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CARL FRIEDRICH VON WEIZSÄCKER ZENTRUM FÜR NATURWISSENSCHAFT UND FRIEDENSFORSCHUNG Gefahren-Szenarien der Freisetzung von Plutonium durch einen erfolgten Abschuss mit einem Raketenabwehrsystem Wiebke Plenkers, Martin B. Kalinowski Occasional Paper No. 7 Dezember 2008
Gefahren-Szenarien der Freisetzung von Plutonium durch einen erfolgten Abschuss mit einem Raketenabwehrsystem Occasional Paper No. 7 Dezember 2008 Wiebke Plenkers, Martin B. Kalinowski Carl Friedrich von Weizsäcker-Zentrum für Naturwissenschaft und Friedensforschung Universität Hamburg
Inhaltsverzeichnis ! 1.! Einleitung ............................................................................................................................ 5! 1.1.! Allgemeine Informationen zu den verschiedenen Raketen-Typen und Trajektorien... 5! 1.2. Das geplante US Raketenabwehrsystem ...................................................................... 7 2.! Grundlegende Details zu Flugphasen und Raketenabwehr................................................. 9! 2.1.! Startphase : Boost-Phase .............................................................................................. 9! 2.2. Mittlere Flugphase : Midcourse-Phase....................................................................... 11 2.3.! Wiedereintrittsphase : Terminal-Phase ...................................................................... 13! 3.! Szenarien möglicher Gefahren durch Raketenabwehr ...................................................... 14! 3.1.! Shortfall ...................................................................................................................... 14! 3.2.! Nuklearexplosion im Weltraum: Elektromagnetischer Impuls .................................. 16! 3.3.! Gefahr durch herabstürzende Raketenteile ................................................................ 16! 3.4.! Gefahren durch die Verteilung von Plutonium .......................................................... 18! 3.4.1. Eigenschaften von Plutonium.............................................................................. 18 3.4.2.! Dosisleistungsfaktoren ........................................................................................ 19! 3.4.3.! Gesundheitsschäden - Szenarien von Plutonium Verteilung .............................. 21! 4. Schlussfolgerung............................................................................................................... 23 5.! Anhang: ............................................................................................................................. 24! 5.1.! Allgemeine Definitionen und Abkürzungen .............................................................. 24! 5.2.! Bibliografie................................................................................................................. 25! 3
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1. Einleitung In den letzten Jahren haben Raketenabwehrsysteme wieder erneut große Aufmerksamkeit bekommen. So wurde im Jahr 2002 die US amerikanische Ballistic Missile Defense Organization (BMDO) in Missile Defense Agency (MDA) umbenannt und erhielt im Zuge einer Neuorientierung mehr Handlungsspielraum für die Aufgabe, die USA sowie Verbündete von aller Art Raketen zu beschützen. Aus dem vorigen National Missile Defense (NMD) Programm wurde das Ground-Based Midcourse System (GMD), das zusammen mit dem Sea- Based Midcourse System zukünfig Raketen in der mittleren Flugphase bekämpfen soll. Damit legten die USA wieder konkrete Pläne zur Installation eines umfangreichen Raketenabwehrsystems vor und kündigten am 13. Juni 2002 den ABM-Vertrag. Seitdem gibt es erneut kontroverse Diskussionen über den Sinn von Raketenabwehrsystemen, sowie die Wahrscheinlichkeit künftiger nuklearer Bedrohungen. Präsident George W. Bush unterzeichnete am 23. Dezember 2002 die Presidential National Security Directive 23 (PNSD-23) zur Installation eines umfangreichen Raketenabwehrsystems ab 2004. Inzwischen nehmen die Ideen zunehmend Gestalt an, wie z.B. das Unterschreiben der Verträge mit Polen (am 15.08.2008) und Tschechien (am 08.07.2008) zeigt.1 Die amerikanischen Pläne dort, auf europäischen Boden, Militärbasen für die Raketenabwehr zu errichten, stoßen jedoch nicht nur in der EU auf Misstrauen und die Furcht vor einer neuen allgemeinen Aufrüstung. Besonders Russland sieht die amerikanischen Pläne sehr kritisch. Am 26. April 2007 kündigte Präsident Putin nach harscher Kritik an den geplanten US- Raketenabwehreinrichtungen in Polen und Tschechien und der NATO-Politik einseitig den KSE-Vertrag (Vertrag über die konventionellen Streitkräfte in Europa).2 Zwar ist es mit der derzeitigen Technik unmöglich ein wirklich funktionsfähiges, nicht durch Gegenmaßnahmen überwindbares Raketenabwehrsystem zu errichten und des Weiteren beteuern die USA, dass das GMD nicht gegen russische ICBMs gerichtet sei. Jedoch befürchtet Russland durch Technikfortschritt die langfristige Modernisierung des Systems, sodass die russische nukleare Abschreckung an Bedeutung verlieren würde und im Extremfall Russland direkt durch das GMD geschädigt werden könnte. Während sich die meisten Auseinandersetzungen vor allem mit der politischen Bedeutung und den Folgen der Installation der Raketenabwehr beschäftigen, soll das vorliegende Papier die grundlegenden technischen Details von Raketenabwehr und mögliche Gefahrenszenarien, z.B. von Plutoniumausbreitung, bei einer „erfolgreichen“ Abwehr beleuchten. 1.1. Allgemeine Informationen zu den verschiedenen Raketen-Typen und Trajektorien Raketen werden international nach ihrer Reichweite eingeteilt und benannt (siehe Tabelle 1). Ihre Flugbahn verläuft weitgehend ballistisch und abhängig von der Reichweite, tritt die Rakete dabei aus der Atmosphäre heraus. Die größte Reichweite haben Interkontinentalraketen (ICBMs), deren Trajektorie in Abbildung 1 dargestellt ist. 1 Vgl. Tagesschaubeitrag vom 15.08.2008: http://www.tagesschau.de/multimedia/video/video363146_bcId- _ply-internal_res-flash256_vChoice-video363146.html und Tagesschaubeitrag vom 08.07.2008 : http://www.tagesschau.de/ausland/radarstation2.html (19.08.2008) 2 Vgl. „Russland friert Rüstungskontrolle“ ein http://www.tagesschau.de/ausland/meldung36690.html (26.04.08) 5
Derzeit können ICBMs von den fünf anerkannten Kernwaffenstaaten (Volksrepublik China, Frankreich, Großbritannien, Russland und USA) gebaut werden. Etwa 25 weitere Staaten besitzen Raketen ab 500 km Reichweite oder versuchen in ihren Besitz zu gelangen. Darunter sind fünf Länder (Israel, Indien, Pakistan, Iran und Nord-Korea), die bereits Raketen mit Reichweiten von über 1000 km getestet haben.3 Aus Sicht der US-amerikanischen Regierung stellen sogenannten „Schurkenstaaten“4 wie Nordkorea und der Iran die größte Bedrohung dar. Da die Trajektorie möglicher Raketen von diesen Ländern zu den USA zum Teil über Europa verläuft, planen die US-Streitkräfte zwei Basen in der EU zu errichten (Stationierung von Raketen in Polen sowie Tschechien). Klassifikation Reichweite Beispiel Kurzstreckenrakete 500 - 1000 km Scud- shorter-range intermediate nuclear force Technologie (SRINF) missile Mittelstreckenrakete 1000 - 5500 km Taepodong-1 longer-range intermediate nuclear force (LRINF) missile Interkontinentalraketen über 5500 km Minuteman Intercontinental Ballistic Missile (ICBM) Tabelle 1: Raketenklassifikation laut INF-Vertrag (Quelle: INF-Treaty http://www.fas.org/nuke/intro/missile/basics.htm bzw. http://www.state.gov/www/global/arms/treaties/inf1.html#treaty) Die Flugphase wird im Allgemeinen in drei Phasen unterteilt: Nach dem Zünden der Raketenantriebe wird die Rakete während der so genannten Boost-Phase kontinuierlich beschleunigt. Sind alle Antriebe ausgebrannt (burnout) trennt sich meist der Gefechtskopf von dem Raketenantrieb und fliegt unbeschleunigt auf einer ballistischen Bahn weiter. Diese Mittelflugphase wird auch Midcourse-Phase genannt. In dieser Phase legt der Gefechtskopf den größten Teil seines Weges zurück (außerhalb der Atmosphäre). Nach dem Wiedereintritt in die Atmosphäre beginnt die letzte Flugphase, die so genannte Terminal-Phase. Der Gefechtskopf wird zu einem Re-entry Vehicle (RV), das gegen die hohe Reibungshitze geschützt sein muss. Durch Abbildung 1: die Atmosphärenreibung wird das RV stark Einteilung der Flugbahnen einer ICBM erhitzt und abgebremst. Durch die starke (Quelle: Beschleunigung in Richtung Erde erfolgt nach http://www.cbo.gov/ftpdocs/56xx/doc5679/ einigen Sekunden der Einschlag. 07-22-MissileDefense.pdf) 3 Vgl. European Parliament: Missile Defence and European Security. Brüssel. November 2007. S. 3 4 Von der amerikanischen Regierung geprägter politischer Begriff für autokratische Staaten, die (angeblich) im Besitz von Massenvernichtungswaffen sind und des Staatsterrorismus bzw. der Terrorismusförderung verdächtigt werden. 6
1.2. Das geplante US Raketenabwehrsystem Das US-amerikanische geplante globale Ballistic Missile Defense System (BMDS) beabsichtigt mit Land-, See-, Luft- und Weltraum gestützten Abwehrsystemen in allen drei Phasen die Angreiferrakete per Radar zu detektieren, zu verfolgen und mittels verschiedener Systeme zu zerstören (siehe Abbildung 2). Kleinere Raketenabwehrsysteme waren zuvor schon von den USA und auch anderen Staaten entwickelt und benutzt worden (z.B. das israelische Arrow Weapon System). Abbildung 2: Das strategische Raketenabwehrsystem der USA (Quelle: Möckli, Daniel: US-Raketenabwehr: Eine strategische Herausforderung für Europa. Center for Security Studies (CSS), ETH Zürich, April 2007, Nr. 12, 2. Jahrgang, S.2) Beim BMDS soll schon kurz nach dem Start ein Frühwarnsatellit eine gestartete Rakete erfassen, Alarm auslösen und die ermittelten Daten an die zuständige Instanz melden. Um besonders Raketen aus dem Iran möglichst frühzeitig zu detektieren, planen die USA ebenfalls die Installation eines leistungsstarken Radars, der European Midcourse Radar (EMR), in der Nähe von Prag. Dieser soll fähig sein, Zielobjekte zu unterscheiden, zu identifizieren und die Bahn zu verfolgen. Daraufhin soll noch in der Atmosphäre versucht werden mittels eines Airborne Lasers5, der sich derzeit noch in der Entwicklung befindet, oder einer Antiraketenrakete die Rakete zu zerstören. Gelingt das nicht, so wird während des gesamten weiteren Fluges in der Midcourse- Phase eine Radarstation die Flugbahn des Gefechtskopfes verfolgen und somit zur genauen Berechnung der Bahn beitragen. Mithilfe dieser Daten soll daraufhin das Ground-based Midcourse Defense (GMD) System mit einem raketengestütztem kill vehicle (KV) den Gefechtskopf außerhalb der Atmosphäre zerstören. Bei der Abfangrakete handelt es sich um Boden gestützte Interzeptoren, die z.B. von der geplanten Militärbasis im Norden von Polen (Stützpunkt von 10 Interzeptoren) abgeschossen werden sollen und laut US-Angaben optimal für die europäische Raketenabwehr geeignet seien. Weitere Interzeptoren sind bereits in Fort Greely/Alaska und Vandenberg/California stationiert. Insgesamt sollen in den nächsten Jahren 54 bodenstationierte Interzeptoren (GBI) aufgestellt werden. 5 Für Airborne Laser siehe Seite 9 7
Die Abfangraketen sind in einigen Faktoren herkömmlichen ICBMs sehr ähnlich. So sind sie ähnlich groß und besitzen zwei Antriebsstufen (von je 21500 kg), die den Minuteman-ICBMs entstammen. Das KV wiegt dagegen nur etwa 70 kg und kann bis zu 40 % schneller werden, als eine ICBM. Damit könnte es z.B. eine russische ICBM „einholen“. Nachdem sich das KV von seinem ausgebrannten Raketenantrieb getrennt hat, fliegt es auf den Gefechtskopf zu. Trifft es diesen erfolgreich, wird wegen der hohen kinetischen Energie der Gefechtskopf vollständig zerstört. Sollte jedoch das KV den Sprengkopf verfehlen (z.B. wegen Täuschkörpern), so ist nach dem Wiedereintritt in die Atmosphäre ein weiterer Versuch geplant, den Sprengkopf in der Endphase abzuschießen. Dazu sollen Systeme wie Patriot, THAAD, seegestützte Missile Defense (Aegis/SM3) oder MEADS genutzt werden. Die zuletzt genannten BMD-Systeme haben wegen der hohen Endgeschwindigkeit des Sprengkopfes nur sehr begrenze Abfangfähigkeiten. 8
2. Grundlegende Details zu Flugphasen und Raketenabwehr 2.1. Startphase : Boost-Phase Nach dem Start einer Rakete wird diese mittels eines (evtl. mehrstufigen) Antriebs beschleunigt. Diese erste Flugphase (Boost-Phase, Antriebsphase) findet zum größten Teil noch innerhalb der Atmosphäre statt. Bei Interkontinentalraketen (ICBMs) beträgt die Boost- Phase etwa 170 s (bis 150 km Höhe) für eine ICBM mit Feststoffantrieb bzw. 240 s (bis 200 km Höhe) für eine Rakete mit Flüssigtreibstoffantrieb.6 Innerhalb der Atmosphäre wird die Rakete durch Luftmoleküle abgebremst und ist besonderen Spannungen und Temperaturschwankungen ausgesetzt. Außerhalb der Atmosphäre sind diese Faktoren vernachlässigbar klein, sodass die Geschwindigkeit nur von der Beschleunigung durch den Raketenantrieb abhängt. Bei Kurzstreckenraketen ist die Boost-Phase wesentlich kürzer (SRINF: unter 100 s (z.B. Al- Hussein), befindet sich dann noch in der Atmosphäre (etwa in 50 km Höhe) und hat maximal 50 km Entfernung in der Projektion auf den Boden zurückgelegt. Somit ist der Flugkörper frühestens in der Midcourse-Phase außerhalb der Atmosphäre. Kurzstreckenraketen verbleiben bei kurzen Strecken vollständig in der Atmosphäre. Bei Mittelstreckenraketen ist die Boost-Phase nur etwas kürzer als bei Interkontinentalraketen, jedoch befindet sich die Rakete dann noch in der Atmosphäre (LRINF: unter 150 s, etwa 80 km Höhe) und hat maximal 240 km Entfernung auf dem Boden zurückgelegt. Somit ist der Flugkörper erst in der Midcourse-Phase außerhalb der Atmosphäre. Raketenabwehr: Grundsätzlich werden für die Raketenabwehr während der Boost-Phase innerhalb der Atmosphäre drei Möglichkeiten diskutiert: Die Zerstörung der Rakete durch den direkten Abschuss mit einer Anti-Raketen-Rakete oder die indirekte Zerstörung entweder durch das Eindringen von durch Sprengstoff freigesetzte Interzeptorfragmenten in die Triebwerke, das Lenksystem oder den Raketenmotor, oder durch einen Airborne-Laser, der die Rakete durch punktuelles Aufheizen schädigen und somit zum Absturz bringen soll. Bei dem Airborne-Laser handelt es sich um einen in einem Flugzeug montierten Hochenergielaser (Laser mit einer kontinuierlichen Leistung über 20 kW), der derzeit in den USA entwickelt wird. Damit soll es möglich sein, sich einer Rakete in der Boost-Phase bis zu einer großen Entfernung von einigen 100 km zu nähern, um diese durch die Lasterstrahlung zu schädigen und somit die Rakete zum Absturz zu bringen. Für das Airborne Laser Programm wurde seit 1998 etwa 5 Milliarden US Dollar aufgewendet.7 Mit einer Verzögerung von sieben Jahren hat nun der Einbau des Hochenergielasers in ein Flugzeug begonnen. Laut diesem Kongressreport hat die US Air Force ebenfalls alternative Einsatzmöglichkeiten studiert, darunter auch der Einsatz des Airborne Lasers zum Abschalten oder Zerstörern von Satelliten. Damit könnte der Airborne Laser also auch als Anti-Satelliten- Waffe (ASAT) eingesetzt werden. Die American Physical Society hat 2003 in einer umfangreichen Studie aufgezeichnet, dass mit den bisherigen Möglichkeiten ICBMs nicht effektiv abgewehrt werden können. Da das Zeitfenster für einen Boost-Phase Abschuss sehr klein ist, müsste die Anti-Raketen-Rakete 6 Vgl. American Physical Society (APS) Study Group: Report on Boost-Phase Intercept Systems for National Missile Defense. Scientific and Technical Issues. July 2003. S.263ff 7 Vgl. CRS Report for Congress. Airborne Laser (ABL): Issues for Congress. http://fas.org/sgp/crs/weapons/RL32123.pdf 9
sehr nah an dem Abschussort der feindlichen Rakete stationiert sein. Es wären maximal zwei bis drei Minuten Zeit bevor die Rakete sich von ihren Sprengköpfen trennt. Von Schiffen abgeschossene Kurz- und Mittelstreckenraketen könnten jedoch abgewehrt werden, wenn die Entfernung vom Startpunkt der Abfangrakete zum Abschussort der angreifenden Rakete nicht mehr als 40 km beträgt. Allerdings ist die Boost-Phase für Kurz- und Mittelstreckenraketen sehr kurz. Airborne Laser könnten mit Flüssigtreibstoffantrieb ICBMs nur teilweise und feststoffangetriebene ICBMs überhaupt nicht zerstören.8 Theodore Postol und Richard L. Garwin sind jedoch mit ähnlichen Berechnungen zu dem Ergebnis gekommen, dass das Abfangen währen der Boost-Phase möglich sei, wenn das Land klein genug ist, um die Abfangtechniken nah genug am Startort der Rakete installieren zu können. Eine „erfolgreiche“ Raketenabwehr in der Boost-Phase zerstört jedoch mit großer Wahrscheinlichkeit nur die Trägerrakete und nicht den Sprengkopf, d.h. es bliebe das Problem, dass der Sprengkopf ungehindert ballistisch weiterfliegt und unbeeinflussbar herabkommt. Abhängig vom Zeitpunkt des Abschusses und der bis dahin erfolgten Beschleunigung verändert sich der Auftreffpunkt und die Flugbahn wird im Vergleich zu der ursprünglich geplanten verkürzt („shortfall“). Jan Stupl hat berechnet, dass Kurz- und im Grenzfall auch Mittelstreckenraketen in der Boost- Phase keine ausreichende Höhe erreichen, um von einem Airborne Laser, der sich außerhalb der Reichweite der Luftabwehrraketen der gegnerischen Streitkräfte befindet, zerstört zu werden.9 Der Laserstrahl wird durch atmosphärische Turbulenzen und Absorption an Luftmolekülen so geschwächt, dass er nicht mehr genügend Hitze auf der Raketenoberfläche entwickeln kann. Erst ab einer bestimmten Höhe (über 50 km), bei der die Atmosphäre eine geringere Dichte hat, ist ein erfolgreicher Einsatz möglich. Diese Höhe wird jedoch in der Boost-Phase nur von ICBMs erreicht. Allerdings gibt es zahlreiche Schwierigkeiten beim Einsatz eines Airborne Lasers. Wegen des kurzen Zeitfensters für den erfolgreichen Lasereinsatz, muss sich das Flugzeug (Träger des Lasers) bereits beim Start der ICBM in der Luft befinden. Außerdem gibt es wiederum einige Möglichkeiten, die notwendige Hitzeentwicklung zu verhindern. Eine Gegenmaßnahme ist z.B. die Beschichtung der Rakete mit einem spiegelnden Material, sodass ein Teil der Laserenergie zurückgestrahlt wird. Ebenso könnte die Rakete mit einem Hitzeschild (ähnlich dem Sprengkopf, der dieses für den Wiedereintritt in die Atmosphäre benötigt) verkleidet werden. Eine andere Möglichkeit wäre, der Rakete einen Drall zu verleihen, sodass die Bestrahlung einer einzigen Stelle unmöglich wird. 10 Im Falle einer erfolgreichen Raketenabwehr würde in der Regel nur die Rakete beschädigt und der Sprengkopf jedoch intakt bleiben. Das birgt in jedem Fall die Gefahr, dass der konventionelle Sprengkopf beim Aufprall am Boden explodieren oder auch schon der alleinige Aufschlag des Sprengkopfes zur Freisetzung von Plutonium führen kann. Bei einer 8 Vgl. American Physical Society (APS) Study Group: Report on Boost-Phase Intercept Systems for National Missile Defense. Scientific and Technical Issues. July 2003. S. 295 f 9 Vgl. Stupl, Jan: Hochenergielaserwaffen – naturwissenschaftliche und friedenspolitische Bewertung. Zusammenfassung der Projektergebnisse. Carl Friedrich von Weizsäcker-Zentrum für Naturwissenschaft und Friedensforschung (ZNF), Hamburg, März 2008, S.7 ff. 10 Vgl. Stupl, Jan: Untersuchung der Wechselwirkung von Laserstrahlung mit Sturkturelementen von Raumflugkörpern. Dissertation an der Universität Hamburg, 2008. Sowie: Hochernergielaserwaffen – naturwissenschaftliche und friedenspolitische Bewertung. Zusammenfassung der Projektergebnisse. Carl Friedrich von Weizsäcker-Zentrum für Naturwissenschaft und Friedensforschung (ZNF), Hamburg, März 2008. 10
erfolgreichen Zerstörung des Sprengkopfes würde ebenfalls Plutonium freigesetzt, jedoch in der Höhe des Abschusses. Zwar ist es fast undenkbar, dass das Raketenabwehrsystem direkt eine Kernexplosion durch eine Art „Kurzschluss“ in der Steuerelektronik auslöst. Jedoch wäre die Gefahr weitaus gravierender, wenn der Zündmechanismus (z.B. Höhensensor oder Zeitzünder) noch funktionstüchtig wäre und somit eine nukleare Explosion auslösen könnte. 2.2. Mittlere Flugphase : Midcourse-Phase Nachdem die letzte Antriebsstufe ausgebrannt ist, werden im Normalfall die Raketenantriebe abgestoßen und der Sprengkopf bewegt sich außerhalb der Atmosphäre mit einer konstanten Beschleunigung, sodass die Raketenbahn genau berechenbar ist. Allerdings gibt es die Überlegung moderne ICBMs teilweise mit kleinen Triebwerken auszustatten, sodass die Rakete bis kurz vor dem Einschlag manövriert werden könnte. Dadurch verläuft die Flugbahn nicht mehr rein ballistisch, sodass die Abwehr erschwert wird. Bei ICBMs dauert die Midcourse-Phase etwa 25 min und ist damit die längste der drei Flugphasen. Die Rakete fliegt auf einer elliptischen Umlaufbahn in einem suborbitalen Flug. Der höchste Punkt der Umlaufbahn (Apogäum) beträgt je nach Flugbahn etwa 1400 km (siehe Abbildung 1). Außer bei Mehrfachsprengköpfen (MIRV), bei denen jedem einzelnen Sprengkopf bei seiner Freisetzung im Weltraum eine bestimmte Richtung gegeben wird, sind nur deren hoch komplizierte Weiterentwicklung, die maneuvrierfähigen Reentry-Vehicels (Maneuverable Reentry Vehicle (MARV)) fähig von der ballistischen Flugbahn abzuweichen. MARV können mit Hilfe von Lagekontrolltriebwerke gering manövriert werden. Dies würde eventuell ausreichen, um kurzfristig einem entgegenkommenden kill-vehicle auszuweichen. Allerdings ist die technische Umsetzung sehr schwierig. Bei Kurz- und Mittelstreckenraketen verläuft die Flugbahn während der Midcourse-Phase ebenfalls außerhalb der Atmosphäre, jedoch in einem kleinen Zeitraum: Eine SRINF (LRINF) tritt etwa 100 s (150 s) nach Start aus der Atmosphäre heraus und legt vor Wiedereintritt innerhalb von etwa 350 s etwa 75% der Gesamtreichweite zurück. Raketenabwehr: Sprengköpfe von ICBMs sollen im Weltraum in der Midcourse-Phase durch einen Abschuss mit einem raketengestützten kill-vehicle abgeschossen werden, sodass der Sprengkopf allein durch die kinetische Energie des kill-vehicles vollständig zerstört und damit unschädlich würde. Dieses Vorgehen bietet mehrere Vorteile, vor allem, dass die Flugphase relativ lang ist und damit dass das Zeitfenster für die Entscheidungstreffung und Befehlsausführung relativ groß ist. Mehrere Verteidigungsmaßnahmen und –versuche sind möglich. Da die Raketenabwehr in der Midcourse-Phase im Idealfall weit entfernt von dem planmäßigen Sprengkopfziel durchgeführt werden kann, wird die Systemverletzbarkeit verringert. Außerdem ist hervorzuheben, dass bei dem erfolgreichen Abschuss des Sprengkopfes dieser vollständig zerstört wird, sodass keine Gefahr durch einen shortfall besteht. Die US-Regierung schätzt die Auswirkungen jedoch nur sehr gering ein: Laut einer Informationsbroschüre des US Department of Defense/Department of State zu den geplanten amerikanischen Raketenabwehrstützpunkten in Europa verdampfe beim Zusammenprall von Gefechtskopf und Interzeptor auf Grund der großen kinetischen Energie ein Teil von beiden 11
Körpern und der Rest zerfällt in kleine Bruchstücke. Außerdem sollen amerikanische Tests zeigen, dass nur sehr wenige Bruchteile die Erde erreichen, die maximal eine Länge von 21 cm aufweisen würden. Die Wahrscheinlichkeit für Opfer läge bei 3 in 1000 Abschüssen bis 1 in 2.5 Millionen Abschüssen, abhängig von der Bevölkerungsdichte.11 Diese Daten beruhen wahrscheinlich auf Radarbeobachtungen (Auflösung 15cm), möglichen Fundstücken bei bisherigen US-Tests oder Computersimulationen. Diese Aussagen sind jedoch in mehrerer Hinsicht haltlos: Es werden weder Messtechnik noch andere Belege angegeben, sodass die Genauigkeit und damit die Korrektheit allgemein fragwürdig ist. Auch wenn die Midcourse-Phase somit wesentlich besser für die Raketenabwehr geeignet scheint, gibt es jedoch auch zahlreiche Möglichkeiten, die Raketenabwehr mit Täuschkörpern und anderen Gegenmaßnahmen zu umgehen: Da außerhalb der Atmosphäre die Beschleunigung konstant bleibt und somit Masse belanglos wird, bewegen sich leichte und schwere Körper auf dem gleichen Weg und mit derselben Beschleunigung. Folglich bewegt sich ein Sprengkopf ebenso schnell wie ein metallbeschichteter Ballon mit sehr viel geringerer Dichte. Somit ist es für einen Angreiferstaat relativ einfach, einen Sprengkopf mit Sprengkopfattrappen zu versehen, die ohne großen Ballast zu verursachen mitgeführt und zahlreich im Weltraum ausgesetzt werden. Eine zusätzliche Möglichkeit bestünde darin, den Sprengkopf selbst in einen Ballon zu platzieren. Die Raketenabwehr wäre damit selbst mit formsensitiven Sensoren unfähig zwischen den verschiedenen Flugkörpern zu unterscheiden. Des Weiteren existieren viele andere Täunschungsmöglichkeiten, darunter reentry-vehicle reorientation, low-power jammers (Störsender für Radarsignale) und chaff12. Da die Anzahl der Interzeptoren begrenzt ist, hat damit ein Angreiferstaat immer die Möglichkeit mit einer genügend großen Anzahl von Täuschkörper die Raketenabwehr zu umgehen. Laut einer Studie der Union of Concerned Scientists, die unter anderem von den amerikanischen Raketenabwehr-Experten Theodore Postol (MIT) und Richard L. Garwin mitgeschrieben wurde, kann jedes Land, das fähig ist Nuklearwaffen zu bauen, ebenfalls erfolgreich Täuschkörper einsetzen.13 So argumentierte auch der National Intelligence Estimate (NIE), das die aktuelle Sicherheitslage der USA beurteilt, im September 1999.14 Folglich wäre eine Raketenabwehr in der Midcourse-Phase mit großer Wahrscheinlichkeit nicht erfolgreich. Da die Midcourse-Zeit für Kurz-/Mittelstreckenraketen wesentlich kürzer als bei ICBM ist (etwa 370 s), ist das Abwehren dementsprechend schwieriger. Allerdings ist es für Kurzstreckenraketen, die nicht aus der Atmosphäre austreten, wesentlich schwieriger Täuschkörper in Form von Attrappen erfolgreich einzusetzen, da diese innerhalb der Atmosphäre Reibung ausgesetzt sind und somit an ihrer Flugbahn von dem echten Gefechtskopf unterschieden werden können. Jedoch ist es in der Atmosphäre recht einfach, den Sprengkopf zu steuern. 11 Vgl. US Department of Defense/Department of State: Proposed U.S. Missile Defense Assets in Europe. 07- MDA-2650 (15 JUN 07). http://www.mda.mil/mdalink/pdf/euroassets.pdf (21.10.2008) 12 Engl. für „Düppel“: Lametta-ähnliche Staniol- oder metallbedampfte Kunstfaser - Fäden, die sich bei Radarbestahlung wie Dipolantennen verhalten und somit die Radarwellen stören 13 Vgl. Union of Concerned Scientists, MIT Security Studies Program: Countermeasures. A Technical Evaluation of the Operational Effectiveness of the Planned US National Missile Defense System http://www.ucsusa.org/assets/documents/global_security/CM_all.pdf (12.08.2008). 14 Vgl. Lewis, George N., Postol Theo dore A.: The European missile defense folly. In: Bulletin of the Atomic Scientists. Vol. 64, No. 2, Mai/Juni 2008, S. 32-39. http://www.thebulletin.org/files/064002009.pdf S. 34 (21.10.2008). 12
2.3. Wiedereintrittsphase : Terminal-Phase Beim Wiedereintritt des Gefechtskopfes in die Atmosphäre wird er durch die Luftmoleküle gebremst. Dabei muss er Hitze (mehrere tausend Grad) und Verspannungskräften standhalten ohne sich zu verformen oder gar zu verglühen. Deswegen muss er ähnlich wie ein Raumschiff mit einem Hitzeschild versehen sein. Dabei handelt es ich um ein so genanntes ablatives Hitzeschild, das durch sein (teilweises) Verglühen den Sprengkopf kühlt. Dieser besteht z.B. aus Glasfaser-Verbundwerkstoffen und/oder Kunststoffschaum (Polystyrol). Da das reentry-vehicle über ein funktionsfähiges Hitzeschild verfügt, ist der erfolgreiche Wiedereintritt bei großen Winkeln nicht von dem Wiedereintrittswinkel abhängig. Nur ein sehr flacher Eintrittswinkel könnte den erfolgreichen Wiedereintritt verhindern. Durch den eigenen Spin wird das RV außerdem stabilisiert. Folglich wird auch bei einem veränderten Flugbahnverlauf und einem daraus resultierenden leicht geänderten Wiedereintrittswinkel das RV im Regelfall nicht verglühen. Raketenabwehr: Die Terminal-Phase ist für alle Raketentypen sehr kurz und der Sprengkopf erfährt eine so große Beschleunigung, dass es fast unmöglich ist, in dieser Phase einen Sprengkopf abzuschießen. Grundsätzlich kann man sagen, dass umso weiter die Reichweite einer Rakete ist, desto schwieriger ist das Abfangen in der Endphase. So tritt beispielsweise eine ICBM mit etwa 7 km/s in die Atmosphäre ein und erreicht in weniger als einer halben Minute den Boden. Bei Kurz- und Langstreckenraketen kann die Phase auf Grund der geringeren Beschleunigung etwas länger verlaufen. 13
3. Szenarien möglicher Gefahren durch Raketenabwehr 3.1. Shortfall Die größte Gefahr bei einer „erfolgreichen“ Raketenabwehr besteht durch den Abschuss während der Boost-Phase. Erfolgt hingegen der Abschuss während der Midcourse-Phase, so wird der Sprengkopf bei direkter Kollision höchstwahrscheinlich vollständig zerstört. Somit kann dieser Fall bei der Gefahrenbetrachtung vernachlässigt werden, da die durch die Kollision entstandenen Plutoniumpartikel im Weltraum verteilt werden und nur in geringem Maße unmittelbar in die Erdatmosphäre eintreten. Ein Teil wird zudem auf dem Weg verglühen, sodass keine bemerkenswert hohe Konzentration an Plutoniumteilchen den Erdboden erreicht. Des Weiteren tragen die im Weltraum verbleibenden Partikel wegen der subortibalen Höhe auch keinen relevanten Beitrag zur Weltraumschrotproblematik bei. Viele Fragmente verweilen nicht lange im All oder sind auf Bahnen, wo sich keine Satelliten befinden. Die Boost-Phase stellt hingegen eine große Gefahr der Verteilung von Plutonium in der Atmosphäre dar, weil es laut der APS sehr schwierig und derzeit scheinbar unmöglich ist, den Sprengkopf direkt abzuschießen und zu zerstören. Stattdessen ist es weitaus wahrscheinlicher, dass zwar durch die Raketenabwehr die Antriebsstufe zerstört wird, jedoch nicht der Gefechtskopf. Damit kann ein shortfall nicht verhindert werden, sodass Plutonium sowohl in der Luft als auch bei dem Aufprall auf die Erde freigesetzt werden kann. Derzeit sind Sprengköpfe zwar normalerweise mit der sogenannten „one-point-safety“ gesichert, dass ihr chemischer Sprengstoff bei einem ungeplanten Absturz nicht zündet. Jedoch zeigen die Beispiele der Atombombenunfälle von Palomares (1966) und Thule in Grönland (1968), dass dies trotzdem geschehen kann und dann große Gebiete radioaktiv verseucht werden. Außerdem ist es wichtig zu erkennen, dass ein Angreiferstaat eventuell gerade beabsichtigen könnte, auch in Falle eines shortfalls eine chemische oder gar nukleare Explosion zu veranlassen. Dies könnte insbesondere dann denkbar sein, wenn sich der Angreifer durch die Schädigung eines Drittlandes oder Verbündete des Gegners einen Profit verspricht. Zwar wäre dann das Raketenabwehrsystem nicht direkt für die nukleare Explosion verantwortlich, aber eventuell würde der Angreiferstaat dennoch versuchen, den Besitzer des Raketenabwehrsystems als politische Ursache zu beschuldigen. Der Aufschlagort des shortfalls ist von verschiedenen Parametern abhängig. Wenn es zu einer Zerstörung des Raketenantriebes kommt, ist die bis dahin erlangte Höhe entscheidend, ob der Sprengkopf nah oder fern von dem Startort auftritt. Wegen der benötigten Reaktionszeit kann der Abschuss der ICBM jedoch selten so früh sein, dass der shortfall den Angreiferstaat selber trifft. Weit wahrscheinlicher ist, dass die Rakete einen großen Teil ihrer Beschleunigung erfolgreich erfährt, sodass der Sprengkopf nach dem Triebwerkabschuss auf einer ballistischen Flugbahn weiterfliegt und eventuell in der Nähe des ursprünglichen Zielstaates herab kommt. Beispielsweise könnte bei einem verhinderten Angriff auf die USA je nach Startort Kanada oder Europa Opfer des shortfalls werden. Ähnliches wird erwartet, wenn durch einen Airborne-Laser die Antriebe nur beschädigt und nicht vollständig zerstört werden. Der Sprengkopf wird dann von seiner Bahn abgelenkt und fliegt mit dem verbleibenden Raketenantrieb auf dieser neuen Bahn weiter. Aus Sicht der USA, ist der shortfall jedoch scheinbar nicht problematisch. So meinte Richard Garwin, langjähriger Berater diverser US-Regierungen zu Militärtechnologie und Rüstungskontrolle, dass bei einem shortfall weniger Menschen zu Schaden kämen als bei der nuklearen Explosion am ursprünglich vorgesehenen Ziel. Dies zeige der Vergleich von Bevölkerungsdichten von möglichen Angriffszielen (wichtige Großstädte) mit den Gebieten, die von einem shortfall betroffen sein könnten. Dadurch würde der Gesamtschaden etwa um den Faktor 100 verringert. Garwin zitierte während einem Vortrag an der National Defense University in Washington für die Abschätzungen möglicher Schäden in Europa eine Studie 14
der US-Regierung. Demnach würden bei einer Explosion des nuklearen Sprengkopfes an einem zufälligen Ort in Europa im Mittel 1300 Personen sterben.15 Dieser Vergleich ist jedoch aus mehreren Gründen unerheblich. Schließlich ist bei einem Abschuss einer ICBM nicht deren einprogrammiertes Ziel bekannt, welches durchaus auch ein weniger bevölkerungsreiches Gebiet sein könnte (z.B. militärische Gebäude, Raketensilos etc). Im ungünstigen Fall könnte bei einem shortfall in Europa eine Region mit hoher Bevölkerungsdichte betroffen sein. Davon wären dann auch unbeteiligte Länder betroffen. Deswegen müsste eine in jeder Hinsicht erfolgreiche Raketenabwehr einen shortfall ganz vermeiden. Abbildung 3 zeigt als Beispiel die Bahn für den möglichen shortfall einer ICBM, die im Irak auf die USA abgeschossen wurde. Dies ist ein hypothetischer Fall, da der Irak keine Raketen mit dieser Reichweite besitzt. Abbildung 3: Mögliche Bahn einer ICBM, die im Irak auf die USA gezielt wurde, entlang Bahn ist ein shortfall vorstellbar (Quelle der Karte: Google Earth) Eine weitere, wenn auch geringere Gefahr, besteht ebenfalls durch die Teile der Rakete, die diese während ihrer Flugzeit ab stößt (Raketenantrieb). Abhängig von der Höhe und der Geschwindigkeit, erreichen die Trümmer sehr hohe kinetische Energien (TNT-Äquivalent). Diese Gefahr ist jedoch unabhängig von der Raketenabwehr. 15 Vgl. Garwin, Richard L.: Comments on Boost-Phase Intercept. Dezember 2003. http://www.fas.org/rlg/031208-boost.pdf (21.10.2008) bzw. Ruppe, David: U.S. Plans I: Sea-Based Defense Against Boosting Missiles Could Work, Scientist Says. In: Global Security Newswire, 15. August 2003. http://www.nti.org/d_newswire/issues/newswires/2003_8_15.html#5 (21.10.2008) 15
3.2. Nuklearexplosion im Weltraum: Elektromagnetischer Impuls Eine nukleare Explosion des Sprengkopfes im Weltraum direkt ausgelöst durch ein Raketenabwehrsystem ist unwahrscheinlich. Eine andere Möglichkeit wäre, dass der Sprengkopf mit einem funktionstüchtigen Fernzünder versehen wäre, was technisch schwer umzusetzen ist. Denkbar wäre dann ein Szenario, bei dem der Angreiferstaat rechtzeitig bemerkt, dass eine Antiraketen-Rakete den Sprengkopf zerstören soll und somit bevor diese den Sprengkopf treffen kann, eine frühe Nuklearexplosion ausgelöst wird. Das Zeitfenster dafür ist aber sehr kurz. Ein anderes mögliches Szenario wäre dagegen, wenn der Angreifer mit einem Höhen- oder Zeitzünder so ausstattet, dass eine exoatmosphärische Explosion gewollt ist (unabhängig von einem Raketenabwehrsystem). Bei einer Explosion in sehr großer Höhe bestünde zwar keine Gefahr durch Hitze oder Feuer, aber ein erheblicher Schaden könnte durch einen Elektromagnetischen Impuls (EMP) entstehen. Würde eine Atombombe etwa in einer Höhe von 100 km gezündet (high-altitude nuclear explosion: HANE), so könnten sämtliche Satelliten im Low Earth Orbit (LEO), also etwa in einer Höhe von etwa 200 bis 1200 km, zerstört werden.16 Die Folge wäre ein Zusammenbruch der Kommunikation, sowie aller elektrischen Geräte, die auf Satelliten angewiesen sind. Erreicht der elektromagnetische Impuls die Erde, so können jegliche elektrischen Geräte gestört oder sogar zerstört werden.17 Ursache sind die bei der Explosion freigesetzten Elektronen und Protonen, die vom Erdmagnetfeld beschleunigt werden. Durch die im Weltraum verbleibende Strahlung könnten Satelliten im Extremfall bis zu zwei Jahren gestört werden. Angesichts der Tatsache, dass heutzutage Infrastruktur und Wirtschaft eng an die Funktionsfähigkeit von Satellitenkommunikation gebunden sind, könnte dadurch eine globale Krise ausgelöst werden. Somit wäre es nicht nur möglich, dass ein Staat einen EMP über einem anderen Staat zündet, um dessen Infrastruktur lahm zu legen. Sondern es wäre sogar denkbar, dass ein Staat z.B. zur Abschreckung eine nukleare Bombe in hinreichender Höhe über dem eigenen Land zündet, um somit global andere Länder zu schädigen. Allerdings müsste der Staat dabei in Kauf nehmen, selbst direkt geschädigt zu werden und eventuell einen Gegenschlag von den beschädigten Ländern zu erfahren. Dabei ist es wohl nicht anzunehmen aber dennoch denkbar, dass der Gegenschlag nuklearer Natur sein könnte. Schließlich erscheint es nicht angemessen die Schädigung elektrischer Geräte mit den horrenden Auswirkungen einer Atombombe, die viele Menschenleben kosten würde, zu vergelten. 3.3. Gefahr durch herabstürzende Raketenteile Auch herabstürzende Raketenteile stellen je nach Größe und Material selbst ohne Sprengstoff schon aufgrund ihrer hohen eigenen kinetischen Energien ein beachtliches Gefahrenpotential dar. Bei den Fragmenten kann es sich sowohl um planmäßige Überreste handeln (z.B. um Treibstofftankteile, die nach dem vollständigen Verbrennen des Treibstoffes von der Rakete abgestoßen werden), als auch um unbeabsichtigte Bruchstücke, wie z.B. bei Raketenunfällen oder aber auch bei der Raketenabwehr eines kriegerischen Angriffs. Raketen werden von Weltraumbahnhöfen gestartet, die meistens in einem nicht bzw. sehr dünn besiedelten Gebiet liegen. Um die Bewohner des Landes zu schützen, existiert rund um den Weltraumbahnhof ein weitläufiges freies Gebiet, auf das die zu erwartenden Raketenabfälle abstürzen können. Die Raketenflugbahn wird meistens so berechnet, dass mögliche Bruchstücke in der Atmosphäre verglühen oder ins Meer stürzen. Trotzdem kommt 16 Vgl. Steer, Ian: Blind, deaf and dumb. In : Jane’s Defence Weekly, 23.10.2001. http://www.globalsecurity.org/org/news/2002/nuke_explosion.htm (01.12.2008) 17 Vgl. Spencer, Jan: America’s Vulnerability to a different Nuclear Threat: An Electromagnetic Pulse. In: The Heritage Foundation Backgrounder, Vol. 2, Washington D.C., 26.05.2000. 16
es immer wieder zu Vorfällen, bei denen Fragmente außerhalb des dafür vorgesehenen Gebietes abstürzen. Ein Beispiel dafür bietet der weltweit größte Raketenstartplatz Baikonur im Süden Kasachstans. Für die Bereitstellung der Fläche von 6.717 m! zahlt Russland jährlich $115 Millionen an die kasachische Regierung in Astana. In den letzten 40 Jahren sind laut Experten insgesamt etwa 2.5 t Weltraumschrott auf das Gebiet Altai gefallen.18 Der Aufprallort war dabei nicht immer im vorgesehenen Bereich, sondern ebenfalls in der Nähe von bewohntem Gebiet. So gab es verschiedene gerichtliche Verfahren, bei denen Bauern, in deren unmittelbarer Nähe einige Meter lange Fragmente heruntergefallen sind, um Schadenersatz klagten. Spektakulär war der Absturz einer Proton-M Trägerrakete kurz nach dem Start am 6.September 2007, bei der in der 139. Flugsekunde in einer Höhe von 76 km plötzlich die Triebwerke der zweiten Stufe ausfielen. Nach dem Absturz wurden über 119 herabgefallene Fragmente bis zu 400 km vom Startpunkt entfernt gefunden. Zwei dieser Teile wiesen eine Masse von über 400 kg auf und befanden sich 40 km nah zur Stadt Dscheskasgan.19 Eine Einschlagsstelle war 45 Meter groß und 20 Meter tief.20 Während des Starts hatte die Trägerrakete rund 649 Tonnen toxischen Treibstoff an Bord, zum Zeitpunkt des Absturzes wurden 219 Tonnen Treibstoff freigesetzt. Bei den aufwändigen Aufräumarbeiten waren 200 Personen im Einsatz auf einer Gesamtfläche von 1700 km!. 12 Personen dekontaminierten den Aufprallort bis Bodenproben Mitte Oktober schließlich ergaben, dass der Boden nicht mehr verseucht ist. Es war das sechste Mal, dass eine von Baikonur gestartete Rakete während der Startphase abstützte. 21 Bei diesem Beispiel handelt es sich um einen Unfall ohne Einwirkung von Raketenabwehr. Allerdings kann es exemplarisch für ein Szenario stehen, bei dem der Absturz der Rakete durch ein Raketenabwehrsystem ausgelöst wird. Abgestürzte Raketenfragmente sind gefährlich, da sie wegen ihrer hohen kinetischen Energie eine Bomben ähnliche Wirkung aufweisen. Stürzt beispielsweise ein Raketenfragment von 500 kg aus einer Höhe von 80 km auf die Erde, so besitzt es einer potentielle Energie von 400 Megajoule. Diese obere Abschätzung, bei der noch Verluste durch Luftreibung abzuziehen sind, entspricht etwa 100 kg TNT-Äquivalent und damit der Sprengkraft einer typischen Bombe. 18 Vgl. Ria Novosti: Another Siberian villager seeks damages for fallen rocket parts. 09. 04. 2008. http://en.rian.ru/world/20080409/104154144.html (21.10.2008) 19 Vgl. Russianspaceweb : Proton fails during launch . http://www.russianspaceweb.com/proton_jcsat11.html (21.10.2008) 20 Vgl. Ria Novosti: Teile der abgestürzten Proton-Rakete in Kasachstan bereits gefunden. 07.09.2007 http://de.rian.ru/society/20070907/77259344.html (21.10.2008) 21 Vgl. Ria Novosti: Russian Proton-M rocket with Japanese satellite crashes on launch. 06.09.2007 http://en.rian.ru/russia/20070906/76959319.html (21.10.2008) 17
3.4. Gefahren durch die Verteilung von Plutonium Im Folgenden wird zunächst ein Überblick über die gesundheitsschädlichen Eigenschaften von Plutonium gegeben. 3.4.1. Eigenschaften von Plutonium Plutonium ist ein Schwermetall der Gruppe der Actinoide und besitzt die Ordnungszahl 94. In der Natur kommt Plutonium nur in sehr geringen Spuren vor. Weit größer sind die Mengen, die künstlich in Kernkraftwerken erzeugt werden. Durch Neutroneneinfang von Uran-238 und zwei aufeinander folgende Beta-Zerfälle bildet sich Plutonium-239 (Brüten). Durch weitere Neutroneneinfänge können auch andere Isotope entstehen. Für Atombomben wird das so genannte waffenfähige Plutonium verwendet. Dabei handelt es sich um Plutonium bei dem der Anteil mit 240Pu geringer als 7 % ist. Plutonium ist sowohl giftig als auch radioaktiv, wobei die Radioaktivität die weitaus gefährlichere Wirkung besitzt. Die chemische Giftigkeit liegt im Rahmen jedes anderen Schwermetalls. So beträgt die für Menschen tödliche Dosis einige Milligramm. Plutonium ist ein Alpha-Strahler. Es hat zwar eine hohe spezifische Aktivität (je nach Isotop zwischen 3 und 600 GBq/g z.B. für Pu-239 2,3 GBq/g), jedoch nur mit einer sehr geringen Reichweite. In Gewebe beträgt die Reichweite etwa 50 Mikrometer, sodass die Haut bereits einen genügenden Schutz vor äußerer Bestrahlung darstellt. Gelangt Plutonium allerdings durch Inhalation in den Körper (innere Bestrahlung), so reichen schon 27 Nanogramm aus, um die Jahresmaximaldosis zu erreichen (siehe Tabelle 4). Inkorporiertes Plutonium hat im Körper eine Halbwertszeit von etwa 100 Jahren. Folglich würde innerhalb eines Menschenlebens eine in der Jugend aufgenommene Plutoniummenge zu weniger als 50% ausgeschieden. Plutonium ist löslich und kann zu Krebs führen. Sobald Plutonium in Kontakt mit Luft kommt, oxidiert es zu Plutoniumdioxid, das etwa ein siebenfach größeres Volumen als das Ausgangsvolumen von Plutoniummetall annimmt22 (siehe Tabelle 2). Plutoniumdioxid ist äußerst gefährlich, da Partikel von weniger als einem Mikrometer Durchmesser als Aerosol oder Staubteilchen leicht eingeatmet werden und sich zunächst in der Lunge ansammeln. Sie werden nur sehr langsam wieder ausgeschieden, weil Plutoniumdioxid stabil ist und sich die Partikel im Blut praktisch nicht lösen.23 Somit können schon kleinste Dosen Lungenkrebs verursachen. Wenn die Partikel klein genug sind, gelangen sie über das Blut z.B. zu den Lymphknoten sowie allen weiteren Körperteilen. Plutonium lagert sich vor allem an der Knochenoberfläche (ca. 60%), in der Leber (ca. 15 %) und in der Niere (ca. 10 %) an. Für ein Aerosol von etwa 1"m Durchmesser würde etwa 15 % des inhalierten PuO2 tief in der Lunge mit einer Halbwertzeit von 1,4 Jahren verbleiben. Die Inhalation einer größeren Menge PuO2 führt zu Lungenschäden, Lungenfibrose und etwa nach einem Jahr zum Tod. Eine kleinere Menge führt mit einer geringen Wahrscheinlichkeit 22 Vgl. US Department of Energy: Plutonium Working Group Report on Environmental, safety and health vulnerabilities associated with the department’s plutonium storage. 1994. S.9 23 Vgl. Barleon, Leopold; Chauvistré, Eric; Daase, Christopher; von Ehrenstein, Dieter; Eisenbart, Constanze; Gmelin, Wilhelm; Häckel, Erwin; Kankeleit, Egbert; Marauhn, Thilo; Pistner, Christoph; Ratsch, Ulrich: Wohin mit dem Plutonium? Optionen und Entscheidungskriterien. FEST, Reihe B, NR. 31, September 2004. http://www.ianus.tu-darmstadt.de/kankeleit/2004Plutonium.pdf , S. 36. 18
langfristig (typischerweise nach einer Latenzzeit von etwa 20-30 Jahren) zu Lungenkrebs und kann damit ebenfalls tödlich sein. Durch die Anreicherung in den Knochen kommt es zu einer langfristigen Bestrahlung des Knochenmarks, also des blutbildenden Systems, wodurch Leukämie ausgelöst werden kann (etwa nach einer Latenzzeit von 2-10 Jahren). Die radioaktive Bestrahlung der körpereigenen Keimdrüsen kann ebenso ein Erbgutschaden auslösen, der sich in Missbildungen oder Erkrankungen in der Nachfolgegeneration äußern kann. Form und Umgebungsbedingungen: Reaktion: Ungeteiltes Metall bei Raumtemperatur Relativ inert, oxidiert langsam (korrodiert) Abgespaltenes Metall bei Raumtemperatur Reagiert schnell zu Plutoniumdioxid (PuO2) Fein abgespaltene Teilchen unter 1 mm Durchmesser Entzündet sich spontan bei etwa 150° Teilchen über 1 mm Durchmesser Entzündet sich spontan bei etwa 500° Feucht, höhere Temperaturen Reagiert schnell zu Plutoniumdioxid (PuO2) Tabelle 2: Reaktion von Plutonium mit Luft (Quelle: Physical, Nuclear, and Chemical, Properties of Plutonium http://www.ieer.org/fctsheet/pu-props.html bzw. US Department of Energy, "Assessment of Plutonium Storage Safety Issues at DOE Facilities," DOE/DP-0123T (Washington, DC: US DOE, Jan 1994.) Offene Wunden und Ingestion tragen ebenfalls zur inneren Dosis bei. Da diese Partikel aber zum Teil wieder ausgeschieden werden, stellen diese beiden Möglichkeiten eine geringere Gefahr als Inhalation da. Ebenfalls kann am Boden abgelagertes PuO2 wieder in die Luft aufgewirbelt werden (Resuspension). Jedoch ist diese Konzentration wesentlich geringer als direkte Verteilung in der Atmosphäre und damit ebenfalls klein gegenüber der direkten Inhalation. Bei sehr hoher Kontamination spielt dies dennoch eine bedeutende Rolle. 3.4.2. Dosisleistungsfaktoren Radioaktivität wird in der Einheit Becquerel (Bq) (atomare Zerfälle pro Sekunde) gemessen. Um die Schädlichkeit der Radioaktivität im Strahlenschutz anzugeben, wird die Einheit Sievert (Energie pro Masse) genutzt. Sie gibt die Äquivalentdosis an, d.h. die biologische Wirkung der ionisierenden Strahlung als Produkt des Qualitätsfaktors Q und der aufgenommenen Energiedosis D (gemessen in Gray). Die Organdosis ergibt sich aus dem Produkt eines zum Organ definierten Strahlungsgewichtungsfaktor (dimensionslos) und der Äquivalentdosis, die auf dieses Organ wirkt. Die natürliche jährliche Strahlendosis beträgt in Deutschland im Mittel 2 - 3 mSv. Um zu berechnen, welche Auswirkungen eine einmal vom Körper aufgenommene Radioaktivitätsmenge im Laufe des Lebens haben wird, werden die sogenannten Dosisfaktoren verwendet (50-Jahre-Folgedosis bei Erwachsenen bzw. 70-Jahre-Folgedosis bei Kindern). Die internationale Strahlenschutzkommission ICRP (International Commission on Radiological Protection) hat für Einzelpersonen der Bevölkerung sowie Personen mit 19
beruflicher Strahlenexposition Grenzwerte berechnet und veröffentlicht. Sie dienen in Deutschland als Grundlage für den Strahlenschutz. für Einzelpersonen der mit verschiedenen Bevölkerung Inhalation Absorptionsklassen Ingestion Lungenabsorptionsklassen F(fast) M (medium) S (slow) Knochenoberfläche 4,0E-04 1,5E-03 1,8E-04 8,20E-06 Leber 8,4E-04 3,3E-04 3,9E-05 1,7E-06 Lunge 7,0E-06 3,3E-05 8,7E-05 1,4E-08 Niere 1,6E-05 6,4E-06 8,0E-07 3,4E-08 effektiv 1,2E-04 5,0E-05 1,6E-05 2,5E-07 für Personen bei beruflicher Strahlenexposition M (nicht nicht spezifizierte S (unlösliche spezifizierte unlösliche Lungenabsorptionsklassen Verbindungen) Oxide) Verbindungen Oxide Knochenoberfläche 1,0E-03 9,1E-05 8,2E-06 1,6E-06 Leber 2,1E-04 1,9E-05 1,7E-06 3,4E-07 Lunge 2,1E-05 4,7E-05 1,4E-08 2,9E-09 Niere 4,1E-06 3,9E-07 3,3E-08 6,7E-09 effektiv 3,2E-05 8,3E-06 2,5E-07 5,3E-08 Tabelle 3: Dosiskoeffizienten für Pu-239 in Sv/Bq bei innerer Strahlenexposition laut der Strahlenschutzverordnung vom 20. Juli 2001 Die Lungenabsorptionsklassen geben an, wie schnell eine Substanz aus der Lunge ins Blut absorbiert wird (entsprechend ihrer Löslichkeit). (Quelle: http://www.bfs.de/de/bfs/recht/dosis.html) Die Dosisgrenzwerte pro Kalenderjahr werden ebenfalls in der Strahlenschutzverordnung festgelegt. Für Einzelpersonen der Bevölkerung liegt die maximale effektive Dosis pro Jahr bei 1mSv und für Personen bei beruflicher Strahlenexposition bei 20 mSv. Außerdem wird für diese Berufsgruppe auch noch ein Grenzwert für die verschiedenen Organe angegeben, z.B. für die Knochenoberfläche 300 mSv und die Lunge 150 mSv. Daraus ergeben sich für Plutoniumdioxid (unlöslich) bei Inhalation folgende Maximalwerte pro Jahr (siehe Tabelle 4): entspricht Grenzwerte Aktivität etwa Pu- 239 Einzelpersonen effektiv 63 Bq 27ng der Bevölkerung Personen bei beruflicher effektiv 2400 Bq 1µg Strahlenexposition Knochenoberfläche 33 Bq 14ng Tabelle 4: Maximalwerte für Plutoniumdioxid (unlöslich) pro Jahr bei Inhalation (nach dem gültigen Grenzwert in Deutschland) 20
3.4.3. Gesundheitsschäden - Szenarien von Plutonium Verteilung Zum Vergleich mit den hier relevanten Daten wird Bezug genommen auf die rund 12 PBq Plutonium, die durch die historischen Kernwaffentests in die Atmosphäre gelangt sind, wovon das meiste durch oberirdische Kernwaffentests vor 1963 freigesetzt wurde.24 Das Verhältnis von 240Pu zu 239Pu in der Atmosphäre wird mit 0.163 berichtet.25 Daraus lässt sich berechnen, dass insgesamt 4,48 t Plutonium in die Atmosphäre eingebracht worden sind, davon 4,29 t 239 Pu. Aus dieser und anderen kleineren Quellen (u.a. Wiederaufarbeitungsanlagen, Tschernobyl) resultiert eine globale Verteilung, die in den mittleren Breiten der nördlichen Hemisphäre in den 90er Jahren Quartalsmittelwerte der bodennahen Luft von 0,4 nBq/m3 bis 4 nBq/m3 erreichte.26 Zur Untersuchung der möglichen Risiken und Gesundheitsschäden durch die Verteilung von Plutonium (z.B. durch einen „shortfall“ oder auch durch den Absturz nach einem missglückten Raketenstart) wird hier auf eine Studie von Steve Fetter and Frank von Hippel Bezug genommen, die 1990 in der Zeitschrift Science & Global Security veröffentlicht wurde. Laut Steve Fetter and Frank von Hippel ist selbst im schlimmsten Fall der Plutoniumzerstreuung nicht mit starken Dosen außerhalb des direkten Zentrums zu rechnen27 . Deshalb werden an dieser Stelle nur die Folgen der Inhalation einer mittleren Dosis und die damit verbundene Krebsgefahr behandelt. Die Autoren zeigen anhand drei verschiedener Modelle zur Einschätzung der Krebsgefahr, dass die Inhalation von PuO2 etwa einen Risikofaktor von 3-12 Krebstoten pro Milligramm eingeatmeten Waffenplutoniums darstellt28. Für die gesamte Weltbevölkerung von 6,7 Milliarden Menschen folgt daraus bei einer globalen Hintergrundkonzentration von 1 nBq/m3 eine Rate von 60 bis 250 zusätzlichen vorzeitigen Krebstoten pro Jahr.29 Zur Schätzung der Krebsgefahr bei den genannten Szenarien wird die verbreitete Annahme verwendet, dass die Gefahr linear mit der Dosis wächst. Abhängig von der Bevölkerungsdichte und den Wind- und Wetterbedingungen kann mit dem wedge-Model für die atmosphärische Ausbreitung die Anzahl an Krebstoten durch unmittelbare Inhalation geschätzt werden (vgl. Tabelle 5). Ein worst-case Szenarium, bei dem 30 km entfernt vom Stadtkern von Seattle 10 kg Waffenplutonium freigesetzt werden und der Wind in Richtung der Stadt weht, ergibt schätzungsweise bei trockenen Verhältnissen 20-2000 Krebstote. Da sich diese Zahl jedoch über einen längeren Zeitraum verteilt, kann eventuell keine erhöhte regionale Krebsrate festgestellt werden.30 24 Vgl. Eisenbud, Merril; Gesell, Thomas: Environmental Radioactivity. Fourth Edition. Academic Press: San Diego 1967, S. 310. 25 Vgl. Krey, P.W.: Remote plutonium contamination and total inventories from Rocky Flats. Health Physics 30, 1976, S. 209-214. 26 Vgl. Arnold, D.; Wershofen, H: Plutonium isotopes in ground-level air in Northern Germany since 1990. Radioanalytical and Nuclear Chemistry, 234, No. 2, 2000, S. 409-413. 27 Vgl. Fetter, Steve; Hippel, Frank von: The Hazard from Plutonium Dispersal by Nuclear-warhead Accidents. In: Science & Global Security, 1990, Volume 2, S. 2l-41 28 Vgl. Fetter, Steve; Hippel, Frank von: The Hazard from Plutonium Dispersal by Nuclear-warhead Accidents. In: Science & Global Security, 1990, Volume 2, S. 23 29 Eine Atemrate von 15,6 Liter pro Minute wird angenommen. 21
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