Gemeinsamkeiten finden, Unterschiede feiern 2014 - Interkulturelle Woche

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Gemeinsamkeiten finden, Unterschiede feiern 2014 - Interkulturelle Woche
Gemeinsamkeiten finden,
Unterschiede feiern.                                                                                                                          2014
Herausgeber: Ökumenischer Vorbereitungsausschuss zur Interkulturellen Woche / Postfach 16 06 46, 60069 Frankfurt am Main / www.interkulturellewoche.de
Gemeinsamkeiten finden, Unterschiede feiern 2014 - Interkulturelle Woche
INHALT
   GEMEINSAMES WORT DER KIRCHEN                                   36 Umsteuern und neu ausrichten – Europäische Flüchtlings-
                                                                     und Migrationspolitik nach Lampedusa
 3 Gemeinsames Wort der Kirchen zur Interkulturellen Woche 2014
                                                                     Andreas Lipsch
   »Gemeinsamkeiten finden, Unterschiede feiern.«

                                                                       ZUM WELTTAG DER MIGRANTEN
   GEMEINSAMKEITEN FINDEN,
   UNTERSCHIEDE FEIERN.                                                UND FLÜCHTLINGE 2014
 5 Offene Gesellschaft                                            39 Migranten und Flüchtlinge: Unterwegs zu einer besseren Welt
   Einleitungsartikel                                                Botschaft von Papst Franziskus

 6 Gemeinsamkeiten finden, Unterschiede feiern.                        ANREGUNGEN FÜR GOTTESDIENSTE
   Anuschka Abutalebi
                                                                  41 Gemeinsamkeiten finden, Unterschiede feiern.
   Stimmungslagen und Herausforderungen                              Assoziationen zum Motto
   in der postmigrantischen Gesellschaft                             Prof. Dr. Wolfgang Reinbold
 8 Vom Gefahrengut zum Teil des Ganzen                            42 Fürbitte
   Ekrem Şenol                                                      Msgr. José Antonio Arzoz
 9 Koalitionsvertrag und gesellschaftliche Realität               43 Soziales Bekenntnis der Evangelisch-Methodistischen Kirche
   Sidonie Fernau
                                                                  44 Gebet beim Pastoralbesuch von Papst Franziskus
11 Aufgabe Einbürgerung                                              auf Lampedusa
   Johannes Brandstäter
                                                                  44 Ufficio delle Celebrazioni liturgiche del sommo
13 Aufruf zur Einrichtung einer Enquete-Kommission                   Pontefice visita pastorale a Lampedusa
   »Vielfalt und gesellschaftliche Teilhabe«
   Junge Islamkonferenz                                           45 »Wir sind nur Gast auf Erden« – Anregungen für geistliche
                                                                     Texte im Rahmen eines Gottesdienstes während der
14 Das Integrationsparadox                                           Interkulturellen Woche 2014
   Ferda Ataman                                                      Peter Oldenbruch
15 Institutioneller Rassismus – Ein Konzept greifbar machen       47 Fürbitten
   Vera Egenberger

   Europäische Binnenwanderung und die Situation                       BEISPIELE UND ANREGUNGEN
   in Deutschland                                                 49 Die Würde der Differenz
17 »Einwanderungsland ohne ehrliche Debatte«                         Dr. Werner Höbsch
   Dr. Ulrich Maly                                                51 Dialog in einer kleinen Stadt – Praxis und Erfahrungen
19 Lohndumping verhindern und Kommunen unterstützen                  Dr. Werner Höbsch
   statt Horrorszenarien verbreiten                               53 Friedensgebet der Religionen: Gemeinsamkeiten finden,
   Volker Roßocha und Dominique John                                 Unterschiede feiern.
22 Der antiziganistische Kern der Debatten                           Ahmad Aweimer
   um »Armutszuwanderung«                                         55 Flüchtlinge Willkommen heißen, begleiten, beteiligen
   Markus End                                                        Eine Praxishilfe für Kirchengemeinden
25 Dynamit an den Grundlagen der Gemeinschaft                     57 »Lesestart« – Ein Baustein der frühkindlichen Leseförderung
   Norbert Mappes-Niediek                                            in den Bibliotheken
27 Das Recht auf ein Leben in Würde – Freizügigkeit in Europa     58 Stopp, so nicht! Über den Umgang mit rechtsextremen
   Norbert Grehl-Schmitt und Dr. Barbara Weiser                      Äußerungen
30 Der europäische Traum                                             Uta Gröschel
   Dr. Dieter Heidtmann                                           58 Leitfaden für einen rassismuskritischen Sprachgebrauch
   Rassismus – Schwerpunkt: Flüchtlinge                              Handreichung für Journalist_innen

32 Agieren statt reagieren                                        59 Stark für die Zivilgesellschaft – Das bundesweite Bündnis für
   Prof. Dr. Martin Gillo                                            Demokratie und Toleranz – gegen Extremismus und Gewalt

33 Aachen sagt ja – Willkommenskultur für Flüchtlinge             63   AKTIONEN UND MATERIALIEN
   Hilde Scheidt                                                       Ausstellungen, Filme, Bücher, Lesungen und Theater
34 Rassismus gegenüber Flüchtlingen vor Ort begegnen:
   Berlin und seine Flüchtlinge                                   67   WAS • WANN • WO?
   Prof. Dr. Ulrike Kostka                                             Mehr Infos zur Interkulturellen Woche
Gemeinsamkeiten finden, Unterschiede feiern 2014 - Interkulturelle Woche
GEMEINSAMKEITEN FINDEN, UNTERSCHIEDE FEIERN.

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          »Gemeinsamkeiten finden, Unterschiede fei-       Es ist stets eine der großen Aufgaben der Kirche, dafür
          ern.« Mit diesem Motto gehen wir in die          zu werben, dass bei allen politischen Fragen und Ent-
          diesjährige Interkulturelle Woche. Die knap-     scheidungen die Dimension der Würde des Menschen
pen Worte fassen die Erfahrungen von gelingender Be-       nicht aus den Augen verloren wird. Das gilt auch und
gegnung und wachsendem Verständnis zusammen –              gerade für die Migration. Die Verpflichtung auf die
Erfahrungen, die in fast vierzig Jahren an unzähli-        Menschenrechte ist eine der entscheidenden Grund-
gen Stellen im ganzen Land gemacht wurden. Die             lagen unserer Gesellschaft. Sie gilt für alle Lebens- und
Interkulturelle Woche ist von der Erkenntnis geprägt,      Politikbereiche und kann auch in Wahlkämpfen nicht
dass es immer wieder besondere Räume und Zeiten            zur Disposition gestellt werden. Innerhalb der Euro-
braucht, um zu entdecken, was Menschen unter-              päischen Union gehört das Recht auf Freizügigkeit zu
schiedlicher kultureller Herkunft verbindet und dabei      den verbrieften Grundrechten; es ist einer der wich-
zugleich die Unterschiede nicht nur als trennend, son-     tigsten Pfeiler der europäischen Idee. Wir beobachten
dern auch als Bereicherung zu feiern.                      mit Sorge, dass populistisch geführte Debatten diese
                                                           Errungenschaften in Frage stellen und Ängste schüren.
Als Christinnen und Christen erleben wir diese Wech-       Gerade angesichts der Europawahl 2014 müssen wir
selwirkung zwischen Gemeinsamkeiten und Unter-             alle dafür einstehen, dass Probleme bei der Integration
schieden jeden Tag neu, denn Vielfalt gehört konstitu-     von Migrantinnen und Migranten nicht für Wahl-
tiv zum Wesen der Kirche. Sie verbindet Menschen           kampfzwecke missbraucht werden. Wir bitten alle
über Ländergrenzen, Sprachen und Kulturen hinweg           Politikerinnen und Politiker, sich für die Teilhabe aller
zu einer Einheit in Vielfalt. In der Nachfolge Jesu ver-   Menschen in Europa einzusetzen und keine Ressenti-
lieren solche Unterschiede ihre trennende Macht. So        ments zu befördern.
schreibt der Apostel Paulus im Galaterbrief: »Hier ist
nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch        In der aktuellen Debatte über den Zuzug von Migran-
Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid       ten heben wir hervor: Neben den Bedürfnissen des Ar-
allesamt einer in Christus Jesus« (Gal 3,28). Diese        beitsmarktes muss in unserem reichen Land immer
Grunderfahrung gilt in der christlichen Kirche. Sie        auch Platz für diejenigen sein, die unserer Fürsorge
kann aber auch auf unsere Gesellschaft ausstrah-           und Zuwendung bedürfen. Deshalb setzen wir uns be-
len. Deshalb werben wir für ein friedliches und ge-        ständig für ein humanitäres Aufenthaltsrecht ein, das
rechtes Miteinander von Menschen unterschiedlicher         diesen Namen verdient. Hier besteht immer noch er-
Sprache und Herkunft, religiöser und weltanschauli-        heblicher Handlungsbedarf und wir fordern die Poli-
cher Prägung in Deutschland. Alle sollen teilhaben         tik auf, den entsprechenden Ankündigungen im Koali-
können an unserem Gemeinwesen: mit Rechten und             tionsvertrag rasch Taten folgen zu lassen.
mit Pflichten.
                                                           Überall auf der Welt leiden Menschen unter gewalt-
Unser Land braucht Zuwanderung. Auch Politik und           samen Konflikten, Hungersnöten und den Folgen von
Wirtschaft betonen dies immer wieder. Allerdings stel-     Naturkatastrophen. So sind immer mehr Menschen
len wir fest, dass rationale Argumente in der Ausei-       gezwungen, sich auf der Suche nach Schutz und Zu-
nandersetzung mit Populismus und Ressentiments oft         flucht auf eine lebensgefährliche Reise zu begeben. Die
wenig Gehör finden. In Deutschland und anderen             schrecklichen Bilder aus Syrien oder Zentralafrika,
europäischen Staaten verzeichnen rechtspopulistische       aus der Sahara oder dem Mittelmeer stehen uns bei-
Kräfte neuen Zulauf. Wir dürfen ihnen nicht nur öko-       spielhaft vor Augen. Das Schicksal von Flüchtlingen
nomische Argumente entgegenhalten. Vielmehr müs-           aus diesen und vielen anderen Ländern darf uns nicht
sen wir auch deutlich machen, dass ein enges, frem-        gleichgültig lassen. Als Christinnen und Christen müs-
denfeindliches und rückwärtsgewandtes Gesellschafts-       sen wir uns fragen, wo in der Welt wir Jesus begegnen,
bild nicht mit dem biblischen Menschenbild und             in welchem unserer »geringsten Brüder« und Schwes-
unserem aus dem Evangelium motivierten Eintreten           tern (Mt 25,40) er uns gegenübertritt. Nicht zuletzt
für Chancengleichheit, Gerechtigkeit und Offenheit in      deshalb begehen wir Jahr für Jahr im Rahmen der
Einklang steht.                                            Interkulturellen Woche den Tag des Flüchtlings. Die

Materialheft zur Interkulturellen Woche 2014                                                                           3
Gemeinsamkeiten finden, Unterschiede feiern 2014 - Interkulturelle Woche
Zahl der Kirchengemeinden, die sich ganz praktisch                                   des Aufenthaltsrechts oft über Monate hinweg,
          für Flüchtlinge und mit ihnen engagieren, wächst. Das                                manchmal sogar auf Dauer, den Nachzug von Ange-
          stimmt uns hoffnungsfroh und dankbar. Mit dieser                                     hörigen aus Kriegs- und Krisengebieten verhindert.
          Form der Nächstenliebe tragen sie dazu bei, dass un-
          sere Gesellschaft ein menschliches Gesicht bewahrt                                   »Gemeinsamkeiten finden, Unterschiede feiern.« – das
          und bekommt.                                                                         Motto der diesjährigen Interkulturellen Woche kann
                                                                                               in der Debatte um das Zusammenleben in unserem
          Ein besonderes Anliegen ist uns die Situation von                                    Land die Richtung weisen. Denn es geht ganz selbst-
          Familien, die durch Flucht auseinandergerissen wer-                                  verständlich davon aus, dass es fundamentale Gemein-
          den. Wir wissen, wie kostbar es ist, wenn Menschen                                   samkeiten unter den Menschen gibt, gleich welcher
          generationenübergreifend füreinander Verantwortung                                   Herkunft, Sprache oder Religion sie sind: das Be-
          übernehmen. Umso mehr schmerzt es uns zu sehen,                                      dürfnis nach Nähe und Sicherheit, das Bedürfnis nach
          wie Familien unter der Trennung leiden, die ihnen                                    freier Entfaltungsmöglichkeit, nach Teilhabe und Hei-
          durch die Flucht und aufgrund ausländerrechtlicher                                   mat. Zugleich leugnet das Motto nicht die Unter-
          Regelungen auferlegt ist. Gemeinsam mit den Einrich-                                 schiede, die mancherorts auch zu Herausforderungen
          tungen von Diakonie und Caritas stehen wir an ihrer                                  für den gegenseitigen Umgang werden. Hier geht es
          Seite und setzen uns dafür ein, dass Familien zusam-                                 darum, schwierigen Fragen nicht auszuweichen und
          mengeführt werden können. Nicht nur Menschen                                         nach Lösungen zu suchen, die das Trennende der
          syrischer Herkunft in Deutschland wollen ihre Ange-                                  Unterschiede aufheben.
          hörigen bei sich aufnehmen. Wir würdigen die gegen-
          wärtigen Bemühungen des Bundes und der Länder zur                                    Wir danken allen, die sich im Rahmen der Interkultu-
          Aufnahme syrischer Flüchtlinge. Bedenkenswert ist                                    rellen Woche öffentlich für Begegnung, Teilhabe und
          nicht zuletzt die manchenorts bereits geübte Praxis,                                 Integration einsetzen. Wir wünschen Ihnen gute Er-
          aufnehmende Familien von den möglichen Krank-                                        fahrungen und gelingende Begegnungen, damit Ge-
          heitskosten für Flüchtlinge freizustellen. Es bleibt aber                            meinsames gefunden und Unterschiede als Reichtum
          bedrückend zu sehen, dass eine engherzige Auslegung                                  gefeiert werden können.

Reinhard Kardinal Marx                                          Dr. h. c. Nikolaus Schneider                        Metropolit Augoustinos
Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz                    Vorsitzender des Rates der Evangelischen            Griechisch-Orthodoxer Metropolit
                                                                Kirche in Deutschland                               von Deutschland

von links nach rechts: © Erzbischöfliches Ordinariat München, © Evangelische Kirche in Deutschland, © KNA-Bild

4                                                                                                                    Materialheft zur Interkulturellen Woche 2014
Gemeinsamkeiten finden, Unterschiede feiern 2014 - Interkulturelle Woche
OFFENE GESELLSCHAFT
Das ist die zentrale Botschaft des Plakates zur Interkulturellen Woche 2014.    DIE MÄR VON DER
Das Schild hängt hinter einer geschlossenen Tür. Sie sieht alles andere als     MASSENHAFTEN ZUWANDERUNG
einladend aus. Diese paradoxe Doppelbotschaft steht für die gesamte Debatte     IN DIE SOZIALSYSTEME
um Migration, Flucht und Integration in Deutschland.
                                                                                »Deutschland ist wegen seines guten
Der Grundtenor der öffentlichen Diskussion hat sich verändert. Deutschland      Sozialsystems der Magnet für Zuwan-
ist ein offenes Land, das Zuwanderung grundsätzlich braucht. So betonen es      dernde in Europa.« So sehen viele in
inzwischen Vertreterinnen und Vertreter der Bundesregierung, der Arbeitgeber,   Deutschland das Migrationsgeschehen.
der Gewerkschaften, der Kirchen und viele mehr.                                 Ein Blick auf die Zahlen und Fakten
                                                                                hingegen zeigt: Bulgarien und Rumä-
Trotzdem wurde in den Monaten vor und nach der Bundestagswahl über die          nien verzeichnen seit Jahren eine starke
steigende Zahl von Flüchtlingen und Asylsuchenden diskutiert und die Zuwande-   Auswanderung. Rund drei Millionen
rung aus den EU-Staaten Bulgarien und Rumänien öffentlich problematisiert.      Menschen sind im letzten Jahrzehnt
Vor diesem Hintergrund enthielt der am 15. Januar 2014 veröffentlichte Migra-   ausgewandert. Der weit überwiegende
tionsbericht der Bundesregierung überraschende Erkenntnisse: Mehr als eine      Teil ist aber nicht etwa nach Deutsch-
Million Menschen sind im Jahr 2012 nach Deutschland zugezogen – im selben       land, sondern nach Spanien und Ita-
Zeitraum wanderten 712.000 Personen aus Deutschland aus. Zahlen, die viele      lien gegangen. Dort leben heute ca. 1,5
überraschen.                                                                    Millionen Rumäninnen und Rumänen.
                                                                                Auswandernde aus Bulgarien haben
                                                                                sich ebenfalls in Richtung Süden auf
                                                                                den Weg gemacht: 540.000 leben in der
                                                                                Türkei, rund 170.000 in Spanien. Der
                                                                                Deutsche Caritasverband hebt in sei-
                                                                                nem Positionspapier zur EU-Mobili-
                                                                                tät vom 16. September 2013 hervor:
                                                                                »Diese Zahlen verdeutlichen, dass für
                                                                                die Auswahl des Ziellandes das dortige
                                                                                Sozialsystem nicht das entscheidende
                                                                                Kriterium sein kann. Keines der Haupt-

                                                                                Postkarten- und Plakatmotiv
                                                                                zur Interkulturellen Woche 2014
                                                                                Postkarte: Bis 49 Expl. je 0,25 €,
                                                                                ab 50 Expl. 0,20 €.
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                                                                                ist auch als Plakat im Format
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                                                                                zur Interkulturellen Woche
                                                                                Postfach 16 06 46, 60069 Frankfurt/M.
                                                                                Tel.: 069 /24 23 14-60, Fax: 069 /24 23 14-71
                                                                                info@interkulturellewoche.de

Materialheft zur Interkulturellen Woche 2014                                                                               5
Gemeinsamkeiten finden, Unterschiede feiern 2014 - Interkulturelle Woche
zielländer verfügt über ein ähnlich gut          insgesamt (neun im Vergleich zu sieben             Flucht dahin wollen, wo Verwandte
ausgebautes System wie Deutschland.              Prozent), aber deutlich niedriger als im           leben. Mit großen Worten und emotio-
Ein wichtiges Kriterium ist vielmehr             Durchschnitt der ausländischen Bevöl-              naler Anteilnahme verfolgen namhafte
die Sprache. Wegen der großen türki-             kerung (16 Prozent). Insgesamt profi-              Politikerinnen und Politiker die Ent-
schen Minderheit in Bulgarien ist die            tiert Deutschland von der Zuwande-                 wicklung in Syrien. Warum aber wird
Türkei interessant, aber auch EU-Staa-           rung aus Bulgarien und Rumänien, so                dann in Deutschland so lange und aus-
ten mit großer türkischer Minderheit             die Autoren der IAB-Studie in ihrem                führlich darüber gestritten, wie eine
wie Deutschland. Bei Rumänen werden              Kurzbericht. Von einer so genannten                Aufnahme von syrischen Flüchtlingen
Länder der romanischen Sprachgruppe              »Einwanderung in die Sozialsysteme«                und vor allem von Angehörigen der in
bevorzugt.«                                      kann also keine Rede sein.                         Deutschland lebenden Familien reali-
                                                                                                    siert werden kann?
Oft ist zu hören, Menschen aus die-              OFFENE TÜREN FÜR FLÜCHTLINGE?
sen beiden Staaten kommen nur nach                                                                  Während viele Menschen syrischen
Deutschland, um hier Sozialhilfe zu be-          Neben dieser Mär gibt es noch eine                 Flüchtlingen mit offenem Herzen be-
ziehen. Auch das bestätigen die Zahlen           Warnung: »Wir können doch nicht alle               gegnen, wird die grundsätzliche Eng-
nicht: »Die Zuwanderer aus Bulgarien             Menschen dieser Welt in Europa auf-                herzigkeit des Aufenthaltsrechts immer
und Rumänien sind nicht schlechter in            nehmen!« Das ist im Blick auf 7,2 Mil-             deutlicher. Vieles wäre einfacher, wenn
den Arbeitsmarkt integriert als andere           liarden Menschen sicher richtig. Nur:              Flüchtlingen unbürokratisch ermög-
Ausländergruppen in Deutschland«,                Wie viele suchen denn tatsächlich                  licht würde, zu ihren Angehörigen nach
schreiben zum Beispiel die Arbeits-              Schutz in Europa? Im Jahr 2013 sind                Deutschland zu kommen. Gerade in
marktforscher Herbert Brücker, Andre-            es rund 435.000 Flüchtlinge gewesen.               der aktuellen Situation, in der kaum je-
as Hauptmann und Ehsan Vallizadeh                In allen EU-Staaten zusammen, wohl-                mand daran zweifelt, dass hier eine
in einer Studie des Instituts für Arbeits-       gemerkt! Ja, das sind mehr als im Vor-             »außergewöhnliche Härte« vorliegt.
markt- und Berufsforschung (IAB). Die            jahr. Aber auch hier hilft und relativiert         Das gilt insbesondere im Falle Syriens,
Arbeitslosenquote der in Deutschland             der Blick über den europäischen Teller-            aber nicht nur dort. In einer Einwan-
lebenden Bulgaren und Rumänen sei                rand: Die überwiegende Mehrheit aller              derungsgesellschaft sollte es eigent-
zwar mit zehn Prozent etwas höher als            Flüchtlinge lebt unverändert in den Kri-           lich selbstverständlich sein, dass hier
die durchschnittliche Arbeitslosenquo-           senregionen in unmittelbarer Nähe zu               Lebende ihre Familienangehörigen zu
te in Deutschland (sieben Prozent), je-          den Kriegsgebieten und Konflikther-                sich holen können. In Deutschland ist
doch geringer als die der ausländischen          den. Mehr als zwei Millionen Flücht-               das nach wie vor nicht der Fall, in der
Erwerbspersonen insgesamt (16 Pro-               linge sind aus Syrien in die Nach-                 Regel nicht mal, wenn hier Lebende im
zent). Das gleiche gelte für den Bezug           barstaaten geflohen, in Deutschland le-            vollen Umfang für ihre Angehörigen
von Hartz IV: Auch hier seien die An-            ben rund 60.000 Syrerinnen und Syrer.              sorgen könnten und würden.
teile etwas höher als in der Bevölkerung         Es ist normal, dass Menschen auf der

 GEMEINSAMKEITEN FINDEN, UNTERSCHIEDE FEIERN
 Anuschka Abutalebi

 ■      Das diesjährige Motto der Interkultu-
        rellen Woche lautet »Gemeinsamkei-
 ten finden, Unterschiede feiern«. Hierzu ka-
                                                 Die Chance und der Gedanke der Selbstrefle-
                                                 xion darin sind auf gesellschaftlicher und in-
                                                 dividueller Ebene relevant. Das heißt, wir
 men mir sehr unterschiedliche Gedanken.         müssen auch weiterhin Zustände benennen
 Gemeinsamkeiten sehe ich viele, aber Unter-     und von Rassismus reden, um uns in die Lage
 schiede feiern?                                 zu versetzen, dagegen anzugehen.

 Mein erster Gedanke war, was können wir         Das Motto der Interkulturellen Woche bedeu-
 dazu beitragen, dass Unterschiede zur Nor-      tet für mich auch, dass sich Alle als integraler
 malität unserer Gesellschaft gehören, ohne      Bestandteil der Gesellschaft fühlen können
 dabei Migrantengruppen zu problematisie-        und ihre Eigenheiten bewahren dürfen, ohne
 ren und vornehmlich als hilfebedürftig an-      sich assimilieren zu müssen. Oder wie Seyla
                                                                                                                                                © Ines Pelny

 zusehen, ohne Menschen, die längst Teil         Benhabib schreibt:
 unserer Gesellschaft sind, weiterhin von uns       »Gleichheit braucht nicht länger als Gleich-
 zu unterscheiden und ohne das »Andere« zu       artigkeit verstanden zu werden, vielmehr be-
 konstruieren und als Kriterium zu betrachten,   deutet Gleichheit in einer reifen liberalen
 welches trennend wirkt, Sartre meinte:          Demokratie die Gleichwertigkeit derjenigen,        ■ Anuschka Abutalebi ist Migrations- und
    »Wir benötigen aber den anderen, um uns      die verschieden sind im Hinblick auf Religion,     Integrationsbeauftragte der Stadt Erfurt.
 selbst zu begegnen, denn wir erkennen uns       Volkszugehörigkeit, Sprache oder sexuelle
 durch ihn, indem wir uns vorstellen, wie er     Präferenz.«                                        ■ Kontakt:
 uns sieht.«                                                                                        Tel.: 0361 / 65 51 045
                                                 So betrachtet feiere ich gerne Unterschiede!       anuschka.abutalebi@erfurt.de

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Gemeinsamkeiten finden, Unterschiede feiern 2014 - Interkulturelle Woche
Ein Land, das Familien nicht zueinan-          herrscht. Es gilt Rahmenbedingungen          aber nur, wenn alle gleichberechtigt
der lässt, hat noch nicht wirklich ei-         zu schaffen, die den Zuwandernden            mitsuchen, mitfinden und mitfeiern
ne »Willkommenskultur« entwickelt –            mit ihren Bedürfnissen gerecht werden.       dürfen. Für das Zusammenleben in der
auch wenn diese im Koalitionsvertrag           Andererseits müssen auch mit Hilfe des       Migrationsgesellschaft muss gewähr-
der neuen Bundesregierung propagiert           Bundes die Kommunen gestärkt wer-            leistet sein, dass Unterschiede nicht zu
wird. Was genau eine Willkommens-              den, die Hauptzielorte neuer Zuwande-        Ungleichbehandlung führen, dass nie-
kultur ausmacht, muss noch eingehend           rung sind.                                   mand diskriminiert, ausgegrenzt oder
besprochen und ausgehandelt und da-                                                         ausgeschlossen wird. Ungleichbehand-
rum Gegenstand der gesellschaftlichen          Die Väter und Mütter des Grundgeset-         lung, Diskriminierung und Rassismus
Debatte werden. Grundkonsens soll-             zes haben mit Art. 16 Konsequenzen           sind bis heute die größten Integrations-
te allerdings sein, dass es beim »Will-        aus den Katastrophen der ersten Hälfte       hemmnisse.
kommen heißen« in erste Linie darum            des 20. Jahrhunderts in Deutschland
geht, einwandernden Menschen die               und Europa gezogen. Auch deshalb hat         Das Motto der diesjährigen Interkul-
Aufnahme und Integration so leicht             die Bundesrepublik Deutschland eine          turellen Woche geht davon aus, dass in
wie möglich zu machen und bürokrati-           verantwortungsvolle und starke Rol-          der Migrationsgesellschaft Gemeinsam-
sche Hürden abzubauen. Im Blick auf            le im europäischen Einigungsprozess          keiten nicht vorausgesetzt werden kön-
Einwanderungswillige ginge es vor al-          übernommen. Darum muss die Frage             nen, sie müssen vielmehr gesucht und
lem darum, nachvollziehbare und er-            gestellt werden, in welche Richtung          können gefunden werden. Menschen
füllbare Aufnahmebedingungen zu for-           Deutschland heute die europäische Mi-        mit unterschiedlicher Biographie, Her-
mulieren. Von einer solchen Haltung            grations- und Integrationspolitik mit-       kunft, kultureller und religiöser Prä-
der Transparenz, der Freundlichkeit            gestaltet und mitbestimmt.                   gung, mit unterschiedlichen Vorstellun-
und der Dienstleistungsorientierung ist                                                     gen von einem guten und gelungenen
Deutschland mit Blick auf Einwanderer          Bei aller Kritik an der Migrations- und      Leben treffen aufeinander, streiten mit-
und Flüchtlinge leider noch weit ent-          Flüchtlingspolitik der Europäischen          einander, lernen voneinander und fei-
fernt. Sie aber ist der Kern und die ei-       Union und ihren Defiziten, die im All-       ern gemeinsam. Dazu dient die Inter-
gentliche Herausforderung einer soge-          tag sichtbar werden: Die Europäische         kulturelle Woche. »Gemeinsamkeiten
nannten interkulturellen Öffnung.              Union ist eine beeindruckende Kon-           finden« bedeutet nicht, dass am Ende
                                               struktion, mit der es gelungen ist, die      alle gleich und verwechselbar sind.
EINE KLUGE ZUWANDERUNGSPOLITIK                 Nationalismen im Zaum zu halten, die         Unterschiede bleiben, sollen bleiben.
FÜR DEUTSCHLAND UND EUROPA                     in der Vergangenheit zu Kriegen inner-       Sie können irritieren, aber sie machen
                                               halb Europas geführt haben. Diese Uni-       auch neugierig, sie bereichern und
Doch wollen wir nur die Fachkräf-              on hat zwar erhebliche demokratische         regen zur Auseinandersetzung an, sie
te, wollen wir nur die Menschen nach           Defizite im Hinblick auf ihre Entschei-      können überraschen und neue Perspek-
Deutschland kommen lassen, von de-             dungsprozesse im Innern sowie auf ih-        tiven bieten. Das kann und darf auch
nen wir glauben, dass wir sie aus demo-        ren Auftritt nach Außen an den Gren-         Spaß machen. Darum: »Unterschie-
grafischen oder ökonomischen Grün-             zen Europas. Aber eine Alternative zur       de feiern«. Auch, aber nicht nur in der
den brauchen? Der Bundesinnenminis-            Europäischen Union gibt es nicht. Die        Interkulturellen Woche!
ter hat am 10. Januar 2014 die aktu-           nationalistischen Bewegungen, die in
ellen Flüchtlingszahlen kommentiert.           fast allen Mitgliedsstaaten virulent sind,
Neben dem Bekenntnis zum Asylrecht             sind gefährlich. Sie stellen eine ernstzu-    ■ Dieser Text wurde verfasst von:
und Flüchtlingsschutz als Auftrag aus          nehmende Bedrohung der Demokratie             Gabriele Erpenbeck, Vorsitzende; Andreas
dem Grundgesetz und internationaler            dar. Sie gefährden darüber hinaus nicht       Lipsch, stellvertretender Vorsitzender;
Verantwortung hebt er heraus »Wir              nur den inneren Frieden der Länder, in-       Günter Burkhardt, Geschäftsführer;
brauchen die Kraft zur Unterscheidung          dem sie zivilgesellschaftliche, demokra-      Dr. Ulrich Raiser, Mitglied und Friederike
und Differenzierung, um die Bürgerin-          tische Strukturen zerstören. Sie destabi-     Ekol, Mitarbeiterin des Ökumenischen
nen und Bürger noch mehr für kluge             lisieren auch die soziale, kulturelle und     Vorbereitungsausschusses zur Interkulturel-
Zuwanderung zu gewinnen.«                      wirtschaftliche Einheit Europas.              len Woche.

Was ist eine »kluge« Zuwanderungs-             FÜR EINEN WECHSEL                             ■ Kontakt:
politik? Geht es allein um »die Zuwan-         DER BLICKRICHTUNG                             Tel.: 069 / 24 23 14 60
derung, die wir brauchen«? Geht es                                                           info@interkulturellewoche.de
nicht auch darum, eine Zuwanderungs-           Viele Jahre wurden in Deutschland die
politik im Kontext der Grundwerte der          Probleme und Schwierigkeiten in Be-
deutschen Verfassung und der interna-          zug auf Zuwanderung und Integration
tionalen rechtlichen und humanitären           herausgestellt. Immer wieder wurde das
Verpflichtungen zu formulieren? Das            Trennende betont, vom eigenen Stand-
heißt vor allem, keine Einschränkun-           punkt aus gedacht, wurden Unterschie-
gen beim Familiennachzug und der Ar-           de und Probleme diskutiert.
beitnehmerfreizügigkeit innerhalb der          »Gemeinsamkeiten finden, Unterschie-
EU sowie die Aufnahme von Flücht-              de feiern«, das Motto der diesjährigen
lingen aus den Ländern, in denen Krieg         Interkulturellen Woche, funktioniert

Materialheft zur Interkulturellen Woche 2014                                                                                           7
Gemeinsamkeiten finden, Unterschiede feiern 2014 - Interkulturelle Woche
Stimmungslagen und Herausforderungen
in der postmigrantischen Gesellschaft

VOM GEFAHRENGUT ZUM TEIL DES GANZEN
Ekrem Şenol

»Wir haben unsere Behörden über Jahrzehnte in eine Abschottungskultur hinein-
entwickelt. Man hat gesagt: Haltet uns die Leute vom Hals, die wollen alle nur
in unsere Sozialsysteme einwandern. Jetzt müssen wir deutlich machen, dass wir
Fachkräfte brauchen, dass wir um sie werben müssen.« Mit diesen Worten hat
Peter Clever von der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände im
April vergangenen Jahres eines der Kernhindernisse bei der Etablierung der
Willkommenskultur beschrieben.

■
          Spätestens seit dem Anwerbe-      vicebehörden werden und Ausländer
          stopp in den 70er Jahren wur-     müssten wie Kunden behandelt wer-
          den vor allem die Auslän-         den.
derbehörden darauf ausgerichtet, mög-
liche Gefahren abzuwenden, in Bezug         Das braucht natürlich Zeit: Eine über
auf den Arbeitsmarkt, die Sozialsyste-      Jahrzehnte etablierte Abschottungskul-
me und später auch verstärkt in Bezug       tur in den Behörden wird sich nicht
auf die innere Sicherheit. Entsprechend     über Nacht ändern. Vor allem dann
wurden die Gesetze formuliert: Aus-         nicht, wenn das Werkzeug – gemeint          gels gefordert wird. Sie bezieht sich
weisungs-, Versagungs- und Gefahren-        sind die Gesetze – nach wie vor auf Ab-     also ausschließlich auf Hochqualifizier-
abwehrtatbestände prägten und prägen        schottung ausgerichtet ist. Aktuelle qua-   te, die neu in das Land kommen. Bei
das Ausländergesetz bis heute, daran        litative Erhebungen stellen den Auslän-     Lichte betrachtet, handelt es sich also
hat sich auch – entgegen der Wort-          derbehörden jedenfalls ein miserables       nicht um eine freundliche Kultur, son-
bedeutung – nach der Namensände-            Zeugnis aus. Selbst ausländische Stu-       dern um eine Notlage, aus der heraus
rung in Zuwanderungs- beziehungs-           dierende, die heißumworbenen Fach-          Menschen angeworben werden, die der
weise Aufenthaltsgesetz im Jahre 2005       kräfte von morgen also, beklagen sich       Wirtschaft nützlich sind und unsere
nichts geändert. Selbst der Begriff »Ein-   nicht selten über willkürliche Schikane.    Rente sichern sollen, sonst sind sie eben
wanderung« kommt im gesamten Ge-                                                        nicht willkommen. Ein Blick ins Gesetz
setzestext nur an einer einzigen Stelle     Selbstverständlich ist die Forderung        erleichtert nicht nur die Rechtsfindung,
vor, und dort ist die Rede von »Ein-        nach einer Willkommenskultur ein            sondern auch die Intention des Gesetz-
wanderungsbeschränkung«.                    wichtiger Schritt und es gibt bereits       gebers: Dort steht, dass Hochqualifi-
                                            erste vielversprechende Ansätze. Ob sie     zierte das Land wieder verlassen müs-
Die Vorgaben des Gesetzgebers – sprich      sich in den Behörden aber etablieren        sen, sobald sie arbeitslos werden, also
der Politik – machte sich folgerichtig      wird, wird maßgeblich von der Geset-        nicht mehr nützlich sind.
vor allem in den Amtsstuben bemerk-         zeslage und deren Umsetzung in der
bar. Unabhängig von der Aufenthalts-        Praxis abhängen. Das große Problem          So ist es natürlich schwierig, den er-
dauer wurde Ausländern, selbst wenn         liegt hier in der Zuständigkeit: Das Aus-   sehnten Bewusstseinswandel zu voll-
sie seit Jahrzehnten in Deutschland leb-    ländergesetz und damit auch die Inte-       ziehen. Denn im Grunde wird hier
ten und arbeiteten oder gar in Deutsch-     grationspolitik liegen im Verantwor-        lediglich eine neue, weitere Kategorie
land geboren wurden, das Gefühl ver-        tungsbereich der Innenministerien, die      angelegt, die nützliche von weniger
mittelt, dass sie nicht willkommen sind.    unabänderlich auf Gefahrenabwehr ge-        nützlichen Einwandernden trennt. Und
                                            polt sind. Sie gestalten das Aufenthalts-   da die sonstigen Bemühungen meist
Erst seit den ersten Warnrufen aus          gesetz federführend und geben den Be-
der Wirtschaft vor ein paar Jahren,         hörden in Anwendungshinweisen vor,
Deutschland leide an einem Fachkräf-        wie ein Gesetz ausgelegt wird – meist
temangel, scheint sich ein Wandel zu        zulasten der Willkommenskultur.
vollziehen. Heute fordern Politiker
landauf landab die sogenannte Will-         Ein weiteres Problem ist, dass die Will-
kommenskultur, aus Ausländerbehör-          kommenskultur fast ausschließlich vor
den müssten Dienstleistungs- bzw. Ser-      dem Hintergrund des Fachkräfteman-

8                                                                                        Materialheft zur Interkulturellen Woche 2014
Gemeinsamkeiten finden, Unterschiede feiern 2014 - Interkulturelle Woche
nicht über Symbolpolitik hinausgehen,          tegration als Teil der Bildungs-, Sozial-   singen, selbst wenn sie das Nationaltri-
etwa durch Einrichtung und Besetzung           und Arbeitspolitik ressortübergreifend      kot tragen.
von Integrationsstellen, die ohne kon-         betrachten. Das ist notwendig, damit
krete Handlungs- und Gestaltungs-              Menschen mit Zuwanderungsgeschich-
befugnisse meist ohnmächtig wirken,            te das Gefühl bekommen, sie sind Teil        ■ Ekrem Şenol ist Herausgeber und
kommen wir nicht richtig voran.                des Ganzen und nicht Gefahrengut.            inhaltlich Verantwortlicher des MiGAZIN –
                                                                                            das Fachmagazin für Migration und
Notwendig ist daher ein grundlegender          Sonst wird man auch in Zukunft nei-          Integration in Deutschland – Politik,
Strukturwandel, der mittel- bis lang-          disch gen USA blicken, denen es gelingt,     Gesellschaft, Recht und Kultur.
fristig nicht nur zu einem Bewusstseins-       ihren Eingewanderten schon innerhalb
wandel in den Behörden, sondern auch           kürzester Zeit den Spirit of America zu      ■ Kontakt: 0221 / 16 83 31 25
bei den Betroffenen selbst führt: Inte-        vermitteln, während hierzulande selbst       redaktion@migazin.de
grationspolitik muss weg vom Zustän-           in Deutschland geborene und aufge-
digkeitsbereich der Innenministerien,          wachsene Jugendliche es nicht über die       ■ Weitere Informationen: www.migazin.de
hin zu Querschnittsministerien, die In-        Lippen bringen, die Nationalhymne zu

KOALITIONSVERTRAG UND GESELLSCHAFTLICHE REALITÄT
Sidonie Fernau

Die Diskussionen der letzten Monate im Zusammenhang mit den Koalitions-
verhandlungen haben bei uns allen Phantasien frei gesetzt, wie wohl die Kom-
promisse in der Koalition umgesetzt werden können.

Bei alledem bleibt uns erst einmal der Koalitionsvertrag, in dem auf 180 Seiten
die Ausrichtung der Politik der Koalitionäre CDU/CSU und SPD dargelegt ist.
»Deutschlands Zukunft gestalten« titelt die Regierungskoalition und gibt vor,
zentrale Themen für dieses Land anzugehen.

Unsere Gesellschaft wird durch Zuwanderung vielfältiger, konstatieren die
Koalitionäre in der Präambel. Es ist allgemein bekannt: jeder fünfte Haushalt
in Deutschland hat mittlerweile ein Mitglied mit Migrationshintergrund und in

                                                                                                                                            © Seren Başoğlu
jeder dritten Familie in Deutschland, in der Kinder unter 18 Jahren leben, hat
mindestens ein Elternteil ausländische Wurzeln. Wir sprechen somit von einer
Personengruppe, die bedeutend ist für die Zukunft unseres Landes.

■
         Wenn wir uns den migrations-          gerung ihre bisherige Staatsangehörig-      Zunächst einmal sollten Sie wissen,
         politischen Herausforderun-           keit aufgeben müssen, für sie gilt die      dass im Jahr 2012 jede achte Eheschlie-
         gen Deutschlands zuwenden,            Mehrstaatigkeit nicht.                      ßung in der Bundesrepublik Deutsch-
dann kommen wir nicht drum herum,                                                          land eine binationale war. Das bedeu-
uns auch dem Staatsangehörigkeits-             Warum der Koalitionsvertrag, zumin-         tet, dass alleine im letzten Jahr mehr als
recht zu widmen, über das in den letz-         dest in migrations- und integrations-       44.000 Menschen ihre Partnerin oder
ten Monaten unter den Schlagwörtern            politischen Fragen, nicht nur an der        ihren Partner grenzübergreifend gefun-
Optionszwang und Doppelte Staats-              Lebensrealität von Migrantinnen und         den haben.
bürgerschaft diskutiert wurde.                 Migranten, wie beispielsweise der älte-
                                               ren türkischen Generation vorbeigeht,       Katharina und Eric sind ein solches
»Für in Deutschland geborene und               die dieses Land mit vorangetrieben ha-      binationales Paare. Die beiden haben
aufgewachsene Kinder ausländischer             ben, sondern auch an der Lebensreali-       sich 1998 kennengelernt. Damals war
Eltern entfällt in Zukunft der Options-        tät von binationalen Familien, möchte       Katharina 16 und hatte sich gerade von
zwang und die Mehrstaatigkeit wird             ich Ihnen an Hand einer kurzen Ge-          ihrem ersten Freund getrennt. In dieser
akzeptiert. Im Übrigen bleibt es beim          schichte verdeutlichen. Die Geschichte      Situation lernte sie Eric kennen. Eric
geltenden Staatsangehörigkeitsrecht«,          handelt von Katharina, einer Bekann-        floh 1992 als politischer Flüchtling aus
heißt es im Koalitionsvertrag, den SPD         ten von mir, die ich zufällig vor zwei      Togo.
und CDU / CSU für die kommende                 Wochen in einem Café traf und von
Legislaturperiode ausgehandelt haben.          Eric, ihrem togolesischen Ehemann.          Danach ging alles sehr schnell: drei
»Im Übrigen« bedeutet, dass Auslände-                                                      Jahre später heiratete das Paar in Togo.
rinnen und Ausländer bei einer Einbür-                                                     Katharina flog nur wenige Tage nach

Materialheft zur Interkulturellen Woche 2014                                                                                            9
Gemeinsamkeiten finden, Unterschiede feiern 2014 - Interkulturelle Woche
punkt. Zum anderen ist für Eric, der         kommen, sei er bereit einzugehen. Dass
                                                         eine Ausbildung zum Verkäufer ge-            es Eric trotz des Passes schwerfallen
                                                         macht hat, mit der Erlangung der deut-       wird, sich als ausschließlich deutsch zu
                                                         schen Staatsbürgerschaft die Hoffnung        bezeichnen, sei vor allem der Tatsache
                                                         verbunden, dass sich die deutsche            geschuldet, dass Fremdzuschreibungen
                                                         Staatsbürgerschaft positiv auf seine         und fehlende Akzeptanz für ihn als
                                                         Chancen auf dem Arbeitsmarkt aus-            Schwarzen in der deutschen Gesell-
                                                         wirkt. Und auch bei Polizeikontrollen,       schaft allgegenwärtig sind. Sein deut-
                                                         in die Eric am Hauptbahnhof auf dem          scher Pass, den er in wenigen Wochen
                                                         Weg von der Arbeit nach Hause oder           in der Hand halten wird, decke sich
                                                         abends, wenn er mit Freunden unter-          nicht mit dem, wie er sich selbst sehe,
                                                         wegs war, regelmäßig gerät, verspricht       nämlich nicht nur als Deutschen, son-
                                                         er sich eine bessere Verhandlungsposi-       dern auch als Togolesen.
                                                         tion gegenüber den Polizeibeamtinnen
                                                         und -beamten. »Ein deutscher Personal-       Katharina hat die Situation sehr gut zu-
                                                         ausweis ist in so einer Situation mehr       sammengefasst und ich möchte meine
                                                         wert, als ein togolesischer Pass«, stellt    Geschichte deshalb auch gerne mit ih-
                                                         Katharina nüchtern fest. Die Möglich-        ren Worten enden lassen. Sie sagte:
                                                         keit in Deutschland zu wählen und dass
                                                         eine Verlängerung des togolesischen          »Es ist absurd. Eine Familie: ich, die
                                                         Passes sehr teuer sei und ihn bei Ver-       neben meiner deutschen Staatsange-
                                                         lust zu ersetzen, sehr schwierig, nannte     hörigkeit als Ehefrau eines Togolesen
                                                         Katharina als weitere Gründe, die für        auch die togolesische Staatsangehörig-
© iaf e.V.

                                                         einen deutschen Pass sprachen.               keit besitzt, mit ihr aber nichts anfan-
                                                                                                      gen kann. Sophie, die als Tochter einer
                                                         Für Katharina war vor allem wichtig,         Deutschen und eines Togolesen beide
             der Hochzeit zurück nach Deutsch-           dass sie sich einen Traum erfüllen und       Staatsangehörigkeiten besitzt und be-
             land, sie war damals Studentin und          mit ihrem Mann und ihrer Tochter in          halten kann und Eric, der mit seiner
             wollte die ersten Vorlesungen im neuen      die USA und nach England reisen konn-        Einbürgerung seine togolesische Staats-
             Semester nicht verpassen. Eric konnte       te. Als wir uns über unsere letzten Rei-     angehörigkeit aufgeben muss – das Fa-
             erst acht Monate später im Zuge der         seziele unterhalten, erzählt sie mir, dass   milienmitglied mit der stärksten Bin-
             Familienzusammenführung einreisen.          sie nie mit ihrem togolesischen Pass         dung an Togo und gleichzeitig der Ein-
             »Die Monate kamen mir vor wie Jahre.        reist – auch nicht innerhalb Afrikas. Sie    zige von uns, der kein Togolese mehr
             Das Warten und die Ungewissheit, ob         werde als Weiße nicht als Togolesin ge-      sein darf.«
             und wann die Botschaft das Visum für        sehen, das führe zu Diskussionen, jedes
             meinen Mann ausstellen wird, waren          Mal, wenn sie den Pass irgendwo vorle-       Entspricht das Staatsbürgerschaftsver-
             eine unglaubliche Belastung für uns«,       gen muss. Auch bei Museumseintritten         ständnis in der Politik der gesellschaftli-
             erzählte mir Katharina im Café.             in Togo müsse sie – trotz togolesischem      chen Realität in Deutschland? Und wenn
                                                         Pass – stets den Eintrittspreis für Aus-     nicht, möchten wir gemeinsam für eine
             Die ersten Jahre lebte Eric mit einer       länderinnen und Ausländer zahlen.            gesellschaftsrealistische Weiterentwick-
             befristeten Aufenthaltsgenehmigung in       »Wenn Eric eingebürgert ist und wir          lung des Staatsbürgerschaftsrechtes ein-
             Deutschland. Drei Jahre nach der Ehe-       nach Togo reisen, dann brauche ich           treten? Entscheiden Sie selbst!
             schließung mit Katharina beantragte er      kein Visum, unsere gemeinsame 4-jäh-
             eine Niederlassungserlaubnis. Anfang        rige Tochter Sophie, die die deutsche
             des Jahres bekam Eric dann einen Brief      und togolesische Staatsangehörigkeit          ■ Sidonie Fernau ist Bundesvorstands-
             vom Ersten Bürgermeister der Stadt          besitzt, auch nicht. Eric wird der Einzi-     mitglied im Verband binationaler Familien
             Hamburg, Olaf Scholz. Er machte ihn         ge von uns sein, der ein Visum braucht,       und Partnerschaften, iaf e.V.
             auf die Möglichkeit der Einbürgerung        um in sein Geburtsland zu reisen«, er-
                                                                                                       ■ Kontakt:
             aufmerksam. »Das war das erste Mal,         zählte mit Katharina.
                                                                                                       Fernau@verband-binationaler.de
             dass wir über das Thema Staatsange-
             hörigkeit gesprochen haben«, erinnert       Spätestens an dieser Stelle sollten wir       ■ Weitere Informationen zur binationalen
             sich Katharina, die übrigens durch die      uns fragen: Warum zwingt deutsche Poli-       Lebensrealität und zur Arbeit des Verban-
             Hochzeit mit Eric nicht nur die deut-       tik Menschen wie Eric, lebenslang Aus-        des binationaler Familien und Partnerschaf-
             sche, sondern auch automatisch die          länder zu sein – wenn nicht in Deutsch-       ten, iaf e.V.: www.verband-binationaler.de
             togolesische Staatsangehörigkeit besitzt.   land, dann eben in seinem Herkunfts-
                                                         land?
             Eric – so berichtete Katharina – muss-
             te nicht lange überlegen, für ihn sprach    Katharina erzählte, Eric sagt, er ha-
             eine Reihe von Argumenten für eine          be sich damit abgefunden, dass er in
             deutsche Staatsbürgerschaft: zum einen      Togo nicht mehr wählen darf. Auch die
             ist Deutschland nicht nur Erics Wohn-       Schwierigkeiten, die auf ihn als Deut-
             sitz, sondern auch sein Lebensmittel-       schen bei einem Landkauf in Togo zu-

             10                                                                                        Materialheft zur Interkulturellen Woche 2014
AUFGABE EINBÜRGERUNG
Johannes Brandstäter

Der immer noch nicht abgeräumte gesetzliche Grundsatz, Doppelpässe
zu vermeiden, ist ein wichtiger Faktor für die im europäischen Vergleich sehr
niedrigen Einbürgerungszahlen Deutschlands. Aber auch die Anwendung
des Staatsangehörigkeitsgesetzes verläuft schleppend. Es bedarf einer neuen
Willkommens- und Anerkennungskultur bei den Einbürgerungsbehörden
der Städte und Kreise.

■
          Post von der Behörde ist nicht           Kreuzchen auf dem Stimmzettel sind
          immer Anlass zur Freude. Be-             wohl nicht das Dringlichste, was diese
          sonders empfinden das viel-              vielen Menschen umtreibt. Aus den
leicht ausländische Menschen so. Ein               Migrationsberatungsstellen der Wohl-
Brief der Stadt Stuttgart an Stuttgarte-           fahrtsverbände ist bekannt, wie exis-
rinnen und Stuttgarter ohne deutschen              tenziell die Frage der Aufenthaltssicher-

                                                                                                                                                 © Frank Diehn
Pass, die schon acht Jahre und länger              heit für Nicht-Deutsche in manchen
dort lebten, stieß indes auf positive              Lebenslagen schnell werden kann. Die
Resonanz. Die freundliche Einladung                aktuelle Diskussion um die Arbeitneh-
des Oberbürgermeisters an die »lieben              merfreizügigkeit für Zugezogene aus
Mitbürger«, die deutsche Staatsange-               Rumänien und Bulgarien zeigt, wie die          tionspolitisches und staatspolitisches
hörigkeit zu erwerben, ließ die Zahl der           Aufenthaltssicherheit selbst für Unions-       Ziel. Doch die Verfassungswirklichkeit
Einbürgerungsanträge emporschnellen.               bürgerinnen und -bürger in Frage ge-           hinkt dem Anspruch fußlahm hinter-
                                                   stellt wird. Aber auch in praktisch-           her. Deutschland bürgert jährlich nur
Das Beispiel der Schwabenmetropole,                rechtlichen Fragen wie zum Beispiel bei        15 von 1.000 Ausländerinnen und Aus-
in der mehr als 20 Prozent Nicht-Deut-             der Reisefreiheit, dem konsularischen          länder ein und belegt damit im euro-
sche leben, deutet auf ein Problem von             Schutz im Ausland, der Berufsfreiheit,         päischen Vergleich einen Platz auf den
bundesweiter Dimension. In unserem                 dem Zugang zum Beamtenstatus oder              hinteren Rängen. In den EU-Ländern
Lande leben 5,1 Millionen Auslän-                  der Gründung eines Vereins ist der             sind es dagegen durchschnittlich 23 von
derinnen und Ausländer seit mehr als               deutsche Pass ein Türöffner.                   1.000, im Nachbarland Polen sogar
acht Jahren. Viele von ihnen sind sogar                                                           50. Bei 5,1 Millionen möglichen Ein-
hier geboren. 5,1 Millionen Frauen,                EINBÜRGERUNG IST EIN STAATSZIEL                bürgerungsanwärtern und gegenwär-
Männer und Kinder gehen zur Kita, zur                                                             tig 110.000 Einbürgerungen pro Jahr
Schule, zur Arbeit, sind am Gemein-                Die Einbürgerungszahlen zu erhöhen             würde es fast 50 Jahre dauern, bis dem
wesen beteiligt. Die Volljährigen dür-             und Staatsvolk und Bevölkerung nicht           Verfassungsauftrag entsprochen ist. Die
fen aber nicht den Bundestag wählen,               dauerhaft auseinanderfallen zu lassen,         seit 2010 wieder zunehmende Einwan-
selbst wenn sie in der Schule etwas über           ist ein schon 1990 vom Bundesverfas-           derung ist hierbei nicht einmal berück-
Demokratie gelernt haben.                          sungsgericht vorgegebenes und mittler-         sichtigt.
                                                   weile allgemein anerkanntes integra-

                                                                           KLEINE CHECKLISTE FÜR DEN DIALOG MIT
                                                                           IHRER KOMMUNE ODER IHREM LANDKREIS
                                                                           Fragen Sie Ihre kommunalen Vertreterinnen und Vertreter,
                                                                           wie es um die Willkommens- und Anerkennungskultur in punkto
                                                                           Einbürgerung bestellt ist:

                                                                           ■ Wie viele nicht-deutsche Personen leben dort seit mindestens
                                                                              acht Jahren oder sind dort geboren?
                                                                           ■ Sind diese Personen schon einmal persönlich angeschrieben
                                                                              und eingeladen worden, einen Antrag zu stellen?
                                                                           ■ Wie lang ist die Bearbeitungsdauer eines Einbürgerungsantrags
                                                                              durchschnittlich?
                                                                           ■ Wie viele Einbürgerungen gab es im Laufe des letzten Jahres?
Weitere Informationen zur Berliner Kampagne »Deine Stadt. Dein Land.       ■ Wie viele Anträge pro Verwaltungskraft treffen jährlich ein?
Dein Pass.« unter www.einbuergerung-jetzt.de                               ■ Werden Einbürgerungsfeiern ausgerichtet?

Materialheft zur Interkulturellen Woche 2014                                                                                                11
Um das Tempo bei der Einbürgerung
zu erhöhen, wäre nicht nur die in den        »EINBÜRGERUNG MACHT SPAß«
Koalitionsvertrag aufgenommene Auf-
hebung des Optionszwangs nötig, son-
dern auch eine generelle Akzeptanz der
doppelten Staatsangehörigkeit – aller-
                                             ■      Hamburg geht forscher voran als
                                                    andere Städte. Seit 2010 sind dort
                                             Einbürgerungslotsen unterwegs. Das sind
                                                                                            kunftsland zum Problem wird. Jardena Kifle,
                                                                                            Neudeutsche und eine der Lotsinnen be-
                                                                                            schreibt die Vorteile: »Als Deutsche kann ich
dings scheint die Chance auf Umset-          Ehrenamtliche, die gut in den migrantischen    wählen, reisen und arbeiten, der Ausweis
zung derzeit gering.                         Gemeinschaften vernetzt sind und sich mit      öffnet mir Türen.«
                                             dem Verfahren zur Einbürgerung auskennen.
SPIELRÄUME BEI LÄNDERN
UND KOMMUNEN
                                             Zum Beispiel, weil sie selbst Migrationshin-
                                             tergrund haben und eingebürgert worden
                                             sind. Sie informieren aus erster Hand über
                                                                                            ■      In der Hansestadt stiegen die Einbür-
                                                                                                   gerungszahlen seit 2009 von 3.700
                                                                                            auf 7.300. Das Rezept ist, Vertrauen bei den
Eine einbürgerungsfördernde Politik          die Chancen einer Einbürgerung und helfen      migrantischen Communities zu schaffen,
muss breiter angelegt sein und verlangt      Interessierten bei Schwierigkeiten, zum Bei-   aber auch den Service zu verbessern: So
mehr als nur Gesetzesänderungen. Die         spiel, wenn die Ausbürgerung aus dem Her-      konnte Hamburg zwischen 2008 und 2013
Zuständigkeit für die Umsetzung des                                                         die Bearbeitungsdauer der Anträge von 18
Staatsangehörigkeitsrechts liegt bei den                                                    auf 6 Monate senken. Das erreichten die
Ländern. Dort und bei den regional zu-                                                      Hanseaten durch zusätzliches Personal – auf
ständigen Einbürgerungsbehörden be-                                                         eine Verwaltungskraft kommen nur noch
stehen beträchtliche Spielräume. Wie                                                        300 Anträge pro Jahr – vor allem aber durch
groß diese tatsächlich sind, wird oft un-                                                   eine Verschlankung und Entrümpelung des
terschätzt. Zwar gibt es Verwaltungs-                                                       Antragsverfahrens. Das Zusammenspiel von
vorschriften und Anwendungshinweise                                                         Lotsen und Behördenmitarbeitenden funk-
des Bundes, doch beantworten diese                                                          tioniert so gut, dass die Behördenleiterin
nicht alle Fragen oder sind nicht rechts-                                                   Waltraud Hadler stolz verkündet: »Bei uns in
verbindlich. Auch die Länder haben                                                          Hamburg macht Einbürgerung Spaß!« Sie
nur zum Teil Vorschriften erlassen, mit                                                     berichtet, dass die erfreuten Gesichter ihrer
denen sie die Einbürgerungspraxis nach                                                      Kundinnen und Kunden auch die Jobzufrie-
oben oder unten steuern können. Eine                                                        denheit in ihrer Behörde erhöhen und der
Untersuchung des Mediendienstes Inte-                                                       neue Weg eine positive Ausstrahlung auf die
gration zeigt, wie unterschiedlich die                                                      ganze Stadt habe.
Spielräume tatsächlich genutzt werden.
Die Einbürgerungsquoten divergieren                                                         ■ www.einbuergerung.hamburg.de
nach Bundesländern zwischen 4,7 Pro-
zent in Mecklenburg-Vorpommern und
1,65 Prozent in Baden-Württemberg
und innerhalb der Bundesländer (zum
Beispiel in Rheinland-Pfalz: Koblenz
4,85 Prozent und Pirmasens 0,72 Pro-        kann. Skeptikern einer vereinfachten            den Frauen, Männer und Kinder ihren
zent) enorm stark.                          Einbürgerung halten die Fachleute ent-          deutschen Pass erhielten – auch noch
                                            gegen: »Was hat der deutsche Staat              mehr als lange genug.
Einer der wichtigsten Faktoren ist die      davon, Personen nicht einzubürgern,
Personalausstattung. Ein Mehr an Sach-      wenn sie sowieso langfristig da blei-
bearbeitenden hilft, die Bearbeitungs-      ben?«                                            ■ Johannes Brandstäter ist Referent im
zeiten zu verkürzen, durch gute Bera-                                                        Arbeitsfeld Migrationspolitische Grundsatz-
tung Frustrationen vorzubeugen und so       Kommunaler Spitzenreiter bei der Ein-            fragen im Zentrum Migration und Soziales
die Antragszahlen zu erhöhen. Hilfreich     bürgerung ist Kiel. Die Landeshaupt-             der Diakonie Deutschlands und Mitglied
ist es auch, die Verfahren zu verschlan-    stadt an der Ostsee bürgert jährlich 40          im ÖVA.
ken, wie Hamburg es vormacht (s. Kas-       von 1.000 Ausländern ein. Die Kieler
ten).                                       machen nach eigenen Angaben zwar ab              ■ Kontakt:
                                            und an eine Informationsveranstaltung,           Tel.: 030 / 65 211-16 41
Praktikerinnen und Praktiker weisen         ihre Leuchtturmfunktion erzielen sie             johannes.brandstaeter@diakonie.de
darauf hin, dass die Förderung und Er-      im Wesentlichen aber über gute Bera-
leichterung von Einbürgerung einen          tungsarbeit, die sich von »zufriedenen
enormen Schub für die Identifikation        Kunden« über Mundpropaganda im
Eingewanderter mit ihrer Stadt und der      Schneeballeffekt zu ihren »Landsleu-
neuen Heimat bringen kann. Für man-         ten« herumspricht. Wenn alle Einbür-
che ist die Einbürgerung ein hochwich-      gerungsbehörden so vorbildlich wie die
tiges Ereignis, welches durch offizielle    Kieler ausgestattet und organisiert wä-
Einwanderungsfeiern im Sinne einer          ren, würde es statt 50 nur noch etwa 20
Willkommens- und Anerkennungskul-           Jahre dauern, bis die 5,1 Millionen aus-
tur gewinnbringend begleitet werden         ländischen und dauerhaft hier leben-

12                                                                                           Materialheft zur Interkulturellen Woche 2014
AUFRUF ZUR EINRICHTUNG EINER ENQUETE-KOMMISSION
        »VIELFALT UND GESELLSCHAFTLICHE TEILHABE«
        Die Junge Islam Konferenz (JIK) ist ein Dialogforum und Multiplikatoren-
        netzwerk junger Menschen im Alter von 17 bis 25 Jahren. Sie ist ein Projekt
        der Stiftung Mercator, des Mercator Program Centers und der Humboldt-
        Universität zu Berlin. Als bundesweites Forum bietet die Junge Islam Konferenz
        religiösen und nicht-religiösen Jugendlichen mit und ohne Migrationshinter-
        grund eine Plattform für Wissensgewinn, Austausch und Intervention in gesell-
        schaftliche Debatten über die Rolle des Islam in Deutschland. Wir dokumentie-
        ren im Wortlaut den Aufruf zur Einrichtung einer Enquete-Kommission »Vielfalt
        und gesellschaftliche Teilhabe«, den die JIK im Januar 2014 veröffentlichte
        und dem sich weitere Vertreterinnen und Vertreter aus Wissenschaft, Politik
        und Zivilgesellschaft angeschlossen haben.

        ■
                  Seit Gründung der Bundes-            wachsene Realität von Migration und        Aus dem angstbehafteten und oft ori-
                  republik Deutschland wurden          Vielfalt anerkannt, indem er betonte,      entierungslosen Umgang mit sich ver-
                  über 30 Enquete-Kommissio-           dass der Islam Teil der deutschen Ge-      ändernden gesellschaftlichen Realitäten
        nen zu zukunftsträchtigen und gesell-          genwart und Zukunft ist.                   erwachsen Gefahren, denen aktiv ent-
        schaftlich relevanten Themen einge-                                                       gegengesteuert werden muss. Der euro-
        richtet. Keine dieser Kommissionen be-         Auch künftig wird Einwanderung nicht       paweite Zuspruch zu rechtspopulisti-
        fasste sich bislang mit dem komplexen,         zuletzt aus demografischen Gründen         schen Parteien sowie die in der Mitte
        aber allgegenwärtigen Wandel Deutsch-          eine zentrale Rolle für die soziale und    der Gesellschaft zunehmenden Ressen-
        lands zu einer Einwanderungsgesell-            wirtschaftliche Stabilität Deutschlands    timents gegenüber Minderheiten ver-
        schaft. Nachdem Deutschland erst nach          spielen. Deshalb muss Politik die Fol-     deutlichen die Dringlichkeit einer poli-
        fast einem halben Jahrhundert in ge-           gen, Ressourcen und Chancen von Mi-        tischen Debatte über die aktive Gestal-
        setzlichen und politischen Initiativen         gration gesellschaftspolitisch aktiver     tung gesellschaftlicher Vielfalt. Für den
        anerkannte, ein Einwanderungsland zu           und ganzheitlicher als bisher beglei-      Zusammenhalt innerhalb unserer Ge-
        sein, erklärte die Bundeskanzlerin auf         ten. Der Umgang mit gesellschaftlicher     sellschaft bedarf es richtungsweisender
        dem Integrationsgipfel 2013 zu Recht           Vielfalt in allen Lebensbereichen – von    und tragfähiger gesellschaftspolitischer
        den einseitigen Blick auf Integration          Schule, Ausbildung und Arbeitsmarkt        Leitbilder, die die Einwanderungsgesell-
        als Bringschuld von Migranten für              über Gesundheitswesen, Sport, politi-      schaft in Deutschland als Realität und
        überholt und forderte die Entwicklung          sche und zivilgesellschaftliche Institu-   Zukunft dieses Landes anerkennen.
        einer gesellschaftlich geistigen Offen-        tionen und Organisationen bis hinein
        heit. Sieben Jahre zuvor hatte der da-         ins Parlament – birgt Chancen und He-      Vor diesem Hintergrund ist die Einrich-
        malige Bundesinnenminister Wolfgang            rausforderungen für das demokratische      tung einer parteiübergreifenden und
        Schäuble auf der ersten Deutschen Is-          Selbstverständnis und den Zusammen-        durch externe Sachverständige aus ver-
        lam Konferenz die über Jahrzehnte ge-          halt in unserer Gesellschaft.              schiedenen Wissenschafts- und Praxis-
                                                                                                  bereichen ergänzten Enquete-Kommis-
                                                                                                  sion an der Zeit! Diese Enquete-Kom-
                                                                                                  mission sollte sich der zentralen und
                                                                                                  zukunftsrelevanten Frage widmen, wie
                                                                                                  existierende Vielfalt in Deutschland
                                                                                                  gesellschafts-politisch begleitet werden
                                                                                                  kann, damit sie als Ausgangspunkt und
                                                                                                  nicht als Hindernis von Zusammen-
                                                                                                  halt, Anerkennung und Teilhabe ver-
                                                                                                  standen wird.

                                                                                                  Die neue Enquete-Kommission sollte
                                                                                                  zunächst eine Bestandsaufnahme zum
                                                                                                  gesellschaftlichen Verständnis von und
                                                                                                  derzeitigen Umgang mit Vielfalt in
                                                                                                  Deutschland erarbeiten. Vor diesem
                                                                                                  Hintergrund sollte sie Leitbilder für die
                                                                                                  Einwanderungsgesellschaft in Deutsch-
                                                                                                  land entwickeln und daraus konkrete
© JIK

                                                                                                  Handlungsempfehlungen für Akteure

        Materialheft zur Interkulturellen Woche 2014                                                                                    13
aus Wissenschaft, Politik und Zivilge-    gen, um die Potenziale eines vielfältigen   tung einer Enquete-Kommission »Viel-
sellschaft ableiten.                      Deutschlands in allen gesellschaftlichen    falt und gesellschaftliche Teilhabe« im
                                          Bereichen sichtbar zu machen und das        Deutschen Bundestag einzusetzen.
Die JIK ist überzeugt: Eine solche En-    Zugehörigkeitsgefühl aller mit Akzep-
quete-Kommission könnte einen ins-        tanz und Anerkennung zu fördern.
titutionellen wie diskursiven Rahmen                                                   ■ Weitere Informationen finden Sie unter:
bilden, der zur Normalisierung im Um-     Die JIK ruft daher gemeinsam mit             www.junge-islamkonferenz.de
gang mit Vielfalt in Deutschland bei-     weiteren Befürworterinnen und Befür-
trägt. Es bedarf gesamtgesellschaftli-    wortern die Mitglieder des Deutschen
cher Anstrengungen und Veränderun-        Bundestages auf, sich für die Einrich-

DAS INTEGRATIONSPARADOX
Ferda Ataman

Auf die Wortwahl kommt es an. Das gilt bei Debatten um Migration und
Integration im öffentlichen Diskurs ganz besonders. Zwar gibt es einen Konsens
darüber, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist. Dennoch ziehen viele
Begriffe eine Grenze zwischen deutschen Ureinwohnern und Menschen aus
Einwandererfamilien. Gängige Begriffe wie »Ausländer«, »Zuwanderer«
oder »Fremdenfeindlichkeit« beschreiben ausschließlich die Perspektive der
herkunftsdeutschen Mehrheitsbevölkerung und werden mitunter auch für
Menschen verwendet, die nicht zugewandert oder fremd und manchmal auch
deutsch sind. Das ist hinderlich für das gesellschaftliche Zusammenwachsen.

                                                                                                                            © T. Lobenwein
■
         Derzeit lässt sich eine große    sollte in dem »wir « auch die hier ge-
         Unsicherheit bei Formulierun-    borenen Kofis, Dunyas und Bijans mei-
         gen beobachten: Warum soll       nen. Alles andere wäre sachlich falsch.
man nicht mehr »Ausländerfeindlich-       Es ist also an der Zeit, darüber zu re-
keit« sagen dürfen? Ist »Migrant« oder    den, wie wir reden. Und hier fällt auf:     die Debatten rund um Migration, Inte-
»Ausländer« die richtige Bezeichnung      Wir benutzen nicht nur Begriffe aus         gration und Asyl zu versachlichen. Pro-
für »Menschen mit Migrationshinter-       dem 20. Jahrhundert, wir stecken auch       jektträger ist der »Rat für Migration«,
grund«, wenn man letzteren Begriff ver-   noch in veralteten Annahmen fest. Eine      ein engagiertes Netzwerk aus Wissen-
meiden will?                              sachliche Debatte, die sich an Fakten       schaftlerinnen und Wissenschaftlern,
                                          orientiert, findet sich beim Thema Ein-     die sich mit den Themen befassen. Und
Was also sind mögliche Alternativen?      wanderungsland viel zu selten.              hier fällt auf: Ein Phänomen beschäftigt
Es gibt zu Recht keine Institution oder                                               Wissenschaftler derzeit, das sie als »In-
Organisation, die für sich in Anspruch    Auch die Bildersprache spielt eine wich-    tegrations-Paradox« bezeichnen: Ob-
nehmen kann, Begriffe festzulegen.        tige Rolle, wenn es darum geht, wie         wohl die Integration von Eingewander-
Allerdings können und müssen endlich      ethnische Minderheiten in Medien dar-       ten und ihren Nachkommen messbar
neue Ideen aufkommen, sonst verhar-       gestellt werden. Ein Bericht über türki-    voranschreitet, gibt es in der Bevölke-
ren wir in Politik, Medien und Amts-      sche Migranten und ihre Nachkommen          rung ein Gefühl von Stagnation oder
deutsch noch jahrelang in einer Spra-     in Deutschland? In den meisten Fällen       gar Rückgang. Zwar widersprechen
che, die dem Alltag der Bundesrepublik    wird er mit Frauen bebildert, die auf       die Fakten den Annahmen, dennoch
nicht entspricht. Wer heute von »wir      dem Haupt ein Kopftuch und in den           setzen sich die vermeintlichen Wahrhei-
Deutschen und die Einwanderer« redet,     Händen Einkaufstüten tragen. Doch           ten in weiten Teilen der Bevölkerung
                                          das Bild einer Frau mit Kopftuch ist für    hartnäckig durch.
                                          Türkinnen in Deutschland nicht reprä-
                                          sentativ: Nur 28 Prozent aller Musli-       Aber woher kommt dieses Gefühl?
                                          minnen tragen hierzulande ein Kopf-         Und welchen Anteil haben die Medien
                                          tuch. Das Kopftuch - Bild bietet sich       daran? Fest steht: Auch Journalisten
                                          durchaus an, wenn es um das Kopftuch        ziehen ihr Wissen überwiegend aus den
                                          geht. Nicht jedoch, wenn es um Alters-      Medien. Entsprechend sind ihre Bil-
                                          armut von Migranten geht.                   der geprägt von den üblichen De-
                                                                                      batten. Ein Beispiel: Was wissen Sie
                                          Seit Dezember 2012 ist der »Medien-         über Roma? Aus Zeitung, Hörfunk
                                          dienst Integration« online und versucht,    und Fernsehen erfährt man: Roma sind

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