Frequenzen für Hirn und Bauch

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Frequenzen für Hirn und Bauch
Frequenzen für Hirn und Bauch | norient.com                            6 Jun 2022 22:17:49

    Frequenzen für Hirn und
    Bauch
    I N T E R V I E W by Thomas Burkhalter

    Die israelische Musikerin Meira Asher regt auf einer radikalen
    CD und in Konzerten mit schockierenden Bildern und
    kompromissloser Musik zum Denken an.

    Dumpfes Dröhnen im Bauch, sirrende Frequenzen in den Hirnwindungen,
    angespannte Ruhe im Saal. «Birkenau, Birkenau, rolls off my tongue like a
    poem now», singt eine Kahlköpfige mit fieser Stimme durch ein verzerrendes
    Mikrophon. Dunkle Gestalten, verhangene Luft, blendende Gegenlichter und -
    projiziert auf zwei Leinwänden – Filmausschnitte mit zerfetzten
    Kriegsopfern, blutigen Operationen, Drogenabhängigen und skandierenden

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    jüdischen Fundamentalisten beherrschen den Raum. Tod, Tod, Tod schreit
    die Sängerin und tut, als schneide sie sich mit dem Schlagzeugstock die
    eigene Kehle durch.

    Die israelische Sängerin Meira Asher erschüttert: sie greift
    Erwartungshaltungen vor, verleitet zum Nachdenken und fabriziert Sounds
    für Hirn und Bauch. Norient hat sich mit der radikalen Künstlerin über ihre
    Projekte, über Israel und den Holocaust unterhalten. Meira Asher zeigt sich
    dabei als eine sympathische und intelligente Persönlichkeit, die ihr
    Gegenüber mit zwei wachen blauen Augen mustert und interessiert zuhört.

    [Thomas Burkhalter]: Meira Asher, sind Sie eine Friedenssängerin?

      [Meira Asher]: Nein, überhaupt nicht. Ich bezeichne mich weder als
      Sängerin noch singe ich für den Frieden. Beide Begriffe, Sänger und
      Frieden, sind äusserst limitiert: meine Stimme verwende ich für
      musikalische Zwecke, und Frieden ist sehr generell – was ist Frieden?

    [TB]: Ihre CD Spears into hooks ist radikal und schockierend. Was wollen Sie
    mit Ihrer Musik ausdrücken?

      [MA]: Ich verlagere den Holocaust und den Palästina-Konflikt in meine
      Musik und auf die Bühne, und ich versuche meine Erfahrungen und
      Gedanken dazu authentisch und wirklichkeitsnah darzustellen. Meine
      Stücke spielen im Krieg, finden in einem Konzentrationslager statt oder
      stecken in einem Attentäter drin. Ich will Menschen zum Denken anregen
      und sie weder mit leuchtenden Visionen noch mit plumpen Schreien nach
      Menschenrechten überfahren - um weiterzukommen, muss man
      traumatische Erlebnisse verarbeiten. Erst wenn man sich mit grauenhaften
      Erlebnissen auseinandersetzt, sich beispielsweise wie ich mit dem
      Holocaust beschäftigt hat und dessen Horror in den Genen trägt, kommt
      man weiter. Ich war bei einer Besichtigung des KZ Sachsenhausen nicht
      einmal mehr geschockt, als ich durch die einstigen Leichenhallen wanderte
      – so erschreckend es klingt: der Gang in ein KZ war für mich fast normal.

    [TB]: Mit den schönen Melodien, mit der indischen und afrikanischen
    Perkussion Ihrer ersten CD Dissected (RecRec) haben Sie 1997 am Paléo
    Fetival in Nyon begeistert. Ihr zweites Album ist nun alles andere als schön.

      [MA]: Schönheit ist relativ und individuell. Ich messe meine Musik nicht an
      ihrer Schönheit, sondern allein an ihrer Realitätsnähe. Mich interessiert die
      authentische und realistische Umsetzung meiner Gefühle. Ausserdem habe
      ich mich verändert; ein Künstler sollte nie auf seinem Status Quo sitzen
      bleiben. Je mehr sich ein Künstler – und auch ein Mensch – wandelt, desto
      besser ist es für ihn.

    [TB]: Wie reagieren die Zuschauer auf Ihre Auftritte?

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      [MA]: Mit einer radikalen Performance erfährst du die Mentalitäten der
      Menschen in den verschiedenen Weltgegenden am eigenen Leib: Italiener
      reagieren komplett anders als Franzosen oder Belgier. Einige Zuschauer
      können mit dem Dargebotenen nicht umgehen, sie sind schockiert, hören
      nicht zu und rennen weg. Andere zeigen sich beeindruckt von der Kraft
      meiner Musik und stellen sich den reproduzierten Realitäten.

    [TB]: Welcher Zuhörer ist Ihnen lieber? Vielleicht ist ja gerade derjenige, der
    den Saal verlässt, der wahre Pazifist.

      [MA]: Es gibt viele Beispiele dafür, dass Menschen in realen Kriegen nicht
      so schnell flüchten – oft bleiben sie sogar zu lange. Als Künstlerin
      bevorzuge ich natürlich die Leute, die bleiben – es ist nicht sehr interessant
      mit Abwesenden zu sprechen. Es liegt in der Natur meines Projektes, dass
      Zuschauer den Saal verlassen – es ist nicht mein Hauptanliegen sie bei
      guter Laune zu halten. Meine Lieder handeln nicht nur vom Leben, sondern
      auch vom Tod. Diejenigen, die weglaufen, wollen weder mit starken
      Gefühlen noch mit dem Krieg konfrontiert werden und verschliessen ihre
      Augen.

    [TB]: Wie definieren Sie Erfolg?

      [MA]: Erfolg heisst für mich, dass ich die Möglichkeit habe, meine
      Emotionen und meine Botschaften einem grösseren Publikum mitzuteilen.
      Ich will jedem Einzelnen etwas mit auf den Weg geben und im Idealfall sein
      Verhalten verändern. Auf meinem ersten Album sang ich Hebräisch, jetzt
      habe ich ins Englische gewechselt, weil mir wichtig ist, dass meine
      Botschaften ankommen. Ich lasse meinen Hörern allerdings die
      Gedankenfreiheit. Es ist nicht meine Aufgabe, Antworten zu geben. Ich will
      verwirren und für Anstösse sorgen.

    [TB]: Was waren die Gründe für Ihren Umzug von Tel Aviv nach Berlin?

      [MA]: Ich finde es interessant, in dem Land zu leben, wo vor fünfzig Jahren
      der Holocaust in Gang gesetzt worden ist. Ausserdem ist Berlin eine sehr
      spezielle Stadt, die viele Veränderungen mitmacht – auch eine Stadt sollte
      sich wandeln; ich kann schlafende Orte nicht leiden. Ich habe Berlin auch
      gewählt, weil ich den Klang der deutschen Sprache liebe. Wahrscheinlich
      werde ich aber bald wieder weiterziehen, denn ich kann nie sehr lange an
      einem Ort wohnen – ich bewege mich gern.

    [TB]: In einem Interview haben Sie den jüdischen Holocaust mit dem
    Palästina-Konflikt gleichgesetzt. Stimmt diese Aussage?

      [MA]: Nein, ein solcher Vergleich ist unsinnig. Beobachtungen zeigen aber,
      dass ein Volk, an dem ein Genozid verübt worden ist, später zu ähnlichen
      Greueltaten neigt. Wenn Menschen ihre Traumas nicht verarbeiten, neigen
      sie dazu sich zu rächen – wenn Kinder, die in ihrer Kindheit geschlagen

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      worden sind, die Gewalt ihrer Eltern weder erkennen noch verarbeiten,
      verprügeln sie später ihre Kinder. Es darf nicht sein, dass jüdische Israeli
      den Holocaust dazu benützen, sich für ihren Umgang mit den
      Palästinensern zu entschuldigen. Der Vergleich Holocaust und Palästina-
      Konflikt taugt also höchstens dazu, gewisse Situationen erklärbarer zu
      machen; es liegt in der menschlichen Natur, dass wir in unserer
      Lernfähigkeit limitiert sind. Die Juden machen natürlich nicht dasselbe mit
      den Palästinensern, wie die Deutschen vorher mit ihnen gemacht haben; es
      gibt keine Konzentrationslager, wenn auch die Flüchtlingslager teilweise
      ähnlich aussehen. Die Beziehung der Deutschen zu den Juden lässt sich
      nicht mit der zwischen den Juden und den Palästinensern vergleichen.

    [TB]: Obwohl viele junge Israelis dem Friedensprozess positiv
    gegenüberstehen und auch einen palästinensischen Staat befürworten,
    bekommt man in Israel oft den Eindruck, dass sie nicht mit dem Konflikt
    konfrontiert werden möchten und keine grosse Ahnung davon haben, wie die
    Palästinenser in den besetzten Gebieten leben. Sie wollen Frieden, weil sie
    genug vom Krieg haben.

      [MA]: Viele Juden gehen nicht nach Ostjerusalem oder in die besetzten
      Gebiete, weil sie dort nicht erwünscht sind und weil sie respektieren, dass
      diese Gebiete den Arabern gehören. Es gab Zeiten, da bin auch ich nicht in
      den arabischen Teil der Stadt gefahren, weil ich die Palästinenser dort
      respektiere. Man braucht nicht vor Ort zu fahren, um Betroffenheit zu
      signalisieren. Ich fühle die Spannungen in Israels bereits in den Menschen -
      in ihrem Benehmen, in ihrer fehlenden Geduld. Die Israelis sind unfähig
      miteinander umzugehen, und dies ist nicht nur zwischen den Palästinensern
      und den Juden so, sondern zwischen allen Bewohnern dieses
      multikulturellen Staates. Die Juden, die aus der arabischen Welt nach Israel
      gekommen sind, haben völlig andere Ansichten und eine andere Mentalität
      als die amerikanischen und europäischen Juden. Bis heute haben sich die
      beiden Gruppen kaum annähern können. Ich denke, in ein paar Jahren wird
      es einen israelischen und einen palästinensischen Staat geben. Ich sehe
      keinen anderen Weg.

    [TB]: Wäre nicht auch eine Föderation mit autonomen Teilstaaten eine
    Möglichkeit?

      [MA]: Schon, aber nicht eine sehr realistische. Ich kann mir nicht vorstellen,
      dass all diese verschiedenen Interessengruppen unter einem Dach hausen
      könnten; ich beispielsweise kann nicht mit orthodoxen Juden
      zusammenleben. Es braucht zwei separate Länder. In einer Föderation
      würde man es auch verpassen, dass mit Palästina endlich ein
      demokratischer arabischer Staat entstehen könnte.

    [TB]: Was beschäftigt Sie sonst noch?

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      [MA]: Ich liebe Kinder, und ich arbeite in Israel oft mit ihnen zusammen. Die
      kleinen Geschöpfe sind das beste, ehrlichste und cleverste Publikum
      überhaupt. Die Tragödie der Welt sehe ich darin, dass Sprösslinge, wenn sie
      älter werden, die ganze Scheisse der Menschheit infiltriert bekommen.

    → Published on February 20, 1999

    → Last updated on August 21, 2020

    Thomas Burkhalter is an anthropologist/ethnomusicologist (PhD), AV-artist, and
    writer from Bern (Switzerland). He is the founder and director of Norient, the Norient
    Space (Norient.com), and the founder and strategic director of the Norient Film
    Festival (NFF). He co-directed documentary films (e.g. “Contradict”, Berner
    Filmpreis 2020 + Al-Jazeera Witness) and AV/theatre/dance performances, is the
    author and co-editor of several books, teaches regularly at universities, and runs
    workshops for arts institutions. His experimental radio feature, «Gqom Edits – A
    Durban Visit», was nominated for Prix Europa in 2017. Currently, he is working on a
    new music project, and on the experimental podcast series’ Timezones and South
    Asian Sound Stories with musicians from the UK, Bangladesh, India, and Pakistan.

    → Topics

                Activism
                Belonging
                 Ethics
                 Protest
                All Topics

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