Friedrichs Wilhelm - Sputnik V Zwischenruf
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
- kritisches überparteiliches Campusmagazin - No. 70 Friedrichs 13.04.21 des Wilhelm Zeitschrift für alle Fakultäten Sputnik V Zwischenruf Superwahljahr Woher kommt das Misstrauen? Start unserer neuen Kolumne Wirklich so super?
Editorial In dieser Ausgabe Willkommen zurück liebe Leser:innenschaft, Wissenschaft Warum wir Vakzinen aus Ost und Fernost misstrauen 3 „Des Friedrichs Wilhelm“ startet in das nächste digi- tale Semester mit einer Ausgabe, die keine größere Gesellschaft Themenvielfalt bieten könnte. Ihr überbrückt Pausen Digitales Detox – wie effizient zwischen Online-Meetings mit eurem allgegenwärti- man sein kann 6 gen Smartphone und fragt euch, ob man wirklich irgendwann eckige Augen bekommen kann? Einer Gesellschaft/Studium der zwei Gastartikel dieser Ausgabe bietet euch die Rassismusvorwürfe Lösung: Einfach mal nicht auf die Bildschirme zu an der Uni Bonn 8 beharren, schlägt Dorit vor und zeigt uns, wie es auch ohne geht. Wer jetzt schon die ersten Wahlergeb- Umwelt nisse mitverfolgt und sich fragt, wie es wohl weiter- Finning – auch in Europa geht, findet in Milans Artikel über das Superwahljahr eine Bedrohung 11 Zuflucht und wer sich fragt, wie es mit uns weiter- geht, ist bei Helene aufgehoben. Sie macht den Auf- Politik takt zu ihrer eigenen und der ersten Kolumne des Superwahljahr 2021 13 FWs, in der sie bemerkt hat, dass ausgeglichene Kommunikation leider rar geworden ist. Ebenfalls rar Gesellschaft werden immer mehr Haiarten in den Weltmeeren Ein Text darüber, wie und die EU trägt leider ihren Teil dazu bei. Für mehr Kommunikation nicht klappt 16 Information empfehle ich den Gastartikel von Michael. Und da das Thema nicht mehr wegzudenken ist, gewährt euch Sam außerdem noch einen Einblick in andere Impfstoffe als Astrazeneca und Co und Zum Titelbild unsere fragwürdige Haltung dazu. Wie ihr seht, habe ich nicht zu viel versprochen, was Deutschland einen Vogel: Das Rot- Schlagzeilen auftaucht. Garniert mit die Themenvielfalt unserer Auftaktausgabe angeht. Ob ihr kehlchen. Erstmals wurde es zum ungerechtfertigtem Misstrauen? Lest „Vogel des Kahres” von NABU und LBV selbst! unsere Artikel nun querlest oder euch die Themen aus- bestimmt und darf es bei uns mit dem sucht, die euch besonders interessieren, wir sind froh, Virus aufnehmen. Unterstützung be- wieder gelesen werden zu können und hoffen auch, bald kommt es hierbei von Sputnik. Wel- Quellen: wieder in Mensen, Hörsälen und Cafés zu liegen. cher nicht nur der erste Erdsatellit im Спутник - 1 | azlan (Sketchfab) All war, sondern auch in den aktuellen ZBrush Sculpt 2: Robin | cedes (Sketchfab) Bleibt gesund, eure Melina Impressum Melina Duncklenberg Redaktion: V.i.S.d.P.: Jan Bachmann Jonathan Andraczek Ronny Bittner Vorsitz | AStA der Universität Bonn Melina Duncklenberg Helene Fuchshuber Kontakt: fw@asta.uni-bonn.de Samuel F. Johanns Milan Nellen www.asta-bonn.de Julia Pelger facebook.com/AStA.UniBonn Tom Schmidtgen Clemens Uhing Die Redaktion behält sich Abdruck und Kürzungen von Artikeln und Figuren & Rückseite: Leserbriefen vor. Namentlich gekennzeichnete Artikel Jan Bachmann geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder. Titelbild: Samuel F. Johanns (Montage) Die nächste Ausgabe erscheint am 27. April 2021 FW 70 | Seite 2
Essay Im Osten was Neues! Hilfe! Warum wir dem fremden Produkt misstrauen. V orbehalte gegen Medizinprodukte bis zum Beweis des Gegenteils? Woher und es wurde vermutet, Herstellerunter‐ aus Russland und Fernost prägen dieses Misstrauen und was ist daran? nehmen würden sicherheitsrelevante Test‐ unser unbewusstes Denken und phasen hintenanstellen. Generell spielt bei Urteilen quasi ständig. So auch in dieser Grund 1: Russland und China das Profil ihrer politi‐ Pandemie. Sie sind in verschiedenen Ursa‐ Vermutete Skrupellosigkeit schen Verfasstheit in die Bewertung der chen begründet, sei es bei Impfstoffen Qualität ihrer Produkte mit hinein. Es oder dem FFPNaja2-Masken-Äquivalent Was das russische Vakzin Sputnik V schwingt ein Hauch von Bereitschaft im KN95. Die Grundhaltung ist dabei immer angeht, so machte viele sicher die ausge‐ Kopf mit, die Wirkstoffe könnten nach die prinzipiellen Misstrauens in die Quali‐ sprochen rasche Entwicklung des Impf‐ dem Prinzip und als Ausdruck dessen tät. Garantiert Schrott oder ungefährlich stoffs stutzig. Auch stand er in der Kritik funktionieren, wie ein Staatssystem im FW 70 | Seite 3
Groben den Menschenrechten gegenüber unsicheres und gefährliches Medizinpro‐ reich verabreicht wurde, über Umwege zu eingestellt ist: Skrupellos, kollektivistisch dukt auf ihre eigenen Bevölkerungen los‐ besorgen, nachdem Adenauer ein Angebot und mit der Bereitschaft hoher Kollateral‐ lassen und sich damit im Vergleich mit der zur „Entwicklungshilfe“ ausgeschlagen schäden. gesamten Welt deutlich schwächen wür‐ hatte, auch damals mit Verweis auf eine Grund 2: den. Dass die Impfstoffentwicklung in ver‐ angenommene Unsicherheit des Wirk‐ Das Erbe des Sozialismus schiedenen Regionen der Welt unter‐ stoffs. Hier ist anzumerken, dass ein Infek‐ schiedlich schnell vonstatten geht, kann tionsrisiko durch den Lebendimpfstoff in Ein anderer Aspekt, der in das Image der viele unterschiedliche strukturelle Gründe keinem Verhältnis zu den Opfern der Ent‐ Produkte hineinspielt, ist die Hinterlassen‐ haben. Faktisch erweisen sich die wissen‐ scheidung stand, den wirksameren Impf‐ schaft aus der Zeit des real existierenden schaftlichen Werte von Sputnik V nämlich stoff nicht anzuwenden. Sozialismus. In der allgemeinen Wahrneh‐ als durchaus sehr vielversprechend. Nach Auch andere soziale und medizinische mung prägt das Bild von Zerfall und wirt‐ einer in The Lancet veröffentlichten Studie Errungenschaften „des Ostens“ werden erst schaftlicher Insuffizienz das Bild von dem, wird dem Vakzin nämlich eine Wirksam‐ heute, wo man sich von den eigenen roman‐ was wir heute von den (ehemaligen) Staa‐ keit von 91,6% attestiert, womit das Mittel tisch-ideologisch verklärten Anschauungen ten des real existierenden Sozialismus mindestens ebenso effizient arbeiten soll zunehmend distanziert hat, in ihrer Bedeu‐ haben. Dem der kapitalistischen Gesell‐ wie die Stoffe der Unternehmen Moderna tung erst bewusst. So gilt das Polyklinik- schaftsform inferior gegenüberstehenden und BionTech/Pfizer. Zudem soll Sputnik Prinzip der DDR heute oft als Ideal ambu‐ Gesellschaftssystem sind nach Ansicht V auch bei alten Menschen problemlos lanter städtischer Patientenversorgung vieler Menschen einfach keine höheren eingesetzt werden können, einfach zu und wünschenswerte praktische Alternati‐ Leistungen im Bereich der Medizin und lagern sein und, man möchte sich ja ve zum Flickenteppisch spezialisierter Forschung zuzutrauen. eigentlich nicht am allgemeinen Bashing Arztpraxen. Die Versorgungssituation mit beteiligen, durch die Verwendung von KiTa-Plätzen, als aktuelles sozialpoliti‐ Grund 3: zwei Virentypen als Vektorimpfstoff sogar sches Reizthema ist bis heute in den neuen Massenhafte Billigprodukte solider arbeiten als das Mittel von Astra Bundesländern besser als in den alten, in Zeneca. der die traditionelle Rolle der Frau eine Der vielleicht unmittelbar offenkundigste Es ist bei einer Zulassung für die EU solche Infrastruktur nicht notwendig oder Hintergrund, der das Bild des prinzipiell dennoch zu erwarten, dass Sputnik V mit wünschenswert machte. nicht-westlichen Schrottproduktes prägt, diffusen Vorbehalten zu kämpfen haben Bei all seinem dystopisch anmutenden mag das real existierende, nicht-westliche wird. Einsatz zur totalen Überwachung kann Schrottprodukt sein. Schon vor der Zeit Was die vermutete Insuffizienz der man zu guter Letzt, aus einem Land, in von Aliexpress überschwemmte Einweg- „kommunistischen Staaten“ in Bezug auf dem Jens Spahn es als Erfolg verbucht, Nippes aus China den Markt. „Made in Wissenschaft und Forschung angeht, so dass Ergebnisse nun nicht mehr per Fax im China” wurde damals zum diametralen desillusioniert einen die Geschichte und, Gesundheitsamt ankommen und von Hand Gegensatz des Qualitätskriteriums „made was China angeht, auch die Gegenwart übertragen werden müssen, durchaus mit in Germany”. hinsichtlich der Richtigkeit der eigenen Neid nach China und seiner Digitalisie‐ Vorurteile. So war die UDSSR den westli‐ rung schauen. Dass chinesische Produkte Eine rationale Einordnung chen Staaten in Fragen des technologi‐ hierzulande oft von niedriger Qualität schen Fortschritts im eigentlichen Sinne sind, hat weniger damit zu tun, wozu ein Wenn wir uns mit den gerade angesproche‐ nie unterlegen. In Fragen von Raumfahrt, Land in Fragen der Technologie fähig ist, nen Anschauungen und Glaubenssätzen Astronomie, Waffentechnik und Medizin sondern womit sich aus der weltwirt‐ konfrontiert sehen und sie auch bei uns brach die UdSSR regelmäßig Rekorde. schaftlichen Perspektive gerade schlicht selbst bemerken, dann sollten wir uns ver‐ Was explizit die Virologie und Impfstoff‐ am besten Kapital generieren lässt. Es gibt gegenwärtigen, dass wir vorgeprägt sind forschung angeht, ist hier der Kampf keinen rationalen Grund zur Annahme, von den generellen nationalen Stereoty‐ gegen Polio zu nennen, den russische Viro‐ dass ein Vakzin „made in China” notwen‐ pen, die wir bezüglich der Herkunft eines loginnen und Virologen mit einer hoch‐ digerweise von niedrigerer Qualität sein Produkts internalisiert haben. Eine ratio‐ effizienten Schluckimpfung in den 50er muss als ein Produkt aus Deutschland oder nale Einordnung des für wahr Geglaubten Jahren effektiver führten als „der Wes‐ den USA. ‖ Samuel F. Johanns kann hier durchaus nachdenklich stim‐ ten“, sodass sich schließlich einige Bun‐ men. So lässt sich die Frage stellen, warum desländer der BRD gezwungen sahen, den Russland und China ein potentiell extrem Schluckimpfstoff, der in der DDR umfang‐ » Dass chinesische Produkte hierzulande oft von niedriger Qualität sind, hat weniger damit zu tun, wozu ein Land in Fragen der Technologie fähig ist, sondern womit sich aus der weltwirtschaftlichen Perspektive gerade schlicht am besten Kapital generieren lässt. « FW 70 | Seite 4
stress as usual Wer viele Sachen gleichzeitig macht, macht am Ich bin gestresst. Ende gar nichts. Einer der Stressfaktoren ist, dass ich alles gleichzeitig Deshalb jetzt der Umkehrschluss: Wenn ich mal gar mache. nichts mache, mache ich dann vielleicht mal etwas wirk‐ Ich höre Podcasts während des Einkaufens von stuff, lich? »Keine Monitore, kein Handy, kein Nichts. 24 Stunden. Hab einfach alles abends um 9 ausgeschaltet.« den ich eigentlich schon zu Hause habe, aber aus dem Die Challenge (nur so klingt es wieder postable und Produkt der Rechnung Unaufgeräumtheit x Zeitmangel cool): gerade nicht wiederfinde. DIGITAL DETOX. Immer noch „ganz wichtige Konversationen“ auf den Keine Monitore, kein Handy, kein Nichts. 24 Stunden. Ohren, dann von der Mail-App (nur Spam und 1 Wichti‐ Hab einfach alles abends um 9 ausgeschaltet. Mor‐ ge, die ich aber nicht anklicken möchte, weil dann der gens aufgestanden, weil mich die Sonne geweckt hat und rote ungelesene Punkt verschwindet und ich sie wieder nicht das unheilvoll klingende Gedröhne der Wecker- vergessen würde) schnell wechseln zu der App mit der App. Payback-Karte und kurz noch den Ton ausstellen, falls die Bisschen ungewohnt, nicht zu wissen, wie spät es ist, Kassenfachkraft was fragt. Man ist ja noch höflich und so. aber das sollte mich nicht interessieren. Heute ging es Deshalb auch maximales Tempo beim schweißtreibenden nicht darum, jede Minute produktiv zu nutzen und zu Einstecken der Sachen, während schon der nächste verplanen. Kunde zahlt. Tee getrunken, Gedanken mal zu Ende gedacht und dann sortiert. Gelesen. eingebildete Effizienz Mein Zimmer, dass sich als physische Gestalt meiner Das muss aufhören. Wenn ich nach Hause komme, schlechten Angewohnheit alle Tabs aufzulassen, heraus‐ sehe ich schon meinen Schreibtisch mit Post-its überfüllt, gestellt hatte, endlich aufgeräumt und kerngereinigt. tausend To dos, die ich noch nicht gemacht hab, weil mir Alle unwichtigen alten Blätter aus meinem College‐ alles Einzelne so essenziell schien, dass ich es gerade block rausgetrennt, jetzt passt auch endlich mal wieder nicht bearbeiten kann, sondern besser später; wenn ich alles ins Regal, ohne das zwei ungeöffnete Briefe von der Zeit und Konzentration dafür hab. Spoiler: Die Zeit Krankenversicherung in den dunklen Spalt zwischen kommt nicht. Regal und Wand fallen. Ich mache so vieles gleichzeitig, weil man von allen Kurz stolz gewesen. Seiten die Effektivität und Effizienz prophezeit bekommt, Dann erschöpft ins Bett gefallen. gepaart mit Lifehacks, „wie du 3 Minuten Zähneputzen Dann Verwunderung: Hätte jetzt safe mindestens eine nebenbei sinnvoll nutzt“. Die Ironie? Das Video dauert 5-Minuten Sprachnachricht von Freund:innen angehört, schon 10 Minuten, die ich verklatscht und mit zusam‐ und danach kurz Insta gecheckt, um alle Stories hektisch mengekniffenen Augen vor dem Miniaturbildschirm mei‐ rechts weiterzuklicken. nes Handy verbringe. Aber irgendwie fehlt mir das gerade gar nicht. Bin als mein persönlicher Efficiency Consultor so ver‐ Überlege lieber, ob ich spontan nach draußen gehe tieft in die Rechnung minimalster Zeitaufwand x absolute (auf die Gefahr hin, dass ich die falsche Jacke anziehe, Geschwindigkeit = maximale Produktivität, dass ich gar weil ich das Regenradar nicht überprüft habe). Entschei‐ nicht merke, wie ich mir die angeblich gewonnene Zeit de mich deswegen, lieber weiterzulesen. Am Ende des schon wieder durch die bekannten Apps rauben lasse. Tages habe ich das Buch durch. FW 70 | Seite 6
Vielleicht hätte ich den Text „how to read 1 book in 1 »Aber die Zeit ist plötzlich viel mehr wert. Wenn ich jetzt etwas tue, dann tue ich es ganz.« day“ betiteln sollen, aber das klingt zu prätentiös. Langsam wird es dunkel und ich beschließe, dass ich müde bin. Nehme mir Zeit fürs Zähneputzen (mit Zahn‐ seide, heftig), skincare und schlafe direkt ein. Am nächsten Tag wache ich mit der Erkenntnis auf, dass die Sonne etwa auf 9 Uhr steht. Werde erstmal rich‐ tig wach, mach mir still einen Kaffee und schalte vorsich‐ tig das Handy an. Die paar Nachrichten sind schnell beantwortet, auf Insta hab ich keine Lust. Leg‘s wieder weg und widme mich - zu meiner eigenen Überraschung- der Krankenversicherung. Ohne es mir vorzunehmen oder extra in Einstellungen die Bildschirmzeit für manche Apps zu reduzieren, bin ich auch am nächsten Tag nur eine knappe halbe Stunde am Handy. Das macht drei Stunden mehr am Tag, die ich mich nicht von der virtuellen Unwirklichkeit betäuben lasse. Aber um Gottes willen, ich fange deswegen nicht an, plötzlich mehr Sport zu machen oder ein neues Hobby oder so. Ich nehme mir einfach nur mehr Zeit für alles. Zeit, die ich auch brauche, weil es obviously länger dauert, erst in Ruhe zu essen und danach mit Freund:in‐ nen zu facetimen. Aber die Zeit ist plötzlich viel mehr wert. Wenn ich jetzt etwas tue, dann tue ich es ganz. Verschiebe nichts unter Vorbehalt späterer Motivation, sondern erledige es komplett. Alles hintereinander. Alles zu seiner Zeit. Zeit, die ich übrigens nicht mehr mit getaktetem Wecker und minutengenauer Planung verbringe, sondern die anders verläuft und mir dieses eine Mal nicht wie sonst üblich wegzurennen scheint. Man muss dazu sagen, dass digitaler Minimalismus in Wahrheit ziemlicher Luxus ist. Besonders mit Online-Uni und Lockdown ist es schier unrealisierbar, allen Monito‐ ren oder dem Internet als Ganzem zu entsagen. Meine 24 hours of digital detox musste ich im Voraus planen, an einem Tag in den Semesterferien ohne dringende Termi‐ ne. Das ist eigentlich eine Seltenheit, genauso wie das Verständnis von Leuten, wenn man mal nicht erreichbar ist. Meinem engsten Kreis habe ich natürlich vorher Bescheid gesagt. Keine Lust, am nächsten Tag zehn unbe‐ antwortete Anrufe von Mutti und den Personenschutz vor der Haustür zu haben. Dann fällt mir auf, dass ich als Efficiency-Planer ohne‐ hin nicht tauge. Um nach der oben benannten Formel zu rechnen, feh‐ len mir die Grundlagen simpler Mathematik: Wenn ich am Tag vorher um 9 Uhr abends mit 24 hours of digital detox anfange, dann sind um 9 Uhr morgens am Tag nach dem Detox sogar schon 36 Stunden vergangen. Dafür benutze ich sonst immer die Taschenrechner- App. Ups. Naja, macht nichts. ‖ Dorit Selting (Gastbeitrag) FW 70 | Seite 7
Bericht Rassismus in der Lehre? Auf Instagram sind Vorwürfe gegen einen Professor der Soziologie laut geworden A m 09. Und 11. März veröffentlich‐ Studierende den Professor in einer Sprech‐ Anlaufstelle für Rassismus gibt. Dass ein ten die KriPS auf Instagram zwei stunde angesprochen und gebeten hatten, strukturelles Problem, losgelöst von ein‐ Posts. Die KriPS, das sind die kriti‐ Texte des Soziologen Auguste Comtes ein‐ zelnen Dozierenden, vorliegt. Und dass schen Politolog:innen und Soziolog:innen zuordnen und zu den rassistischen Formu‐ institutionelle Maßnahmen und Einrich‐ der Uni Bonn. Das Thema der Posts: Ras‐ lierungen Comtes Stellung zu beziehen, tungen, vielleicht gar der Wille zur Rassis‐ sismus in der Lehre. wurde der Diskurs von ihm im Keim mus-Bekämpfung und Aufarbeitung an Genauer gesagt beschäftigte sich ersterer erstickt. Comte sei Kind seiner Zeit und Universitäten viel zu oft fehlt. mit der Art, wie Rassismus nicht-themati‐ außerdem könnte man den Studierenden siert und dadurch reproduziert wurde und im Gegenzug Humanrassismus vorwerfen. Zu hoffen ist jetzt, dass die Posts der KriPS der zweite beinhaltet einen konkreten Ras‐ Der zweite Vorwurf erscheint härter, nicht zum Canceln des Professors führen, sismusvorwurf. lautet Rassismus. Dafür wurden Teile sondern einen Diskurs eröffnen. Einen uni‐ Mensch mag nun von der Veröffentli‐ einer Vorlesung transkribiert und ein Aus‐ weiten, vielleicht sogar uniübergreifenden chung solcher Vorwürfe auf Instagram schnitt einer Folie gezeigt. Die Quintes‐ Stein ins Rollen bringen. Denn Rassismus (oder sonst einem sozialen Medium) senz dieser Slides: es gibt Rassismus und geht über einzelne Vorlesungen hinaus, ist halten, was er will. Die Darstellung kann Sexismus am Lehrstuhl Soziologie in Bonn. ein strukturelles Problem. Wichtig wäre, in einem solchen Rahmen nur zugespitzt dass diese Posts als Auslöser für Verände‐ sein. Aussagen werden entkontextuali‐ Ersteren Vorwurf betreffend muss sich rungen genutzt werden. siert. Eine Gegendarstellung kriegt oft darauf zurückbesonnen werden, dass Uni‐ keinen Raum. – Rassismus an Universitä‐ versitäten Orte des akademischen Austau‐ Mittlerweile gab es weitere Gespräche ten ist jedoch ein Thema über das drin‐ sches auf Augenhöhe sind. Im besten Falle zwischen dem Professor und den KriPS gend gesprochen werden muss! sollten dafür keine medialen Veröffentli‐ und Studierenden. Da diese jedoch nicht chungen nötig sein, sondern eine solche öffentlich stattgefunden haben und nur Für die Auseinandersetzung und Aufarbei‐ Diskussionskultur normal. intern, bzw. zwischen betroffenen und tung muss zwischen zwei Diskussionen Hochschul-Gruppen, kommuniziert wur‐ differenziert werden, dem Umgang von Zweiterer Vorwurf wiegt vielleicht schwe‐ den, wollen wir hier eine Plattform bieten Professor:innen und Studierenden, sowie rer, könnte zu Konsequenzen für den Pro‐ und eine größere Öffentlichkeit schaffen: Rassismus in der Lehre: fessor führen. Die KriPS solidarisieren sich Wenn ihr Meinungen zum Thema habt, Denn Vorwurf Nummer eins ist in damit mit Forderungen von @unirassis‐ schreibt uns per Mail an fw@asta.uni- erster Linie der Vorwurf der Nicht-Kom‐ muskritisch. Sie machen darauf aufmerk‐ bonn.de! ‖ Helene Fuchshuber munikation und Einordnung. Nachdem sam, dass es an der Uni Bonn (noch) keine » Für die Auseinandersetzung und Aufarbeitung muss zwischen zwei Diskussionen differenziert werden, dem Umgang von Professor:innen und Studierenden, sowie Rassismus in der Lehre. « FW 70 | Seite 9
STOP Kommentar FINNING NOW! Haie - warum sie unsere Aufmerksamkeit verdienen! Und worum es beim Finning geht. S eid ihr schon einmal unter Wasser, Es finden sich noch weitere Superlative im Jahr nur etwa fünf tödlich endende beim Schnorcheln oder Tauchen bei Haien: So gehört der Makohai zu den Haiunfälle. einem Hai begegnet? Was waren schnellsten Schwimmern: er erreicht dabei eure Empfindungen? Angst? Faszi‐ Geschwindigkeiten bis zu 70 km/h. Vor Umgekehrt sehen die Zahlen ganz anders nation? Bewunderung? Oder eine Kurzem fanden Wissenschaftler:innen aus: Jährlich sterben zwischen 63 und 273 Mischung aus alldem? Zweifellos war es heraus, dass einige Katzenhaiarten grün Millionen Haie durch Menschenhand. ein Erlebnis, welches ihr nicht so schnell leuchten können, was allerdings nur von Genaue Zahlen bleiben Spekulation, da es vergessen werdet, vielleicht euer ganzes anderen Haien und dem Menschen mit an verlässlichen Daten fehlt und die Dun‐ Leben nicht. speziellen Kameras gesehen werden kann. kelziffer bei illegalen Fängen enorm hoch Der Zweck dieses Phänomens ist noch ist. Das ist besonders dramatisch, da Haie Haie sind Knorpelfische. Das macht sie unbekannt. Haie gehören auch zu den sehr langsam wachsen und manche Arten leichter als Knochenfische und dank ihrer ältesten Lebewesen auf der Erde und sie erst im Alter von 30 Jahren geschlechtsreif sehr ölhaltigen Leber erhalten sie zusätzli‐ bergen noch viele Geheimnisse, die auch werden. Von den gefangenen Haien chen Auftrieb. Allerdings haben sie keine uns Menschen helfen könnten, z. B. bei der werden fast ausschließlich die Flossen für Schwimmblase und müssen zum Schwim‐ Bekämpfung von Krankheiten. den ostasiatischen Markt genutzt, um men daher ständig in Bewegung bleiben. daraus Haifischflossensuppe herzustellen. Haie sind unglaublich faszinierende Tiere. Leider haben Haie in weiten Teilen der Der Körper ist Abfall. Das ist vergleichbar Es gibt über 500 verschiedene Arten. Die Bevölkerung ein schlechtes Image als blut‐ mit dem Elfenbein der Elefanten und dem kleinsten (Zwerg-Laternenhaie) werden rünstige Menschenfresser. Dafür mitver‐ Horn der Nashörner. Der Handel mit gerade mal 16-20 cm groß und wiegen antwortlich ist Steven Spielbergs Kinohit beidem ist seit vielen Jahren streng verbo‐ 150g. Mit dem Walhai stellen sie auch den von 1975 „Der weiße Hai“, sowie die Bou‐ ten und strafbewährt. Trotzdem werden größten lebenden Fisch der Welt, er wird levardpresse, die ungerechtfertigt jeden selbst vom Aussterben bedrohte Haiarten 14 m lang und bringt 12 t auf die Waage. Haiunfall auch aus dem entlegensten Teil gefangen und getötet, nur um ihre Flossen Sie leben in allen Ozeanen und vom Flach‐ der Erde zur Hauptschlagzeile macht. zu verwenden. Der Handel mit Haiflossen wasser bis in die Tiefsee, von den Tropen Wenn die Boulevardpresse das mit jedem ist ein blutiges und leider auch noch loh‐ bis zum Eismeer. Dort lebt der Eishai, er Verkehrsunfall genauso handhaben nendes Geschäft. Die Flossen werden oft wird - soweit bisher bekannt - mehrere würde, wären die Zeitungen um ein Vielfa‐ auf grausame Weise, dem sog. „Finning“ hundert Jahre alt. Interessant ist auch, ches umfangreicher und es bliebe kein gewonnen. Dabei werden den gefangenen dass etwa die Hälfte aller Haiarten nur Platz für andere Nachrichten. Von einem Haien die Flossen bei lebendigem Leib eine Körperlänge von etwa einem Meter Blitz getroffen zu werden ist sehr unwahr‐ abgeschnitten und der Körper der Tiere erreicht. Nur bei 20 % aller Arten liegt scheinlich, von einem Hai getötet zu wird dann wieder über Bord geworfen. diese über 2 m. werden ist nochmals 47mal unwahr‐ Ohne Flossen sinken die Tiere zu Boden, scheinlicher: Im Schnitt gibt es weltweit ersticken, verbluten oder werden gefres‐ FW 70 | Seite 10
sen, das ist kaum an Grausamkeit zu über‐ über dem Anfang des Jahrtausends fast (www.stop-finning-eu.org) stark. „Jede bieten. Dieses sogenannte Finning ist zwar verdoppelt. Zusätzlich werden weitere Unterschrift ist sehr wichtig und zählt, in Europa offiziell verboten, d.h. die Flos‐ Haiarten, darunter stärker bedrohte Arten denn in den Pandemie-Zeiten ist die sen müssen noch auf natürliche Weise mit wie der Kurzflossenmako und der Herings‐ direkte Ansprache äußerst schwierig“, so dem Tierkörper verbunden sein, wenn das hai, in Europa gefischt. Darüber hinaus Nils Kluger, Vorsitzender des StopFinnin‐ Schiff im Hafen entladen wird. Danach enthalten Flossenlieferungen aus Europa gEU e.V. „Wir freuen uns über alle, die können die Flossen vom Tier abgetrennt nach Asien auch geschützte Arten. 70 sich gegen das Abschlachten dieser wun‐ und nach Asien exportiert werden. Die Haiarten stehen auf der roten Liste gefähr‐ derbaren Geschöpfe einsetzen und können Einhaltung dieser Regel kann jedoch kaum deter Arten. Das Geschäft mit Haiflossen auch weitere engagierte Mitstreiter:innen kontrolliert werden. Außerdem hält es wird auch aus Europa bedient. Die Haibe‐ gebrauchen.“ Auf europäischer Ebene niemanden davon ab, auch in Europa mil‐ stände sind überall gefährdet. Das ist dra‐ sammelt die Initiative Unterschriften, um lionenfach Haie zu fangen und zu töten. matisch, weil Haie eine sehr wichtige einen entsprechenden Gesetzesentwurf in Länder wie Spanien, Portugal und Frank‐ Rolle im Ökosystem Meer einnehmen: das Europäische Parlament einzubringen. reich zählen zu den größten Haifangnatio‐ Paradoxerweise geht die Wissenschaft „Noch ist es nicht zu spät, es liegt in unse‐ nen weltweit. Allein im Jahr 2016 wurden davon aus, dass es weniger Fische gibt, wo rer Hand, diese Tiere zu schützen“, erklärt von Spanien offiziell 29.000 Tonnen Blau‐ Haie bereits verschwunden sind. Karen Reinhardt, Vorstandsmitglied Stop‐ hai, das entspricht etwa 1 Million Tieren, FinningEU e.V. angelandet. Trotz zunehmender Bedro‐ Für das Verbot des Handels mit Haiflossen ‖ Michael Kierdorf (Gastbeitrag) hung hat sich beispielsweise die gesamte in der Europäischen Union macht sich die Fangmenge an Blauhai im Atlantik gegen‐ Europäische Bürgerinitiative StopFinningEU Den Link zur Bürger:innen-Initiative findest du auf www.stop-finning.eu Information: Michael Kierdorf ist Kampaigner und Gründungsmitglied der Kamapgne Stop-Finning-EU. Eine Begegnung mit Zitronen- und Ammenhaien bewegte ihn dazu, seiner Leidenschaft für die Unterwasserwelt Taten folgen zu lassen. FW 70 | Seite 11
Kommentar Das Superwahljahr Ein spektakuläres Ende von 16 Jahren Stagnation Foto: icke_63 (Pixabay) FW 70 | Seite 12
S owohl in der medialen Berichter‐ diese stattfinden. Zum einen besteht dieser kommenden Wahljahr gelingen wird, die stattung, als auch in den Äußerun‐ Kontext aus dem Ende der letzten Amtszeit radikale Rechte zu verkleinern. Falls die gen von Politiker:innen ist der von Angela Merkel als Bundeskanzlerin. beiden Landtagswahlen die bereits stattge‐ Begriff Superwahljahr im Moment nahezu Zum ersten Mal in der Geschichte der BRD funden haben, ein Indikator sind, könnte allgegenwärtig. Aber je nachdem, wo von wird es eine Bundestagswahl geben, bei die AFD in den kommenden Wahlen dem Superwahljahr gesprochen wird, sind der die aktuelle Kanzlerin nicht mehr weiter schrumpfen. Allerdings gilt es hier damit natürlich ganz unterschiedliche antritt, was bedeutet, dass niemand von zu beachten, dass die die kommenden Interessen und Absichten verbunden. Zum der komfortablen Regierungsbank aus Wahlen vor allem in den östlichen Bundes‐ einen gibt es die nüchterne und sachliche antritt. Ohne diesen Amtsbonus ist die ländern stattfinden, wo die AFD sowohl Information, dass dieses Jahr besonders Wahl aber deutlich offener als sonst. Die stärker als auch radikaler ist, als in den viele Wahlen stattfinden. Für die Medien‐ letzten 16 Jahre waren mit den von der westlichen. Sollte es ihr also gelingen, dort vertreter:innen steht einerseits dieser CDU geführten Regierungen unter Angela Erfolge zu erzielen oder zumindest ihre informative Gehalt im Vordergrund, Merkel geprägt von einer konservativen Verluste besser zu begrenzen, als in den anderseits aber auch das Interesse, durch Hegemonie, die gesellschaftliche Fort‐ westlichen Bundesländern wäre damit der diesen Begriff ein besonders großes Inter‐ schritte verlangsamte und diese –wenn ganz rechte Flügel unter Höcke im Ver‐ esse auf ihre jeweilige politische Bericht‐ überhaupt – nur im Schneckentempo zuge‐ gleich zu seinem etwas weniger rechts erstattung zu lenken. Ganz nach dem Mot‐ lassen hat. So wurde die Ehe für gleichge‐ erscheinenden Rivalen Meuten deutlich to: „Verfolgt unsere Nachrichten genau! schlechtliche Paare zum Beispiel erst 2017 gestärkt. Ein weiterer „neuer“ Faktor in Was jetzt kommt ist sehr wichtig.“ möglich. Auch in wirtschaftlicher Sicht diesem Wahljahr ist, dass die Grünen die war die Politik von den Dogmen der SPD als große Partei die mit der CDU um Aus der Perspektive der Politiker:innen schwarzen Null auf der einen Seite und der die Regierungsführung kämpft, möglicher‐ steht hier ein agitatorisches Interesse im Festlegung auf die Marktwirtschaft als weise langfristig verdrängt haben, sodass Mittelpunkt. Der Begriff Superwahljahr nicht in Frage zustellendes System geprägt. es durchaus möglich ist, dass es nach der soll der jeweiligen politischen Basis vor Drängende Probleme wie die Klimakrise Wahl eine Kanzlerin Baerbock oder einen Augen führen, wie wichtig es ist, sich gera‐ wurden auf die lange Bank geschoben oder Kanzler Habeck geben wird. de dieses Jahr besonders zu engagieren nur unter der Prämisse angegangen, dass und wie wichtig es insbesondere ist, zur sich eine marktwirtschaftliche Lösung Und schließlich werden alle Wahlen dieses Wahl zu gehen. Superwahljahr ist also dafür finden lassen müsse. Ein Beispiel für Jahr unter dem Eindruck der Corona Krise mehr als eine politische Einschätzung. Der diese Politik ist der dysfunktionale Handel stattfinden, die alle ohnehin vorhanden Begriff Superwahljahr ist schon selbst mit CO2-Zertifikaten. Auch das Aufkom‐ Krisenherde noch weiter verschärft und sowohl Wahlkampf, als auch ein medialer men einer faschistischen Rechten im Parla‐ zugleich gnadenlos offenlegt, wie sehr Aufmerksamkeitsmagnet. Obwohl der ment fällt in die Zeit dieser konservativen Modernisierungen bisher versäumt wur‐ Begriff aber in aller Munde ist, herrscht Hegemonie, die mit allerhand hilflosen den und zugleich zeigt, wie groß die Krise oftmals eine große Verwirrung in Bezug Versuchen der Beschwichtigungspolitik sowohl in der Pflege als auch im Gesund‐ auf die politischen Perspektiven, Chancen versucht hat, die radikale Rechte wieder in heitssystem wirklich ist. Zudem zeigen und Gefahren, die dieses Jahr mit sich ihre Anhänger:innenschaft einzugliedern. sich langsam auch die wirtschaftlichen bringt. Zu forderst steht die Frage: Was ist Das mittlerweile schon sprichwörtliche Folgen der Krise, sodass die Arbeitslosen‐ es denn, was aus diesem Wahljahr ein Heimatministerium von Horst Seehofer zahlen und das Armutsrisiko geradezu Superwahljahr macht? steht symbolisch für diese Politik. sprunghaft in die Höhe schnellen. Ich Was also eine politische Veränderung denke das alles wird dazu führen, dass die Einerseits ist es die besonders große Häu‐ auf Regierungsebene angeht, sind die Wähler:innen am Wahltag deutlich kriti‐ fung unterschiedlicher Landtagswahlen, Chancen auf zumindest eine Änderung der scher bei der Bewertung der Politik sein die mit der Bundestagswahl im Herbst groben Richtung höher als in den letzten werden als sonst, sodass trotz dem deut‐ ihren Abschluss finden. Namentlich wird 16 Jahren, dafür spricht auch die aktuelle schen Hang zum „Weiter so“ möglicher‐ neben der Bundestagswahl noch in Sach‐ Korruptionskrise innerhalb der CDU/CSU, weise die Chance auf zumindest einen sen-Anhalt, Berlin, Mecklenburg-Vorpom‐ wobei es aber auch gut möglich ist, dass kleinen Wandel in der Politik besteht und mern und Thüringen gewählt, die Wahlen sich diese Krise auf die Bundestagswahl im schon das alleine würde reichen, um die‐ in Baden-Württemberg und Rheinland- Herbst nicht mehr großartig auswirkt. ses Wahljahr wirklich ungewöhnlich und Pfalz haben bereits stattgefunden. Deutlich vielleicht sogar ein wenig „Super“ sein zu bedeutender als die Anzahl der Wahlen Ein weiter wichtiger Aspekt des politi‐ lassen. ‖ Milan Nellen jedoch ist der politische Kontext, in dem schen Kontextes ist die Frage ob es im FW 70 | Seite 13
MITeinander Kolumne | Zwischenruf sprechen Z eiten ändern sich, Diskussionen Natürlich leben wir hier in Deutsch‐ nach der Grundschule hört die AG Streit‐ ändern sich, Sprache ändert sich. land in einer Gesellschaft in der wir a) so schlichten auf. Ab der 5. Klasse sind wir Alles verändert sich. Was vor 100 weit sind wie kaum eine andere (ohne das plötzlich auf uns allein gestellt, wenn es Jahren als normal galt, wird heute als ras‐ werten zu wollen!) und b) so weit wie darum geht, wie kommuniziert wird. Ja, sistisch eingeordnet. Es gibt zwar ein Frau‐ noch nie zuvor. In den letzten Jahren gab später vielleicht, eines Tages, wird es enwahlrecht, aber Gleichberechtigung? es unfassbar viele Fortschritte. Aber den‐ Redelisten geben in großen Plenen, aber Weitgefehlt. Gleichheit generell. Was ist noch. Viele Diskussionen, die wir gerade davor? In der Pubertät und im Studium, das schon. Und Freiheit. führen, drehen sich verbal um sich selbst, untereinander, scheint plötzlich alles Wir haben die Freiheit, alles zu sagen, hängen sich an Worten auf, stellen sich erlaubt. Gespräche werden zu Diskussio‐ alles zu tun (was nicht explizit verboten Beine, führen zu nichts. Nicht nur in grö‐ nen werden zu Schlammschlachten. ist). Gesellschaft lebt vom Diskurs. Verän‐ ßerem Rahmen von Politik und Gesell‐ Menschen, die eigentlich gleicher Mei‐ derung entsteht durch Diskurs. Und wenn schaft, auch in WhatsApp Gruppen und nung sind, zerfleischen sich regelrecht, wir doch die ganze Zeit diskutieren, reden, am Frühstückstisch. schlicht weil sie es können. Weil sie ja uns den Mund fusselig quatschen, zum sagen dürfen, was sie sagen wollen. Als Thema Frauenquote, Genderequality, Care- Das liegt nicht an den Diskussionen, son‐ müsste man sich an keinerlei Regeln hal‐ Arbeit, Rassismus, Bildungsungleichheit dern an der Art, wie sie geführt werden. ten, wenn es keine offiziellen Vorgaben aufgrund von Klassen... Wir reden und Oder noch eher an denen, die sie führen. zum Thema Netiquette gibt. Als hätte jede:r reden doch die ganze Zeit. Und trotzdem die Wahrheit mit Löffeln gefressen. Nur von Chancengleichheit keine Spur. Struktu‐ Wir haben das miteinander reden verlernt. wofür? ÄNDERN. Tut sich so nichts. Es gibt relle Veränderungen? Winken aus weiter Jede:r hat gelernt, dass er:sie seine:ihre kein Umdenken. Keine Einsicht, kein Ein‐ Ferne mit Zaunpfählen. Meinung vertreten darf und kann. Aber lenken. Alle haben weiter individuell recht. Wir müssen wieder lernen, MIT-einander zu reden. Foto: cottonbro (Pexels) FW 70 | Seite 14
» Viele Diskussionen, die wir gerade führen, drehen sich verbal um sich selbst, hängen sich an Worten auf, stellen sich Beine, führen zu nichts. « » Es gibt kein Umdenken. Keine Einsicht, kein Einlenken. Alle haben weiter individuell recht. « Es wird so viel darüber diskutiert, wie dis‐ terfragen, vielleicht sind wir zu sensibel. kutiert werden soll. Das ist auch wichtig, Vielleicht haken wir an „den falschen“ bis zu einem gewissen Punkt. Sprache ist Stellen ein, und vielleicht tragen wir so wichtig. Und mit Zeit und Diskussionen dazu bei, dass nicht mehr über Themen ändert auch sie sich. Ich bin die erste, die debattiert wird, sondern darüber, was sich für genderneutrale Sprache und poli‐ noch gesagt werden darf. tische Korrektheit einsetzt. Aber nicht, wenn darüber Inhalte verloren gehen. Letztlich aber geht es nicht darum. Son‐ Wenn statt über Sexismus nur über gender- dern darum, ob wir bereit sind, Strukturen Varianten debattiert wird und sich die ver‐ zu verändern. Strukturen, die doch schon schiedensten Lager gegeneinander auss‐ immer so sind, die doch gut funktionieren. pielen, dann läuft etwas schief. Wenn gen‐ Es geht darum, dass die Einrichtung einer dernde Feminist:innen solchen, die es Gleichstellungsstelle nicht automatisch für nicht tun, ihr feministisch-Sein abspre‐ Gleichstellung sorgt und das Ende jegli‐ chen, dann frage ich mich mit welchem cher Diskussion darstellt. Es geht darum, Recht? Wenn die jüngere Generation der dass wir Diskussionen auf Augenhöhe füh‐ älteren erzählt, was Feminismus eigentlich ren müssen. Dass sich etablierte Struktu‐ ist. Wenn alle Solidarität einfordern, aber ren ändern müssen, weil die Generationen sich immer nur von anderen Gruppen wechseln. distanzieren, dann frage ich mich, woher Aber. die Veränderungen kommen sollen und was ihre Definition von Solidarität ist? Und jetzt bin ich wieder relativ am Anfang. In hierarchischen Strukturen wie Uni oder Ich fordere etwas ein, was offensicht‐ Arbeitsplatz wird oft nach außen vertre‐ lich nicht einmal unter Studierenden oder ten, dass Kommunikation auf Augenhöhe meinetwegen Arbeitnehmer:innen funkti‐ stattfindet. Jede:r mit Problemen gehört oniert. Ich fordere Kommunikation mit wird. Gemeinsam nach Lösungen gesucht gegenseitigem Respekt. Und sehe um mich wird. Es im Grunde in dem Sinne gar keine herum (nicht bei meinen Freund:innen, Hierarchie mehr gibt. Das klingt alles sondern in größerem Rahmen), dass es schön und gut! Anarchie! Aber das ist in doch nicht funktioniert. Dass sich nicht der Realität nicht so. Oder jedenfalls sehr zugehört wird, Menschen einander nicht selten. Oder jedenfalls habe ich es selten ernst nehmen, oft übereinander, selten erlebt und in meinem Umfeld selten mit‐ miteinander reden. Dass nur des Diskutie‐ bekommen. rens Willen diskutiert wird. Dass Men‐ Strukturen werden am Ende doch ge‐ schen, gerade in der vermeintlichen Ano‐ nutzt, um Studierende oder Arbeitneh‐ nymität im Netz, den Respekt voreinander mer:innen klein zu halten. Natürlich nicht verlieren. Ob bewusst oder unbewusst ist immer, nicht in erster Linie zu diesem egal: Alle beanspruchen für sich, recht zu Zweck und bewusst! Aber doch… Wenn haben. Mit ihrer Meinung. Das sei die Studierende Kritik an Professor:innen wahre. Alles andere eben Spitzfindigkei‐ üben und mit Gegenbeispielen und -fra‐ ten oder schlichtweg Nonsens. gen, die die Expertise eben jener Kriti‐ Wir müssen wieder lernen, zu kommu‐ ker:innen überschreiten, konfrontiert wer‐ nizieren, solidarisch. den – dann ist das keine Diskussion auf Augenhöhe. Wenn Arbeitnehmer:innen Unter Solidarität versteht Heinz Bude erst nach öffentlicher Kritik an Unterneh‐ Beziehung auf Augenhöhe. Solidarität men ernst genommen werden, dann läuft funktioniert wechselseitig. Daran müssen das Beschwerdemanagement nicht rund. wir uns zurückerinnern. Denn Kommuni‐ Und ja: Vielleicht sind wir, die wir gen‐ kation kann auch nur so funktionieren: dern, uns unsererseits mit sprachlichen wechselseitig, miteinander. „Kleinigkeiten“ aufhalten, die wir unge‐ ‖ Helene Fuchshuber fähr alle gesellschaftlichen Strukturen hin‐ FW 70 | Seite 15
Sie können auch lesen