zeitung vom 23. März tion und Kriminalität siehe auch Giebel 1996 to 2000, Giustizia minorile (2), 2007. 2009. 99–109. 44
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