Immigration, Religion und erneute Straffälligkeit bei jugendlichen Straftätern

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Immigration, Religion und erneute Straffälligkeit bei jugendlichen Straftätern
.SIAK-Journal – Zeitschrift für Polizeiwissenschaft
und polizeiliche Praxis

                                   Giebel, Stefan/Rainer, Martin
                                   (2013):
                                   Immigration, Religion und
                                   erneute Straffälligkeit bei
                                   jugendlichen Straftätern
                                   SIAK-Journal − Zeitschrift für
                                   Polizeiwissenschaft und polizeiliche Praxis
                                   (1), 33-44.
                                   doi: 10.7396/2013_1_C

Um auf diesen Artikel als Quelle zu verweisen, verwenden Sie bitte folgende Angaben:

Giebel, Stefan/Rainer, Martin (2013). Immigration, Religion und erneute Straffälligkeit bei
jugendlichen Straftätern, SIAK-Journal − Zeitschrift für Polizeiwissenschaft und polizeiliche
Praxis (1), 33-44, Online: http://dx.doi.org/10.7396/2013_1_C.

© Bundesministerium für Inneres – Sicherheitsakademie / Verlag NWV, 2013

Hinweis: Die gedruckte Ausgabe des Artikels ist in der Print-Version des SIAK-Journals im
Verlag NWV (http://nwv.at) erschienen.

Online publiziert: 07-2013
1/2013   .SIAK-JOURNAL

 Immigration, Religion und
 ­erneute Straffälligkeit bei
­jugendlichen Straftätern

Der folgende Artikel bietet erstmalig eine Zusammenfassung der Ergebnisse einer Studie
aus der Bundesrepublik Deutschland – im vorliegenden Fall der rheinland-pfälzischen
Untersuchung der Entlassungsjahrgänge 1996 bis 2000 aus dem Jugendstrafvollzug –
hinsichtlich einer möglichen Beziehung zwischen erneuter Straffälligkeit und Religions-
zugehörigkeit bzw. Immigration, sowie eine entsprechende Interpretation. Es stellt sich
heraus, dass gerade die religiöse Bindung und die Verwurzelung in der Kultur des
Heimatlandes eine präventive Wirkung auf die generelle Straffälligkeit haben kann, und
                                                                                                STEFAN GIEBEL,
sich möglicherweise mit zunehmender Assimilation in die aktuellen deutschen Gesell-             Leiter des Kriminologischen
schaftsverhältnisse eine Erhöhung der erneuten Straffälligkeit ergibt. Darüber hinaus           ­Dienstes für den Justizvollzug des
                                                                                                 Freistaates Thüringen.
zeigt die Studie, dass nicht die Religion oder die Kultur Ursache der Straffälligkeit ist,
sondern vielmehr die fehlende soziale Vernetzung und der Mangel an gesellschaftlicher
Integration unabhängig von einer ethnischen Zugehörigkeit oder Religion. Zu beachten
ist, dass innerhalb dieser ersten länderspezifischen Evaluation nur indirekt auf die
Wirkung der Religion und der Kultur geschlossen werden kann. Eine differenzierte
Sichtweise auf die jugendlichen Straftäter erfordert zwangsläufig eine mit dieser Unter-
suchung erst begonnene Auseinandersetzung mit den jeweiligen Religionen und Kul-
turen der Herkunftsregionen sowie mit den funktionalen Wirkungsweisen von Religion
und Kultur in der heutigen Gesellschaft.

                                                                                                MARTIN RAINER,
                                                                                                Leiter des ENAMEC Institutes
                                                                                                und Professor für Angewandte
                                                                                                Mathematik am Zentrum für ­Risiko-
1. EINLEITUNG                                 solcher erscheint. So weist ein Großteil der      management der Universität Würz-
Immer wieder wird in der politischen          Immigranten in Deutschland eher einen             burg sowie affiliiert an der METU
                                                                                                in Ankara.
Debatte1 und in den Medien2 ein Zusam-        niedrigen sozioökonomischen Status6 und
 menhang zwischen Immigration oder be-        ein geringes Bildungsniveau7 auf, und hat
 sonderen Merkmalen der Immigranten           allein dadurch schon ein erhöhtes Risiko,
 wie Religionszugehörigkeit3, Teilen der      straffällig zu werden. Ganz abgesehen
 Kultur4, Rechtsverständnis5 etc. und der     davon, dass bei der ausländischen Bevöl-
­Kriminalität behauptet.                      kerung nicht von einer mit der deutschen
   Selbst wenn sich solche statistischen      auch nur ansatzweise vergleichbaren Kon-
 Zusammenhänge ergäben, so darf man           trolldichte auszugehen ist.8
 nicht vergessen, dass erstens ein Zusam-       Deutschland hatte die Gastarbeiteran-
 menhang noch lange keine Kausalität be-      werbung ehemals nur als Ausgleich zum
 deutet, und zweitens eine Korrelation noch   damaligen Arbeitskräftemangel in gering
 keinen direkten Zusammenhang beweist,        qualifizierten Bereichen9 betrieben. Eine
 sondern eventuell nur vordergründig als      Integration der Gastarbeiterfamilien in die

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                  deutsche Gesellschaft war nicht geplant.      dieser Herangehensweise ist, dass alle un-
                  Mit deren Zuzug und dauerhaften Auf-          tersuchten Personen zumindest hinsicht-
                  enthalt ist sie aber unvermeidlich gewor-     lich ihrer strafrechtlichen Vorbelastung
                  den. Folgerichtig erkannte der ehemalige      eher als vergleichbar einzustufen sind. Die
                  Bundespräsident Wulff, dass mit den Ein-      Daten sind von den Anstalten erfasst wor-
                  wanderern auch ihre Religion und Kultur       den und damit auch valide.
                  ein nicht mehr wegzudenkender Teil des          Nachdem die statischen Ergebnisse in
                  heutigen Deutschlands geworden sind.10        Folge valider und vergleichbarer Daten er-
                  Der Blick in die ferne Vergangenheit und      mittelt worden sind, ist es sinnvoll, gesell-
                  auf vermeintliche historische Wurzeln11,      schaftliche Hintergründe der wichtigsten
                  verbunden mit der Negierung der Fakten        Herkunftsregionen kurz zu beleuchten,
                  in der Gegenwart, ist dabei nicht zielfüh-    ins­besondere in Hinblick auf mögliche Er-
                  rend. So stellen mittlerweile die Muslime     klärungen und Deutungen der Ergebnisse.
                  5 % der Bevölkerung der Bundesrepublik        Wegen der besonderen Relevanz in der ak-
                  Deutschland dar. Fast die Hälfte davon hat    tuellen politischen Diskussion stellen wir
                  bereits die deutsche Staatsbürgerschaft.12    darüber hinaus die potentiellen positiven
                    Gründe für die immer wieder geführte        Rückkopplungen einer in der Familien­
                  politische Debatte um den Zusammenhang        kultur verankerten und gelebten Religion,
                  zwischen Immigration und Kriminalität ist     insbesondere auch des Islams, dar.
                  die Herstellung eines Wir-Gefühls13, ei-
                  ner eigenen Identität14 gerade angesichts     2. STATISTISCHE ERHEBUNGEN
                  der Globalisierung. Mit der Suche nach        UND UNTERSUCHUNGEN ZUR
                  der Identität wird mangels Auseinan-          STUDIE DER RÜCKFÄLLIGKEIT
                  dersetzung mit dem Eigenen häufig die         Seit 1996 wurde eine Erhebung im rhein-
                  Ausgrenzung15 des jeweils Anderen ver-        land-pfälzischen Jugendstrafvollzug durch-
                  bunden. Eine pauschale Ausgrenzung der        geführt. Zum damaligen Zeitpunkt war sie
                  Anderen, ohne genaue Spezifizierung der       als länderbezogene Rückfalluntersuchung
                  tatsächlich ungewollten Eigenschaften der     einmalig. Die Erhebung umfasst alle
                  sozialen Individuen, führt dazu, dass die     männlichen jugendlichen Inhaftierten, die
                  eigentlich notwendige Auseinanderset-         zwischen 1996 und 2000 entlassen wurden.
                  zung mit ungewollten Eigenschaften und        Grund für die Untersuchung war eine An-
                  Charakteristika der eigenen Gesellschaft      frage des Parlaments zur Neuerrichtung
                  vermieden wird.                               der Anstalt in Schifferstadt. Die Untersu-
                                                                chung umfasste vier Zeitpunkte:
                    Unabhängig von der politischen Debatte      1. Erhebung bei Aufnahme,
                  werden die bisher länderbezogenen ein­        2. Maßnahmenplanung,
                  maligen Ergebnisse der rheinland-pfälzi-      3. Umsetzung der Maßnahmen und
                  schen Untersuchung bei jugendlichen In-       4. Abfrage der Bundeszentralregisteraus-
                  haftierten aus den Jahren 1996 bis 2000 in       züge vier Jahre nach Entlassung zur Be-
                  Bezug auf erneute Straffälligkeit, Immigra-      stimmung der erneuten Straffälligkeit.
                  tion und Religion bewertet.16 Immi­gration
                  und Religion lassen sich für Deutschland        Es konnten abschließend 400 männliche
                  nur im Zusammenhang betrachten und            jugendliche Inhaftierte mit Registerauszü-
                  bewerten, da ein Großteil der Zuwande-        gen erfasst werden. Sie waren durchschnitt-
                  rer sich gerade durch die Religion von der    lich älter als 20 Jahre. Die Spannweite
                  Gesamtbevölkerung unterscheidet. Vorteil      reicht von 14 bis 25 Jahre. Anzumerken für

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diese Untersuchung ist dabei das Ergebnis,    gression zwar mit kategorialen Variablen
dass je jünger ein jugendlicher Straftäter    arbeiten kann, jedoch den Abständen zwi-
ist, er desto eher erneut straffällig wird.   schen den Kategorien eine gleiche Bedeu-
Die jugendlichen Inhaftierten verbrachten     tung beimisst.
durchschnittlich 20 Monate in Haft. Die
Spannweite liegt zwischen sechs Mona-           Um sich dem Zusammenhang zwischen
ten und sechs Jahren. Der Vergleich zur       Religion, Herkunftskultur und Delinquenz
Längsschnittuntersuchung „Entwicklungs-       zu nähern, ist zunächst insbesondere auf
folgen der Jugendstrafe“ des Kriminolo-       eine ausreichende Validität der Daten zu
gischen Forschungsinstitutes Niedersach-      achten. Dies ist durch die auf den Voll-
sen (KFN), die sich nur auf männliche         zugsplänen und den Registerauszügen
deutsche Erstinhaftierte konzentrierte, ist   beruhenden Informationen gegeben. Die
bereits eingehend behandelt worden.17         untersuchte Gruppe sollte sich weniger im
  Zusätzlich konnten fünf weibliche Straf-    Bereich des sozioökonomischen Hinter-
täter erfasst werden. Sie hatten alle die     grunds und der bisherigen strafrechtlichen
deutsche Staatsangehörigkeit und keinerlei    Vorbelastung unterscheiden. Wie bereits
Migrationshintergrund. Es zeigte sich be-     oben erläutert, ergibt sich infolge der so-
reits in der damaligen Untersuchung, dass     ziodemografischen Merkmale ein erhöhter
zukünftig in Folge der Auflösung der bis-     Anteil an Ausländern und damit verbun-
herigen Geschlechterrollen und der damit      den an Muslimen. Darüber hinaus tauchen
auch abnehmenden sozialen Kontrolle           in der Haftpopulation und Polizeikrimi-
von einer Zunahme der Kriminalität bei        nalstatistik auch Ausländer auf, die kei-
den Frauen auszugehen ist. Erstaunlich        nen Aufenthalts- oder Duldungsstatus in
in dieser Untersuchung war bereits, dass      Deutschland haben. Die statistischen Ver-
alle weiblichen jugendlichen Gefangenen       fahren sind den eher nominal skalierten
mit Gewalttaten und Drogen aufgefallen        Daten entsprechend zu wählen. Dies ist
waren und der Anteil der generell erneut      durch den Test gewährleistet.
Straffälligen dem der männlichen Straf­
täter nahezu entsprach18.                      2.1. UNTERSUCHUNG DER
  Die von Baier et al. (Baier et al. 2010)     ­ERNEUTEN STRAFFÄLLIGKEIT
verwendete KFN-Studie zur Schülerbe-            NACH HERKUNFTSREGIONEN
fragung kann nicht als valide für einen         Deutsche Jugendliche sitzen durchschnitt-
Zusammenhang zwischen Religion und              lich 99 Tage in Untersuchungshaft, Tür-
Delinquenz herangezogen werden. Die             ken 134 Tage und Jugendliche aus dem
Selbstangaben der Schüler sind ohnehin          ehemaligen Jugoslawien 183 Tage. Das
zweifelhaft. Relevante Faktoren, wie die        Strafmaß liegt bei deutschen Jugendlichen
bisherige strafrechtliche Vorbelastung, die     bei 20 Monaten. Türkische Jugendliche
sozioökonomische Herkunft und Normen            werden im Durchschnitt zu drei Monaten
der Herkunftskultur, können nur bedingt         länger verurteilt und Jugendliche aus dem
kontrolliert werden. Methodisch löst die-       ehemaligen Jugoslawien sogar zu sechs
ses Problem auch nicht die Verwendung         ­Monaten mehr.
der Logistischen Regression, die unter der        Unter Rückfälligkeit ist die erneute Straf­
Voraussetzung der Unabhängigkeit die            fälligkeit nach der Entlassung zu verstehen.
Stärke, die Richtung und die Relevanz der       In dieser Untersuchung wurde die erneute
betrachteten Merkmale bestimmt. Ganz            Straffälligkeit über einen Beobachtungs-
abgesehen davon, dass die Logistische Re-       zeitraum von vier Jahren betrachtet, und

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                  zwar nur in Form der verhängten spezi-         schen ist der Wegzug aus der bisherigen
                  fischen Sanktion (z.B. einer Freiheitsstra-    Heimat und dem dortigen sozialen Um-
                  fe). 58 % der Jugendlichen sind in Form        feld. Alkohol- und Drogenkonsum zeich-
                  einer Freiheitsstrafe mit oder ohne Bewäh-     net diese Gruppe aus. 40 aller untersuchten
                  rung verurteilt. 4 % werden polizeilich ge-    Jugendlichen haben Heroin konsumiert
                  sucht. Die Rückfallquote in Form jedwe-        (10 %), aber bereits 14 der im Ausland ge-
                  den strafrechtlichen Eintrags beträgt 78 %.    borenen Deutschen (38,9 %). 110 Jugend-
                     Werden deutsche und ausländische Ju-        liche in der Gesamtgruppe geben einen
                  gendliche hinsichtlich ihrer Rückfallquote     regelmäßigen Alkoholkonsum an (28 %),
                  in Form einer Freiheitsstrafe oder einer po-   hingegen 13 der im Ausland geborenen
                  lizeilichen Suche miteinander verglichen,      Deutschen (36,1 %). 16 der im Ausland
                  ergibt sich eine Rückfallquote von 68 % bei    geborenen deutschen Jugendlichen werden
                  den deutschen Jugendlichen (190 von 280)       sogar als „abhängig“ eingestuft (44,4 %).
                  und bei den ausländischen eine von 48 %          Die Rückfallquote für die türkischen Ju-
                  (57 von 120).                                  gendlichen beträgt 37 % (16 von 43), für
                     Für die Untergruppe der Deutschen, die      die arabischen Jugendlichen 43 % (neun
                  nicht in Deutschland geboren sind, ergibt      von 21) und für die Jugendlichen aus dem
                  sich eine Rückfallrate in Form einer Frei-     ehemaligen Jugoslawien 57 % (25 von 44).
                  heitsstrafe oder polizeilichen Suche von       Verglichen mit den deutschen Jugend-
                  58 % (21 von 36). 22 der nicht in Deutsch-     lichen ist die Möglichkeit einer Ab-
                  land geborenen Deutschen stammen aus           schiebung oder Ausreise zu beachten,
                  der GUS, fünf aus Tadschikistan, vier aus      bei allen Jugendlichen die Möglichkeit
                  Polen, zwei aus Rumänien und je einer aus      einer Einweisung in die Psychiatrie. Beides
                  dem ehemaligen Jugoslawien, Afrika und         führt statistisch zu einer (scheinbaren) Ver­
                  Arabien. Diese Untergruppe unterschei-         ringerung des Rückfallrisikos.
                  det sich enorm hinsichtlich ihrer Kultur,        Bei der Betrachtung der Rückfallquote
                  Traditionen und Religion. So sind die aus      sind diejenigen, die abgeschoben oder nach
                  Tadschikistan stammenden Jugendlichen          Entlassung in eine Psychiatrie zwecks Be-
                  mehrheitlich Muslime (vier von fünf).          treuung eingewiesen wurden, aus der Unter-
                  Insgesamt beträgt der Anteil der Muslime       suchung herauszunehmen. In der Studie von
                  11,1 % (vier von 36). Die Mehrheit mit         Jehle et al. (Jehle et al. 2003) konnte eine
                  52,8 % ist evangelisch, gefolgt von nahe-      solche Differenzierung nicht vorgenommen
                  zu einem Drittel Katholiken (11 von 36;­       werden. Für die deutschen Jugendlichen lässt
                  30,6 %). Die Auslandsdeutschen unter-          sich sagen, dass keiner nach der Entlassung
                  scheiden sich somit deutlich von der übri­     in die Psychiatrie eingewiesen worden ist.
                  gen Haftpopulation hinsichtlich der Kon-         Unter Beachtung der Abschiebung von
                  fession: Sie sind im Vergleich zu dieser       fünf Jugendlichen und einer Einweisung in
                  überwiegend evangelisch gebunden.              die Psychiatrie ergibt sich eine Rückfall-
                     Die Rückfallrate in Form von Freiheits­     rate der türkischen Jugendlichen von 43 %
                  strafe oder polizeilicher Suche der in         (16 von 37). Die Chance eines Rückfalls
                  Deutschland geborenen Deutschen liegt          beträgt bei Deutschen ca. 7:3, hingegen bei
                  bei 69 % (169 von 244). Es gibt keinen         den Türken ca. 4:6.
                  signifikanten Unterschied bezüglich der          Als mögliche soziale Gründe für die nied-
                  erneuten Straffälligkeit zu den im Aus-        rigere Rückfallquote türkischstämmiger
                  land geborenen Deutschen. Wesentliches         Jugendlicher können die folgenden ange-
                  Merkmal der im Ausland geborenen Deut-         führt werden:

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  Niedrigere Scheidungsrate bei Eltern         von 17). Ein Vergleich der jugoslawischen
  türkischer Jugendlicher: Für die türki­      mit den deutschen Jugendlichen ist ange-
  schen Jugendlichen, welche in Deutsch-       sichts der häufigen (dann aber illegalen)
  land geboren wurden, beträgt die Tren-       Wiedereinreise nach erfolgter Abschie-
  nungsrate der Eltern lediglich 12 % (vier    bung sinnlos. Es sind mehr Personen wie-
  von 34), hingegen kann bei Eltern in der     der rückfällig geworden als Personen nach
  Türkei geborener Jugendlicher keine          Abschiebung hätten wieder straffällig wer-
  einzige Trennung dokumentiert werden.        den können.
  Türkische Jugendliche haben seltener
  eine Heimkarriere hinter sich: Nur in        2.2. RÜCKFÄLLIGKEIT NACH RE­
  vier von 43 Fällen kommt es zu mehr als      LIGIONSZUGEHÖRIGKEIT
  einem Heimaufenthalt (9 %), während          In der vorliegenden Erhebung ist die er-
  in der gesamten Erhebung 79 Jugend­          fasste Religionszugehörigkeit der unter-
  liche mehr als einen Heimaufenthalt          suchten Personen zu 41,3 % die katholische,
  hinter sich haben (19 %).                    zu 24,5 % die evangelische, zu 25,8 % der
  Eine stärkere Verbundenheit der tür-         Islam und 7,8 % haben keine Konfessions-
  kischen Familie mit dem inhaftierten         zugehörigkeit.
  Jugendlichen macht sich vor allem              Bezogen auf die Wiederholungstäter in
  durch entsprechende Besuchskontakte          Form jedweden strafrechtlich relevanten
  mit der Familie bemerkbar.                   Eintrags innerhalb der verschiedenen reli-
  Eine nicht weiter messbare Möglichkeit       giösen Gruppen ergibt sich eine Rückfall-
  einer Ausreise. Trotz Bereinigung der        quote unter den Muslimen von zwei Drittel
  Daten kann die freiwillige Ausreise nur      (64 %), unter den Katholiken von mehr als
  bedingt durch Selbstangaben des Ge-          drei Viertel (79 %), unter den Protestanten
  fangenen gemessen werden. Dies be-           von mehr als vier Fünftel (89 %) und nahe-
  trifft auch die Deutschen, insbesondere      zu auf gleichem Niveau liegen diejenigen
  die im Ausland geborenen.                    ohne ein Bekenntnis (87 %).
                                               Quelle: Giebel
   Weiter auffällig ist, dass der Anteil der
                                                                   Katholisch      Evangelisch         Muslime       Ohne
erneut Straffälligen bei Geburt in Deutsch-
                                                 „Keine           21,2% (n=35)    11,2% (n=11)     35,9% (n=37)   12,9% (n=4)
land erhöht ist. So sind von den 30 tür-         Eintragungen“
kischen Jugendlichen, die in Deutschland         „Erneut          78,8% (n=130) 88,8% (n=87)       64,1% (n=66)   87,1% (n=27)
                                                 straffällig“
geboren sind und nicht abgeschoben oder
in eine Psychiatrie eingewiesen wurden,        Tabelle 1: Zusammenhang zwischen Religionszu­
                                               ge­hörigkeit und erneuter Straffälligkeit bei jugend-
21 wieder straffällig geworden (70 %) und      lichen Inhaftierten vier Jahre nach Entlassung
neun in Form einer Freiheitsstrafe (43,3 %),
während von den sieben in der Türkei ge-         Die Wahrscheinlichkeit, dass der erneute
borenen und nicht abgeschobenen Jugend-        strafrechtliche Eintrag unabhängig von der
lichen drei überhaupt wieder strafrechtlich    Religionszugehörigkeit zu sehen ist, liegt
in Erscheinung getreten sind und zwar alle     nach dem -Test (auf Zufälligkeit) unter
in Form von Freiheitsstrafen (42,8 %).         einem Signifikanzniveau von 5 %. Damit
   Der Familienzusammenhalt bei arabi­         ist von einem relevanten Zusammenhang
schen Jugendlichen ist ähnlich zu denen        auszugehen. Es fällt offensichtlich auf, dass
der Türken zu bewerten. Vier arabische         Muslime in diesem Fall seltener (24,7 %
Jugendliche sind abgeschoben worden.           weniger als die Evangelischen) erneut straf­
Daher beträgt die Rückfallrate 53 % (neun      fällig werden.

                                                                                                          37
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                            Betrachtet man die Rückfälligkeit in Form               ben. Den hohen Anteil bei den Muslimen
                          einer erneuten Freiheitsstrafe, so ist nur                von mehr als einem Zehntel (10,7 %) mit
                          noch von einer Tendenz zu sprechen. Mit                   polizeilicher Suche bei gleichzeitig feh-
                          dem angegebenen Signifikanzniveau ist                     lender justizieller Rückfälligkeit könnte
                          von einer Unabhängigkeit der Religionen                   man einerseits mit der erhöhten gesell-
                          und der Delinquenz weiterhin auszugehen.                  schaftlichen Sensibilität gegenüber dieser
                          Rein deskriptiv ist auch hier zu erwähnen,                Religionsgruppe zu erklären versuchen,
                          dass die Muslime etwa 16,9 % weniger oft                  andererseits ist aber auch zu beachten,
                          rückfällig werden als die Evangelischen.                  dass durch den erhöhten Ausländeranteil
                                                                   Quelle: Giebel   in dieser Gruppe die Statistik durch de-
                 Katholisch      Evangelisch      Muslime         Ohne              ren Fluchtmöglichkeiten ins Ausland ent-
„nicht          35,8% (n=59)     31,6% (n=31)   39,4% (n=50)   41,9% (n=13)         sprechend nach oben verzerrt wird. Bei
rückfällig“
                                                                                    obiger differenzierter Betrachtung ergibt
„rückfällig“    64,2% (n=106) 68,4% (n=67)      51,5% (n=53)   58,1% (n=18)
                                                                                    sich aber in jedem Falle, dass Muslime
                          Tabelle 2: Zusammenhang zwischen Religionszu-             von allen Religionszugehörigkeiten am
                          gehörigkeit und Rückfälligkeit in Form eines Frei-        wenigsten erneut straffällig werden. Das
                          heitsentzugs oder polizeilicher Suche bei jugend-
                          lichen Inhaftierten vier Jahre nach Entlassung            Ergebnis wurde mit dem Signifikanztest
                                                                                    von Craddock und Flood (Craddock/Flood
                          Eine noch differenziertere Betrachtung der                1970) entsprechend überprüft.
                          Rückfälligkeit erhält man, wenn man mit-
                          tels eines Filters aus der Gesamtheit der-                2.3. STRAFRECHTLICHE
                          jenigen, die bereits einmal zu einem Frei-                ­VORBELASTUNG UND AUF­
                          heitsentzug verurteilt wurden, diejenigen                  FÄLLIGKEITEN IM VOLLZUG
                          herausnimmt, die zwar von der Polizei er-                  Im folgenden Abschnitt untersuchen wir
                          neut gesucht wurden, dabei eventuell nach                  detailliert Beziehungen jeglicher Religions-
                          Festnahme auch erneut verurteilt würden.                   zugehörigkeit mit der Art der strafrechtli-
                          So ergibt sich das in Tabelle 3 beschrie-                  chen Vorbelastung und der Auffälligkeiten
                          bene Bild.                                                 im Vollzug. Dafür wird die strafrechtliche
                                                                   Quelle: Giebel    Vorbelastung in drei Kategorien unterteilt:
                 Katholisch      Evangelisch      Muslime         Ohne
„nicht          35,8% (n=59)     31,6% (n=31)   39,4% (n=50)   41,9% (n=13)           „Gewalt“ in Form von Körperverletzung,
rückfällig“
                                                                                      Vergewaltigung, sexueller Missbrauch
„polizeiliche    2,4% (n=4)       6,3% (n=1)    10,7% (n=11)      0% (n=0)
Suche“
                                                                                      und Mord,
„rückfällig“    61,8% (n=102)    67,1% (n=66)   39,8% (n=41)   58,1% (n=18)           „Drogen“ in Form von Verstößen gegen
                                                                                      das Betäubungsmittelgesetz (Handel
                          Tabelle 3: Zusammenhang zwischen Religionszu-
                          gehörigkeit und Rückfälligkeit in Form eines Frei-
                                                                                      und Erwerb),
                          heitsentzugs sowie der polizeilichen Suche bei ju-          „Eigentumsdelikte“ in Form von Dieb-
                          gendlichen Inhaftierten vier Jahre nach Entlassung
                                                                                      stahl, Raub und Erpressung.

                            Für die obigen Daten liegt die Wahr-                      Lediglich beim Verstoß gegen das Be-
                          scheinlichkeit einer Unabhängigkeit von                   täubungsmittelgesetz ergibt sich ein signi­
                          erneuter Straffälligkeit und Religions-                   fikanter Zusammenhang. Die Muslime er­
                          zugehörigkeit unter dem Signifikanzni-                    reichen mit fast einem Drittel (32 %, n=33)
                          veau. Insbesondere ist dies dann der Fall,                mit Verstoß gegen das Betäubungsmittel­
                          wenn die noch ungeklärten Fälle in Form                   gesetz den höchsten Wert und die „ohne
                          der polizeilichen Suche unbeachtet blei-                  Religion“ mit 16,1 % (n=5) den niedrigs­

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ten. Hinsichtlich der Rückfälligkeit führt      (n=23) und bei Personen ohne eine genannte
ein Drogendelikt bei der Vorbelastung zu        religiöse Zugehörigkeit in 25,8 % (n=8)
einer signifikant niedrigeren Rückfallrate      der Fälle zu einem mehrfachen Heimauf-
bei Betrachtung aller drei Kategorien. Da       enthalt. Für junge Muslime liegt die Wahr-
Drogendelikte stark von der Kontroll-           scheinlichkeit für ein Heimkarriere bei
dichte abhängen, ist der höhere Anteil an       5 % (n=5). Dies steht im Gegensatz zu den
Muslimen und damit auch an Ausländern           beiden christlichen Konfessionen mit über
auf die stärkere Kontrollintensität zurück-     23 % und den anderen (nicht-konfessio-
zuführen.                                       nellen) mit über 25 %. Diese deutlich
  Hinsichtlich Auffälligkeiten im Vollzug       effektivere Wirkung der Religion in der
unterscheiden sich die Religionsgruppen         Familie und Erziehung wird auch durch
nicht signifikant voneinander. Eine Dis-        das KFN in seinem Forschungsbericht be­
ziplinarmaßnahme wurde bei 49,7 % aller         stätigt. Bei den muslimischen Familien ist
Katholiken, bei 61,2 % aller evangelischen      die Religion eben deutlich lebensrelevanter
Jugendlichen, bei 52,4 % aller Muslime          im Alltag als bei den anderen Gruppen.
und 45,2 % aller Konfessionslosen ver-            Der geringe Anteil an Heimkarrieren
hängt. Beim Missbrauch von Lockerungen          führt auch zu einem geringeren Anteil er-
unterscheiden sich die Konfessionen sig­        neuter Straffälligkeit. Während Personen
nifikant. Evangelische Jugendliche miss-        mit mehrfachen Heimaufenthalten zu 77 %
brauchen die Lockerungen zu 16,3 %,             (n=57) erneut strafrechtlich in Form einer
Katholiken zu 18,8 %, Muslime zu 4,9 %          Freiheitsstrafe wieder in Erscheinung
und Konfessionslose zu 9,7 %. Dabei ist         treten, sind es nur 53,6 % (n=170) der­
zu beachten, dass die Eignung für eine          jenigen ohne mehrfachen Heimaufenthalt.
Lockerung nicht nur von der strafrecht-           Jugendliche mit einem Heimwechsel sind
lichen Vorbelastung und dem Verhalten           damit häufiger rückfällig als Jugendliche
im Vollzug abhängt, sondern auch von            ohne Heimwechsel. Dies entspricht den An-
der Gefahr einer Entweichung. Bei Aus-          nahmen über die Bedeutung einer sozialen
ländern und damit auch vermehrt bei den         Vernetzung und der Familie als Institution.
Muslimen wird von einer erhöhten Flucht-
gefahr ausgegangen.                             2.5. ERZIEHUNG IN ABHÄNGIG­
                                                KEIT VON KULTUR UND
2.4. HEIMWECHSEL UND                            ­RELIGIONSZUGEHÖRIGKEIT
HEIMAUFENTHALT                                   In der vorliegenden Untersuchung lässt
Wenn dem Jugendamt erhebliche Auffällig-         sich ein signifikanter Zusammenhang zwi-
keiten in der Familie bekannt werden oder        schen Religionszugehörigkeit und der Er-
gar das Kindeswohl in Gefahr ist, kann es ei-    fahrung von regelmäßiger Gewalt in der
ne Heimunterbringung anordnen. Besonders         Erziehung nachweisen. Bei Katholiken
dramatisch für die Biografie des Jugend-         liegt der Anteil bei 4,9 % (acht von 163),
lichen ist, wenn es zu mehrfachen Heim­          bei evangelischen Jugendlichen bei 7,1 %
unterbringungen kommt. Ein sozia­les Netz        (sieben von 98), bei Muslimen bei 4,0 %
kann dann, wenn überhaupt, nur bedingt auf-      (vier von 101) und bei Konfessionslosen
gebaut werden. Dies führt auch in der wei-       bei 16,1 % (fünf von 31). Dabei ist zu be-
teren Karriere des Jugendlichen eher zu ei-      achten, dass diese Informationen auf den
ner negativen Legal- und Sozialprognose.         Selbstangaben des Gefangenen beruhen
  Bei Katholiken kommt es in 23 %                und nicht explizit nach Gewalt gefragt wur-
(n=38), bei evangelischen Christen in 23,5 %     de, sondern lediglich nach der Erziehung.

                                                                                                 39
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                  Der Zusammenhang deutet darauf hin,              tatsächlich auswirkt. Auch die Häufigkeit
                  dass eine fehlende religiöse Einbindung          des Gottesdienstbesuchs lässt per se kaum
                  inner­halb der Familie mit einem erhöhten        Rückschlüsse auf eine alltagsrelevante ge-
                  Risiko für Erfahrung von Gewalt in der           lebte Religiosität zu.
                  Familie einhergeht. Umgekehrt kann also             Andererseits haben gerade die funktio­
                  gerade ein religiöser Wertehintergrund der       nalen Zwänge, die die moderne Gesell-
                  Familie das Risiko für Gewalterfahrungen         schaft auf die Menschen ausübt, als Reak-
                  verringern. Vor­aussetzung ist jedoch, dass      tion eine zunehmende Individualisierung
                  die Religion tatsächlich aber auch mit ih-       bewirkt, eine teilweise verzweifelte Suche
                  rem alltagsrelevanten Wertekontext in der        der Menschen nach dem Selbst sowie no-
                  Familie aktiv gelebt wird. Hierfür sind          torisches Streben nach Einzigartigkeit und
                  allerdings die Voraussetzungen in den            Freiheit, unter Verwerfung aller bishe-
                  jeweiligen Herkunftsgesellschaften sehr          rigen gesellschaftlichen Lebensweisen und
                  verschieden. Im Folgenden sollen diese           Wertvorstellungen. Somit hat das soziale
                  genauer beleuchtet werden.                       Auseinanderfallen der Gesellschaft letzt-
                                                                   lich bewirkt, dass paradoxerweise eine eher
                  3. SOZIALE RELEVANZ UND                          von sozialen Bindungen losgelöste Lebens-
                  PRÄVENTIVE WIRKUNG                               weise gesellschaftskonform geworden ist.
                  ­GELEBTER KULTURELLER UND                           Weit verbreitet ist das pauschale Vorur-
                   RELIGIÖSER WURZELN                              teil, dass Religion gefährlich sei und der
                   Gerade wegen der Relevanz nicht-mate-           Gewalt in der Welt Vorschub leiste. Die-
                   rieller innerer Faktoren für das Handeln        ses Klischee wird derzeit sogar von den
                   des Menschen im gesellschaftlichen Kon-         gehobenen Medien willfährig bedient.19
                   text muss versucht werden, den Einfluss         Paradoxerweise zielt die populistische
                   von Faktoren wie Kultur und Religion im         Diffamierung „gewaltfördernd“ zu sein
                   Rahmen einer logisch-funktionalen Ana-          ausgerechnet auf die Religionen der Ver-
                   lyse zu verstehen. Dies kann dann dazu          söhnung und des Friedens, nämlich das
                   beitragen, potentiell präventive Einflüsse      Christentum und den Islam. Eine Stan­
                   im Herkunftskontext aufzuspüren. Umge-          dardmethode dabei ist, die Instrumenta-
                   kehrt kann die Analyse auch helfen, mög-        lisierung der Religion an sich anzulasten,
                   liche (Fehl-)Schlüsse auf der brüchigen         anstatt den jeweiligen Missbrauch zu ent-
                   Basis einer zu wenig differenzierenden          larven. Gewalttäter werden paradoxer-
                   Statistik zu vermeiden.                         weise als „religiös motiviert“ dargestellt,
                                                                   anstatt sie einfach als Kriminelle zur Re-
                  3.1. RELIGION IN DER                             chenschaft zu ziehen.
                  ­MODERNEN GESELLSCHAFT                              Weite Teile der aufgeklärten Gesell-
                   Hierzu ist grundsätzlich anzumerken, dass       schaft selbst verkennen dabei auch oft,
                   die eingetragene Religionszugehörigkeit         dass die menschliche und soziale Relevanz
                   noch nichts darüber aussagt, inwieweit          der Religion nicht von formaler oder gar
                   überhaupt ein Glaube an eine übergeord-         zwanghafter Frömmigkeit der Gläubigen
                   nete nicht-materielle Instanz vorhanden ist     getrieben wird (ein Bild zu dem Kirchen
                   und diese im konkreten Leben der Betrof-        und Fundamentalisten ihren Teil beigetra-
                   fenen eine Rolle spielt. Noch schwieriger       gen haben), sondern dem Menschen einen
                   ist es, individuell festzustellen, ob und wie   Weg zur inneren Befreiung bietet sowie
                   sich eine spezielle konfessionelle Glau-        Rechtleitung im Alltag und der Gesell-
                   bensform auf das Leben der Betroffenen          schaft somit soziale Entspannung.

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  Die Abneigung der abendländischen             Eingriffe in die Familien, mit dem Ziel,
Gesellschaft gegenüber Religion hat aktu­       deren innere Kultur zu reglementieren
ell besonders gegenüber dem Islam stark         und gleichzuschalten. Dies führte bei der
zugenommen. Dies steht im krassen               bürgerlichen Intelligenz teilweise zu Stra-
Wi­d er­spruch zum aktuellen Stand der          tegien des Widerstands und des heimlichen
sozialwissenschaftlichen und theologi­          Erhalts kultureller und religiöser Tradition,
schen Forschung, denn die inhärente Ge-         bei den weniger gebildeten Schichten aller-
waltlosigkeit des Islam ist bekannt und in      dings oft auch zur Auslöschung einer indi-
verschiedenen Kontexten ausführlich un-         viduellen Familienkultur.
tersucht.20 Die ablehnende Haltung des            Bezüglich des ehemaligen Ostblocks ist
Islam gegenüber Gewalt im Besonderen            anzumerken, dass die sozialistische Unter-
sowie die Verurteilung krimineller Hand-        drückung der Religion im 20. Jahrhundert
lungen lassen sich anhand einschlägiger         mit schwankender Intensität sowohl gegen
Textstellen des Koran klar belegen.21 Kri-      Christen als auch Muslime praktiziert wurde.
minelle Handlungen, insbesondere Ge-              Die Rückfälligkeit bei Russlanddeutschen
waltdelikte, stehen im Widerspruch zu den       und anderen Osteuropäern korreliert heute
Leitlinien des Islam. So wie für Christen       jeweils mit dem Maß, in dem die Herkunfts-
die Bibel, so ist der Koran für Muslime die     regionen von sozialen (z.B. christlichen)
Quelle der Rechtleitung, d.h. Inspiration für   Werten befreit wurden. Prekärerweise er-
gottgefälliges und ethisch gutes Handeln.22     scheinen gerade die Russlanddeutschen in
Noch viel mehr als das Christentum fordert      unserer Studie praktisch gleich rückfällig
der Islam aktiv gelebte Werte im Alltag ein.    wie die in Deutschland Geborenen. In bei-
Deshalb führt ein extremes Laizismus-Kon-       den Fällen sind also die Familien als Trä-
zept, wie es antireligiöse Gesellschaften oft   ger der Wertegemeinschaft nur noch ver-
als Leitkultur vertreten, notwendigerweise      mindert präsent. Bei fehlendem Rückhalt
zu Konflikten mit dem Islam.                    in der Familie oder der Gesellschaft sind
                                                die zu integrierenden Jugendlichen labiler
3.2. SOZIALE VORAUSSETZUN­                      und anfälliger für einen Rückfall.
GEN WICHTIGER HERKUNFTS­                          Bewerkenswert ist, dass die Rückfällig­
REGIONEN                                        keit sogar bei Herkunft aus Osteuropa und
Im Folgenden werden die wichtigsten             der russischsprachigen Herkunftsregion
Herkunftsregionen von Migranten nach            nicht höher ist als bei den Deutschen
Deutschland und Mitteleuropa vor dem            selbst, obwohl man dies in diesen Regio­
Hintergrund der vorliegenden Datenerhe-         nen auf Grund der dort verbreiteten sozi-
bung und Auswertung betrachtet, mit dem         alen Härte, Skrupellosigkeit und erhöhten
Ziel, diese mit möglichen Wirkungsme­           Gewaltbereitschaft eigentlich erwarten
chanismen und generellen Tendenzen ab-          würde. Umgekehrt könnte dies auch ein
zugleichen. Auf eine entsprechende Ana-         Hinweis darauf sein, dass in Deutschland,
lyse für Deutschland und Mitteleuropa           wenngleich dies auf den ersten Blick ak-
selbst muss hier verzichtet werden.             tuell noch nicht immer wahrgenommen
                                                wird, bereits eine derartige soziale Härte
3.2.1. EHEMALIGE SOWJET­                        und Kälte existieren, dass sie entspre-
UNION UND OSTEUROPA                             chende Rückfälligkeitsraten von Jugend-
Unter der atheistisch-materialistischen         lichen produzieren, die mindestens genau
Doktrin des real existierenden Staatssozia-     so hoch sind wie die der aus Osteuropa
lismus erlaubte sich der Staat ideologische     stämmigen Jugendlichen. Dies könnte

                                                                                                  41
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                  auch ein Hinweis darauf sein, dass die so-     tag einer Konsum- und Mediengesellschaft
                  zialen Herausforderungen, die ein zeitlich     zu assimilieren im Stande zu sein scheint.
                  versetzter Zusammenbruch der Sozialsys­        Aspekte sozialer Gerechtigkeit und nach-
                  teme in Europa in Zukunft noch mit sich        haltiger Lebensbedingungen in der Türkei
                  bringen könnte, die des zusammengebro-         bleiben dabei weitgehend auf der Strecke.
                  chenen Staatskapitalismus weit übertref-         Im Zuge eines idealisierten Fehlver-
                  fen könnten.                                   ständnisses von Modernität wurde im­
                                                                 20. Jahrhundert versucht, den Islam in
                  3.2.2. TÜRKEI                                  seiner Gesellschaftswirksamkeit zu mar-
                  In der heutigen Türkei findet man eine         ginalisieren und gleichzeitig dabei die
                  heterogene Gesellschaft vor, die von ver­      türkische Gesellschaft von ihrer Kultur
                  schiedenen widersprüchlichen Strömun­          entwurzelt – unter anderem durch die
                  gen geprägt ist. Immer noch sind jahr-         Einführung einer neuen Schrift. Mit dem
                  hundertealte Clan-Strukturen präsent,          21. Jahrhundert ist die Unterdrückung des
                  wenngleich auch quantitativ weniger            Islams zwar seitens der Regierung von
                  verbreitet als vor Beginn der Moderne,         oben weitgehend aufgehoben, aber in der
                  anderseits sind diese gerade in den neuen      Praxis der staatlichen Organe immer noch
                  politisch-ökonomischen Oligarchien noch        präsent, z.B. mit Repressionen gegen Mus-
                  heute von erheblichem Einfluss. Die aktu-      lime und insbesondere gegen Muslimas,
                  ellen Ausprägungen des Islam haben ein         die z.B. auch an staatlichen Institutionen
                  breites Spektrum, das von einer unverän-       wie Universitäten gerne ein Kopftuch
                  dert-rückständigen Religionspraxis der         tragen würden. Die Repressionen in der
                  bildungsfernen Schichten über ein bürger-      Türkei gehen einher mit Unterdrückung
                  lich-konservatives Religionsverständnis        jeglicher Andersartigkeit, sei diese religiös
                  bis zu einem modernen freiheitlich-demo-       oder ethnisch, durch einen bis heute beste-
                  kratischen Islamverständnis reicht. Seitens    henden Komplex aus Militär, Milizen und
                  der türkischen Oberschicht wurde eine ver-     Polizei.
                  meintlich moderne, säkulare Lebensweise          Diesen Hintergrund muss man insbeson-
                  oberflächlich und unkritisch übernommen,       dere bei türkischen Migranten verstehen,
                  ohne aber dabei auch die zugehörigen           die nach Europa kommen mit der Erwar-
                  tiefer liegenden säkularen Normen Eu­ropas,    tung einer freiheitlichen toleranten Gesell-
                  z.B. hinsichtlich der Menschenrechte, an-      schaft. Wenn man dies weiß, dann ist klar,
                  zunehmen oder gar mit dem gewachsenen          dass es unter diesem gesellschaftlichen
                  Wertegefüge der traditionellen türkischen      Anspruch nicht angehen kann, bestimmte
                  Gesellschaft zu verbinden.                     Kleidungsweisen und Lebensarten vorzu-
                     Dabei orientiert sich das türkische Bil-    schreiben, auch nicht den Muslimen, und
                  dungssystem der Studenten bis heute            insbesondere denen nicht, die aus einem
                  überwiegend an den USA und nur nach-           Land wie der Türkei stammen, in dem die
                  rangig an der europäischen Gesellschaft.       Religion seitens des Staates über mehrere
                  Die Staatsführung selbst propagiert zwar       Generationen hinweg geächtet wurde.
                  offiziell mehr Freiheit, anderseits hat sich     In dem Maße, in dem für türkischstäm-
                  aber zusammen mit der „new economy“            mige Mitglieder unserer Gesellschaft ihre
                  ein neuer türkischer Nationalismus ent-        Akzeptanz lediglich an deren Assimilation
                  wickelt, der gleichermaßen den neotür-         gekoppelt ist, wird auch deren Bedürfnis
                  kischen Islam als formale Ideologie sowie      genährt, sich lieber in einer eigenen Pa­
                  den kapitalistischen Materialismus im All-     rallelgesellschaft einzurichten, was wie-

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derum dem Ziel einer gelebten Integration     kausalen Zusammenhangs zwischen Im-
entgegensteht.                                migration und Religionszugehörigkeit
  Anderseits hat eben gerade die teilweise    einerseits und kriminellem Verhalten an-
erhaltene kulturelle Eigenständigkeit bei     derseits. Im Gegenteil lässt sich feststel-
den türkischstämmigen Migranten dazu          len, dass mit zunehmender Assimilation
geführt, dass die türkische Kultur und die    der Jugendlichen an die aktuelle deutsche
ethisch-religiösen Werte insbesondere im      Gesellschaft deren erneute Straffälligkeit
Kontext der Familie bei dieser Gruppe oft     steigt. Risikofaktoren – wie zerrüttetes El-
bewusster im Alltag gelebt werden als bei     ternhaus und Heimaufenthalte – sind bei
den Türken in den säkularisierten Groß-       deutschem Hintergrund erhöht. Ein Grund
städten der heutigen Türkei.                  hierfür liegt im aktuellen gesellschaft-
  Trotz der derzeitigen Liberalisierung       lichen Umfeld, das den Familienverband
im unpolitischen Bereich ist das Verhält-     eher schwächt als fördert. Somit geht des-
nis der Türkei zu ihren nicht-türkischen      sen präventive Wirkung mit zunehmender
Volksgruppen (z.B. Kurden) weiterhin          Assimilation verloren.
angespannt, anderseits präsentiert sich         Die Religionszugehörigkeit an sich spielt
die Türkei im Äußeren insbesondere ge-        in der Sozial- und Legalprognose keine
genüber den Turkvölkern der ehemaligen        direkte Rolle. Vielmehr sind die sich er-
Sowjetunion nicht nur als verheißungs-        gebenden Zusammenhänge eine Folge der
volles Muster für wirtschaftlichen Erfolg,    mit der Religion verknüpften Werte, so-
sondern erhebt dabei auch den Führungs-       weit diese in der Familie gelebt werden
anspruch unter einem neuen pantürkischen      (können). Gesellschaftliche Akzeptanz und
Nationalismus. Konsequenz ist, dass eth-      Förderung kultureller Selbstbestimmung
nisch nicht-türkische Migranten aus der       der Familien dienen dem Gemeinwohl.
Türkei nach Europa gekommen sind und          Deshalb ist die Mehrheitsgesellschaft
kommen, um hier die kulturelle Freiheit       gut beraten, für gelebte Werte, im Sinne
und Selbstbestimmung als Menschenrecht        des gelebten Pluralismus in den Familien
zu finden.                                    selbst dann offen zu sein, wenn die kultu-
  Umso problematischer ist es, wenn die       rellen oder religiösen Kontexte der famili-
Mehrheitsgesellschaften Europas kaum          ären Werte im Einzelnen, der Mehrheits-
Alternativen zur Assimilation lassen. Die     gesellschaft fremd bleiben. Wesentlich ist
Alternativen, die sich für Migranten aus      lediglich deren positive Rückwirkung auf
der Türkei in Deutschland momentan            den Einzelnen, insbesondere auch in sei-
bieten, beschränken sich entweder auf         nem Sozialverhalten in der Gesellschaft.
Assimilation an die deutsche Mehrheits-       Dies dient der Reduktion der Jugendkri-
gesellschaft oder Assimilation an die Pa­     minalität, der Rückfälligkeit sowie den
rallelgesellschaft der Deutsch-Türken oder    dadurch verursachten materiellen und ide-
die Außenseiterrolle am Rande der Gesell-     ellen Kos­ten für die Gesellschaft. Die Pfle-
schaft. Diese gesellschaftlichen Strukturen   ge und Förderung der Religion als Quelle
gilt es auch hinsichtlich ihrer Auswir-       sittlicher Werte, insbesondere bei Christen
kungen auf jugendliche Straftäter verstärkt   und Muslimen, sowie Schutz und Förde-
zu beleuchten.                                rung der Familien als deren Katalysatoren,
                                              sind hinsichtlich der Prävention von Kri-
4. FAZIT                                      minalität eine vordringliche Aufgabe, die
Die vorliegende Untersuchung widerlegt        diesbezüglich ein grundlegendes Umden-
die verbreitete Hypothese eines einfachen     ken gerade auch in Deutschland erfordert.

                                                                                                43
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1                                               17
  Sarrazin 2010.                                   Giebel et al. 2009.                          Giebel, S. M./Taefi, A. (2009). Ansätze
2                                               18
   http://www.spiegel.de/politik/ausland/          Giebel 2008.                                 zur polizeilichen Prävention bei jugend-
                                                19
0,1518,654249,00.html.                             Siehe z.B. Tügel 2012.                       lichen Straftätern – Jugendstrafvollzug
3                                               20
  Baier et al. 2011.                               Siehe z.B. die Expertenstudie von Paige      und Rückfall, Der Kriminalist (2), 78–81.
4
  Grünewald 2010.                               et al. 2001.                                    Giebel, S./Simonson, J. (2009). Criminal
5                                               21
  Wagner 2011.                                     Siehe auch (Re-)Sozialisierende Leit­        behaviour as the result of ethnic origin,
6
   http://www.diw.de/documents/                 linien des Islam, Giebel/Rainer 2012.           Annales XLI (58), 37–54.
                                                22
publikationen/73/diw_01.c.364398.de/               Siehe z.B. Bobzin 2011, Kapitel 7.           Giebel, S./Rainer, M. (2012). Islam und
10-49-1.pdf.                                                                                    Kriminalität, Der Kriminalist (2), 15–19.
7
   Bundesministerium für Bildung und            Quellenangaben                                  Grünewald, A. (2012). Tötungen aus
Forschung 2010, 7.                              Baier, D./Pfeiffer, C. et al. (2010). Kinder    Gründen der Ehre, Neue Zeitschrift für
8
  http://www.datenschutz.hessen.de/_old_        und Jugendliche in Deutschland: Gewalt­         Strafrecht, Sammelband, 19.
content/tb22/k3p3.htm.                          erfahrungen, Integration, Medienkon-            Jehle, J.-M./Heinz, W./Sutterer, P. (2003).
9
   http://www.bpb.de/themen/6XDUPY,             sum: Zweiter Bericht zum gemeinsamen            Legalbewährung nach strafrechtlichen
0,0,Von_der_GastarbeiterAnwerbung_              Forschungsprojekt des Bundesministeri-          Sanktionen: eine kommentierte Rückfall-
zum_Zuwanderungsgesetz.html.                    ums des Innern und des KFN (KFN-For-            statistik, Mönchengladbach.
10
     http://www.focus.de/politik/               schungsbericht Nr. 109), Hannover.              Paige, G. D./Satha-Anand, C./Gilliatt,
deutschland/20-jahre-wende/christian-           Bobzin, H. (2001). Der Koran – Eine Ein-        S. (eds.) (2001). Islam and Nonviolence,
wulff-der-islam-gehoert-zu-deutschland          führung, München.                               Honolulu.
_aid_558481.html.                               Bundesamt für Migration und Flüchtlinge         Sarrazin, T. (2010). Deutschland schafft
11
    http://www.welt.de/politik/deutschland/     (2009). Muslimisches Leben in Deutsch-          sich ab, München.
article12691814/Innenminister-Islam-            land, Nürnberg.                                 Schobert, A./Jäger, S. (Hg.) (2004). Mythos
gehoert-nicht-zu-Deutschland.html.              Bundesministerium für Bildung und For-          Identität. Fiktion mit Folgen, Müns­ter.
12
    Bundesamt für Migration und Flücht-         schung (2010). Bildung in Deutschland           Tügel, H. (2012). Wie gefährlich ist Reli-
linge 2009, 11.                                 2010, http://www.bildungsbericht.de/            gion? Glaube und Fanatismus, Geo (4),
13
   Winkler 2007.                                daten2010/wichtige_ergebnisse_presse            62–84.
14
   Schobert 2004.                               2010.pdf.                                       Wagner, J. (2011). Richter ohne Gesetz,
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tion und Kriminalität siehe auch Giebel         1996 to 2000, Giustizia minorile (2),           2007.
2009.                                           99–109.

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