Gemeinsamkeiten finden, Unterschiede feiern 2014 - Interkulturelle Woche
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Gemeinsamkeiten finden, Unterschiede feiern. 2014 Herausgeber: Ökumenischer Vorbereitungsausschuss zur Interkulturellen Woche / Postfach 16 06 46, 60069 Frankfurt am Main / www.interkulturellewoche.de
INHALT GEMEINSAMES WORT DER KIRCHEN 36 Umsteuern und neu ausrichten – Europäische Flüchtlings- und Migrationspolitik nach Lampedusa 3 Gemeinsames Wort der Kirchen zur Interkulturellen Woche 2014 Andreas Lipsch »Gemeinsamkeiten finden, Unterschiede feiern.« ZUM WELTTAG DER MIGRANTEN GEMEINSAMKEITEN FINDEN, UNTERSCHIEDE FEIERN. UND FLÜCHTLINGE 2014 5 Offene Gesellschaft 39 Migranten und Flüchtlinge: Unterwegs zu einer besseren Welt Einleitungsartikel Botschaft von Papst Franziskus 6 Gemeinsamkeiten finden, Unterschiede feiern. ANREGUNGEN FÜR GOTTESDIENSTE Anuschka Abutalebi 41 Gemeinsamkeiten finden, Unterschiede feiern. Stimmungslagen und Herausforderungen Assoziationen zum Motto in der postmigrantischen Gesellschaft Prof. Dr. Wolfgang Reinbold 8 Vom Gefahrengut zum Teil des Ganzen 42 Fürbitte Ekrem Şenol Msgr. José Antonio Arzoz 9 Koalitionsvertrag und gesellschaftliche Realität 43 Soziales Bekenntnis der Evangelisch-Methodistischen Kirche Sidonie Fernau 44 Gebet beim Pastoralbesuch von Papst Franziskus 11 Aufgabe Einbürgerung auf Lampedusa Johannes Brandstäter 44 Ufficio delle Celebrazioni liturgiche del sommo 13 Aufruf zur Einrichtung einer Enquete-Kommission Pontefice visita pastorale a Lampedusa »Vielfalt und gesellschaftliche Teilhabe« Junge Islamkonferenz 45 »Wir sind nur Gast auf Erden« – Anregungen für geistliche Texte im Rahmen eines Gottesdienstes während der 14 Das Integrationsparadox Interkulturellen Woche 2014 Ferda Ataman Peter Oldenbruch 15 Institutioneller Rassismus – Ein Konzept greifbar machen 47 Fürbitten Vera Egenberger Europäische Binnenwanderung und die Situation BEISPIELE UND ANREGUNGEN in Deutschland 49 Die Würde der Differenz 17 »Einwanderungsland ohne ehrliche Debatte« Dr. Werner Höbsch Dr. Ulrich Maly 51 Dialog in einer kleinen Stadt – Praxis und Erfahrungen 19 Lohndumping verhindern und Kommunen unterstützen Dr. Werner Höbsch statt Horrorszenarien verbreiten 53 Friedensgebet der Religionen: Gemeinsamkeiten finden, Volker Roßocha und Dominique John Unterschiede feiern. 22 Der antiziganistische Kern der Debatten Ahmad Aweimer um »Armutszuwanderung« 55 Flüchtlinge Willkommen heißen, begleiten, beteiligen Markus End Eine Praxishilfe für Kirchengemeinden 25 Dynamit an den Grundlagen der Gemeinschaft 57 »Lesestart« – Ein Baustein der frühkindlichen Leseförderung Norbert Mappes-Niediek in den Bibliotheken 27 Das Recht auf ein Leben in Würde – Freizügigkeit in Europa 58 Stopp, so nicht! Über den Umgang mit rechtsextremen Norbert Grehl-Schmitt und Dr. Barbara Weiser Äußerungen 30 Der europäische Traum Uta Gröschel Dr. Dieter Heidtmann 58 Leitfaden für einen rassismuskritischen Sprachgebrauch Rassismus – Schwerpunkt: Flüchtlinge Handreichung für Journalist_innen 32 Agieren statt reagieren 59 Stark für die Zivilgesellschaft – Das bundesweite Bündnis für Prof. Dr. Martin Gillo Demokratie und Toleranz – gegen Extremismus und Gewalt 33 Aachen sagt ja – Willkommenskultur für Flüchtlinge 63 AKTIONEN UND MATERIALIEN Hilde Scheidt Ausstellungen, Filme, Bücher, Lesungen und Theater 34 Rassismus gegenüber Flüchtlingen vor Ort begegnen: Berlin und seine Flüchtlinge 67 WAS • WANN • WO? Prof. Dr. Ulrike Kostka Mehr Infos zur Interkulturellen Woche
GEMEINSAMKEITEN FINDEN, UNTERSCHIEDE FEIERN. ■ »Gemeinsamkeiten finden, Unterschiede fei- Es ist stets eine der großen Aufgaben der Kirche, dafür ern.« Mit diesem Motto gehen wir in die zu werben, dass bei allen politischen Fragen und Ent- diesjährige Interkulturelle Woche. Die knap- scheidungen die Dimension der Würde des Menschen pen Worte fassen die Erfahrungen von gelingender Be- nicht aus den Augen verloren wird. Das gilt auch und gegnung und wachsendem Verständnis zusammen – gerade für die Migration. Die Verpflichtung auf die Erfahrungen, die in fast vierzig Jahren an unzähli- Menschenrechte ist eine der entscheidenden Grund- gen Stellen im ganzen Land gemacht wurden. Die lagen unserer Gesellschaft. Sie gilt für alle Lebens- und Interkulturelle Woche ist von der Erkenntnis geprägt, Politikbereiche und kann auch in Wahlkämpfen nicht dass es immer wieder besondere Räume und Zeiten zur Disposition gestellt werden. Innerhalb der Euro- braucht, um zu entdecken, was Menschen unter- päischen Union gehört das Recht auf Freizügigkeit zu schiedlicher kultureller Herkunft verbindet und dabei den verbrieften Grundrechten; es ist einer der wich- zugleich die Unterschiede nicht nur als trennend, son- tigsten Pfeiler der europäischen Idee. Wir beobachten dern auch als Bereicherung zu feiern. mit Sorge, dass populistisch geführte Debatten diese Errungenschaften in Frage stellen und Ängste schüren. Als Christinnen und Christen erleben wir diese Wech- Gerade angesichts der Europawahl 2014 müssen wir selwirkung zwischen Gemeinsamkeiten und Unter- alle dafür einstehen, dass Probleme bei der Integration schieden jeden Tag neu, denn Vielfalt gehört konstitu- von Migrantinnen und Migranten nicht für Wahl- tiv zum Wesen der Kirche. Sie verbindet Menschen kampfzwecke missbraucht werden. Wir bitten alle über Ländergrenzen, Sprachen und Kulturen hinweg Politikerinnen und Politiker, sich für die Teilhabe aller zu einer Einheit in Vielfalt. In der Nachfolge Jesu ver- Menschen in Europa einzusetzen und keine Ressenti- lieren solche Unterschiede ihre trennende Macht. So ments zu befördern. schreibt der Apostel Paulus im Galaterbrief: »Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch In der aktuellen Debatte über den Zuzug von Migran- Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid ten heben wir hervor: Neben den Bedürfnissen des Ar- allesamt einer in Christus Jesus« (Gal 3,28). Diese beitsmarktes muss in unserem reichen Land immer Grunderfahrung gilt in der christlichen Kirche. Sie auch Platz für diejenigen sein, die unserer Fürsorge kann aber auch auf unsere Gesellschaft ausstrah- und Zuwendung bedürfen. Deshalb setzen wir uns be- len. Deshalb werben wir für ein friedliches und ge- ständig für ein humanitäres Aufenthaltsrecht ein, das rechtes Miteinander von Menschen unterschiedlicher diesen Namen verdient. Hier besteht immer noch er- Sprache und Herkunft, religiöser und weltanschauli- heblicher Handlungsbedarf und wir fordern die Poli- cher Prägung in Deutschland. Alle sollen teilhaben tik auf, den entsprechenden Ankündigungen im Koali- können an unserem Gemeinwesen: mit Rechten und tionsvertrag rasch Taten folgen zu lassen. mit Pflichten. Überall auf der Welt leiden Menschen unter gewalt- Unser Land braucht Zuwanderung. Auch Politik und samen Konflikten, Hungersnöten und den Folgen von Wirtschaft betonen dies immer wieder. Allerdings stel- Naturkatastrophen. So sind immer mehr Menschen len wir fest, dass rationale Argumente in der Ausei- gezwungen, sich auf der Suche nach Schutz und Zu- nandersetzung mit Populismus und Ressentiments oft flucht auf eine lebensgefährliche Reise zu begeben. Die wenig Gehör finden. In Deutschland und anderen schrecklichen Bilder aus Syrien oder Zentralafrika, europäischen Staaten verzeichnen rechtspopulistische aus der Sahara oder dem Mittelmeer stehen uns bei- Kräfte neuen Zulauf. Wir dürfen ihnen nicht nur öko- spielhaft vor Augen. Das Schicksal von Flüchtlingen nomische Argumente entgegenhalten. Vielmehr müs- aus diesen und vielen anderen Ländern darf uns nicht sen wir auch deutlich machen, dass ein enges, frem- gleichgültig lassen. Als Christinnen und Christen müs- denfeindliches und rückwärtsgewandtes Gesellschafts- sen wir uns fragen, wo in der Welt wir Jesus begegnen, bild nicht mit dem biblischen Menschenbild und in welchem unserer »geringsten Brüder« und Schwes- unserem aus dem Evangelium motivierten Eintreten tern (Mt 25,40) er uns gegenübertritt. Nicht zuletzt für Chancengleichheit, Gerechtigkeit und Offenheit in deshalb begehen wir Jahr für Jahr im Rahmen der Einklang steht. Interkulturellen Woche den Tag des Flüchtlings. Die Materialheft zur Interkulturellen Woche 2014 3
Zahl der Kirchengemeinden, die sich ganz praktisch des Aufenthaltsrechts oft über Monate hinweg, für Flüchtlinge und mit ihnen engagieren, wächst. Das manchmal sogar auf Dauer, den Nachzug von Ange- stimmt uns hoffnungsfroh und dankbar. Mit dieser hörigen aus Kriegs- und Krisengebieten verhindert. Form der Nächstenliebe tragen sie dazu bei, dass un- sere Gesellschaft ein menschliches Gesicht bewahrt »Gemeinsamkeiten finden, Unterschiede feiern.« – das und bekommt. Motto der diesjährigen Interkulturellen Woche kann in der Debatte um das Zusammenleben in unserem Ein besonderes Anliegen ist uns die Situation von Land die Richtung weisen. Denn es geht ganz selbst- Familien, die durch Flucht auseinandergerissen wer- verständlich davon aus, dass es fundamentale Gemein- den. Wir wissen, wie kostbar es ist, wenn Menschen samkeiten unter den Menschen gibt, gleich welcher generationenübergreifend füreinander Verantwortung Herkunft, Sprache oder Religion sie sind: das Be- übernehmen. Umso mehr schmerzt es uns zu sehen, dürfnis nach Nähe und Sicherheit, das Bedürfnis nach wie Familien unter der Trennung leiden, die ihnen freier Entfaltungsmöglichkeit, nach Teilhabe und Hei- durch die Flucht und aufgrund ausländerrechtlicher mat. Zugleich leugnet das Motto nicht die Unter- Regelungen auferlegt ist. Gemeinsam mit den Einrich- schiede, die mancherorts auch zu Herausforderungen tungen von Diakonie und Caritas stehen wir an ihrer für den gegenseitigen Umgang werden. Hier geht es Seite und setzen uns dafür ein, dass Familien zusam- darum, schwierigen Fragen nicht auszuweichen und mengeführt werden können. Nicht nur Menschen nach Lösungen zu suchen, die das Trennende der syrischer Herkunft in Deutschland wollen ihre Ange- Unterschiede aufheben. hörigen bei sich aufnehmen. Wir würdigen die gegen- wärtigen Bemühungen des Bundes und der Länder zur Wir danken allen, die sich im Rahmen der Interkultu- Aufnahme syrischer Flüchtlinge. Bedenkenswert ist rellen Woche öffentlich für Begegnung, Teilhabe und nicht zuletzt die manchenorts bereits geübte Praxis, Integration einsetzen. Wir wünschen Ihnen gute Er- aufnehmende Familien von den möglichen Krank- fahrungen und gelingende Begegnungen, damit Ge- heitskosten für Flüchtlinge freizustellen. Es bleibt aber meinsames gefunden und Unterschiede als Reichtum bedrückend zu sehen, dass eine engherzige Auslegung gefeiert werden können. Reinhard Kardinal Marx Dr. h. c. Nikolaus Schneider Metropolit Augoustinos Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz Vorsitzender des Rates der Evangelischen Griechisch-Orthodoxer Metropolit Kirche in Deutschland von Deutschland von links nach rechts: © Erzbischöfliches Ordinariat München, © Evangelische Kirche in Deutschland, © KNA-Bild 4 Materialheft zur Interkulturellen Woche 2014
OFFENE GESELLSCHAFT Das ist die zentrale Botschaft des Plakates zur Interkulturellen Woche 2014. DIE MÄR VON DER Das Schild hängt hinter einer geschlossenen Tür. Sie sieht alles andere als MASSENHAFTEN ZUWANDERUNG einladend aus. Diese paradoxe Doppelbotschaft steht für die gesamte Debatte IN DIE SOZIALSYSTEME um Migration, Flucht und Integration in Deutschland. »Deutschland ist wegen seines guten Der Grundtenor der öffentlichen Diskussion hat sich verändert. Deutschland Sozialsystems der Magnet für Zuwan- ist ein offenes Land, das Zuwanderung grundsätzlich braucht. So betonen es dernde in Europa.« So sehen viele in inzwischen Vertreterinnen und Vertreter der Bundesregierung, der Arbeitgeber, Deutschland das Migrationsgeschehen. der Gewerkschaften, der Kirchen und viele mehr. Ein Blick auf die Zahlen und Fakten hingegen zeigt: Bulgarien und Rumä- Trotzdem wurde in den Monaten vor und nach der Bundestagswahl über die nien verzeichnen seit Jahren eine starke steigende Zahl von Flüchtlingen und Asylsuchenden diskutiert und die Zuwande- Auswanderung. Rund drei Millionen rung aus den EU-Staaten Bulgarien und Rumänien öffentlich problematisiert. Menschen sind im letzten Jahrzehnt Vor diesem Hintergrund enthielt der am 15. Januar 2014 veröffentlichte Migra- ausgewandert. Der weit überwiegende tionsbericht der Bundesregierung überraschende Erkenntnisse: Mehr als eine Teil ist aber nicht etwa nach Deutsch- Million Menschen sind im Jahr 2012 nach Deutschland zugezogen – im selben land, sondern nach Spanien und Ita- Zeitraum wanderten 712.000 Personen aus Deutschland aus. Zahlen, die viele lien gegangen. Dort leben heute ca. 1,5 überraschen. Millionen Rumäninnen und Rumänen. Auswandernde aus Bulgarien haben sich ebenfalls in Richtung Süden auf den Weg gemacht: 540.000 leben in der Türkei, rund 170.000 in Spanien. Der Deutsche Caritasverband hebt in sei- nem Positionspapier zur EU-Mobili- tät vom 16. September 2013 hervor: »Diese Zahlen verdeutlichen, dass für die Auswahl des Ziellandes das dortige Sozialsystem nicht das entscheidende Kriterium sein kann. Keines der Haupt- Postkarten- und Plakatmotiv zur Interkulturellen Woche 2014 Postkarte: Bis 49 Expl. je 0,25 €, ab 50 Expl. 0,20 €. Alle Preise zuzüglich Versandkosten. Plakat DIN A3, A2 und A1: Dieses Motiv ist auch als Plakat im Format DIN A3, DIN A2 und DIN A1 erhältlich. Bestellformular: www.interkulturellewoche.de Bestelladresse: Ökumenischer Vorbereitungsausschuss zur Interkulturellen Woche Postfach 16 06 46, 60069 Frankfurt/M. Tel.: 069 /24 23 14-60, Fax: 069 /24 23 14-71 info@interkulturellewoche.de Materialheft zur Interkulturellen Woche 2014 5
zielländer verfügt über ein ähnlich gut insgesamt (neun im Vergleich zu sieben Flucht dahin wollen, wo Verwandte ausgebautes System wie Deutschland. Prozent), aber deutlich niedriger als im leben. Mit großen Worten und emotio- Ein wichtiges Kriterium ist vielmehr Durchschnitt der ausländischen Bevöl- naler Anteilnahme verfolgen namhafte die Sprache. Wegen der großen türki- kerung (16 Prozent). Insgesamt profi- Politikerinnen und Politiker die Ent- schen Minderheit in Bulgarien ist die tiert Deutschland von der Zuwande- wicklung in Syrien. Warum aber wird Türkei interessant, aber auch EU-Staa- rung aus Bulgarien und Rumänien, so dann in Deutschland so lange und aus- ten mit großer türkischer Minderheit die Autoren der IAB-Studie in ihrem führlich darüber gestritten, wie eine wie Deutschland. Bei Rumänen werden Kurzbericht. Von einer so genannten Aufnahme von syrischen Flüchtlingen Länder der romanischen Sprachgruppe »Einwanderung in die Sozialsysteme« und vor allem von Angehörigen der in bevorzugt.« kann also keine Rede sein. Deutschland lebenden Familien reali- siert werden kann? Oft ist zu hören, Menschen aus die- OFFENE TÜREN FÜR FLÜCHTLINGE? sen beiden Staaten kommen nur nach Während viele Menschen syrischen Deutschland, um hier Sozialhilfe zu be- Neben dieser Mär gibt es noch eine Flüchtlingen mit offenem Herzen be- ziehen. Auch das bestätigen die Zahlen Warnung: »Wir können doch nicht alle gegnen, wird die grundsätzliche Eng- nicht: »Die Zuwanderer aus Bulgarien Menschen dieser Welt in Europa auf- herzigkeit des Aufenthaltsrechts immer und Rumänien sind nicht schlechter in nehmen!« Das ist im Blick auf 7,2 Mil- deutlicher. Vieles wäre einfacher, wenn den Arbeitsmarkt integriert als andere liarden Menschen sicher richtig. Nur: Flüchtlingen unbürokratisch ermög- Ausländergruppen in Deutschland«, Wie viele suchen denn tatsächlich licht würde, zu ihren Angehörigen nach schreiben zum Beispiel die Arbeits- Schutz in Europa? Im Jahr 2013 sind Deutschland zu kommen. Gerade in marktforscher Herbert Brücker, Andre- es rund 435.000 Flüchtlinge gewesen. der aktuellen Situation, in der kaum je- as Hauptmann und Ehsan Vallizadeh In allen EU-Staaten zusammen, wohl- mand daran zweifelt, dass hier eine in einer Studie des Instituts für Arbeits- gemerkt! Ja, das sind mehr als im Vor- »außergewöhnliche Härte« vorliegt. markt- und Berufsforschung (IAB). Die jahr. Aber auch hier hilft und relativiert Das gilt insbesondere im Falle Syriens, Arbeitslosenquote der in Deutschland der Blick über den europäischen Teller- aber nicht nur dort. In einer Einwan- lebenden Bulgaren und Rumänen sei rand: Die überwiegende Mehrheit aller derungsgesellschaft sollte es eigent- zwar mit zehn Prozent etwas höher als Flüchtlinge lebt unverändert in den Kri- lich selbstverständlich sein, dass hier die durchschnittliche Arbeitslosenquo- senregionen in unmittelbarer Nähe zu Lebende ihre Familienangehörigen zu te in Deutschland (sieben Prozent), je- den Kriegsgebieten und Konflikther- sich holen können. In Deutschland ist doch geringer als die der ausländischen den. Mehr als zwei Millionen Flücht- das nach wie vor nicht der Fall, in der Erwerbspersonen insgesamt (16 Pro- linge sind aus Syrien in die Nach- Regel nicht mal, wenn hier Lebende im zent). Das gleiche gelte für den Bezug barstaaten geflohen, in Deutschland le- vollen Umfang für ihre Angehörigen von Hartz IV: Auch hier seien die An- ben rund 60.000 Syrerinnen und Syrer. sorgen könnten und würden. teile etwas höher als in der Bevölkerung Es ist normal, dass Menschen auf der GEMEINSAMKEITEN FINDEN, UNTERSCHIEDE FEIERN Anuschka Abutalebi ■ Das diesjährige Motto der Interkultu- rellen Woche lautet »Gemeinsamkei- ten finden, Unterschiede feiern«. Hierzu ka- Die Chance und der Gedanke der Selbstrefle- xion darin sind auf gesellschaftlicher und in- dividueller Ebene relevant. Das heißt, wir men mir sehr unterschiedliche Gedanken. müssen auch weiterhin Zustände benennen Gemeinsamkeiten sehe ich viele, aber Unter- und von Rassismus reden, um uns in die Lage schiede feiern? zu versetzen, dagegen anzugehen. Mein erster Gedanke war, was können wir Das Motto der Interkulturellen Woche bedeu- dazu beitragen, dass Unterschiede zur Nor- tet für mich auch, dass sich Alle als integraler malität unserer Gesellschaft gehören, ohne Bestandteil der Gesellschaft fühlen können dabei Migrantengruppen zu problematisie- und ihre Eigenheiten bewahren dürfen, ohne ren und vornehmlich als hilfebedürftig an- sich assimilieren zu müssen. Oder wie Seyla © Ines Pelny zusehen, ohne Menschen, die längst Teil Benhabib schreibt: unserer Gesellschaft sind, weiterhin von uns »Gleichheit braucht nicht länger als Gleich- zu unterscheiden und ohne das »Andere« zu artigkeit verstanden zu werden, vielmehr be- konstruieren und als Kriterium zu betrachten, deutet Gleichheit in einer reifen liberalen welches trennend wirkt, Sartre meinte: Demokratie die Gleichwertigkeit derjenigen, ■ Anuschka Abutalebi ist Migrations- und »Wir benötigen aber den anderen, um uns die verschieden sind im Hinblick auf Religion, Integrationsbeauftragte der Stadt Erfurt. selbst zu begegnen, denn wir erkennen uns Volkszugehörigkeit, Sprache oder sexuelle durch ihn, indem wir uns vorstellen, wie er Präferenz.« ■ Kontakt: uns sieht.« Tel.: 0361 / 65 51 045 So betrachtet feiere ich gerne Unterschiede! anuschka.abutalebi@erfurt.de 6
Ein Land, das Familien nicht zueinan- herrscht. Es gilt Rahmenbedingungen aber nur, wenn alle gleichberechtigt der lässt, hat noch nicht wirklich ei- zu schaffen, die den Zuwandernden mitsuchen, mitfinden und mitfeiern ne »Willkommenskultur« entwickelt – mit ihren Bedürfnissen gerecht werden. dürfen. Für das Zusammenleben in der auch wenn diese im Koalitionsvertrag Andererseits müssen auch mit Hilfe des Migrationsgesellschaft muss gewähr- der neuen Bundesregierung propagiert Bundes die Kommunen gestärkt wer- leistet sein, dass Unterschiede nicht zu wird. Was genau eine Willkommens- den, die Hauptzielorte neuer Zuwande- Ungleichbehandlung führen, dass nie- kultur ausmacht, muss noch eingehend rung sind. mand diskriminiert, ausgegrenzt oder besprochen und ausgehandelt und da- ausgeschlossen wird. Ungleichbehand- rum Gegenstand der gesellschaftlichen Die Väter und Mütter des Grundgeset- lung, Diskriminierung und Rassismus Debatte werden. Grundkonsens soll- zes haben mit Art. 16 Konsequenzen sind bis heute die größten Integrations- te allerdings sein, dass es beim »Will- aus den Katastrophen der ersten Hälfte hemmnisse. kommen heißen« in erste Linie darum des 20. Jahrhunderts in Deutschland geht, einwandernden Menschen die und Europa gezogen. Auch deshalb hat Das Motto der diesjährigen Interkul- Aufnahme und Integration so leicht die Bundesrepublik Deutschland eine turellen Woche geht davon aus, dass in wie möglich zu machen und bürokrati- verantwortungsvolle und starke Rol- der Migrationsgesellschaft Gemeinsam- sche Hürden abzubauen. Im Blick auf le im europäischen Einigungsprozess keiten nicht vorausgesetzt werden kön- Einwanderungswillige ginge es vor al- übernommen. Darum muss die Frage nen, sie müssen vielmehr gesucht und lem darum, nachvollziehbare und er- gestellt werden, in welche Richtung können gefunden werden. Menschen füllbare Aufnahmebedingungen zu for- Deutschland heute die europäische Mi- mit unterschiedlicher Biographie, Her- mulieren. Von einer solchen Haltung grations- und Integrationspolitik mit- kunft, kultureller und religiöser Prä- der Transparenz, der Freundlichkeit gestaltet und mitbestimmt. gung, mit unterschiedlichen Vorstellun- und der Dienstleistungsorientierung ist gen von einem guten und gelungenen Deutschland mit Blick auf Einwanderer Bei aller Kritik an der Migrations- und Leben treffen aufeinander, streiten mit- und Flüchtlinge leider noch weit ent- Flüchtlingspolitik der Europäischen einander, lernen voneinander und fei- fernt. Sie aber ist der Kern und die ei- Union und ihren Defiziten, die im All- ern gemeinsam. Dazu dient die Inter- gentliche Herausforderung einer soge- tag sichtbar werden: Die Europäische kulturelle Woche. »Gemeinsamkeiten nannten interkulturellen Öffnung. Union ist eine beeindruckende Kon- finden« bedeutet nicht, dass am Ende struktion, mit der es gelungen ist, die alle gleich und verwechselbar sind. EINE KLUGE ZUWANDERUNGSPOLITIK Nationalismen im Zaum zu halten, die Unterschiede bleiben, sollen bleiben. FÜR DEUTSCHLAND UND EUROPA in der Vergangenheit zu Kriegen inner- Sie können irritieren, aber sie machen halb Europas geführt haben. Diese Uni- auch neugierig, sie bereichern und Doch wollen wir nur die Fachkräf- on hat zwar erhebliche demokratische regen zur Auseinandersetzung an, sie te, wollen wir nur die Menschen nach Defizite im Hinblick auf ihre Entschei- können überraschen und neue Perspek- Deutschland kommen lassen, von de- dungsprozesse im Innern sowie auf ih- tiven bieten. Das kann und darf auch nen wir glauben, dass wir sie aus demo- ren Auftritt nach Außen an den Gren- Spaß machen. Darum: »Unterschie- grafischen oder ökonomischen Grün- zen Europas. Aber eine Alternative zur de feiern«. Auch, aber nicht nur in der den brauchen? Der Bundesinnenminis- Europäischen Union gibt es nicht. Die Interkulturellen Woche! ter hat am 10. Januar 2014 die aktu- nationalistischen Bewegungen, die in ellen Flüchtlingszahlen kommentiert. fast allen Mitgliedsstaaten virulent sind, Neben dem Bekenntnis zum Asylrecht sind gefährlich. Sie stellen eine ernstzu- ■ Dieser Text wurde verfasst von: und Flüchtlingsschutz als Auftrag aus nehmende Bedrohung der Demokratie Gabriele Erpenbeck, Vorsitzende; Andreas dem Grundgesetz und internationaler dar. Sie gefährden darüber hinaus nicht Lipsch, stellvertretender Vorsitzender; Verantwortung hebt er heraus »Wir nur den inneren Frieden der Länder, in- Günter Burkhardt, Geschäftsführer; brauchen die Kraft zur Unterscheidung dem sie zivilgesellschaftliche, demokra- Dr. Ulrich Raiser, Mitglied und Friederike und Differenzierung, um die Bürgerin- tische Strukturen zerstören. Sie destabi- Ekol, Mitarbeiterin des Ökumenischen nen und Bürger noch mehr für kluge lisieren auch die soziale, kulturelle und Vorbereitungsausschusses zur Interkulturel- Zuwanderung zu gewinnen.« wirtschaftliche Einheit Europas. len Woche. Was ist eine »kluge« Zuwanderungs- FÜR EINEN WECHSEL ■ Kontakt: politik? Geht es allein um »die Zuwan- DER BLICKRICHTUNG Tel.: 069 / 24 23 14 60 derung, die wir brauchen«? Geht es info@interkulturellewoche.de nicht auch darum, eine Zuwanderungs- Viele Jahre wurden in Deutschland die politik im Kontext der Grundwerte der Probleme und Schwierigkeiten in Be- deutschen Verfassung und der interna- zug auf Zuwanderung und Integration tionalen rechtlichen und humanitären herausgestellt. Immer wieder wurde das Verpflichtungen zu formulieren? Das Trennende betont, vom eigenen Stand- heißt vor allem, keine Einschränkun- punkt aus gedacht, wurden Unterschie- gen beim Familiennachzug und der Ar- de und Probleme diskutiert. beitnehmerfreizügigkeit innerhalb der »Gemeinsamkeiten finden, Unterschie- EU sowie die Aufnahme von Flücht- de feiern«, das Motto der diesjährigen lingen aus den Ländern, in denen Krieg Interkulturellen Woche, funktioniert Materialheft zur Interkulturellen Woche 2014 7
Stimmungslagen und Herausforderungen in der postmigrantischen Gesellschaft VOM GEFAHRENGUT ZUM TEIL DES GANZEN Ekrem Şenol »Wir haben unsere Behörden über Jahrzehnte in eine Abschottungskultur hinein- entwickelt. Man hat gesagt: Haltet uns die Leute vom Hals, die wollen alle nur in unsere Sozialsysteme einwandern. Jetzt müssen wir deutlich machen, dass wir Fachkräfte brauchen, dass wir um sie werben müssen.« Mit diesen Worten hat Peter Clever von der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände im April vergangenen Jahres eines der Kernhindernisse bei der Etablierung der Willkommenskultur beschrieben. ■ Spätestens seit dem Anwerbe- vicebehörden werden und Ausländer stopp in den 70er Jahren wur- müssten wie Kunden behandelt wer- den vor allem die Auslän- den. derbehörden darauf ausgerichtet, mög- liche Gefahren abzuwenden, in Bezug Das braucht natürlich Zeit: Eine über auf den Arbeitsmarkt, die Sozialsyste- Jahrzehnte etablierte Abschottungskul- me und später auch verstärkt in Bezug tur in den Behörden wird sich nicht auf die innere Sicherheit. Entsprechend über Nacht ändern. Vor allem dann wurden die Gesetze formuliert: Aus- nicht, wenn das Werkzeug – gemeint gels gefordert wird. Sie bezieht sich weisungs-, Versagungs- und Gefahren- sind die Gesetze – nach wie vor auf Ab- also ausschließlich auf Hochqualifizier- abwehrtatbestände prägten und prägen schottung ausgerichtet ist. Aktuelle qua- te, die neu in das Land kommen. Bei das Ausländergesetz bis heute, daran litative Erhebungen stellen den Auslän- Lichte betrachtet, handelt es sich also hat sich auch – entgegen der Wort- derbehörden jedenfalls ein miserables nicht um eine freundliche Kultur, son- bedeutung – nach der Namensände- Zeugnis aus. Selbst ausländische Stu- dern um eine Notlage, aus der heraus rung in Zuwanderungs- beziehungs- dierende, die heißumworbenen Fach- Menschen angeworben werden, die der weise Aufenthaltsgesetz im Jahre 2005 kräfte von morgen also, beklagen sich Wirtschaft nützlich sind und unsere nichts geändert. Selbst der Begriff »Ein- nicht selten über willkürliche Schikane. Rente sichern sollen, sonst sind sie eben wanderung« kommt im gesamten Ge- nicht willkommen. Ein Blick ins Gesetz setzestext nur an einer einzigen Stelle Selbstverständlich ist die Forderung erleichtert nicht nur die Rechtsfindung, vor, und dort ist die Rede von »Ein- nach einer Willkommenskultur ein sondern auch die Intention des Gesetz- wanderungsbeschränkung«. wichtiger Schritt und es gibt bereits gebers: Dort steht, dass Hochqualifi- erste vielversprechende Ansätze. Ob sie zierte das Land wieder verlassen müs- Die Vorgaben des Gesetzgebers – sprich sich in den Behörden aber etablieren sen, sobald sie arbeitslos werden, also der Politik – machte sich folgerichtig wird, wird maßgeblich von der Geset- nicht mehr nützlich sind. vor allem in den Amtsstuben bemerk- zeslage und deren Umsetzung in der bar. Unabhängig von der Aufenthalts- Praxis abhängen. Das große Problem So ist es natürlich schwierig, den er- dauer wurde Ausländern, selbst wenn liegt hier in der Zuständigkeit: Das Aus- sehnten Bewusstseinswandel zu voll- sie seit Jahrzehnten in Deutschland leb- ländergesetz und damit auch die Inte- ziehen. Denn im Grunde wird hier ten und arbeiteten oder gar in Deutsch- grationspolitik liegen im Verantwor- lediglich eine neue, weitere Kategorie land geboren wurden, das Gefühl ver- tungsbereich der Innenministerien, die angelegt, die nützliche von weniger mittelt, dass sie nicht willkommen sind. unabänderlich auf Gefahrenabwehr ge- nützlichen Einwandernden trennt. Und polt sind. Sie gestalten das Aufenthalts- da die sonstigen Bemühungen meist Erst seit den ersten Warnrufen aus gesetz federführend und geben den Be- der Wirtschaft vor ein paar Jahren, hörden in Anwendungshinweisen vor, Deutschland leide an einem Fachkräf- wie ein Gesetz ausgelegt wird – meist temangel, scheint sich ein Wandel zu zulasten der Willkommenskultur. vollziehen. Heute fordern Politiker landauf landab die sogenannte Will- Ein weiteres Problem ist, dass die Will- kommenskultur, aus Ausländerbehör- kommenskultur fast ausschließlich vor den müssten Dienstleistungs- bzw. Ser- dem Hintergrund des Fachkräfteman- 8 Materialheft zur Interkulturellen Woche 2014
nicht über Symbolpolitik hinausgehen, tegration als Teil der Bildungs-, Sozial- singen, selbst wenn sie das Nationaltri- etwa durch Einrichtung und Besetzung und Arbeitspolitik ressortübergreifend kot tragen. von Integrationsstellen, die ohne kon- betrachten. Das ist notwendig, damit krete Handlungs- und Gestaltungs- Menschen mit Zuwanderungsgeschich- befugnisse meist ohnmächtig wirken, te das Gefühl bekommen, sie sind Teil ■ Ekrem Şenol ist Herausgeber und kommen wir nicht richtig voran. des Ganzen und nicht Gefahrengut. inhaltlich Verantwortlicher des MiGAZIN – das Fachmagazin für Migration und Notwendig ist daher ein grundlegender Sonst wird man auch in Zukunft nei- Integration in Deutschland – Politik, Strukturwandel, der mittel- bis lang- disch gen USA blicken, denen es gelingt, Gesellschaft, Recht und Kultur. fristig nicht nur zu einem Bewusstseins- ihren Eingewanderten schon innerhalb wandel in den Behörden, sondern auch kürzester Zeit den Spirit of America zu ■ Kontakt: 0221 / 16 83 31 25 bei den Betroffenen selbst führt: Inte- vermitteln, während hierzulande selbst redaktion@migazin.de grationspolitik muss weg vom Zustän- in Deutschland geborene und aufge- digkeitsbereich der Innenministerien, wachsene Jugendliche es nicht über die ■ Weitere Informationen: www.migazin.de hin zu Querschnittsministerien, die In- Lippen bringen, die Nationalhymne zu KOALITIONSVERTRAG UND GESELLSCHAFTLICHE REALITÄT Sidonie Fernau Die Diskussionen der letzten Monate im Zusammenhang mit den Koalitions- verhandlungen haben bei uns allen Phantasien frei gesetzt, wie wohl die Kom- promisse in der Koalition umgesetzt werden können. Bei alledem bleibt uns erst einmal der Koalitionsvertrag, in dem auf 180 Seiten die Ausrichtung der Politik der Koalitionäre CDU/CSU und SPD dargelegt ist. »Deutschlands Zukunft gestalten« titelt die Regierungskoalition und gibt vor, zentrale Themen für dieses Land anzugehen. Unsere Gesellschaft wird durch Zuwanderung vielfältiger, konstatieren die Koalitionäre in der Präambel. Es ist allgemein bekannt: jeder fünfte Haushalt in Deutschland hat mittlerweile ein Mitglied mit Migrationshintergrund und in © Seren Başoğlu jeder dritten Familie in Deutschland, in der Kinder unter 18 Jahren leben, hat mindestens ein Elternteil ausländische Wurzeln. Wir sprechen somit von einer Personengruppe, die bedeutend ist für die Zukunft unseres Landes. ■ Wenn wir uns den migrations- gerung ihre bisherige Staatsangehörig- Zunächst einmal sollten Sie wissen, politischen Herausforderun- keit aufgeben müssen, für sie gilt die dass im Jahr 2012 jede achte Eheschlie- gen Deutschlands zuwenden, Mehrstaatigkeit nicht. ßung in der Bundesrepublik Deutsch- dann kommen wir nicht drum herum, land eine binationale war. Das bedeu- uns auch dem Staatsangehörigkeits- Warum der Koalitionsvertrag, zumin- tet, dass alleine im letzten Jahr mehr als recht zu widmen, über das in den letz- dest in migrations- und integrations- 44.000 Menschen ihre Partnerin oder ten Monaten unter den Schlagwörtern politischen Fragen, nicht nur an der ihren Partner grenzübergreifend gefun- Optionszwang und Doppelte Staats- Lebensrealität von Migrantinnen und den haben. bürgerschaft diskutiert wurde. Migranten, wie beispielsweise der älte- ren türkischen Generation vorbeigeht, Katharina und Eric sind ein solches »Für in Deutschland geborene und die dieses Land mit vorangetrieben ha- binationales Paare. Die beiden haben aufgewachsene Kinder ausländischer ben, sondern auch an der Lebensreali- sich 1998 kennengelernt. Damals war Eltern entfällt in Zukunft der Options- tät von binationalen Familien, möchte Katharina 16 und hatte sich gerade von zwang und die Mehrstaatigkeit wird ich Ihnen an Hand einer kurzen Ge- ihrem ersten Freund getrennt. In dieser akzeptiert. Im Übrigen bleibt es beim schichte verdeutlichen. Die Geschichte Situation lernte sie Eric kennen. Eric geltenden Staatsangehörigkeitsrecht«, handelt von Katharina, einer Bekann- floh 1992 als politischer Flüchtling aus heißt es im Koalitionsvertrag, den SPD ten von mir, die ich zufällig vor zwei Togo. und CDU / CSU für die kommende Wochen in einem Café traf und von Legislaturperiode ausgehandelt haben. Eric, ihrem togolesischen Ehemann. Danach ging alles sehr schnell: drei »Im Übrigen« bedeutet, dass Auslände- Jahre später heiratete das Paar in Togo. rinnen und Ausländer bei einer Einbür- Katharina flog nur wenige Tage nach Materialheft zur Interkulturellen Woche 2014 9
punkt. Zum anderen ist für Eric, der kommen, sei er bereit einzugehen. Dass eine Ausbildung zum Verkäufer ge- es Eric trotz des Passes schwerfallen macht hat, mit der Erlangung der deut- wird, sich als ausschließlich deutsch zu schen Staatsbürgerschaft die Hoffnung bezeichnen, sei vor allem der Tatsache verbunden, dass sich die deutsche geschuldet, dass Fremdzuschreibungen Staatsbürgerschaft positiv auf seine und fehlende Akzeptanz für ihn als Chancen auf dem Arbeitsmarkt aus- Schwarzen in der deutschen Gesell- wirkt. Und auch bei Polizeikontrollen, schaft allgegenwärtig sind. Sein deut- in die Eric am Hauptbahnhof auf dem scher Pass, den er in wenigen Wochen Weg von der Arbeit nach Hause oder in der Hand halten wird, decke sich abends, wenn er mit Freunden unter- nicht mit dem, wie er sich selbst sehe, wegs war, regelmäßig gerät, verspricht nämlich nicht nur als Deutschen, son- er sich eine bessere Verhandlungsposi- dern auch als Togolesen. tion gegenüber den Polizeibeamtinnen und -beamten. »Ein deutscher Personal- Katharina hat die Situation sehr gut zu- ausweis ist in so einer Situation mehr sammengefasst und ich möchte meine wert, als ein togolesischer Pass«, stellt Geschichte deshalb auch gerne mit ih- Katharina nüchtern fest. Die Möglich- ren Worten enden lassen. Sie sagte: keit in Deutschland zu wählen und dass eine Verlängerung des togolesischen »Es ist absurd. Eine Familie: ich, die Passes sehr teuer sei und ihn bei Ver- neben meiner deutschen Staatsange- lust zu ersetzen, sehr schwierig, nannte hörigkeit als Ehefrau eines Togolesen Katharina als weitere Gründe, die für auch die togolesische Staatsangehörig- © iaf e.V. einen deutschen Pass sprachen. keit besitzt, mit ihr aber nichts anfan- gen kann. Sophie, die als Tochter einer Für Katharina war vor allem wichtig, Deutschen und eines Togolesen beide der Hochzeit zurück nach Deutsch- dass sie sich einen Traum erfüllen und Staatsangehörigkeiten besitzt und be- land, sie war damals Studentin und mit ihrem Mann und ihrer Tochter in halten kann und Eric, der mit seiner wollte die ersten Vorlesungen im neuen die USA und nach England reisen konn- Einbürgerung seine togolesische Staats- Semester nicht verpassen. Eric konnte te. Als wir uns über unsere letzten Rei- angehörigkeit aufgeben muss – das Fa- erst acht Monate später im Zuge der seziele unterhalten, erzählt sie mir, dass milienmitglied mit der stärksten Bin- Familienzusammenführung einreisen. sie nie mit ihrem togolesischen Pass dung an Togo und gleichzeitig der Ein- »Die Monate kamen mir vor wie Jahre. reist – auch nicht innerhalb Afrikas. Sie zige von uns, der kein Togolese mehr Das Warten und die Ungewissheit, ob werde als Weiße nicht als Togolesin ge- sein darf.« und wann die Botschaft das Visum für sehen, das führe zu Diskussionen, jedes meinen Mann ausstellen wird, waren Mal, wenn sie den Pass irgendwo vorle- Entspricht das Staatsbürgerschaftsver- eine unglaubliche Belastung für uns«, gen muss. Auch bei Museumseintritten ständnis in der Politik der gesellschaftli- erzählte mir Katharina im Café. in Togo müsse sie – trotz togolesischem chen Realität in Deutschland? Und wenn Pass – stets den Eintrittspreis für Aus- nicht, möchten wir gemeinsam für eine Die ersten Jahre lebte Eric mit einer länderinnen und Ausländer zahlen. gesellschaftsrealistische Weiterentwick- befristeten Aufenthaltsgenehmigung in »Wenn Eric eingebürgert ist und wir lung des Staatsbürgerschaftsrechtes ein- Deutschland. Drei Jahre nach der Ehe- nach Togo reisen, dann brauche ich treten? Entscheiden Sie selbst! schließung mit Katharina beantragte er kein Visum, unsere gemeinsame 4-jäh- eine Niederlassungserlaubnis. Anfang rige Tochter Sophie, die die deutsche des Jahres bekam Eric dann einen Brief und togolesische Staatsangehörigkeit ■ Sidonie Fernau ist Bundesvorstands- vom Ersten Bürgermeister der Stadt besitzt, auch nicht. Eric wird der Einzi- mitglied im Verband binationaler Familien Hamburg, Olaf Scholz. Er machte ihn ge von uns sein, der ein Visum braucht, und Partnerschaften, iaf e.V. auf die Möglichkeit der Einbürgerung um in sein Geburtsland zu reisen«, er- ■ Kontakt: aufmerksam. »Das war das erste Mal, zählte mit Katharina. Fernau@verband-binationaler.de dass wir über das Thema Staatsange- hörigkeit gesprochen haben«, erinnert Spätestens an dieser Stelle sollten wir ■ Weitere Informationen zur binationalen sich Katharina, die übrigens durch die uns fragen: Warum zwingt deutsche Poli- Lebensrealität und zur Arbeit des Verban- Hochzeit mit Eric nicht nur die deut- tik Menschen wie Eric, lebenslang Aus- des binationaler Familien und Partnerschaf- sche, sondern auch automatisch die länder zu sein – wenn nicht in Deutsch- ten, iaf e.V.: www.verband-binationaler.de togolesische Staatsangehörigkeit besitzt. land, dann eben in seinem Herkunfts- land? Eric – so berichtete Katharina – muss- te nicht lange überlegen, für ihn sprach Katharina erzählte, Eric sagt, er ha- eine Reihe von Argumenten für eine be sich damit abgefunden, dass er in deutsche Staatsbürgerschaft: zum einen Togo nicht mehr wählen darf. Auch die ist Deutschland nicht nur Erics Wohn- Schwierigkeiten, die auf ihn als Deut- sitz, sondern auch sein Lebensmittel- schen bei einem Landkauf in Togo zu- 10 Materialheft zur Interkulturellen Woche 2014
AUFGABE EINBÜRGERUNG Johannes Brandstäter Der immer noch nicht abgeräumte gesetzliche Grundsatz, Doppelpässe zu vermeiden, ist ein wichtiger Faktor für die im europäischen Vergleich sehr niedrigen Einbürgerungszahlen Deutschlands. Aber auch die Anwendung des Staatsangehörigkeitsgesetzes verläuft schleppend. Es bedarf einer neuen Willkommens- und Anerkennungskultur bei den Einbürgerungsbehörden der Städte und Kreise. ■ Post von der Behörde ist nicht Kreuzchen auf dem Stimmzettel sind immer Anlass zur Freude. Be- wohl nicht das Dringlichste, was diese sonders empfinden das viel- vielen Menschen umtreibt. Aus den leicht ausländische Menschen so. Ein Migrationsberatungsstellen der Wohl- Brief der Stadt Stuttgart an Stuttgarte- fahrtsverbände ist bekannt, wie exis- rinnen und Stuttgarter ohne deutschen tenziell die Frage der Aufenthaltssicher- © Frank Diehn Pass, die schon acht Jahre und länger heit für Nicht-Deutsche in manchen dort lebten, stieß indes auf positive Lebenslagen schnell werden kann. Die Resonanz. Die freundliche Einladung aktuelle Diskussion um die Arbeitneh- des Oberbürgermeisters an die »lieben merfreizügigkeit für Zugezogene aus Mitbürger«, die deutsche Staatsange- Rumänien und Bulgarien zeigt, wie die tionspolitisches und staatspolitisches hörigkeit zu erwerben, ließ die Zahl der Aufenthaltssicherheit selbst für Unions- Ziel. Doch die Verfassungswirklichkeit Einbürgerungsanträge emporschnellen. bürgerinnen und -bürger in Frage ge- hinkt dem Anspruch fußlahm hinter- stellt wird. Aber auch in praktisch- her. Deutschland bürgert jährlich nur Das Beispiel der Schwabenmetropole, rechtlichen Fragen wie zum Beispiel bei 15 von 1.000 Ausländerinnen und Aus- in der mehr als 20 Prozent Nicht-Deut- der Reisefreiheit, dem konsularischen länder ein und belegt damit im euro- sche leben, deutet auf ein Problem von Schutz im Ausland, der Berufsfreiheit, päischen Vergleich einen Platz auf den bundesweiter Dimension. In unserem dem Zugang zum Beamtenstatus oder hinteren Rängen. In den EU-Ländern Lande leben 5,1 Millionen Auslän- der Gründung eines Vereins ist der sind es dagegen durchschnittlich 23 von derinnen und Ausländer seit mehr als deutsche Pass ein Türöffner. 1.000, im Nachbarland Polen sogar acht Jahren. Viele von ihnen sind sogar 50. Bei 5,1 Millionen möglichen Ein- hier geboren. 5,1 Millionen Frauen, EINBÜRGERUNG IST EIN STAATSZIEL bürgerungsanwärtern und gegenwär- Männer und Kinder gehen zur Kita, zur tig 110.000 Einbürgerungen pro Jahr Schule, zur Arbeit, sind am Gemein- Die Einbürgerungszahlen zu erhöhen würde es fast 50 Jahre dauern, bis dem wesen beteiligt. Die Volljährigen dür- und Staatsvolk und Bevölkerung nicht Verfassungsauftrag entsprochen ist. Die fen aber nicht den Bundestag wählen, dauerhaft auseinanderfallen zu lassen, seit 2010 wieder zunehmende Einwan- selbst wenn sie in der Schule etwas über ist ein schon 1990 vom Bundesverfas- derung ist hierbei nicht einmal berück- Demokratie gelernt haben. sungsgericht vorgegebenes und mittler- sichtigt. weile allgemein anerkanntes integra- KLEINE CHECKLISTE FÜR DEN DIALOG MIT IHRER KOMMUNE ODER IHREM LANDKREIS Fragen Sie Ihre kommunalen Vertreterinnen und Vertreter, wie es um die Willkommens- und Anerkennungskultur in punkto Einbürgerung bestellt ist: ■ Wie viele nicht-deutsche Personen leben dort seit mindestens acht Jahren oder sind dort geboren? ■ Sind diese Personen schon einmal persönlich angeschrieben und eingeladen worden, einen Antrag zu stellen? ■ Wie lang ist die Bearbeitungsdauer eines Einbürgerungsantrags durchschnittlich? ■ Wie viele Einbürgerungen gab es im Laufe des letzten Jahres? Weitere Informationen zur Berliner Kampagne »Deine Stadt. Dein Land. ■ Wie viele Anträge pro Verwaltungskraft treffen jährlich ein? Dein Pass.« unter www.einbuergerung-jetzt.de ■ Werden Einbürgerungsfeiern ausgerichtet? Materialheft zur Interkulturellen Woche 2014 11
Um das Tempo bei der Einbürgerung zu erhöhen, wäre nicht nur die in den »EINBÜRGERUNG MACHT SPAß« Koalitionsvertrag aufgenommene Auf- hebung des Optionszwangs nötig, son- dern auch eine generelle Akzeptanz der doppelten Staatsangehörigkeit – aller- ■ Hamburg geht forscher voran als andere Städte. Seit 2010 sind dort Einbürgerungslotsen unterwegs. Das sind kunftsland zum Problem wird. Jardena Kifle, Neudeutsche und eine der Lotsinnen be- schreibt die Vorteile: »Als Deutsche kann ich dings scheint die Chance auf Umset- Ehrenamtliche, die gut in den migrantischen wählen, reisen und arbeiten, der Ausweis zung derzeit gering. Gemeinschaften vernetzt sind und sich mit öffnet mir Türen.« dem Verfahren zur Einbürgerung auskennen. SPIELRÄUME BEI LÄNDERN UND KOMMUNEN Zum Beispiel, weil sie selbst Migrationshin- tergrund haben und eingebürgert worden sind. Sie informieren aus erster Hand über ■ In der Hansestadt stiegen die Einbür- gerungszahlen seit 2009 von 3.700 auf 7.300. Das Rezept ist, Vertrauen bei den Eine einbürgerungsfördernde Politik die Chancen einer Einbürgerung und helfen migrantischen Communities zu schaffen, muss breiter angelegt sein und verlangt Interessierten bei Schwierigkeiten, zum Bei- aber auch den Service zu verbessern: So mehr als nur Gesetzesänderungen. Die spiel, wenn die Ausbürgerung aus dem Her- konnte Hamburg zwischen 2008 und 2013 Zuständigkeit für die Umsetzung des die Bearbeitungsdauer der Anträge von 18 Staatsangehörigkeitsrechts liegt bei den auf 6 Monate senken. Das erreichten die Ländern. Dort und bei den regional zu- Hanseaten durch zusätzliches Personal – auf ständigen Einbürgerungsbehörden be- eine Verwaltungskraft kommen nur noch stehen beträchtliche Spielräume. Wie 300 Anträge pro Jahr – vor allem aber durch groß diese tatsächlich sind, wird oft un- eine Verschlankung und Entrümpelung des terschätzt. Zwar gibt es Verwaltungs- Antragsverfahrens. Das Zusammenspiel von vorschriften und Anwendungshinweise Lotsen und Behördenmitarbeitenden funk- des Bundes, doch beantworten diese tioniert so gut, dass die Behördenleiterin nicht alle Fragen oder sind nicht rechts- Waltraud Hadler stolz verkündet: »Bei uns in verbindlich. Auch die Länder haben Hamburg macht Einbürgerung Spaß!« Sie nur zum Teil Vorschriften erlassen, mit berichtet, dass die erfreuten Gesichter ihrer denen sie die Einbürgerungspraxis nach Kundinnen und Kunden auch die Jobzufrie- oben oder unten steuern können. Eine denheit in ihrer Behörde erhöhen und der Untersuchung des Mediendienstes Inte- neue Weg eine positive Ausstrahlung auf die gration zeigt, wie unterschiedlich die ganze Stadt habe. Spielräume tatsächlich genutzt werden. Die Einbürgerungsquoten divergieren ■ www.einbuergerung.hamburg.de nach Bundesländern zwischen 4,7 Pro- zent in Mecklenburg-Vorpommern und 1,65 Prozent in Baden-Württemberg und innerhalb der Bundesländer (zum Beispiel in Rheinland-Pfalz: Koblenz 4,85 Prozent und Pirmasens 0,72 Pro- kann. Skeptikern einer vereinfachten den Frauen, Männer und Kinder ihren zent) enorm stark. Einbürgerung halten die Fachleute ent- deutschen Pass erhielten – auch noch gegen: »Was hat der deutsche Staat mehr als lange genug. Einer der wichtigsten Faktoren ist die davon, Personen nicht einzubürgern, Personalausstattung. Ein Mehr an Sach- wenn sie sowieso langfristig da blei- bearbeitenden hilft, die Bearbeitungs- ben?« ■ Johannes Brandstäter ist Referent im zeiten zu verkürzen, durch gute Bera- Arbeitsfeld Migrationspolitische Grundsatz- tung Frustrationen vorzubeugen und so Kommunaler Spitzenreiter bei der Ein- fragen im Zentrum Migration und Soziales die Antragszahlen zu erhöhen. Hilfreich bürgerung ist Kiel. Die Landeshaupt- der Diakonie Deutschlands und Mitglied ist es auch, die Verfahren zu verschlan- stadt an der Ostsee bürgert jährlich 40 im ÖVA. ken, wie Hamburg es vormacht (s. Kas- von 1.000 Ausländern ein. Die Kieler ten). machen nach eigenen Angaben zwar ab ■ Kontakt: und an eine Informationsveranstaltung, Tel.: 030 / 65 211-16 41 Praktikerinnen und Praktiker weisen ihre Leuchtturmfunktion erzielen sie johannes.brandstaeter@diakonie.de darauf hin, dass die Förderung und Er- im Wesentlichen aber über gute Bera- leichterung von Einbürgerung einen tungsarbeit, die sich von »zufriedenen enormen Schub für die Identifikation Kunden« über Mundpropaganda im Eingewanderter mit ihrer Stadt und der Schneeballeffekt zu ihren »Landsleu- neuen Heimat bringen kann. Für man- ten« herumspricht. Wenn alle Einbür- che ist die Einbürgerung ein hochwich- gerungsbehörden so vorbildlich wie die tiges Ereignis, welches durch offizielle Kieler ausgestattet und organisiert wä- Einwanderungsfeiern im Sinne einer ren, würde es statt 50 nur noch etwa 20 Willkommens- und Anerkennungskul- Jahre dauern, bis die 5,1 Millionen aus- tur gewinnbringend begleitet werden ländischen und dauerhaft hier leben- 12 Materialheft zur Interkulturellen Woche 2014
AUFRUF ZUR EINRICHTUNG EINER ENQUETE-KOMMISSION »VIELFALT UND GESELLSCHAFTLICHE TEILHABE« Die Junge Islam Konferenz (JIK) ist ein Dialogforum und Multiplikatoren- netzwerk junger Menschen im Alter von 17 bis 25 Jahren. Sie ist ein Projekt der Stiftung Mercator, des Mercator Program Centers und der Humboldt- Universität zu Berlin. Als bundesweites Forum bietet die Junge Islam Konferenz religiösen und nicht-religiösen Jugendlichen mit und ohne Migrationshinter- grund eine Plattform für Wissensgewinn, Austausch und Intervention in gesell- schaftliche Debatten über die Rolle des Islam in Deutschland. Wir dokumentie- ren im Wortlaut den Aufruf zur Einrichtung einer Enquete-Kommission »Vielfalt und gesellschaftliche Teilhabe«, den die JIK im Januar 2014 veröffentlichte und dem sich weitere Vertreterinnen und Vertreter aus Wissenschaft, Politik und Zivilgesellschaft angeschlossen haben. ■ Seit Gründung der Bundes- wachsene Realität von Migration und Aus dem angstbehafteten und oft ori- republik Deutschland wurden Vielfalt anerkannt, indem er betonte, entierungslosen Umgang mit sich ver- über 30 Enquete-Kommissio- dass der Islam Teil der deutschen Ge- ändernden gesellschaftlichen Realitäten nen zu zukunftsträchtigen und gesell- genwart und Zukunft ist. erwachsen Gefahren, denen aktiv ent- schaftlich relevanten Themen einge- gegengesteuert werden muss. Der euro- richtet. Keine dieser Kommissionen be- Auch künftig wird Einwanderung nicht paweite Zuspruch zu rechtspopulisti- fasste sich bislang mit dem komplexen, zuletzt aus demografischen Gründen schen Parteien sowie die in der Mitte aber allgegenwärtigen Wandel Deutsch- eine zentrale Rolle für die soziale und der Gesellschaft zunehmenden Ressen- lands zu einer Einwanderungsgesell- wirtschaftliche Stabilität Deutschlands timents gegenüber Minderheiten ver- schaft. Nachdem Deutschland erst nach spielen. Deshalb muss Politik die Fol- deutlichen die Dringlichkeit einer poli- fast einem halben Jahrhundert in ge- gen, Ressourcen und Chancen von Mi- tischen Debatte über die aktive Gestal- setzlichen und politischen Initiativen gration gesellschaftspolitisch aktiver tung gesellschaftlicher Vielfalt. Für den anerkannte, ein Einwanderungsland zu und ganzheitlicher als bisher beglei- Zusammenhalt innerhalb unserer Ge- sein, erklärte die Bundeskanzlerin auf ten. Der Umgang mit gesellschaftlicher sellschaft bedarf es richtungsweisender dem Integrationsgipfel 2013 zu Recht Vielfalt in allen Lebensbereichen – von und tragfähiger gesellschaftspolitischer den einseitigen Blick auf Integration Schule, Ausbildung und Arbeitsmarkt Leitbilder, die die Einwanderungsgesell- als Bringschuld von Migranten für über Gesundheitswesen, Sport, politi- schaft in Deutschland als Realität und überholt und forderte die Entwicklung sche und zivilgesellschaftliche Institu- Zukunft dieses Landes anerkennen. einer gesellschaftlich geistigen Offen- tionen und Organisationen bis hinein heit. Sieben Jahre zuvor hatte der da- ins Parlament – birgt Chancen und He- Vor diesem Hintergrund ist die Einrich- malige Bundesinnenminister Wolfgang rausforderungen für das demokratische tung einer parteiübergreifenden und Schäuble auf der ersten Deutschen Is- Selbstverständnis und den Zusammen- durch externe Sachverständige aus ver- lam Konferenz die über Jahrzehnte ge- halt in unserer Gesellschaft. schiedenen Wissenschafts- und Praxis- bereichen ergänzten Enquete-Kommis- sion an der Zeit! Diese Enquete-Kom- mission sollte sich der zentralen und zukunftsrelevanten Frage widmen, wie existierende Vielfalt in Deutschland gesellschafts-politisch begleitet werden kann, damit sie als Ausgangspunkt und nicht als Hindernis von Zusammen- halt, Anerkennung und Teilhabe ver- standen wird. Die neue Enquete-Kommission sollte zunächst eine Bestandsaufnahme zum gesellschaftlichen Verständnis von und derzeitigen Umgang mit Vielfalt in Deutschland erarbeiten. Vor diesem Hintergrund sollte sie Leitbilder für die Einwanderungsgesellschaft in Deutsch- land entwickeln und daraus konkrete © JIK Handlungsempfehlungen für Akteure Materialheft zur Interkulturellen Woche 2014 13
aus Wissenschaft, Politik und Zivilge- gen, um die Potenziale eines vielfältigen tung einer Enquete-Kommission »Viel- sellschaft ableiten. Deutschlands in allen gesellschaftlichen falt und gesellschaftliche Teilhabe« im Bereichen sichtbar zu machen und das Deutschen Bundestag einzusetzen. Die JIK ist überzeugt: Eine solche En- Zugehörigkeitsgefühl aller mit Akzep- quete-Kommission könnte einen ins- tanz und Anerkennung zu fördern. titutionellen wie diskursiven Rahmen ■ Weitere Informationen finden Sie unter: bilden, der zur Normalisierung im Um- Die JIK ruft daher gemeinsam mit www.junge-islamkonferenz.de gang mit Vielfalt in Deutschland bei- weiteren Befürworterinnen und Befür- trägt. Es bedarf gesamtgesellschaftli- wortern die Mitglieder des Deutschen cher Anstrengungen und Veränderun- Bundestages auf, sich für die Einrich- DAS INTEGRATIONSPARADOX Ferda Ataman Auf die Wortwahl kommt es an. Das gilt bei Debatten um Migration und Integration im öffentlichen Diskurs ganz besonders. Zwar gibt es einen Konsens darüber, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist. Dennoch ziehen viele Begriffe eine Grenze zwischen deutschen Ureinwohnern und Menschen aus Einwandererfamilien. Gängige Begriffe wie »Ausländer«, »Zuwanderer« oder »Fremdenfeindlichkeit« beschreiben ausschließlich die Perspektive der herkunftsdeutschen Mehrheitsbevölkerung und werden mitunter auch für Menschen verwendet, die nicht zugewandert oder fremd und manchmal auch deutsch sind. Das ist hinderlich für das gesellschaftliche Zusammenwachsen. © T. Lobenwein ■ Derzeit lässt sich eine große sollte in dem »wir « auch die hier ge- Unsicherheit bei Formulierun- borenen Kofis, Dunyas und Bijans mei- gen beobachten: Warum soll nen. Alles andere wäre sachlich falsch. man nicht mehr »Ausländerfeindlich- Es ist also an der Zeit, darüber zu re- keit« sagen dürfen? Ist »Migrant« oder den, wie wir reden. Und hier fällt auf: die Debatten rund um Migration, Inte- »Ausländer« die richtige Bezeichnung Wir benutzen nicht nur Begriffe aus gration und Asyl zu versachlichen. Pro- für »Menschen mit Migrationshinter- dem 20. Jahrhundert, wir stecken auch jektträger ist der »Rat für Migration«, grund«, wenn man letzteren Begriff ver- noch in veralteten Annahmen fest. Eine ein engagiertes Netzwerk aus Wissen- meiden will? sachliche Debatte, die sich an Fakten schaftlerinnen und Wissenschaftlern, orientiert, findet sich beim Thema Ein- die sich mit den Themen befassen. Und Was also sind mögliche Alternativen? wanderungsland viel zu selten. hier fällt auf: Ein Phänomen beschäftigt Es gibt zu Recht keine Institution oder Wissenschaftler derzeit, das sie als »In- Organisation, die für sich in Anspruch Auch die Bildersprache spielt eine wich- tegrations-Paradox« bezeichnen: Ob- nehmen kann, Begriffe festzulegen. tige Rolle, wenn es darum geht, wie wohl die Integration von Eingewander- Allerdings können und müssen endlich ethnische Minderheiten in Medien dar- ten und ihren Nachkommen messbar neue Ideen aufkommen, sonst verhar- gestellt werden. Ein Bericht über türki- voranschreitet, gibt es in der Bevölke- ren wir in Politik, Medien und Amts- sche Migranten und ihre Nachkommen rung ein Gefühl von Stagnation oder deutsch noch jahrelang in einer Spra- in Deutschland? In den meisten Fällen gar Rückgang. Zwar widersprechen che, die dem Alltag der Bundesrepublik wird er mit Frauen bebildert, die auf die Fakten den Annahmen, dennoch nicht entspricht. Wer heute von »wir dem Haupt ein Kopftuch und in den setzen sich die vermeintlichen Wahrhei- Deutschen und die Einwanderer« redet, Händen Einkaufstüten tragen. Doch ten in weiten Teilen der Bevölkerung das Bild einer Frau mit Kopftuch ist für hartnäckig durch. Türkinnen in Deutschland nicht reprä- sentativ: Nur 28 Prozent aller Musli- Aber woher kommt dieses Gefühl? minnen tragen hierzulande ein Kopf- Und welchen Anteil haben die Medien tuch. Das Kopftuch - Bild bietet sich daran? Fest steht: Auch Journalisten durchaus an, wenn es um das Kopftuch ziehen ihr Wissen überwiegend aus den geht. Nicht jedoch, wenn es um Alters- Medien. Entsprechend sind ihre Bil- armut von Migranten geht. der geprägt von den üblichen De- batten. Ein Beispiel: Was wissen Sie Seit Dezember 2012 ist der »Medien- über Roma? Aus Zeitung, Hörfunk dienst Integration« online und versucht, und Fernsehen erfährt man: Roma sind 14 Materialheft zur Interkulturellen Woche 2014
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