Friedrichs Wilhelm - Sputnik V Zwischenruf

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Friedrichs Wilhelm - Sputnik V Zwischenruf
- kritisches überparteiliches Campusmagazin -

                                                                         No. 70
 Friedrichs                                                             13.04.21
 des

 Wilhelm
  Zeitschrift für alle Fakultäten

  Sputnik V                         Zwischenruf Superwahljahr
Woher kommt das Misstrauen?         Start unserer neuen Kolumne   Wirklich so super?
Friedrichs Wilhelm - Sputnik V Zwischenruf
Editorial                                                     In dieser Ausgabe

Willkommen zurück liebe Leser:innenschaft,                    Wissenschaft
                                                              Warum wir Vakzinen aus Ost und
                                                              Fernost misstrauen                        3
„Des Friedrichs Wilhelm“ startet in das nächste digi-
tale Semester mit einer Ausgabe, die keine größere            Gesellschaft
Themenvielfalt bieten könnte. Ihr überbrückt Pausen           Digitales Detox – wie effizient
zwischen Online-Meetings mit eurem allgegenwärti-             man sein kann                             6
gen Smartphone und fragt euch, ob man wirklich
irgendwann eckige Augen bekommen kann? Einer                  Gesellschaft/Studium
der zwei Gastartikel dieser Ausgabe bietet euch die           Rassismusvorwürfe
Lösung: Einfach mal nicht auf die Bildschirme zu              an der Uni Bonn                           8
beharren, schlägt Dorit vor und zeigt uns, wie es auch
ohne geht. Wer jetzt schon die ersten Wahlergeb-              Umwelt
nisse mitverfolgt und sich fragt, wie es wohl weiter-         Finning – auch in Europa
geht, findet in Milans Artikel über das Superwahljahr         eine Bedrohung                            11
Zuflucht und wer sich fragt, wie es mit uns weiter-
geht, ist bei Helene aufgehoben. Sie macht den Auf-           Politik
takt zu ihrer eigenen und der ersten Kolumne des              Superwahljahr 2021                        13
FWs, in der sie bemerkt hat, dass ausgeglichene
Kommunikation leider rar geworden ist. Ebenfalls rar          Gesellschaft
werden immer mehr Haiarten in den Weltmeeren                  Ein Text darüber, wie
und die EU trägt leider ihren Teil dazu bei. Für mehr         Kommunikation nicht klappt                16
Information empfehle ich den Gastartikel von
Michael. Und da das Thema nicht mehr wegzudenken
ist, gewährt euch Sam außerdem noch einen Einblick
in andere Impfstoffe als Astrazeneca und Co und               Zum Titelbild
unsere fragwürdige Haltung dazu.
    Wie ihr seht, habe ich nicht zu viel versprochen, was     Deutschland einen Vogel: Das Rot-         Schlagzeilen auftaucht. Garniert mit
die Themenvielfalt unserer Auftaktausgabe angeht. Ob ihr      kehlchen. Erstmals wurde es zum           ungerechtfertigtem Misstrauen? Lest
                                                              „Vogel des Kahres” von NABU und LBV       selbst!
unsere Artikel nun querlest oder euch die Themen aus-         bestimmt und darf es bei uns mit dem
sucht, die euch besonders interessieren, wir sind froh,       Virus aufnehmen. Unterstützung be-
wieder gelesen werden zu können und hoffen auch, bald         kommt es hierbei von Sputnik. Wel-        Quellen:

wieder in Mensen, Hörsälen und Cafés zu liegen.               cher nicht nur der erste Erdsatellit im   Спутник - 1 | azlan (Sketchfab)
                                                              All war, sondern auch in den aktuellen    ZBrush Sculpt 2: Robin | cedes (Sketchfab)

Bleibt gesund,

eure Melina

                                                              Impressum
                                        Melina Duncklenberg

                                                              Redaktion:                                V.i.S.d.P.:

                                                              Jan Bachmann                              Jonathan Andraczek
                                                              Ronny Bittner                             Vorsitz | AStA der Universität Bonn
                                                              Melina Duncklenberg
                                                              Helene Fuchshuber                         Kontakt: fw@asta.uni-bonn.de
                                                              Samuel F. Johanns
                                                              Milan Nellen                              www.asta-bonn.de
                                                              Julia Pelger                              facebook.com/AStA.UniBonn
                                                              Tom Schmidtgen
                                                              Clemens Uhing                             Die Redaktion behält sich Abdruck
                                                                                                        und Kürzungen von Artikeln und
                                                              Figuren & Rückseite:                      Leserbriefen vor.
                                                                                                        Namentlich gekennzeichnete Artikel
                                                              Jan Bachmann
                                                                                                        geben nicht unbedingt die Meinung
                                                                                                        der Redaktion wieder.
                                                              Titelbild:
                                                              Samuel F. Johanns (Montage)                          Die nächste Ausgabe erscheint
                                                                                                                                am 27. April 2021
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Friedrichs Wilhelm - Sputnik V Zwischenruf
Essay
                 Im Osten was
                  Neues! Hilfe!
                 Warum wir dem fremden Produkt misstrauen.

V
       orbehalte gegen Medizinprodukte        bis zum Beweis des Gegenteils? Woher          und es wurde vermutet, Herstellerunter‐
       aus Russland und Fernost prägen        dieses Misstrauen und was ist daran?          nehmen würden sicherheitsrelevante Test‐
       unser unbewusstes Denken und                                                         phasen hintenanstellen. Generell spielt bei
Urteilen quasi ständig. So auch in dieser                   Grund 1:                        Russland und China das Profil ihrer politi‐
Pandemie. Sie sind in verschiedenen Ursa‐           Vermutete Skrupellosigkeit              schen Verfasstheit in die Bewertung der
chen begründet, sei es bei Impfstoffen                                                      Qualität ihrer Produkte mit hinein. Es
oder dem FFPNaja2-Masken-Äquivalent           Was das russische Vakzin Sputnik V            schwingt ein Hauch von Bereitschaft im
KN95. Die Grundhaltung ist dabei immer        angeht, so machte viele sicher die ausge‐     Kopf mit, die Wirkstoffe könnten nach
die prinzipiellen Misstrauens in die Quali‐   sprochen rasche Entwicklung des Impf‐         dem Prinzip und als Ausdruck dessen
tät. Garantiert Schrott oder ungefährlich     stoffs stutzig. Auch stand er in der Kritik   funktionieren, wie ein Staatssystem im

                                                                                                                          FW 70 | Seite 3
Friedrichs Wilhelm - Sputnik V Zwischenruf
Groben den Menschenrechten gegenüber            unsicheres und gefährliches Medizinpro‐       reich verabreicht wurde, über Umwege zu
eingestellt ist: Skrupellos, kollektivistisch   dukt auf ihre eigenen Bevölkerungen los‐      besorgen, nachdem Adenauer ein Angebot
und mit der Bereitschaft hoher Kollateral‐      lassen und sich damit im Vergleich mit der    zur „Entwicklungshilfe“ ausgeschlagen
schäden.                                        gesamten Welt deutlich schwächen wür‐         hatte, auch damals mit Verweis auf eine
                  Grund 2:                      den. Dass die Impfstoffentwicklung in ver‐    angenommene Unsicherheit des Wirk‐
        Das Erbe des Sozialismus                schiedenen Regionen der Welt unter‐           stoffs. Hier ist anzumerken, dass ein Infek‐
                                                schiedlich schnell vonstatten geht, kann      tionsrisiko durch den Lebendimpfstoff in
Ein anderer Aspekt, der in das Image der        viele unterschiedliche strukturelle Gründe    keinem Verhältnis zu den Opfern der Ent‐
Produkte hineinspielt, ist die Hinterlassen‐    haben. Faktisch erweisen sich die wissen‐     scheidung stand, den wirksameren Impf‐
schaft aus der Zeit des real existierenden      schaftlichen Werte von Sputnik V nämlich      stoff nicht anzuwenden.
Sozialismus. In der allgemeinen Wahrneh‐        als durchaus sehr vielversprechend. Nach          Auch andere soziale und medizinische
mung prägt das Bild von Zerfall und wirt‐       einer in The Lancet veröffentlichten Studie   Errungenschaften „des Ostens“ werden erst
schaftlicher Insuffizienz das Bild von dem,     wird dem Vakzin nämlich eine Wirksam‐         heute, wo man sich von den eigenen roman‐
was wir heute von den (ehemaligen) Staa‐        keit von 91,6% attestiert, womit das Mittel   tisch-ideologisch verklärten Anschauungen
ten des real existierenden Sozialismus          mindestens ebenso effizient arbeiten soll     zunehmend distanziert hat, in ihrer Bedeu‐
haben. Dem der kapitalistischen Gesell‐         wie die Stoffe der Unternehmen Moderna        tung erst bewusst. So gilt das Polyklinik-
schaftsform inferior gegenüberstehenden         und BionTech/Pfizer. Zudem soll Sputnik       Prinzip der DDR heute oft als Ideal ambu‐
Gesellschaftssystem sind nach Ansicht           V auch bei alten Menschen problemlos          lanter städtischer Patientenversorgung
vieler Menschen einfach keine höheren           eingesetzt werden können, einfach zu          und wünschenswerte praktische Alternati‐
Leistungen im Bereich der Medizin und           lagern sein und, man möchte sich ja           ve zum Flickenteppisch spezialisierter
Forschung zuzutrauen.                           eigentlich nicht am allgemeinen Bashing       Arztpraxen. Die Versorgungssituation mit
                                                beteiligen, durch die Verwendung von          KiTa-Plätzen, als aktuelles sozialpoliti‐
               Grund 3:                         zwei Virentypen als Vektorimpfstoff sogar     sches Reizthema ist bis heute in den neuen
       Massenhafte Billigprodukte               solider arbeiten als das Mittel von Astra     Bundesländern besser als in den alten, in
                                                Zeneca.                                       der die traditionelle Rolle der Frau eine
Der vielleicht unmittelbar offenkundigste           Es ist bei einer Zulassung für die EU     solche Infrastruktur nicht notwendig oder
Hintergrund, der das Bild des prinzipiell       dennoch zu erwarten, dass Sputnik V mit       wünschenswert machte.
nicht-westlichen Schrottproduktes prägt,        diffusen Vorbehalten zu kämpfen haben             Bei all seinem dystopisch anmutenden
mag das real existierende, nicht-westliche      wird.                                         Einsatz zur totalen Überwachung kann
Schrottprodukt sein. Schon vor der Zeit             Was die vermutete Insuffizienz der        man zu guter Letzt, aus einem Land, in
von Aliexpress überschwemmte Einweg-            „kommunistischen Staaten“ in Bezug auf        dem Jens Spahn es als Erfolg verbucht,
Nippes aus China den Markt. „Made in            Wissenschaft und Forschung angeht, so         dass Ergebnisse nun nicht mehr per Fax im
China” wurde damals zum diametralen             desillusioniert einen die Geschichte und,     Gesundheitsamt ankommen und von Hand
Gegensatz des Qualitätskriteriums „made         was China angeht, auch die Gegenwart          übertragen werden müssen, durchaus mit
in Germany”.                                    hinsichtlich der Richtigkeit der eigenen      Neid nach China und seiner Digitalisie‐
                                                Vorurteile. So war die UDSSR den westli‐      rung schauen. Dass chinesische Produkte
        Eine rationale Einordnung               chen Staaten in Fragen des technologi‐        hierzulande oft von niedriger Qualität
                                                schen Fortschritts im eigentlichen Sinne      sind, hat weniger damit zu tun, wozu ein
Wenn wir uns mit den gerade angesproche‐        nie unterlegen. In Fragen von Raumfahrt,      Land in Fragen der Technologie fähig ist,
nen Anschauungen und Glaubenssätzen             Astronomie, Waffentechnik und Medizin         sondern womit sich aus der weltwirt‐
konfrontiert sehen und sie auch bei uns         brach die UdSSR regelmäßig Rekorde.           schaftlichen Perspektive gerade schlicht
selbst bemerken, dann sollten wir uns ver‐      Was explizit die Virologie und Impfstoff‐     am besten Kapital generieren lässt. Es gibt
gegenwärtigen, dass wir vorgeprägt sind         forschung angeht, ist hier der Kampf          keinen rationalen Grund zur Annahme,
von den generellen nationalen Stereoty‐         gegen Polio zu nennen, den russische Viro‐    dass ein Vakzin „made in China” notwen‐
pen, die wir bezüglich der Herkunft eines       loginnen und Virologen mit einer hoch‐        digerweise von niedrigerer Qualität sein
Produkts internalisiert haben. Eine ratio‐      effizienten Schluckimpfung in den 50er        muss als ein Produkt aus Deutschland oder
nale Einordnung des für wahr Geglaubten         Jahren effektiver führten als „der Wes‐       den USA. ‖ Samuel F. Johanns
kann hier durchaus nachdenklich stim‐           ten“, sodass sich schließlich einige Bun‐
men. So lässt sich die Frage stellen, warum     desländer der BRD gezwungen sahen, den
Russland und China ein potentiell extrem        Schluckimpfstoff, der in der DDR umfang‐

» Dass chinesische Produkte hierzulande oft von niedriger
Qualität sind, hat weniger damit zu tun, wozu ein Land in
Fragen der Technologie fähig ist, sondern womit sich aus der
weltwirtschaftlichen Perspektive gerade schlicht am besten
Kapital generieren lässt. «

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Friedrichs Wilhelm - Sputnik V Zwischenruf
Kommentar
Einfach mal
   nicht!

    Die effizienteste Art,
 der Effizienz zu entfliehen.
Friedrichs Wilhelm - Sputnik V Zwischenruf
stress as usual                                                                                                                                                       Wer viele Sachen gleichzeitig macht, macht am
    Ich bin gestresst.                                                                                                                                                Ende gar nichts.
    Einer der Stressfaktoren ist, dass ich alles gleichzeitig                                                                                                             Deshalb jetzt der Umkehrschluss: Wenn ich mal gar
mache.                                                                                                                                                                nichts mache, mache ich dann vielleicht mal etwas wirk‐
    Ich höre Podcasts während des Einkaufens von stuff,                                                                                                               lich?

                                                                »Keine Monitore, kein Handy, kein Nichts. 24 Stunden. Hab einfach alles abends um 9 ausgeschaltet.«
den ich eigentlich schon zu Hause habe, aber aus dem                                                                                                                      Die Challenge (nur so klingt es wieder postable und
Produkt der Rechnung Unaufgeräumtheit x Zeitmangel                                                                                                                    cool):
gerade nicht wiederfinde.                                                                                                                                                 DIGITAL DETOX.
    Immer noch „ganz wichtige Konversationen“ auf den                                                                                                                     Keine Monitore, kein Handy, kein Nichts. 24 Stunden.
Ohren, dann von der Mail-App (nur Spam und 1 Wichti‐                                                                                                                      Hab einfach alles abends um 9 ausgeschaltet. Mor‐
ge, die ich aber nicht anklicken möchte, weil dann der                                                                                                                gens aufgestanden, weil mich die Sonne geweckt hat und
rote ungelesene Punkt verschwindet und ich sie wieder                                                                                                                 nicht das unheilvoll klingende Gedröhne der Wecker-
vergessen würde) schnell wechseln zu der App mit der                                                                                                                  App.
Payback-Karte und kurz noch den Ton ausstellen, falls die                                                                                                                 Bisschen ungewohnt, nicht zu wissen, wie spät es ist,
Kassenfachkraft was fragt. Man ist ja noch höflich und so.                                                                                                            aber das sollte mich nicht interessieren. Heute ging es
Deshalb auch maximales Tempo beim schweißtreibenden                                                                                                                   nicht darum, jede Minute produktiv zu nutzen und zu
Einstecken der Sachen, während schon der nächste                                                                                                                      verplanen.
Kunde zahlt.                                                                                                                                                              Tee getrunken, Gedanken mal zu Ende gedacht und
                                                                                                                                                                      dann sortiert. Gelesen.
    eingebildete Effizienz                                                                                                                                                Mein Zimmer, dass sich als physische Gestalt meiner
    Das muss aufhören. Wenn ich nach Hause komme,                                                                                                                     schlechten Angewohnheit alle Tabs aufzulassen, heraus‐
sehe ich schon meinen Schreibtisch mit Post-its überfüllt,                                                                                                            gestellt hatte, endlich aufgeräumt und kerngereinigt.
tausend To dos, die ich noch nicht gemacht hab, weil mir                                                                                                                  Alle unwichtigen alten Blätter aus meinem College‐
alles Einzelne so essenziell schien, dass ich es gerade                                                                                                               block rausgetrennt, jetzt passt auch endlich mal wieder
nicht bearbeiten kann, sondern besser später; wenn ich                                                                                                                alles ins Regal, ohne das zwei ungeöffnete Briefe von der
Zeit und Konzentration dafür hab. Spoiler: Die Zeit                                                                                                                   Krankenversicherung in den dunklen Spalt zwischen
kommt nicht.                                                                                                                                                          Regal und Wand fallen.
    Ich mache so vieles gleichzeitig, weil man von allen                                                                                                                  Kurz stolz gewesen.
Seiten die Effektivität und Effizienz prophezeit bekommt,                                                                                                                 Dann erschöpft ins Bett gefallen.
gepaart mit Lifehacks, „wie du 3 Minuten Zähneputzen                                                                                                                      Dann Verwunderung: Hätte jetzt safe mindestens eine
nebenbei sinnvoll nutzt“. Die Ironie? Das Video dauert                                                                                                                5-Minuten Sprachnachricht von Freund:innen angehört,
schon 10 Minuten, die ich verklatscht und mit zusam‐                                                                                                                  und danach kurz Insta gecheckt, um alle Stories hektisch
mengekniffenen Augen vor dem Miniaturbildschirm mei‐                                                                                                                  rechts weiterzuklicken.
nes Handy verbringe.                                                                                                                                                      Aber irgendwie fehlt mir das gerade gar nicht.
    Bin als mein persönlicher Efficiency Consultor so ver‐                                                                                                                Überlege lieber, ob ich spontan nach draußen gehe
tieft in die Rechnung minimalster Zeitaufwand x absolute                                                                                                              (auf die Gefahr hin, dass ich die falsche Jacke anziehe,
Geschwindigkeit = maximale Produktivität, dass ich gar                                                                                                                weil ich das Regenradar nicht überprüft habe). Entschei‐
nicht merke, wie ich mir die angeblich gewonnene Zeit                                                                                                                 de mich deswegen, lieber weiterzulesen. Am Ende des
schon wieder durch die bekannten Apps rauben lasse.                                                                                                                   Tages habe ich das Buch durch.

FW 70 | Seite 6
Friedrichs Wilhelm - Sputnik V Zwischenruf
Vielleicht hätte ich den Text „how to read 1 book in 1

                                                               »Aber die Zeit ist plötzlich viel mehr wert. Wenn ich jetzt etwas tue, dann tue ich es ganz.«
day“ betiteln sollen, aber das klingt zu prätentiös.
    Langsam wird es dunkel und ich beschließe, dass ich
müde bin. Nehme mir Zeit fürs Zähneputzen (mit Zahn‐
seide, heftig), skincare und schlafe direkt ein.
    Am nächsten Tag wache ich mit der Erkenntnis auf,
dass die Sonne etwa auf 9 Uhr steht. Werde erstmal rich‐
tig wach, mach mir still einen Kaffee und schalte vorsich‐
tig das Handy an. Die paar Nachrichten sind schnell
beantwortet, auf Insta hab ich keine Lust. Leg‘s wieder
weg und widme mich - zu meiner eigenen Überraschung-
der Krankenversicherung.
    Ohne es mir vorzunehmen oder extra in Einstellungen
die Bildschirmzeit für manche Apps zu reduzieren, bin ich
auch am nächsten Tag nur eine knappe halbe Stunde am
Handy.
    Das macht drei Stunden mehr am Tag, die ich mich
nicht von der virtuellen Unwirklichkeit betäuben lasse.
Aber um Gottes willen, ich fange deswegen nicht an,
plötzlich mehr Sport zu machen oder ein neues Hobby
oder so.
    Ich nehme mir einfach nur mehr Zeit für alles.
    Zeit, die ich auch brauche, weil es obviously länger
dauert, erst in Ruhe zu essen und danach mit Freund:in‐
nen zu facetimen.
    Aber die Zeit ist plötzlich viel mehr wert. Wenn ich
jetzt etwas tue, dann tue ich es ganz. Verschiebe nichts
unter Vorbehalt späterer Motivation, sondern erledige es
komplett.
    Alles hintereinander. Alles zu seiner Zeit.
    Zeit, die ich übrigens nicht mehr mit getaktetem
Wecker und minutengenauer Planung verbringe, sondern
die anders verläuft und mir dieses eine Mal nicht wie
sonst üblich wegzurennen scheint.
    Man muss dazu sagen, dass digitaler Minimalismus in
Wahrheit ziemlicher Luxus ist. Besonders mit Online-Uni
und Lockdown ist es schier unrealisierbar, allen Monito‐
ren oder dem Internet als Ganzem zu entsagen. Meine 24
hours of digital detox musste ich im Voraus planen, an
einem Tag in den Semesterferien ohne dringende Termi‐
ne. Das ist eigentlich eine Seltenheit, genauso wie das
Verständnis von Leuten, wenn man mal nicht erreichbar
ist. Meinem engsten Kreis habe ich natürlich vorher
Bescheid gesagt. Keine Lust, am nächsten Tag zehn unbe‐
antwortete Anrufe von Mutti und den Personenschutz vor
der Haustür zu haben.
    Dann fällt mir auf, dass ich als Efficiency-Planer ohne‐
hin nicht tauge.
    Um nach der oben benannten Formel zu rechnen, feh‐
len mir die Grundlagen simpler Mathematik: Wenn ich
am Tag vorher um 9 Uhr abends mit 24 hours of digital
detox anfange, dann sind um 9 Uhr morgens am Tag nach
dem Detox sogar schon 36 Stunden vergangen. Dafür
benutze ich sonst immer die Taschenrechner- App.
    Ups. Naja, macht nichts.
     ‖ Dorit Selting (Gastbeitrag)

                                                                                                                                                               FW 70 | Seite 7
Friedrichs Wilhelm - Sputnik V Zwischenruf
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                  Foto: Samuel F. Johanns
Friedrichs Wilhelm - Sputnik V Zwischenruf
Bericht
                   Rassismus in
                    der Lehre?
                     Auf Instagram sind Vorwürfe gegen einen
                      Professor der Soziologie laut geworden

A
       m 09. Und 11. März veröffentlich‐       Studierende den Professor in einer Sprech‐     Anlaufstelle für Rassismus gibt. Dass ein
       ten die KriPS auf Instagram zwei        stunde angesprochen und gebeten hatten,        strukturelles Problem, losgelöst von ein‐
       Posts. Die KriPS, das sind die kriti‐   Texte des Soziologen Auguste Comtes ein‐       zelnen Dozierenden, vorliegt. Und dass
schen Politolog:innen und Soziolog:innen       zuordnen und zu den rassistischen Formu‐       institutionelle Maßnahmen und Einrich‐
der Uni Bonn. Das Thema der Posts: Ras‐        lierungen Comtes Stellung zu beziehen,         tungen, vielleicht gar der Wille zur Rassis‐
sismus in der Lehre.                           wurde der Diskurs von ihm im Keim              mus-Bekämpfung und Aufarbeitung an
Genauer gesagt beschäftigte sich ersterer      erstickt. Comte sei Kind seiner Zeit und       Universitäten viel zu oft fehlt.
mit der Art, wie Rassismus nicht-themati‐      außerdem könnte man den Studierenden
siert und dadurch reproduziert wurde und       im Gegenzug Humanrassismus vorwerfen.          Zu hoffen ist jetzt, dass die Posts der KriPS
der zweite beinhaltet einen konkreten Ras‐     Der zweite Vorwurf erscheint härter,           nicht zum Canceln des Professors führen,
sismusvorwurf.                                 lautet Rassismus. Dafür wurden Teile           sondern einen Diskurs eröffnen. Einen uni‐
    Mensch mag nun von der Veröffentli‐        einer Vorlesung transkribiert und ein Aus‐     weiten, vielleicht sogar uniübergreifenden
chung solcher Vorwürfe auf Instagram           schnitt einer Folie gezeigt. Die Quintes‐      Stein ins Rollen bringen. Denn Rassismus
(oder sonst einem sozialen Medium)             senz dieser Slides: es gibt Rassismus und      geht über einzelne Vorlesungen hinaus, ist
halten, was er will. Die Darstellung kann      Sexismus am Lehrstuhl Soziologie in Bonn.      ein strukturelles Problem. Wichtig wäre,
in einem solchen Rahmen nur zugespitzt                                                        dass diese Posts als Auslöser für Verände‐
sein. Aussagen werden entkontextuali‐          Ersteren Vorwurf betreffend muss sich          rungen genutzt werden.
siert. Eine Gegendarstellung kriegt oft        darauf zurückbesonnen werden, dass Uni‐
keinen Raum. – Rassismus an Universitä‐        versitäten Orte des akademischen Austau‐       Mittlerweile gab es weitere Gespräche
ten ist jedoch ein Thema über das drin‐        sches auf Augenhöhe sind. Im besten Falle      zwischen dem Professor und den KriPS
gend gesprochen werden muss!                   sollten dafür keine medialen Veröffentli‐      und Studierenden. Da diese jedoch nicht
                                               chungen nötig sein, sondern eine solche        öffentlich stattgefunden haben und nur
Für die Auseinandersetzung und Aufarbei‐       Diskussionskultur normal.                      intern, bzw. zwischen betroffenen und
tung muss zwischen zwei Diskussionen                                                          Hochschul-Gruppen, kommuniziert wur‐
differenziert werden, dem Umgang von           Zweiterer Vorwurf wiegt vielleicht schwe‐      den, wollen wir hier eine Plattform bieten
Professor:innen und Studierenden, sowie        rer, könnte zu Konsequenzen für den Pro‐       und eine größere Öffentlichkeit schaffen:
Rassismus in der Lehre:                        fessor führen. Die KriPS solidarisieren sich   Wenn ihr Meinungen zum Thema habt,
    Denn Vorwurf Nummer eins ist in            damit mit Forderungen von @unirassis‐          schreibt uns per Mail an fw@asta.uni-
erster Linie der Vorwurf der Nicht-Kom‐        muskritisch. Sie machen darauf aufmerk‐        bonn.de! ‖ Helene Fuchshuber
munikation und Einordnung. Nachdem             sam, dass es an der Uni Bonn (noch) keine

                                               » Für die Auseinandersetzung und Aufarbeitung muss
                                               zwischen zwei Diskussionen differenziert werden, dem
                                               Umgang von Professor:innen und Studierenden, sowie
                                               Rassismus in der Lehre. «

                                                                                                                             FW 70 | Seite 9
Friedrichs Wilhelm - Sputnik V Zwischenruf
STOP
Kommentar

                  FINNING NOW!
                     Haie - warum sie unsere Aufmerksamkeit
                    verdienen! Und worum es beim Finning geht.

     S
            eid ihr schon einmal unter Wasser,      Es finden sich noch weitere Superlative      im Jahr nur etwa fünf tödlich endende
            beim Schnorcheln oder Tauchen           bei Haien: So gehört der Makohai zu den      Haiunfälle.
            einem Hai begegnet? Was waren           schnellsten Schwimmern: er erreicht
     dabei eure Empfindungen? Angst? Faszi‐         Geschwindigkeiten bis zu 70 km/h. Vor        Umgekehrt sehen die Zahlen ganz anders
     nation?    Bewunderung?      Oder     eine     Kurzem fanden Wissenschaftler:innen          aus: Jährlich sterben zwischen 63 und 273
     Mischung aus alldem? Zweifellos war es         heraus, dass einige Katzenhaiarten grün      Millionen Haie durch Menschenhand.
     ein Erlebnis, welches ihr nicht so schnell     leuchten können, was allerdings nur von      Genaue Zahlen bleiben Spekulation, da es
     vergessen werdet, vielleicht euer ganzes       anderen Haien und dem Menschen mit           an verlässlichen Daten fehlt und die Dun‐
     Leben nicht.                                   speziellen Kameras gesehen werden kann.      kelziffer bei illegalen Fängen enorm hoch
                                                    Der Zweck dieses Phänomens ist noch          ist. Das ist besonders dramatisch, da Haie
     Haie sind Knorpelfische. Das macht sie         unbekannt. Haie gehören auch zu den          sehr langsam wachsen und manche Arten
     leichter als Knochenfische und dank ihrer      ältesten Lebewesen auf der Erde und sie      erst im Alter von 30 Jahren geschlechtsreif
     sehr ölhaltigen Leber erhalten sie zusätzli‐   bergen noch viele Geheimnisse, die auch      werden. Von den gefangenen Haien
     chen Auftrieb. Allerdings haben sie keine      uns Menschen helfen könnten, z. B. bei der   werden fast ausschließlich die Flossen für
     Schwimmblase und müssen zum Schwim‐            Bekämpfung von Krankheiten.                  den ostasiatischen Markt genutzt, um
     men daher ständig in Bewegung bleiben.                                                      daraus Haifischflossensuppe herzustellen.
     Haie sind unglaublich faszinierende Tiere.     Leider haben Haie in weiten Teilen der       Der Körper ist Abfall. Das ist vergleichbar
     Es gibt über 500 verschiedene Arten. Die       Bevölkerung ein schlechtes Image als blut‐   mit dem Elfenbein der Elefanten und dem
     kleinsten (Zwerg-Laternenhaie) werden          rünstige Menschenfresser. Dafür mitver‐      Horn der Nashörner. Der Handel mit
     gerade mal 16-20 cm groß und wiegen            antwortlich ist Steven Spielbergs Kinohit    beidem ist seit vielen Jahren streng verbo‐
     150g. Mit dem Walhai stellen sie auch den      von 1975 „Der weiße Hai“, sowie die Bou‐     ten und strafbewährt. Trotzdem werden
     größten lebenden Fisch der Welt, er wird       levardpresse, die ungerechtfertigt jeden     selbst vom Aussterben bedrohte Haiarten
     14 m lang und bringt 12 t auf die Waage.       Haiunfall auch aus dem entlegensten Teil     gefangen und getötet, nur um ihre Flossen
     Sie leben in allen Ozeanen und vom Flach‐      der Erde zur Hauptschlagzeile macht.         zu verwenden. Der Handel mit Haiflossen
     wasser bis in die Tiefsee, von den Tropen      Wenn die Boulevardpresse das mit jedem       ist ein blutiges und leider auch noch loh‐
     bis zum Eismeer. Dort lebt der Eishai, er      Verkehrsunfall     genauso      handhaben    nendes Geschäft. Die Flossen werden oft
     wird - soweit bisher bekannt - mehrere         würde, wären die Zeitungen um ein Vielfa‐    auf grausame Weise, dem sog. „Finning“
     hundert Jahre alt. Interessant ist auch,       ches umfangreicher und es bliebe kein        gewonnen. Dabei werden den gefangenen
     dass etwa die Hälfte aller Haiarten nur        Platz für andere Nachrichten. Von einem      Haien die Flossen bei lebendigem Leib
     eine Körperlänge von etwa einem Meter          Blitz getroffen zu werden ist sehr unwahr‐   abgeschnitten und der Körper der Tiere
     erreicht. Nur bei 20 % aller Arten liegt       scheinlich, von einem Hai getötet zu         wird dann wieder über Bord geworfen.
     diese über 2 m.                                werden ist nochmals 47mal unwahr‐            Ohne Flossen sinken die Tiere zu Boden,
                                                    scheinlicher: Im Schnitt gibt es weltweit    ersticken, verbluten oder werden gefres‐

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sen, das ist kaum an Grausamkeit zu über‐      über dem Anfang des Jahrtausends fast           (www.stop-finning-eu.org) stark. „Jede
bieten. Dieses sogenannte Finning ist zwar     verdoppelt. Zusätzlich werden weitere           Unterschrift ist sehr wichtig und zählt,
in Europa offiziell verboten, d.h. die Flos‐   Haiarten, darunter stärker bedrohte Arten       denn in den Pandemie-Zeiten ist die
sen müssen noch auf natürliche Weise mit       wie der Kurzflossenmako und der Herings‐        direkte Ansprache äußerst schwierig“, so
dem Tierkörper verbunden sein, wenn das        hai, in Europa gefischt. Darüber hinaus         Nils Kluger, Vorsitzender des StopFinnin‐
Schiff im Hafen entladen wird. Danach          enthalten Flossenlieferungen aus Europa         gEU e.V. „Wir freuen uns über alle, die
können die Flossen vom Tier abgetrennt         nach Asien auch geschützte Arten. 70            sich gegen das Abschlachten dieser wun‐
und nach Asien exportiert werden. Die          Haiarten stehen auf der roten Liste gefähr‐     derbaren Geschöpfe einsetzen und können
Einhaltung dieser Regel kann jedoch kaum       deter Arten. Das Geschäft mit Haiflossen        auch weitere engagierte Mitstreiter:innen
kontrolliert werden. Außerdem hält es          wird auch aus Europa bedient. Die Haibe‐        gebrauchen.“ Auf europäischer Ebene
niemanden davon ab, auch in Europa mil‐        stände sind überall gefährdet. Das ist dra‐     sammelt die Initiative Unterschriften, um
lionenfach Haie zu fangen und zu töten.        matisch, weil Haie eine sehr wichtige           einen entsprechenden Gesetzesentwurf in
Länder wie Spanien, Portugal und Frank‐        Rolle im Ökosystem Meer einnehmen:              das Europäische Parlament einzubringen.
reich zählen zu den größten Haifangnatio‐      Paradoxerweise geht die Wissenschaft            „Noch ist es nicht zu spät, es liegt in unse‐
nen weltweit. Allein im Jahr 2016 wurden       davon aus, dass es weniger Fische gibt, wo      rer Hand, diese Tiere zu schützen“, erklärt
von Spanien offiziell 29.000 Tonnen Blau‐      Haie bereits verschwunden sind.                 Karen Reinhardt, Vorstandsmitglied Stop‐
hai, das entspricht etwa 1 Million Tieren,                                                     FinningEU e.V.
angelandet. Trotz zunehmender Bedro‐           Für das Verbot des Handels mit Haiflossen       ‖ Michael Kierdorf (Gastbeitrag)
hung hat sich beispielsweise die gesamte       in der Europäischen Union macht sich die
Fangmenge an Blauhai im Atlantik gegen‐        Europäische Bürgerinitiative StopFinningEU

                                               Den Link zur Bürger:innen-Initiative
                                               findest du auf www.stop-finning.eu

Information: Michael Kierdorf ist Kampaigner und Gründungsmitglied der Kamapgne Stop-Finning-EU.
Eine Begegnung mit Zitronen- und Ammenhaien bewegte ihn dazu, seiner Leidenschaft für die Unterwasserwelt Taten folgen zu lassen.

                                                                                                                               FW 70 | Seite 11
Kommentar

            Das Superwahljahr
                        Ein spektakuläres Ende von
                            16 Jahren Stagnation

                                                     Foto: icke_63 (Pixabay)

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S
        owohl in der medialen Berichter‐       diese stattfinden. Zum einen besteht dieser   kommenden Wahljahr gelingen wird, die
        stattung, als auch in den Äußerun‐     Kontext aus dem Ende der letzten Amtszeit     radikale Rechte zu verkleinern. Falls die
        gen von Politiker:innen ist der        von Angela Merkel als Bundeskanzlerin.        beiden Landtagswahlen die bereits stattge‐
Begriff Superwahljahr im Moment nahezu         Zum ersten Mal in der Geschichte der BRD      funden haben, ein Indikator sind, könnte
allgegenwärtig. Aber je nachdem, wo von        wird es eine Bundestagswahl geben, bei        die AFD in den kommenden Wahlen
dem Superwahljahr gesprochen wird, sind        der die aktuelle Kanzlerin nicht mehr         weiter schrumpfen. Allerdings gilt es hier
damit natürlich ganz unterschiedliche          antritt, was bedeutet, dass niemand von       zu beachten, dass die die kommenden
Interessen und Absichten verbunden. Zum        der komfortablen Regierungsbank aus           Wahlen vor allem in den östlichen Bundes‐
einen gibt es die nüchterne und sachliche      antritt. Ohne diesen Amtsbonus ist die        ländern stattfinden, wo die AFD sowohl
Information, dass dieses Jahr besonders        Wahl aber deutlich offener als sonst. Die     stärker als auch radikaler ist, als in den
viele Wahlen stattfinden. Für die Medien‐      letzten 16 Jahre waren mit den von der        westlichen. Sollte es ihr also gelingen, dort
vertreter:innen steht einerseits dieser        CDU geführten Regierungen unter Angela        Erfolge zu erzielen oder zumindest ihre
informative Gehalt im Vordergrund,             Merkel geprägt von einer konservativen        Verluste besser zu begrenzen, als in den
anderseits aber auch das Interesse, durch      Hegemonie, die gesellschaftliche Fort‐        westlichen Bundesländern wäre damit der
diesen Begriff ein besonders großes Inter‐     schritte verlangsamte und diese –wenn         ganz rechte Flügel unter Höcke im Ver‐
esse auf ihre jeweilige politische Bericht‐    überhaupt – nur im Schneckentempo zuge‐       gleich zu seinem etwas weniger rechts
erstattung zu lenken. Ganz nach dem Mot‐       lassen hat. So wurde die Ehe für gleichge‐    erscheinenden Rivalen Meuten deutlich
to: „Verfolgt unsere Nachrichten genau!        schlechtliche Paare zum Beispiel erst 2017    gestärkt. Ein weiterer „neuer“ Faktor in
Was jetzt kommt ist sehr wichtig.“             möglich. Auch in wirtschaftlicher Sicht       diesem Wahljahr ist, dass die Grünen die
                                               war die Politik von den Dogmen der            SPD als große Partei die mit der CDU um
Aus der Perspektive der Politiker:innen        schwarzen Null auf der einen Seite und der    die Regierungsführung kämpft, möglicher‐
steht hier ein agitatorisches Interesse im     Festlegung auf die Marktwirtschaft als        weise langfristig verdrängt haben, sodass
Mittelpunkt. Der Begriff Superwahljahr         nicht in Frage zustellendes System geprägt.   es durchaus möglich ist, dass es nach der
soll der jeweiligen politischen Basis vor      Drängende Probleme wie die Klimakrise         Wahl eine Kanzlerin Baerbock oder einen
Augen führen, wie wichtig es ist, sich gera‐   wurden auf die lange Bank geschoben oder      Kanzler Habeck geben wird.
de dieses Jahr besonders zu engagieren         nur unter der Prämisse angegangen, dass
und wie wichtig es insbesondere ist, zur       sich eine marktwirtschaftliche Lösung         Und schließlich werden alle Wahlen dieses
Wahl zu gehen. Superwahljahr ist also          dafür finden lassen müsse. Ein Beispiel für   Jahr unter dem Eindruck der Corona Krise
mehr als eine politische Einschätzung. Der     diese Politik ist der dysfunktionale Handel   stattfinden, die alle ohnehin vorhanden
Begriff Superwahljahr ist schon selbst         mit CO2-Zertifikaten. Auch das Aufkom‐        Krisenherde noch weiter verschärft und
sowohl Wahlkampf, als auch ein medialer        men einer faschistischen Rechten im Parla‐    zugleich gnadenlos offenlegt, wie sehr
Aufmerksamkeitsmagnet. Obwohl der              ment fällt in die Zeit dieser konservativen   Modernisierungen bisher versäumt wur‐
Begriff aber in aller Munde ist, herrscht      Hegemonie, die mit allerhand hilflosen        den und zugleich zeigt, wie groß die Krise
oftmals eine große Verwirrung in Bezug         Versuchen der Beschwichtigungspolitik         sowohl in der Pflege als auch im Gesund‐
auf die politischen Perspektiven, Chancen      versucht hat, die radikale Rechte wieder in   heitssystem wirklich ist. Zudem zeigen
und Gefahren, die dieses Jahr mit sich         ihre Anhänger:innenschaft einzugliedern.      sich langsam auch die wirtschaftlichen
bringt. Zu forderst steht die Frage: Was ist   Das mittlerweile schon sprichwörtliche        Folgen der Krise, sodass die Arbeitslosen‐
es denn, was aus diesem Wahljahr ein           Heimatministerium von Horst Seehofer          zahlen und das Armutsrisiko geradezu
Superwahljahr macht?                           steht symbolisch für diese Politik.           sprunghaft in die Höhe schnellen. Ich
                                                   Was also eine politische Veränderung      denke das alles wird dazu führen, dass die
Einerseits ist es die besonders große Häu‐     auf Regierungsebene angeht, sind die          Wähler:innen am Wahltag deutlich kriti‐
fung unterschiedlicher Landtagswahlen,         Chancen auf zumindest eine Änderung der       scher bei der Bewertung der Politik sein
die mit der Bundestagswahl im Herbst           groben Richtung höher als in den letzten      werden als sonst, sodass trotz dem deut‐
ihren Abschluss finden. Namentlich wird        16 Jahren, dafür spricht auch die aktuelle    schen Hang zum „Weiter so“ möglicher‐
neben der Bundestagswahl noch in Sach‐         Korruptionskrise innerhalb der CDU/CSU,       weise die Chance auf zumindest einen
sen-Anhalt, Berlin, Mecklenburg-Vorpom‐        wobei es aber auch gut möglich ist, dass      kleinen Wandel in der Politik besteht und
mern und Thüringen gewählt, die Wahlen         sich diese Krise auf die Bundestagswahl im    schon das alleine würde reichen, um die‐
in Baden-Württemberg und Rheinland-            Herbst nicht mehr großartig auswirkt.         ses Wahljahr wirklich ungewöhnlich und
Pfalz haben bereits stattgefunden. Deutlich                                                  vielleicht sogar ein wenig „Super“ sein zu
bedeutender als die Anzahl der Wahlen          Ein weiter wichtiger Aspekt des politi‐       lassen. ‖ Milan Nellen
jedoch ist der politische Kontext, in dem      schen Kontextes ist die Frage ob es im

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MITeinander
Kolumne | Zwischenruf

                                  sprechen
               Z
                    eiten ändern sich, Diskussionen           Natürlich leben wir hier in Deutsch‐         nach der Grundschule hört die AG Streit‐
                    ändern sich, Sprache ändert sich.      land in einer Gesellschaft in der wir a) so     schlichten auf. Ab der 5. Klasse sind wir
                    Alles verändert sich. Was vor 100      weit sind wie kaum eine andere (ohne das        plötzlich auf uns allein gestellt, wenn es
            Jahren als normal galt, wird heute als ras‐    werten zu wollen!) und b) so weit wie           darum geht, wie kommuniziert wird. Ja,
            sistisch eingeordnet. Es gibt zwar ein Frau‐   noch nie zuvor. In den letzten Jahren gab       später vielleicht, eines Tages, wird es
            enwahlrecht, aber Gleichberechtigung?          es unfassbar viele Fortschritte. Aber den‐      Redelisten geben in großen Plenen, aber
            Weitgefehlt. Gleichheit generell. Was ist      noch. Viele Diskussionen, die wir gerade        davor? In der Pubertät und im Studium,
            das schon. Und Freiheit.                       führen, drehen sich verbal um sich selbst,      untereinander, scheint plötzlich alles
                Wir haben die Freiheit, alles zu sagen,    hängen sich an Worten auf, stellen sich         erlaubt. Gespräche werden zu Diskussio‐
            alles zu tun (was nicht explizit verboten      Beine, führen zu nichts. Nicht nur in grö‐      nen werden zu Schlammschlachten.
            ist). Gesellschaft lebt vom Diskurs. Verän‐    ßerem Rahmen von Politik und Gesell‐                Menschen, die eigentlich gleicher Mei‐
            derung entsteht durch Diskurs. Und wenn        schaft, auch in WhatsApp Gruppen und            nung sind, zerfleischen sich regelrecht,
            wir doch die ganze Zeit diskutieren, reden,    am Frühstückstisch.                             schlicht weil sie es können. Weil sie ja
            uns den Mund fusselig quatschen, zum                                                           sagen dürfen, was sie sagen wollen. Als
            Thema Frauenquote, Genderequality, Care-       Das liegt nicht an den Diskussionen, son‐       müsste man sich an keinerlei Regeln hal‐
            Arbeit, Rassismus, Bildungsungleichheit        dern an der Art, wie sie geführt werden.        ten, wenn es keine offiziellen Vorgaben
            aufgrund von Klassen... Wir reden und          Oder noch eher an denen, die sie führen.        zum Thema Netiquette gibt. Als hätte jede:r
            reden doch die ganze Zeit. Und trotzdem                                                        die Wahrheit mit Löffeln gefressen. Nur
            von Chancengleichheit keine Spur. Struktu‐     Wir haben das miteinander reden verlernt.       wofür? ÄNDERN. Tut sich so nichts. Es gibt
            relle Veränderungen? Winken aus weiter         Jede:r hat gelernt, dass er:sie seine:ihre      kein Umdenken. Keine Einsicht, kein Ein‐
            Ferne mit Zaunpfählen.                         Meinung vertreten darf und kann. Aber           lenken. Alle haben weiter individuell recht.

                                                                                    Wir müssen wieder lernen, MIT-einander zu reden. Foto: cottonbro (Pexels)

              FW 70 | Seite 14
» Viele Diskussionen, die wir gerade führen, drehen sich verbal um sich
selbst, hängen sich an Worten auf, stellen sich Beine, führen zu nichts. «

                                                                   » Es gibt kein Umdenken. Keine Einsicht, kein
                                                                Einlenken. Alle haben weiter individuell recht. «

Es wird so viel darüber diskutiert, wie dis‐   terfragen, vielleicht sind wir zu sensibel.
kutiert werden soll. Das ist auch wichtig,     Vielleicht haken wir an „den falschen“
bis zu einem gewissen Punkt. Sprache ist       Stellen ein, und vielleicht tragen wir so
wichtig. Und mit Zeit und Diskussionen         dazu bei, dass nicht mehr über Themen
ändert auch sie sich. Ich bin die erste, die   debattiert wird, sondern darüber, was
sich für genderneutrale Sprache und poli‐      noch gesagt werden darf.
tische Korrektheit einsetzt. Aber nicht,
wenn darüber Inhalte verloren gehen.           Letztlich aber geht es nicht darum. Son‐
Wenn statt über Sexismus nur über gender-      dern darum, ob wir bereit sind, Strukturen
Varianten debattiert wird und sich die ver‐    zu verändern. Strukturen, die doch schon
schiedensten Lager gegeneinander auss‐         immer so sind, die doch gut funktionieren.
pielen, dann läuft etwas schief. Wenn gen‐     Es geht darum, dass die Einrichtung einer
dernde Feminist:innen solchen, die es          Gleichstellungsstelle nicht automatisch für
nicht tun, ihr feministisch-Sein abspre‐       Gleichstellung sorgt und das Ende jegli‐
chen, dann frage ich mich mit welchem          cher Diskussion darstellt. Es geht darum,
Recht? Wenn die jüngere Generation der         dass wir Diskussionen auf Augenhöhe füh‐
älteren erzählt, was Feminismus eigentlich     ren müssen. Dass sich etablierte Struktu‐
ist. Wenn alle Solidarität einfordern, aber    ren ändern müssen, weil die Generationen
sich immer nur von anderen Gruppen             wechseln.
distanzieren, dann frage ich mich, woher       Aber.
die Veränderungen kommen sollen und
was ihre Definition von Solidarität ist?       Und jetzt bin ich wieder relativ am
                                               Anfang.
In hierarchischen Strukturen wie Uni oder          Ich fordere etwas ein, was offensicht‐
Arbeitsplatz wird oft nach außen vertre‐       lich nicht einmal unter Studierenden oder
ten, dass Kommunikation auf Augenhöhe          meinetwegen Arbeitnehmer:innen funkti‐
stattfindet. Jede:r mit Problemen gehört       oniert. Ich fordere Kommunikation mit
wird. Gemeinsam nach Lösungen gesucht          gegenseitigem Respekt. Und sehe um mich
wird. Es im Grunde in dem Sinne gar keine      herum (nicht bei meinen Freund:innen,
Hierarchie mehr gibt. Das klingt alles         sondern in größerem Rahmen), dass es
schön und gut! Anarchie! Aber das ist in       doch nicht funktioniert. Dass sich nicht
der Realität nicht so. Oder jedenfalls sehr    zugehört wird, Menschen einander nicht
selten. Oder jedenfalls habe ich es selten     ernst nehmen, oft übereinander, selten
erlebt und in meinem Umfeld selten mit‐        miteinander reden. Dass nur des Diskutie‐
bekommen.                                      rens Willen diskutiert wird. Dass Men‐
    Strukturen werden am Ende doch ge‐         schen, gerade in der vermeintlichen Ano‐
nutzt, um Studierende oder Arbeitneh‐          nymität im Netz, den Respekt voreinander
mer:innen klein zu halten. Natürlich nicht     verlieren. Ob bewusst oder unbewusst ist
immer, nicht in erster Linie zu diesem         egal: Alle beanspruchen für sich, recht zu
Zweck und bewusst! Aber doch… Wenn             haben. Mit ihrer Meinung. Das sei die
Studierende Kritik an Professor:innen          wahre. Alles andere eben Spitzfindigkei‐
üben und mit Gegenbeispielen und -fra‐         ten oder schlichtweg Nonsens.
gen, die die Expertise eben jener Kriti‐           Wir müssen wieder lernen, zu kommu‐
ker:innen überschreiten, konfrontiert wer‐     nizieren, solidarisch.
den – dann ist das keine Diskussion auf
Augenhöhe. Wenn Arbeitnehmer:innen             Unter Solidarität versteht Heinz Bude
erst nach öffentlicher Kritik an Unterneh‐     Beziehung auf Augenhöhe. Solidarität
men ernst genommen werden, dann läuft          funktioniert wechselseitig. Daran müssen
das Beschwerdemanagement nicht rund.           wir uns zurückerinnern. Denn Kommuni‐
Und ja: Vielleicht sind wir, die wir gen‐      kation kann auch nur so funktionieren:
dern, uns unsererseits mit sprachlichen        wechselseitig, miteinander.
„Kleinigkeiten“ aufhalten, die wir unge‐       ‖ Helene Fuchshuber
fähr alle gesellschaftlichen Strukturen hin‐

                                                                                                        FW 70 | Seite 15
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