Gebrochene Versprechen - düstere Zukunft

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Gebrochene Versprechen - düstere Zukunft
GfbV-Bericht: Gebrochene Versprechen – düstere Zukunft
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Gebrochene Versprechen –
düstere Zukunft
Bezahlen indigene Völker und der Amazonas
den Preis für den Rohstoffhunger der Welt?
Gebrochene Versprechen - düstere Zukunft
GfbV-Bericht: Gebrochene Versprechen – düstere Zukunft
                                                                                                2

Die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) ist eine internationale Menschenrechtsorganisation, die
sich für verfolgte Minderheiten und indigene Völker ­einsetzt. Sie dokumentiert Menschenrechtsver-
letzungen, informiert und sensibilisiert die Öffentlichkeit und nimmt die Interessen der Betroffenen
gegenüber Behörden und Entscheidungsträgern wahr. Sie unterstützt lokale Bemühungen zur Stärkung
der Menschenrechte von Minderheiten und indigenen Völkern und arbeitet national sowie internatio-
nal mit Organisationen und Per­sonen zusammen, die ähnliche Zielsetzungen verfolgen. Die GfbV hat
sowohl beratenden Status beim Wirtschafts- und Sozialrat (ECOSOC) der UNO als auch beim Europarat.

Carmen Santana Dos Santos ist Praktikantin der GfbV im Bereich Kampagnen & Projekte. Sie studierte
„Mehrsprachige Kommunikation“ an der Zürcher Fachhochschule (ZHAW) und hat einen M.A.S. in „Peace
and Conflict Transformation“ der Universität Basel.

                Herausgeberin: Gesellschaft für bedrohte Völker Schweiz, Schermenweg 154, CH-3072
                Ostermundigen, Tel. 031 939 00 00, ­E-Mail: info@gfbv.ch, Web: www.gfbv.ch, Spen-
                denkonto: BEKB: IBAN CH05 0079 0016 2531 7232 1 Redaktion: Carmen Santana Dos
                Santos
Gebrochene Versprechen - düstere Zukunft
GfbV-Bericht: Gebrochene Versprechen – düstere Zukunft
                                                                                               3

Glossar
ANA          Agência Nacional de Águas                   Staatliche Wasserbehörde

ANEEL        Agência Nacional de Energia Elétrica        Brasilianische Elektrizitätsbehörde
                                                         Koordinationsstelle für isolierte Indi-
CII          Coordenadoria de Índios Isolados
                                                         gene
                                                         Allgemeine Koordinationsstelle für
             Coordenadoria Geral de Índios Isolados e
CGIIRC                                                   isolierte und vor kurzem kontaktierte
             Recém Contatados
                                                         Indigene
CIMI         Conselho Indigenista Missionário            Missionsrat für Indigene

Eletrobrás   Eletrobrás                                  Hauptenergieversorger Brasiliens

FUNAI        Fundação Nacional do Indio                  Nationale Stiftung der Indigenen
             Instituto Brasileiro do meio Ambiente e
IBAMA                                                    Brasilianische Umweltbehörde
             dos Recursos Naturais Renováveis
                                                         Brasilianische NGO, die sich mit indige-
ISA          Instituto Socioambiental
                                                         nen Völkern in Brasilien befasst
             Integración de la Infrastructura Regional   Initiative zur regionalen Infrastruktur-
IIRSA
             en América del Sur                          integration in Südamerika
                                                         Brasilianisches Konsortium, Konzessi-
NESA         Norte Energia S.A.
                                                         onsinhaber von Belo Monte
OEA          Organização dos Estados Americanos          Organisation Amerikanischer Staaten
                                                       Nationales Programm zur Beschleuni-
PAC          Programa de Aceleração do Crescimento
                                                       gung des Wachstums
             Reducing Emissions from Deforestation and Reduzierung von Emissionen aus Ent-
REDD
             Degradation                               waldung und Walddegradierung
RIMA         Relatório de Impacto Ambiental              Umweltverträglichkeitsprüfung/-studie

SPI          Serviço de Proteção ao Índio                Dienst zum Schutz der Indigenen

TI           Terra Indígena                              Indigenenreservat

UHE          Usina Hidroelétrica                         Wasserkraftwerk
Gebrochene Versprechen - düstere Zukunft
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Vorwort
Während Jahrhunderten erlebten die indigenen Völker in Brasilien - wie in vielen anderen Ländern auch
- Unterdrückung, Ausbeutung, Vertreibung, manchmal gar Ausrottung ganzer Gemeinschaften und Völker
und die Zerstörung ihrer kulturellen Identität. In den letzten Jahrzehnten aber keimte verschiedentlich
Hoffnung auf eine bessere Zukunft in Richtung Selbstbestimmung auf: Am 14. April 1961 wurde der grosse
Park für die Kayapo-Indigenen, der Nationalpark Xingù (Parque Indígena do Xingu), ins Leben gerufen. In
einer Aufbruchsphase nach Überwindung der jahrzehntelangen Militärdiktatur sprach Brasilien 1988 den
Indigenen durch die Annahme der Verfassung deutlich mehr Rechte zu und erteilte ihnen Landrechte im
Sinne der Demarkierung ihrer traditionellen Lebensräume – ein Meilenstein in der Indigenenpolitik Brasi-
liens. Mehr als 20 Prozent der Amazonasregion wurde in der Folge demarkiert. 2002 ratifizierte Brasilien
die Indigenenkonvention ILO 169 und verpflichtete sich damit zur Anerkennung der in dieser Konvention
festgelegten Indigenenrechte. Im September 2007 unterstützte Brasilien schliesslich das umfassendste
Rechtswerk auf internationaler Ebene, die Erklärung der Rechte indigener Völker der Vereinten Nationen,
und erklärte sich damit bereit, die Indigenenrechte umfassend zu verwirklichen.
Diese Hoffnungen erwiesen sich als falsch: Die brasilianische Regierung bremst in den letzten Jahren den
Demarkierungsprozess und damit ein Kernstück der von der Verfassung garantierten Rechte. Im Amazo-
nasregenwald wird ein Staudamm nach dem anderen bewilligt, ohne das Einverständnis der betroffenen
indigenen Völker einzuholen. Die verfassungsmässig garantierte Anhörung der Indigenen bei Projekten
entwickelt sich zu einem Feigenblatt für eine rasche Umsetzung wirtschaftlich fragwürdiger Unternehmen,
Im Rahmen der Bekämpfung der Armut – und im Interesse der Wirtschaft und Grossgrundbesitzer - möchte
die Regierung den artenreichen und als Ursprung sowie Heim vieler indigener Völker dienende Amazonas
in ein riesiges Industriezentrum verwandeln, was massive Auswirkungen auf die indigenen Völker, die Ar-
tenvielfalt und das lokale sowie das weltweite Klima haben wird.
Die wirtschaftliche Entwicklung Brasiliens der letzten zwei Jahrzehnte ist beeindruckend. Euphorisch plant
die brasilianische Regierung, fast jeden Fleck dieses riesigen Landes in landwirtschaftliche Produktion
umzuwandeln, möglichst jedes Mineral aus dem Boden zu holen, aus vielen Flüssen Strom zu erzeugen und
jedes Stück Wald, das geschützt werden soll, über den Kohlenstoffmarkt in bare Münzen zu verwandeln.
Dies führt paradoxerweise zur Zerstörung dessen, was man eigentlich schützen möchte: Dem Lebensraum
Amazonas.
Der wirtschaftliche Fortschritt darf nicht auf Kosten der indigenen Bevölkerung gehen, die dieses Land
während Jahrtausenden nachhaltig genutzt hatten, bevor das Land kolonialisiert wurde und den Namen
Brasilien erhielt. Er darf auch nicht auf Kosten des grössten Regenwaldgebiets gehen und damit die welt-
weite Klimaerwärmung anheizen. Brasilien ist mächtig geworden und muss damit mehr Verantwortung
übernehmen: Die wirtschaftliche Entwicklung muss in Einklang mit den Bedürfnissen der Betroffenen und
der Natur vorangetrieben werden.
Die Gesellschaft für bedrohte Völker sieht im völkerrechtlich abgestützten Konzept des freien, informierten
und vorherigen Einverständnisses (FIVE) der betroffenen indigenen Völker ein interessantes Instrument,
sodass die Konflikte um Landbesitz, Landnutzung und Selbstbestimmung gemindert oder gar zu gelöst
werden können. Es sieht vor, dass sämtliche Projekte, die das Leben der Indigenen betreffen, mit ihnen
ausgehandelt werden und dass ihr Einverständnis dafür gesucht wird. Dies hätte zur Folge, dass schaden-
mindernde Massnahmen diskutiert und umgesetzt werden und dass Kompensationen und Beteiligungen am
Gewinn ausgehandelt werden. Es bedeutet, dass die bisher vom Schaden betroffenen Menschen am Nutzen
beteiligt werden.
Es bedeutet aber auch, dass der Staat sich bereit zeigt, ein mögliches Nein der betroffenen Menschen zu
akzeptieren. Davon ist Brasilien noch weit entfernt.
Gebrochene Versprechen - düstere Zukunft
GfbV-Bericht: Gebrochene Versprechen – düstere Zukunft
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Mit diesem Bericht möchte die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) aufzeigen, wie verheerend sich der
heutige Trend auf die indigenen Völker sowie auf den Amazonas auswirken würde und warum es wichtig ist,
dass die Rechte der Indigenen umgesetzt werden. Ferner schlägt die GfbV Massnahmenbereiche vor, wie
Brasilien diese Rechte umsetzen könnte. Damit könnte Brasilien aufzeigen, dass wirtschaftliche Entwick-
lung und die Rechte der betroffenen Völker durchaus vereinbar sind und einen grossen Schritt in Richtung
fortschrittlicher, menschenrechtskonformer Politik gehen.

Bern, Juni 2012

Christoph Wiedmer
Geschäftsleiter
Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV)
Gebrochene Versprechen - düstere Zukunft
GfbV-Bericht: Gebrochene Versprechen – düstere Zukunft
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Inhaltsverzeichnis
1. Einführung                                                                            8
2. Allgemeine Informationen                                                             10
3. Rechtliche Grundlagen der Indigenenpolitik                                           11
   3.1 Die brasilianische Verfassung und das Indigenenstatut                            11
   3.2 Das oberste Gericht                                                              12
   3.3 Die Indigenenschutzbehörde FUNAI                                                 13
   3.4 Internationales Recht                                                            15
       3.4.1 Übersicht                                                                  15
       3.4.2 Deklaration über die Rechte indigener Völker                               15
       3.4.3 ILO-Konvention 169                                                         15
       3.4.4 Freies, Informiertes, Vorheriges Einverständnis - FIVE                     16
4. Indigene in Amazonien                                                                18
   4.1 Indigene                                                                         18
   4.2 Indigene mit Erstkontakt                                                         20
   4.3 Isolierte Indigene                                                               21
5. Wirtschaftliche und politische Bedrohungen                                           26
   5.1 Übersicht                                                                        26
   5.2 Wirtschaftliche Entwicklung                                                      27
       5.2.1 Initiative zur regionalen Infrastrukturintegration in Südamerika (IIRSA)   27
       5.2.2 Nationales Programm zur Beschleunigung des Wachstums (PAC)                 29
   5.3 Strassenbau                                                                      30
   5.4 Staudämme                                                                        31
       5.4.1 Aktuelle Situation                                                         31
       5.4.2 Geplante Staudämme                                                         32
       5.4.3 Staudamm Belo Monte                                                        34
       5.4.4 Teles Pires                                                                43
   5.5 Abholzung                                                                        45
   5.6 Bodenschätze                                                                     48
Gebrochene Versprechen - düstere Zukunft
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         5.6.1 Mineralienreichtum                                                    48
         5.6.2 Erdöl und -gas                                                        50
         5.6.3 Gold                                                                  51
   5.7 Politische Prozesse                                                           52
         5.7.1 Demarkierung der Indigenenreservate                                   52
         5.7.2 Waldgesetz                                                            52
   5.8 Landwirtschaft                                                                54
         5.8.1 Übersicht                                                             54
         5.8.2 Rinderzucht                                                           54
         5.8.3 Soja                                                                  54
         5.8.4 Zuckerrohr                                                            55
         5.8.5 Palmöl                                                                55
   5.9 Globaler Kohlenstoffmarkt                                                     56
6. Gesellschaftliche Bedrohung                                                       58
7. Schlusswort und Lösungsansätze                                                    60

Anhang
Literaturverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
Gesetzesartikel
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1. Einführung
Wachstum ist die Zauberformel, mit der die brasili-             de Folgen für die Menschen vor Ort, insbesondere
anische Regierung das Land seit Jahren entwickelt.              leiden darunter die indigene Bevölkerung und ihre
Seit der Einführung des exportorientierten Wachs-               Umwelt. Der Hunger nach Bodenschätzen, getrie-
tumsmodells mit Beginn der Amtszeit des damali-                 ben durch die grosse Nachfrage in den sogenannt
gen Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva im Jahr               entwickelten Ländern und in den aufstrebenden
2003 hat sich die Wirtschaftsleistung des Landes                Märkten China und Indien, lässt die Preise für Roh-
fast verdoppelt. 40 Millionen Brasilianerinnen und              stoffe steigen. Nun lohnt sich der Rohstoffabbau
Brasilianer sind in den vergangenen Jahren in die               auch in entferntesten Regionen des Regenwaldes.
Mittelschicht aufgestiegen, ungefähr 20 Millionen               Hunderte von Gesuche für die Mineralschürfung
konnten sich aus der totalen Armut befreien.                    wurden bereits eingereicht und zum Teil vom Mi-
Dafür wird ein enormer Preis bezahlt: Die ökologi-              nisterium für Bergbau bewilligt. Einige dieser Be-
schen Probleme werden immer grösser. Die Leidtra-               willigungen wurden sogar in Indigenenreservaten
genden sind insbesondere die Indigenen, die be-                 erteilt, was bis zum heutigen Tag illegal ist. Dies
reits seit der Kolonisierung des Kontinents in ihrer            geschah alles ohne das Wissen oder die Einwilli-
Existenz durch Krankheiten, Versklavung, Enteig-                gung der indigenen Völker, welche die rechtmässi-
nung ihres Landes, Entwaldung und Ausbeutung                    gen Nutzer dieser Gebiete sind.
der Bodenschätze bedroht werden. Viele indigene                 Auch neue Siedlungsgebiete und Anbauflächen für
Gemeinschaften sind im Laufe der Zeit ganz oder                 die Landwirtschaft weiten sich aus. Riesige Flächen
teilweise verschwunden oder haben sich in die Tie-              im Amazonaswald werden niedergebrannt und als
fen des Regenwaldes zurückgezogen. Im heutigen                  Sojaplantagen und Grasland für Vieh genutzt. Das
Brasilien leben noch 817‘000 indigene Menschen,                 Volk der Xikrin am Fluss Catete ist beispielswei-
was weniger als einem halben Prozent der gesam-                 se vollständig von intensiv genutzten Landwirt-
ten Bevölkerung entspricht1. Viele der traditio-                schaftsflächen umzingelt.
nellen Lebensräume oder Rückzugsgebiete werden                  Besorgniserregend ist zudem die Entwicklung der
mit oder ohne Erlaubnis der zuständigen Behörden                brasilianischen Gesetzgebung. Während Brasi-
ausgebeutet und zerstört.                                       lien mit der Verfassung von 1988 einen grossen
Das brasilianische Entwicklungsprogramm, das                    Schritt in Richtung modernen Indigenenschutz
sogenannte Programm zur Beschleunigung des                      unternahm, demontiert seither das Parlament den
Wachstums (PAC), das die brasilianische Regierung               menschenrechtlichen Schutz der Indigenen und
zur Bekämpfung der Armut entwickelte, umfasst                   deren Lebensraum. Ein Beispiel ist der Entwurf
riesige Infrastrukturbauten. Geplant sind neue                  des Waldgesetzes, das eine massive Zunahme der
Staudämme, ein enormer Ausbau der Nutzung von                   Abholzung und eine Amnestie für Waldgesetzes-
Rohstoffen, Erdöl und Erdgas sowie der Bau von                  brecher zur Folge haben wird. Äusserst besorgnis-
Strassen. Ausserdem sind Projekte im Bereich städ-              erregend ist der Gesetzesentwurf PL 1610/1996
tischer und sozialer Infrastruktur in ganz Brasilien            zur Regelung der Demarkierung der Indigenenre-
geplant.                                                        servate. Wenn dieser angenommen wird, würde er
Nun nimmt diese Entwicklung eine neue Dimension                 die Tore zum kommerziellen Rohstoffabbau auch in
an: Seit 2011 werden die umstrittenen Staudämme                 Indigenenreservaten öffnen. Gemäss der brasilia-
Belo Monte und Teles Pires im Bundesstaat Pará                  nischen Nichtregierungsorganisation Instituto So-
gebaut. Es bestehen zudem Pläne für bis zu 258                  cioambiental (ISA) wurden bis ins Jahr 2010 1‘338
weitere Staudämme im Amazonasgebiet2.                           Schürfgenehmigungen in den Reservaten erteilt.
Nicht nur die Wasserkraftwerke haben verheeren-                 10‘348 entsprechende Anfragen sind in Bearbei-

__________
1 Vgl. http://www.funai.gov.br
2 Vgl. Movimento dos Atingidos por Barragens (2008): Hidréletricas no Rio Madeira: Energia para qué? E para quem?, http://
www.mabnacional.org.br/publicacoes/cartilha_riomadeira_miolo_2ed.pdf, Seite 7.
Gebrochene Versprechen - düstere Zukunft
GfbV-Bericht: Gebrochene Versprechen – düstere Zukunft
                                                                                                                         9

tung, obwohl das Gesetz noch nicht verabschiedet
wurde (siehe Kapitel Bergbaugesetz)3.
Neben diesen gesetzgeberischen Entwicklungen
richtet sich auch die Realpolitik der Regierung
klar gegen die Interessen der indigenen Völker
und wirkt sich verheerend auf den Schutz ihres Le-
bensraumes aus. Invasionen von Siedlern, Goldwä-
schern und Wilderern wird kein Einhalt geboten.
In vielen Konfliktzonen ist der Staat nicht präsent.
Neue Indigenenreservate werden kaum mehr aus-
gewiesen. Die Gewalt an indigenen Menschen ist
besorgniserregend hoch.
Brasilien kann stolz sein auf die kulturelle Vielfalt,
die sich in diesem riesigen Land gebildet hat. Dazu
gehören die kaum mehr vorhandenen indigenen
Völker, die noch vollständig ohne Kontakt mit an-
deren Gruppen oder in freiwillig gewählter Isolati-
on leben. Unbeeinflusst von der „Aussenwelt“ hat
sich bei ihnen eine jahrhundertealte Kultur entwi-
ckelt, die es um jeden Preis zu schützen gilt. Da
diese Gemeinschaften besonders gefährdet sind,
gilt ihnen ein besonderes Augenmerk.
Brasilien hat sich nicht nur der Bekämpfung der
Armut verschrieben. Durch die Ratifizierung der
Indigenenkonvention ILO 169 und durch die Zu-
stimmung zur UNO-Deklaration über die Rechte der
indigenen Bevölkerung hat sich Brasilien auch dem
Schutz der Indigenen verpflichtet. Diesen Zuge-
ständnissen müssen nun Taten folgen. Der Schutz
der indigenen Bevölkerung muss weiterentwickelt
werden, die zugesprochenen Territorien müssen
vollständig ausgewiesen und die Mitbestimmung
der indigenen Bevölkerung muss garantiert wer-
den.
Die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) stellt
in diesem Bericht ein Konzept vor, das zur Lösung
vieler Konflikte beitragen könnte: Das Recht der
indigenen Bevölkerung auf ihr freies, informiertes
und vorheriges Einverständnis bei allen Aktivitäten
Dritter, die sie oder ihre Lebensweise beeinflussen.

__________
3 Vgl. Veríssimo, Adalberto et al. (2011): Protected Areas in the Brazilian Amazon, http://www.socioambiental.org/ban-
co_imagens/pdfs/10381.pdf, Seite 76.
Gebrochene Versprechen - düstere Zukunft
GfbV-Bericht: Gebrochene Versprechen – düstere Zukunft
                                                                                                                      10

2. Allgemeine Informationen
Brasilien ist das weltweit fünftgrösste Land und   rei, der Kautschukboom und die Diskriminierung
verfügt über eine Fläche von 8‘511‘950 km². Die    hatten diese Zahl im Laufe der folgenden Zeit
grosse ethnische Vielfalt entstand durch Durch-    massiv verringert. Seit 28 Jahren ist die indigene
mischung der ursprünglichen indigenen Bevölke-     Bevölkerung erstmals wieder am Wachsen. Nun be-
rung Brasiliens mit portugiesischen Siedlern und
mit verschleppten afrikanischen Sklaven. Später
auch Immigranten aus Europa, dem Nahem Osten
und Asien hinzu. Zu den indigenen Völker zählen
laut offiziellen Statistiken der FUNAI noch unge-
fähr 817‘000 Menschen4. Dies entspricht ca. 0.4
Prozent der Gesamtbevölkerung. Sie leben in Ge-
meinschaften in den Reservaten und in Städten.
In Brasilien wurden bis ins Jahr 2011 643 Indige-
nenreservate demarkiert, die insgesamt eine Flä-
che von 1‘154‘999km², knapp 28-mal die Fläche
der Schweiz, einnehmen5.
Im 16. Jahrhundert, zur Zeit der portugiesischen
Kolonisation, lebten schätzungsweise noch 1‘000
indigene Gemeinschaften und je nach Schätzun-
gen und Quelle zwischen ein bis zehn Millionen Abbildung 2: Situierung Amazonien (Quelle: Imazon8)
indigene Personen in ganz Brasilien6. Gewaltsame
Konflikte, gezielte Tötungen, Krankheiten, Sklave- drohen die neuen wirtschaftlichen Entwicklungs-
                                                   projekte erneut die Existenz der indigenen Völker.
                                                   Das brasilianische Amazonasgebiet erstreckt sich
                                                   auf einer Fläche von 4‘200‘000 km², das heisst es
                                                   bedeckt die Hälfte des Landes9. Von dieser Flä-
                                                   che stehen ungefähr 43 Prozent unter Schutz: 49.4
                                                   Prozent ist Naturschutz und 50.6 Prozent sind
                                                   Indigenenreservate. Diese Schutzgebiete leiden
                                                   zunehmend unter Übergriffen wegen schlechter
                                                   Verwaltung und unzureichenden Kontrollen seitens
                                                   der Regierung.

Abbildung 1: Brasilien (Quelle: muz7 )
__________
4 Vgl. http://www.funai.gov.br
5 Vgl. Carneiro Filho, Arnaldo/ Braga de Souza, Oswaldo (2009): ATLAS of Pressures and Threats to Indigenous Lands in the
Brazilian Amazon, http://www.socioambiental.org/banco_imagens/pdfs/AtlasofPressuresandThreatstoIndigenousLandsinthe-
BrazilianAmazon.pdf, Seite 13.
6 Vgl. http://www.funai.gov.br
7 Quelle: http://www.muz-online.de/america/brasilien1.html
8 Quelle: http://www.imazon.org.br/mapas/amazonia-legal/view
9 Auch bekannt unter der Bezeichnung „Amazonien“ - in Brasilien wird dieses Gebiet auch Amazônia Legal genannt. In die-
sem Bericht werden die Begriffe Amazonien und Amazonasgebiet als Synonyme verwendet.
GfbV-Bericht: Gebrochene Versprechen – düstere Zukunft
                                                                                                                         11

3. Rechtliche Grundlagen der Indigenenpolitik
3.1 Die brasilianische Verfassung und                            231 der brasilianischen Verfassung ermöglicht eine
das Indigenenstatut                                              Demarkierung der Siedlungsgebiete von isolierten
                                                                 Indigenen, ohne zuvor direkt mit ihnen in Kontakt
Nach Überwindung der Militärdiktatur erhielt der                 getreten zu sein. Früher hatte der brasilianische
brasilianische Staat am 5. Oktober 1988 eine neue                Staat eine indigene Gruppe und deren Gebiet erst
Verfassung. Neben fortschrittlichen Elementen für                dann anerkannt, wenn die Gemeinschaft kontaktiert
eine moderne Menschenrechtspolitik enthielt sie                  wurde und eine Volkszählung erfolgt war. Werden
auch progressive Paragraphen zu den Rechten der                  heute konkrete Hinweise gefunden, dass isolierte
Indigenen. Die Paragraphen 231 und 232 unter-                    Indigene in einer Region leben, wird der Demarkie-
teilen die indigene Bevölkerung in drei Gruppen:                 rungsprozess durch die Mitarbeiter der Indigenen-
integrierte, teil-integrierte und isolierte indigene             schutzbehörde FUNAI initiiert und durchgeführt.
Gemeinschaften. Die Verfassung bezieht sich auf                  Das Sammeln von Hinweise und Spuren, die darauf
den Schutz der indigenen Gemeinschaften und de-                  hinweisen, welches konkrete Gebiet von den In-
ren traditionellem Leben. Zusätzlich bildet sie die              digenen genutzt wird, kann einige Jahre dauern.
Grundlage für die Errichtung indigener Reservate.                Gleichzeitig werden von der FUNAI an strategisch
Auch in Bezug auf die isolierten Indigenen verbes-               wichtigen Punkten wie etwa an Flussmündungen,
serte sich die Verfassung, denn sie werden nicht                 spezielle Überwachungsposten eingerichtet, um
mehr per se kontaktiert, sondern ihre freiwillige                den Lebensraum der isolierten Indigenen vor dem
Isolation wird respektiert.                                      Zutritt von Unbefugten zu schützen.
Parallel zur progressiven Verfassung ist jedoch
auch das veraltete Indigenenstatut vom Jahr 1973
immer noch in Kraft, welches den Grundsatz des
Zivilgesetzbuches von 1916 widerspiegelt. Es ent-
spricht nicht mehr den Bestimmungen der Verfas-
sung und den Forderungen der indigenen Völker.
Eine verfassungsangepasste Neuregelung ist aber
seit geraumer Zeit im Parlament blockiert. Das alte
Indigenenstatut wurde noch unter der Militärdik-
tatur geschrieben und deklariert die Indigenen als
unmündige Personen, was verschiedenste interna-
tionale und nationale Richtlinien verletzt.
Des Weiteren schreibt der Artikel 1 des Statuts vor,
dass die indigene Bevölkerung auf harmonische
und fortschrittliche Weise in die brasilianische Ge-
sellschaft integriert werden soll10. Die Verfassung
von 1988 gibt aber den Indigenen ausdrücklich
kulturelle Autonomie und widerspricht damit dem
Statut. Dies ergibt ein unübersichtliches nationa-
les Rechtsgefüge auf Kosten der betroffenen Ge-
meinschaften.
Die gesetzlichen Grundlagen zum Schutz der iso-
lierten Indigenen sind damit im Prinzip gegeben,
jedoch mangelt es an deren Umsetzung. Der Artikel
__________
10 Übersetzung des Portugiesischen: Art.1º Esta Lei regula a situação jurídica dos índio ou silvícolas e das comunidades indí-
genas, com o propósito de preservar a sua cultura e integrá-los, progressiva e harmonicamente, à comunhão nacional – FUNAI:
LEI Nº 6.001 - DE 19 DE DEZEMBRO DE 1973, http://www.funai.gov.br/quem/legislacao/estatuto_indio.html
GfbV-Bericht: Gebrochene Versprechen – düstere Zukunft
                                                                                  12

3.2 Das oberste Gericht
Das oberste Bundesgericht (Supremo Tribunal Fe-
deral, STF) ist unter anderem für verfassungsrecht-
liche Fragen zuständig und befasst sich auch mit
Entscheiden, welche die Indigenen betreffen. Eine
wichtige Entscheidung, die sich teilweise negativ
auf die Indigenen auswirkt, wurde am 19. März
2009 getroffen. Die Indigenen des Gebiets Raposa
do Sol kämpften jahrelang für eine Demarkierung
und alleinige Nutzung ihres Gebiets. Den Status
als indigenes Reservat hatte der ehemalige Präsi-
dent Luiz Inácio Lula da Silva im Jahr 2005 zuge-
sprochen, aber eine Gruppe von Reisbauern wehr-
ten sich dagegen und reichten einen Antrag beim
obersten Gericht ein, wobei sie die Aufhebung der
legalen Anerkennung des Territoriums durch die
Regierung forderten. Das Gericht lehnte die Kla-
ge der Reisbauern ab und erteilte den Indigenen
das alleinige Nutzungsrecht der Reservate, machte
jedoch gleichzeitig klar, dass die nationale Souve-
ränität und das öffentliche Interesse über diesem
Recht stehen. Im Falle von militärischen Einrich-
tungen, Gesundheits- oder Bildungsinstitutionen,
von Strassenbau, Dämmen oder anderen alternati-
ven Methoden von Energieproduktion und Bergbau
müsse das Parlament entscheiden, ob diese Pro-
jekte auch in den Reservaten durchgeführt werden
können oder nicht.
Zurzeit ist ein Gesetzesentwurf in der Vernehm-
lassung, der diese Entscheidung gesetzlich regeln
soll. Zwar ist dabei eine Anhörung der Indigenen
vorgesehen, nicht aber ihr Mitbestimmungsrecht.
GfbV-Bericht: Gebrochene Versprechen – düstere Zukunft
                                                                                                                        13

3.3 Die Indigenenschutzbehörde FUNAI                             ansprucht wird. Der daraus folgende Bericht muss
                                                                 vom Präsidenten der FUNAI bestätigt werden. Die-
Die Nationale Stiftung der Indigenen (Fundação
                                                                 ser veröffentlicht eine Zusammenfassung und lei-
Nacional do Indio, FUNAI) ist eine nationale Or-
                                                                 tet diesen Report an das Justizministerium weiter.
ganisation zum Schutz und zur Unterstützung der
Indigenen in Brasilien. Sie hat ihren Hauptsitz in               2. Verlautbarung: Das Justizministerium gibt
Brasilia und ist dem Justizministerium unterstellt.              nach Erhalt des Vorgangs innerhalb von 30 Tagen
Bis zur neuen Verfassung war das Hauptziel die-                  die Grösse des indigenen Gebietes bekannt.
ser Behörde die Integration der Indigenen in die                 3. Demarkierung: Es folgt die tatsächliche Ver-
Mehrheitsgesellschaft. Danach hat die FUNAI ihre                 messung und Abgrenzung des indigenen Territo-
Strategie geändert und unter anderem eine eigene                 riums.
Koordinationsstelle (CII) für in freiwilliger Abge-              4. Zulassung: Der Präsident oder die Präsidentin
schiedenheit lebende Völker und eine eigene Ab-                  der Republik bestätigt mit der Unterschrift die De-
teilung für isolierte und vor kurzem kontaktierte                markierung.
Völker (CGIIRC) eingerichtet. Die Hauptaufgabe der               5. Eintrag im Grundbuch: Nach der Zustimmung
CGIIRC ist die Lokalisierung der isolierten Indige-              durch den Präsidenten oder die Präsidentin wird
nen, ohne jedoch Kontakt mit ihnen aufzunehmen.                  das indigene Territorium in einem Notariat offiziell
Die FUNAI ist heute zuständig für die Durchfüh-                  registriert12.
rung aller Massnahmen zugunsten der indigenen
                                                                 Der ganze Prozess kann sich endlos in die Län-
Gemeinschaft Brasiliens und muss sicherstellen,
                                                                 ge ziehen, wenn die nicht-indigene Bevölkerung
dass die Gesetze, die Verfassung und das veralte-
                                                                 Einspruch erhebt. Ein weiteres Problem besteht
te Indigenenstatut eingehalten werden. Seit Ende
                                                                 darin, dass in vielen Indigenenreservaten illegal
2009 wirkt die FUNAI nicht mehr als Vormund der
                                                                 Minen erschlossen werden und Wald gerodet so-
indigenen Völker, sondern verfügt über Kompe-
                                                                 wie Gold geschürft wird, obwohl es die Aufgabe
tenzen, die Indigenen im Namen der Regierung
                                                                 der FUNAI wäre, die Grenzen der demarkierten
zu schützen und ihre Rechte zu garantieren. Des
                                                                 Gebiete zu schützen und derartige Aktivitäten zu
Weiteren müsste die FUNAI die Indigenen über
                                                                 verhindern. Als Folge davon erscheint die FUNAI
Projekte, die sie betreffen, informieren und mit ih-
                                                                 immer wieder in einem schlechten Licht. Obwohl
nen eine gemeinsame Lösung möglicher Konflikte
                                                                 viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der FUNAI
finden. Diese Aufgabe wird aber gemäss Indigenen
                                                                 einen ausgezeichneten Einsatz für die Indigenen
unzureichend wahrgenommen11.
                                                                 leisten, hat sich die FUNAI zunehmend zu einem
Eine zentrale Aufgabe der Behörde ist die Demar-                 Instrument der Regierung entwickelt, um ihre Ent-
kierung und die Durchsetzung der Grenzen der In-                 wicklungspolitik gegenüber der indigenen Bevöl-
digenenreservate. Die Demarkierung – der Prozess                 kerung durchzusetzen. Sie ist keine Institution
der Überführung des traditionellen Nutzgebietes                  der indigenen Bevölkerung. So wurde zum Beispiel
indigener Gemeinschaften in ein Indigenenreser-                  Megaron Txucarramãe13 , ein Häuptling der Kayapo
vat – vollzieht sich in Brasilien in mehreren recht-             im Xingu-Gebiet, der für die FUNAI als regionaler
lich vorgeschriebenen Schritten:                                 Koordinator arbeitete, aufgrund seiner Opposition
1. Identifizierung: Eine Arbeitsgruppe der FUNAI                 gegen den Belo Monte-Staudamm entlassen14.
identifiziert die Region, die von den Indigenen be-
                                                                 Die FUNAI geniesst immer weniger Vertrauen bei
__________
11 Vgl. Ricardo, Beto / Ricardo, Fany (2011): Povos Indígenas No Brasil 2006/2010, Instituto Socioambiental, São Paulo, Seite
92.
12 Vgl. ISA: Demarcation Process, http://pib.socioambiental.org/en/c/terras-indigenas/demarcacoes/como-e-feita-a-demar-
cacao-hoje
13 Megaron Txucarramãe ist der Häuptling des Stammes der Kayapo und einer der wichtigsten Indigenenführer Brasiliens. Er ist
der Neffe des Indignenhäuptlings Raoni, der vor 20 Jahren mit Unterstützung des Sängers Sting eine internationale Kampagne
gegen den Belo Monte Staudamm lancierte. 1982 war er der erste indigene Präsident der FUNAI.
14 Vgl. Plattform Belo Monte (01.12.2011): Índios besetzen Fuani und fordern Rückkehr von Kazike Megaron, http://plattform-
belomonte.blogspot.com/2011/12/indios-besetzen-nach-entlassung-von.html
GfbV-Bericht: Gebrochene Versprechen – düstere Zukunft
                                                                                 14

den indigenen Gemeinschaften. Diese verlangen
daher seit geraumer Zeit eine nationale Indige-
nenorganisation, in der sie die Führung und Ent-
scheidung selbst übernehmen und für ihre Rechte
einstehen können.
GfbV-Bericht: Gebrochene Versprechen – düstere Zukunft
                                                                                                                     15

3.4 Internationales Recht                                      tion (siehe Anhang) beziehen sich auf das Selbst-
                                                               bestimmungsrecht der indigenen Bevölkerung, und
3.4.1 Übersicht
                                                               der Artikel 8 legt fest, dass ihre Kultur und Lebens-
Seit Jahrzehnten setzen sich die Indigenen für                 weise respektiert werden muss.
die Anerkennung ihrer Rechte ein. Die zentralen
Forderungen sind:                                              3.4.3 ILO-Konvention 169

• Das Recht auf Selbstbestimmung                               Die ILO-Konvention 169 ist die einzige interna-
• Das Recht auf ihr Land                                       tionale Norm, die den Indigenen rechtsbindend
• Das Recht, ihr Land und Ressourcen selber zu                 Schutz und Anspruch auf eine Anzahl an Grund-
nutzen oder die Nutzung anderer kontrollieren zu               rechten garantiert. Diese Konvention ist am 5.
können.                                                        September 1991 in Kraft getreten. Brasilien un-
                                                               terzeichnete sie am 25. Juli 2002 und verpflichtet
Während die Rechte der indigenen Völker in kaum
                                                               sich damit, die 44 Artikel der grundlegenden Rech-
einem Land umfänglich garantiert werden, macht
                                                               te der Indigenen in ihre nationale Gesetzgebung
die Rechtsentwicklung auf internationaler Ebene
                                                               aufzunehmen und durchzusetzen16.
Fortschritte, wie in den folgenden Unterkapiteln
aufgezeigt wird. So haben bisher 22 Länder die In-             In Bezug auf die Infrastrukturprojekte und Wirt-
digenenkonvention der Arbeitsorganisation (Inter-              schaftsprojekte in Brasilien geben die Artikel 6,
national Labour Organization) ILO 169 ratifiziert.             7 und 15 Rahmenbedingungen vor, wie die Regie-
Zudem hat im 2007 die Vollversammlung der Ver-                 rung mit den Indigenen umgehen müsste, um sie
einten Nationen die Deklaration zu den Rechten                 in die Pläne einzubeziehen.
der Indigenen Völker angenommen. Im Februar                    Am 2. März 2012 hat die Expertenkommission der
2012 erstellte die UNO Richtlinien für den Um-                 ILO einen Bericht zur Umsetzung dieser Konventi-
gang mit isolierten Völkern. Sie heben hervor, dass            on veröffentlicht17, in der sie Brasilien auffordert
das Land der isolierten Völker unantastbar sei und             „die erforderlichen Massnahmen zur Durchführung
dass keine Rechte auf Ressourcen-Ausbeutung auf                von Konsultationen der betroffenen indigenen Völ-
ihrem Territorium erteilt werden dürfen. Bei der               ker gemäss Artikel 6 und 15 der Konvention 169
Durchsetzung dieser Verpflichtungen besteht bei                zum Bau des Wasserkraftwerks Belo Monte zu tref-
der brasilianischen Regierung wie bei den meisten              fen, bevor mögliche schädliche Auswirkungen die-
anderen Ländern grosser Nachholbedarf.                         ses Projekts irreversibel sind und in Absprache mit
                                                               den indigenen Völkern zusammen zu arbeiten, um
3.4.2 Deklaration über die Rechte indigener
                                                               festzustellen, ob die Prioritäten der indigenen Völ-
Völker
                                                               ker respektiert werden. Zudem soll die brasiliani-
Am 13. September 2007 hat die Generalversamm-                  sche Regierung Massnahmen zur Risikobegrenzung
lung der Vereinten Nationen die Deklaration der                planen und die betroffene Bevölkerung angemes-
Rechte für Indigene Völker (UNDRIP15) angenom-                 sen entschädigen18.“
men. Brasilien hat der Deklaration zugestimmt,
                                                               Auch die Interamerikanische Kommission für
die unter anderem einen universellen Rahmen an
                                                               Menschenrechte der Organisation Amerikanischer
Mindeststandards in den Bereichen Überleben,
                                                               Staaten (IACHR) hat die brasilianische Regierung
Würde, Wohlergehen und Rechte der Indigenen
                                                               aufgrund der Nicht-Einhaltung der ILO-Konvention
fordert. Nun sollte Brasilien die Verpflichtungen in
                                                               169 wegen des Kraftwerks Belo Monte kritisiert.
die brasilianische Gesetzgebung aufnehmen. Die
                                                               Brasilien reagierte verärgert und setzte ihren finan-
Deklaration garantiert den indigenen Völkern ex-
                                                               ziellen Beitrag an die Organisation Amerikanischer
plizit als Kollektiv und auch den Individuen alle
                                                               Staaten aus. Auf regionaler Ebene scheint die ILO-
Menschenrechte. Die Artikel 3 und 4 der Deklara-
__________
15 UNDRIP = United Nations Declaration on the Rights of Indigenous Peoples.
16 Vgl. ILO (2011): Convention Nr. C169, http://www.ilo.org/ilolex/cgi-lex/ratifce.pl?C169.
17 Vgl. ILO (2012): Informe de la Comisión de Expertos en Aplicación de Convenios y Recomendaciones, http://www.politi-
caspublicas.net/panel/images/stories/docs/2012-informe-ceacr-oit-pueblos-indigenas.pdf
18 Vgl. Plattform Belo Monte (05.03.2012): Belo Monte verletzt die ILO-Konvention 169, http://plattformbelomonte.
blogspot.com/2012_03_01_archive.html
GfbV-Bericht: Gebrochene Versprechen – düstere Zukunft
                                                                                                                        16

Konvention dagegen auf breitere Unterstützung zu                  nach Vereinbarung einer gerechten und fairen
stossen: Die Bundesanwaltschaft des Staates Pará                  Entschädigung stattfinden, wobei nach Möglich-
hat beispielsweise mehrfach Beschwerde einge-                     keit eine Option auf Rückkehr bestehen muss.21“
reicht gegen die Bewilligungsverfahren der Stau-                 Der aktuelle FUNAI-Präsident Márcio Meira hat an
dämme und dabei auf die mangelnde Umsetzung                      einem Treffen mit Indigenenvertretern zum Was-
der Konvention 169 aufmerksam gemacht.                           serkraftwerk Belo Monte im Januar 2012 ausge-
3.4.4 Freies, informiertes, vorheriges Einver-                   sagt, dass die FUNAI nicht wisse, wie man eine
ständnis - FIVE                                                  solche Anhörung und die Miteinbeziehung der In-
Ein zentrales Instrument zur Durchsetzung der                    digenen durchführen müsste22.
Rechte der Indigenen ist das freie, informierte
und vorherige Einverständnis (FIVE19). Das heisst,
wenn Dritte im Gebiet eines indigenen Volkes aktiv
werden wollen, müssen diese das Einverständnis
der betroffenen Bevölkerung einholen. Dazu müs-
sen vorgängig ernsthafte Verhandlungen über das
geplante Projekt geführt werden. Mit Hilfe dieses
Konzeptes können schadenminimierende Massnah-
men, Kompensationen für die Beeinträchtigung
und eine Gewinnbeteiligungen ausgehandelt wer-
den. Damit bietet das FIVE eine Chance für eine
nachhaltige Entwicklung für die betroffene Be-
völkerung. Industrielle oder Infrastrukturprojekte
müssten damit einen stärkeren Beitrag für die lo-
kale, nachhaltige Entwicklung leisten, wollen sie
eine Chance für die Zustimmung der betroffenen
Bevölkerung erhalten.
Vor dem Bau der Wasserkraftwerke Belo Monte und
Teles Pires sowie den meisten anderen Bauvorha-
ben in Amazonien wurden die Indigenen vor Ort
nicht oder ungenügend über die Projekte infor-
miert und einbezogen. Der Artikel 10 der UNO-Re-
solution 61/29520, dem Brasilien zugestimmt hat,
schreibt Folgendes vor:
 „Indigene Völker dürfen nicht zwangsweise aus
 ihrem Land oder ihren Gebieten ausgesiedelt wer-
 den. Eine Umsiedlung darf nur mit freiwilliger und
 in Kenntnis der Sachlage erteilter vorheriger Zu-
 stimmung der betroffenen indigenen Völker und
__________
19 Der Ausdruck „FIVE“ ist auch unter dem englischen Akronym FPIC (Free, Prior and Informed Consent) bekannt.
20 Die Arbeitsgruppe in Bezug auf die indigene Bevölkerungen war neben dem ständigen Forum über indigene Angelegenhei-
ten und dem Sonderberichterstatter zur Lage der Menschenrechte und grundlegenden Freiheiten indigener Völker eines der
drei Organe der Vereinten Nationen, das sich ausschliesslich mit der Situation der indigenen Völker befasst. Im 1985 fing die
Arbeitsgruppe bereits mit der Erarbeitung der UNO-Erklärung der Rechte der indigener Völker an, die dann erst im 2007 von der
UNO-Versammlung verabschiedet wurde.
21 Vgl. UN: Resolution ohne Überweisung an einen Hauptausschuss, www.un.org/esa/socdev/unpfii/documents/
Declaration(German).pdf, Seite 16-25.
22 Vgl. Xingu Vivo: Problemas continuam sem respostas após reunião com presidencia da Funai, dizem indígenas (26.01.2012),
http://www.xinguvivo.org.br/2012/01/26/problemas-continuam-sem-respostas-apos-reuniao-com-presidencia-da-funai-di-
zem-indigenas.
GfbV-Bericht: Gebrochene Versprechen – düstere Zukunft
                                                                                                                     17

Die Gesellschaft für bedrohte Völker hat sich intensiv mit der Umsetzung des FIVE-Konzeptes beschäftigt.
In einer Studie zur Anwendung des FIVE im Kongobecken kam die GfbV zu folgenden Schlüssen:

      •      FIVE ist auf alle Projekte anzuwenden, welche die indigene Bevölkerung und deren Le-
             bensraum betreffen.
      •      Alle relevanten Informationen müssen vor den Aktivitäten bekannt gegeben werden.
      •      Die Informationen müssen so aufgearbeitet sein, dass sie objektiv sind, transparent ver
             mittelt werden und von den indigenen Gemeinschaften verstanden werden.
      •      Eine breite Konsultation unter Berücksichtigung sämtlicher Betroffenengruppen muss
             durchgeführt werden.
      •      In den Verhandlungen darf keinerlei Druck oder Manipulation gegen die Betroffenen aus
             geübt werden.
      •      Die Betroffenen haben das Recht, „Ja“ zu sagen.
      •      Die Betroffenen habe das Recht, „Wie“ zu sagen und solange zu verhandeln, bis sie ein
             verstanden sind.
      •      Die Betroffenen haben aber auch das Recht, „Nein“ zu sagen.
      •      Zentrale Aspekte der Verhandlungen sind: Schadensmindernde Massnahmen, Einrich-
             tung von Schutzgebieten, Kompensation für Schäden und Beteiligung am Mehrwert, der
             durch das Projekt generiert wird.
      •      Am Ende der Verhandlungen entscheiden die Betroffenen, ob sie ihr Einverständnis ge-
             ben oder nicht.
      •      FIVE ist nicht ein einmalig einzuholendes Einverständnis. Es muss während des gesam-
             ten Projektes weiter verhandelt werden. Insbesondere muss der Informationsfluss und
             der ständige Einbezug der indigenen Gemeinschaften gewährleistet sein. Bei neuen
             Informationen, oder falls sich Informationen als falsch erweisen sollten, können die Ge-
             meinschaften ihr Einverständnis auch wieder zurückziehen23.

__________
23 Lewis, Jerome et al. (2008): Free, Prior and Informed Consent and Sustainable Forest Management in the Congo Basin,
http://assets.gfbv.ch/downloads/fpic_congo_report_english.pdf
GfbV-Bericht: Gebrochene Versprechen – düstere Zukunft
                                                                                                                        18

4. Indigene in Amazonien
4.1 Indigene                                                    zend Personen, zum Teil aber auch in grösseren
Laut dem Zensus von 2010 des brasilianischen Ins-               Siedlungen mit bis zu 30‘000 Menschen zusam-
titut für Geographie und Statistik (IGBE) gibt es in            menleben27. Sie sprechen ungefähr 180 verschie-
Brasilien 817‘000 indigene Menschen, von denen                  dene indigene Sprachen. Gemäss ISA leben im
315‘000 auf dem Land und 502‘000 in den Städten                 Amazonien 173 indigene Gemeinschaften in 405
wohnen24. Ungefähr 13 Prozent der Fläche Brasi-                 Indigenenreservaten, die etwa 22 Prozent des bra-
liens wurde für die indigene Bevölkerung demar-                 silianischen Amazonasgebiets ausmachen28. Der
kiert. Die meisten Indigenen leben in Amazonien,                Regenwald ist nicht nur der Lebensraum der indi-
das die Bundesstaaten Amazonas, Acre, Amapá,                    genen Menschen, sondern er versorgt sie auch mit
Pará, Rodônia, Roraima, Tocantis, Mato Grosso und               Nahrung, Medizin und fast allen Materialien, die
einen Teil von Maranhão umfasst.                                sie benötigen. Insbesondere für die Spiritualität
                                                                und das traditionelle Leben ist der Amazonaswald
Die indigene Bevölkerung ist in Brasilien am stärks-
                                                                mit den vielen heiligen Orten fundamental für das
ten von Armut betroffen25. Armut und Landraub
                                                                langfristige Überleben der indigenen Völker und
haben mehr als die Hälfte von ihnen in die Elends-
                                                                ihrer Lebensweise.
viertel der städtischen Ballungszentren getrieben.
326‘375 indigene Menschen leben in extremer Ar-                 Die Entstehung der Indigenenreservate geht bis in
mut und rund 64‘000 indigene Familien sind auf                  die frühen Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts zurück.
die Unterstützung von einem Sozialhilfeprogramm                 Die Verfassung von 1988 hatte zur Folge, dass viele
der Regierung (Bolsa Família) angewiesen26.                     neue Reservate verwirklicht wurden. Die Gründung
Heute gibt es noch ungefähr 235 indigene Völker                 neuer Reservate hat in letzter Zeit auf besorgniser-
und je nach Schätzungen zwischen 150‘000 und                    regende Weise abgenommen. Die folgende Tabelle
350‘000 Indigene im Amazonasgebiet, die zum Teil                beschreibt den aktuellen Stand der Demarkation
in kleinen Gemeinschaften, weniger als ein Dut-                 indigener Reservate.

 Situation                                                              Anzahl             Grösse (ha)
 In Identifizierung                                                     134                9‘964
 Mit eingeschränkter Nutzung von Nicht-Indigenen                        5                  842‘022
 Total                                                                  139                851‘986

 Deklariert                                                             69                 5‘059‘374‘452
 Ausgewiesen                                                            23                 138‘665
 Anerkannt                                                              30                 5‘549‘675
 In das Grundbuch eingetragen SPU/CRI29                                 400                98‘289‘838
 Total in Brasilien                                                     677                111‘523‘636
Tabelle 1: Indigenenreservate in Brasilien (Stand Juli 201130)
________ __
24 Vgl. Instituto Brasileiro de Geografia e Estatística (2012): http://ibge.gov.br/indigenas/graficos.html
25 Vgl. Ministério do Desenvolvimento Social e Combate à Fome: O perfil da Extrema Pobreza no Brasil com base nos dados pre-
liminares do universo do Censo 2010, http://www.mds.gov.br/saladeimprensa/noticias/2011/maio/arquivos/11.05.02_Nota_
Tecnica_Perfil_A.doc
26 Vgl. ISA: Cresce número de famílias indígenas beneficiadas pelo Programa Bolsa Família (31.05.2011),
http://pib.socioambiental.org/en/noticias?id=102996
27 Vgl. Ricardo/Ricardo (2011): Povos Indígenas No Brasil 2006/2010, Instituto Socioambiental: São Paulo, Seite 16.
28 Viele Indigenenreservate sind noch nicht als solche deklariert worden und besitzen daher auch noch keinen Schutz von der
Regierung.
29 SPU Serviçio de Patrimônio da União (Staatseigentumsedienst)/ CRI Cartórios de Registro de Imóveis (Grundbuch).
30 Vgl. Ricardo, Beto / Ricardo, Fany (2011): Povos Indígenas No Brasil 2006/2010, Instituto Socioambiental: São Paulo,
Seite 90.
GfbV-Bericht: Gebrochene Versprechen – düstere Zukunft
                                                                                      19

        Abbildung 3: Indigenenreservate in Brasilien (Quelle: © FUNAI31 )

          Legende
          Gelbe Fläche: Indigenenreservate
          Rote Fläche: Rohstoffabbaugesuche in Indigenenreservaten
          Grüne Fläche: Indigenenreservate im Demarkierungsprozess

__________
31 Quelle: http://www.funai.gov.br/ultimas/e_revista/iconografia/fotos/mapao.htm
GfbV-Bericht: Gebrochene Versprechen – düstere Zukunft
                                                                                                            20

4.2 Indigene mit Erstkontakt
Die Indigenen mit Erstkontakt haben erst seit kur-
zem Kontakt zur Mehrheitsgesellschaft. Gemäss
ISA gibt es in Brasilien sieben indigene Völker mit
Erstkontakt. Die Erfahrungen der Indigenen mit
Erstkontakt zeigen exemplarisch die Gefahren für
die in Isolation lebenden Völker auf:
Gemäss Survival International hatten zum Beispiel
die Zo‘é den Erstkontakt zu Aussenstehenden im
Jahr 1987, als Missionare eine Basis in ihrer un-
mittelbaren Umgebung errichteten. Die Zo‘é infi-
zierten sich daraufhin an Krankheiten, gegen die
sie nicht immun waren. Die Missionare hatten
nicht mit einer solchen Situation gerechnet und
wussten sich nicht mehr zu helfen. Sie baten die
FUNAI um Hilfe, die darauf ein Team zur gesund-
heitlichen Versorgung zu den Zo‘é schickte, worauf
sich die Lage stabilisierte. Jahre später wurde ihr
Territorium offiziell von der Regierung anerkannt,
ein Gesundheitsposten wurde erstellt und ihr Ge-
biet wurde unter Schutz gestellt. Daraufhin muss-
ten die Missionare das Gebiet verlassen32.
Ähnlich geht es den Korubo. Sie wurden im 1996
zum ersten Mal kontaktiert. Diese Gruppe besteht
aus 27 Personen. Gemäss ISA wurde jeweils eine
Person jeder Familie mindestens einmal in die
Stadt begleitet, um dort medizinische Betreuung
und Medikamente zu bekommen. Denn viele der
Korubos leiden unter Malaria und anderen Krank-
heiten. Heute gibt es noch 27 Korubos.

__________
32 Vgl. Survival International: Die Zo’é, http://www.survivalinternational.de/indigene/zoe/erster-kontakt
GfbV-Bericht: Gebrochene Versprechen – düstere Zukunft
                                                                                                                         21

4.3 Isolierte Indigene                                               90 isolierten Gruppen in Brasilien. Von einigen
                                                                     dieser Gruppen gibt es nur Anhaltspunkte durch
Gemäss dem brasilianischen Missionsrat für Indi-
                                                                     Fotos, die man aus der Luft aufnehmen konnte und
gene (CIMI) gibt es weltweit mehr als 150 indige-
                                                                     über Spuren, die man im kaum zugänglichen Ur-
ne Völker, die in freiwilliger Isolation33 leben. Die
                                                                     wald fand. Die FUNAI bestätigt 28 isolierte Völker
meisten davon leben im dicht bewaldeten Ama-
                                                                     in Brasilien36.
zonas, in Neuguinea sowie auf den Inseln Anda-
manen und Nikobaren. In Südamerika rechnet man                       Die Bezeichnung „in (freiwilliger) Isolation“ ent-
mit 127 isolierten Völkern in sieben Ländern: In                     stand, weil viele Angehörige dieser Völker Überle-
Brasilien leben ungefähr 90 isolierte Völker, 23 in                  bende von gewalttätigen Übergriffen sind und sich
Peru, 13 in Bolivien, 6 in Paraguay, 5 in Venezuela,                 nach verheerenden Erfahrungen mit der Zivilisation
4 in Ecuador und 2 in Kolumbien34.                                   wieder zurückzogen. Beispielsweise wurden in der

     Abbildung 4: Isolierte Völker weltweit (Quelle: Wikipedia35 )
                                                                     Blütezeit des Kautschukbooms gegen Ende des 19.
Es gibt unterschiedliche Informationen über die
                                                                     Jahrhunderts in Amazonien knapp 90 Prozent der
Anzahl der isoliert lebenden Indigenen in Brasi-
                                                                     Indigenen als Sklaven gehalten oder sie wurden
lien, weil es unter anderem ein kompliziertes Un-
                                                                     Opfer brutaler Gewalttaten. Die zweite, respekti-
terfangen ist, die Daten zu erheben. Das Institut
                                                                     ve dritte Gewaltwelle erreichte Amazonien in den
Coordenaçao Geral de Índios Isolados e Recém Con-
                                                                     Jahren 1920 und 1960, wobei viele indigene Ge-
tatados (CGIIRC) der FUNAI beispielsweise weiss
                                                                     meinschaften nicht überlebten. Zum Beispiel hat
zurzeit von mindestens 28 verschiedenen isolier-
                                                                     der Unternehmer Antonio Mascarenhas Junquei-
ten Völkern im brasilianischen Amazonasgebiet.
                                                                     ra 1963 aus einem gemieteten Flugzeug das Volk
Die NGO Instituto Socioambiental rechnet sogar
                                                                     Cinta Larga (Breite Gürtel) mit Dynamit beworfen,
mit 46 Gemeinschaften, und gemäss dem Indige-
                                                                     weil ihn die Indigenen beim kommerziellen Gum-
nenmissionsrat gibt es Anzeichen von mindestens
                                                                     mizapfen störten. Einige Tage nach der Bombar-
__________
33 Isolierte Völker sind ethnische Gruppen, die gar nicht, nur geringfügigen oder nur kurz Kontakt mit anderen Menschen in der
Mehrheitsgesellschaft eines bestimmten Landes haben oder hatten.
34 Loebens, Guenter Francisco/Neves, Lino Joao de Oliveira (2011): Povos Indígenas Isolados na Amazônia: A luta pela sobre-
vivencia: Conselho Indígenista Missionário, Seite 41.
35 Quelle: http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Datei:Uncontacted_peoples.svg&filetimestamp=20100507170210.
36 Vgl. ISA: Índios Isolados, http://pib.socioambiental.org/pt/c/no-brasil-atual/quem-sao/Indios-isolados.
GfbV-Bericht: Gebrochene Versprechen – düstere Zukunft
                                                                                                                        22

dierung schickte er eine Gruppe Söldner vor Ort,                 doch an den Grenzgebieten der Reservate oder
um die Überlebenden auf brutalste Art und Weise                  ausserhalb solcher Schutzzonen und verfügen
zu töten37.                                                      über keinen speziellen Schutz.
Solche traumatischen Erlebnisse prägten die Über-                Die isolierten Indigenen leben ein reichhalti-
lebenden von indigenen Gruppen, die sich deshalb                 ges, kulturelles Leben mit einem ganzheitlichen

         Abbildung 5: Siedlung von Indigenen in freiwilliger Isolation (Quelle: © Gleison Miranda)

dafür entschieden haben, ein Leben in Isolation                  Wissen über die Flora und Fauna. Dieses Leben
zu führen. Man nimmt an, dass ein Leben in voll-                 ist durch die gegenwärtige Entwicklung massiv
ständiger Isolation jedoch nicht möglich ist, weil               bedroht: Der Bau von Staudämmen oder Stras-
die meisten Völker Kontakte zu ihren unmittelba-                 sen, aber auch die Suche und Förderung von
ren Nachbarn pflegen, um mit ihnen gelegentlich                  Rohstoffen wie Erdöl, Erdgas, Gold und anderen
Gegenstände und Nahrungsmittel zu tauschen.                      Bodenschätzen lockt viele Menschen in ihre un-
Durch diesen Tauschhandel verfügen einige isolier-               mittelbare Umgebung. Unter solchen Umständen
te Völker unter anderem über Waffen aus Metall,                  ist es den indigenen Völkern nicht möglich, ihre
Kochgeschirr und Metallteile, beispielsweise aus                 traditionelle Lebensform weiterzuführen.
Schiffswracks. Auf den veröffentlichten Fotos von                In den letzten Jahren erteilte die Regierung Bra-
Überflügen zu Studienzwecken oder zum Schutze                    siliens Baubewilligungen für die Wasserkraftwer-
der Isolierten sind diese Gegenstände teilweise                  ke Santo Antônio und Jirau am Fluss Madeira,
sichtbar.                                                        Belo Monte am Fluss Xingu und Teles Pires am
Die die Abbildung auf der folgenden Seite zeigt                  Fluss Teles Pires, obwohl bekannt ist, dass in de-
auf, in welchem Gebiet es Beweise oder Indizien                  ren Umgebung isoliert lebende Gruppen leben.
von isolierten Völkern gibt. Einige dieser Völker                Gemäss der FUNAI leben beispielsweise rund 70
leben in einem Indigenenreservat, viele leben je-                Kilometer vom Staudamm Belo Monte entfernt
__________
37 Vgl. Survival International: Warum verstecken sie sich?, http://www.survivalinternational.de/artikel/3129-warum-verste-
cken-sie-sich.
GfbV-Bericht: Gebrochene Versprechen – düstere Zukunft
                                                                                                               23

eine oder mehrere Gruppen isolierter Indigene im                 henden sterben können. Jeglicher Kontakt mit der
Indigenenreservat Koatinemo und in der Nähe des                  Zivilisation soll daher vermieden werden, es sei
Baches Ipiaçava. Auch gibt es laut der FUNAI eine                denn, sie selber suchen den Kontakt40.
Gruppe Isolierter in unmittelbarer Nähe von nur                  Mit dem Bau der interozeanischen Strasse von Rio
30 Kilometern des Staudamms Santo Antônio. Dort                  Branco, der Hauptstadt des Bundesstaates Acre,
leben sie im Indigenenreservat Katauixi/Jacareú-                 bis zur peruanischen Küste des Pazifischen Ozeans,
ba. Ebenso gibt es Hinweise, dass sich in der Um-                die in einer Entfernung von nur 300 Kilometern
gebung des Wasserkraftwerks Teles Pires isolierte                des Siedlungsgebiets isolierten Völker durchführt,
Indigene aufhalten39.

         Abbildung 6: Situierung der brasilianischen isolierten Indigenen (Quelle: © FUNAI38)

          Legende
          Rotes Haus:		              Nachgewiesenes isoliertes Volk
          Blaues Dreieck:            Indigene, die erst seit kurzem entdeckt wurden
          Gelber Punkt: 		           Es wird vermutet, dass dort isolierte Indigene leben
          Grüne Fläche:              Indigenenreservate, wo isolierte Indigene leben
          Blaue Fläche: 		           Indigenenreservate

Neben der Bedrohung durch die Infrastrukturpro-                  kam es auf peruanischem Staatsgebiet zu einer re-
jekte sind die isoliert lebenden Indigenen auch                  gelrechten Invasion von ungefähr 60‘000 illega-
durch Krankheiten wie die Grippe, gegen die sie                  len Holzfällern, Goldsuchern und Drogenhändlern.
nicht immun sind, stark gefährdet. Die Erfahrung                 Diese dringen zurzeit entlang der Flussläufe des
zeigt, dass bis zu zwei Drittel einer isoliert leben-            Rio de las Piedras, des Rio Tauhamanu, Rio Madre
den Gruppe nach dem Erstkontakt mit Aussenste-                   de Dios, Puru und Juruá bis in die entlegensten
__________
38 Quelle: www.funai.gov.br
39 Vgl. ISA, Braune Wiik, Flavio (1999): Xoklenghttp://pib.socioambiental.org/pt/povo/xokleng/975
40 Vgl. ISA, Braune Wiik, Flavio (1999): Xoklenghttp://pib.socioambiental.org/pt/povo/xokleng/975
GfbV-Bericht: Gebrochene Versprechen – düstere Zukunft
                                                                                                                           24

Siedlungsgebiete der Isolierten ein. Seit der Ver-
dreifachung des Goldpreises ist es in der Region zu
einem regelrechten Goldrausch gekommen, berich-
tet FUNAI-Mitarbeiter José Carlos Meirelles41.
Allein in der peruanischen Stadt Puerto Maldona-
do am Fluss Madre de Dios werden monatlich drei
Tonnen Quecksilber an Goldsucher verkauft, wel-
ches in die Zuflüsse des Amazonas gelangt und
nicht nur das Wasser, sondern auch die gesamte
Nahrungskette verseucht. So wurden nach Kont-
rolluntersuchungen bei den Ashaninka-Indigenen42
Höchstwerte von Quecksilber im Blut gemessen43.
Seit 1990 vergibt die peruanische Regierung auf-
dem Siedlungsgebiet von isolierten Völker Konzes-
sionen an Holzfirmen, die sich ausschliesslich auf
die Abholzung von Mahagoni-Bäumen spezialisiert
haben, die sie über die neu errichtete Strassenver-
bindung zum Pazifik nach Übersee exportieren.
Seit 2005 sind jedoch die meisten Mahagoni-
Bestände auf peruanischer Seite abgeholzt. Dazu
kommt, dass die peruanische Regierung für fast
das gesamte peruanische Amazonasgebiet Konzes-
sionen an multinationale Ölkonzerne vergeben hat.
Davon sind auch die isolierten Gruppen betroffen.
So wanderten in letzter Zeit immer häufiger isolier-
te Völker aus Peru nach Brasilien. Dabei stiessen
sie auf Gebiete, die bereits von anderen Personen
bewohnt sind, was zu (bewaffneten) Konflikten
führen kann. Dies führt oft zu Konflikten zwischen
den Isolierten, Kautschukzapfern und Siedler die
sich schon vor langer Zeit an den Flussläufen im
Bundesstaat Acre niedergelassen haben. Denn iso-
liert lebende Indigene kennen keine Landesgren-
zen im Wald. Sie fühlen sich auch nicht als Bürger
der Nationalstaaten. Ein binationales Schutzgebiet
könnte diese Probleme lösen. Die GfbV unterstützt
daher die lokalen Initiativen für ein binationales
Territorium zwischen Peru und Brasilien, welches
zum Schutz der Isolierten errichtet werden soll.
Auf der unten stehenden Karte ist sichtbar, wo sich
das binatinale Territorium befinden könnte.

__________
41 José Carlos Meirelles arbeitet seit 1971 für die FUNAI und ist bekannt für seine Pionierarbeit für die isolierten Indigenen
in Brasilien.
42 Die Ashaninka-Indigenen befinden sich im östlichen Peru/westlichen Brasilien.
43 Mehr Information dazu unter: GfbV: Die Unsichtbaren (2012), http://www.gfbv.at/publikationen/bvbilder/bv01_2012.pdf
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