MEHRHEITS-GESELLSCHAFT - INTEGRATIONS-POLITIK FÜR DIE - Bildungs- und Beteiligungsmöglichkeiten für junge und alte Menschen im Ruhrgebiet ...

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MEHRHEITS-GESELLSCHAFT - INTEGRATIONS-POLITIK FÜR DIE - Bildungs- und Beteiligungsmöglichkeiten für junge und alte Menschen im Ruhrgebiet ...
INTEGRATIONS-
POLITIK FÜR DIE
MEHRHEITS-
GESELLSCHAFT

   Bildungs- und Beteiligungsmöglichkeiten
   für junge und alte Menschen
   im Ruhrgebiet
MEHRHEITS-GESELLSCHAFT - INTEGRATIONS-POLITIK FÜR DIE - Bildungs- und Beteiligungsmöglichkeiten für junge und alte Menschen im Ruhrgebiet ...
IMPRESSUM

Die Publikation wird herausgegeben im Auftrag des Vereins für Forschung und Lehre praktischer Politik e.V.
Umsetzung durch die Bonner Akademie für Forschung und Lehre praktischer Politik (BAPP) GmbH.

Bonn, März 2019

Bonner Akademie für Forschung und Lehre praktischer Politik (BAPP) GmbH,
Heussallee 18-24, 53113 Bonn

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Fax: 0228/73-62988

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Redaktion
Dr. Stefan Brüggemann (V.i.S.d.P.)
Sandra Butz
Taner Ekici
Lucas Scheel

Layout und Satz
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Recht
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INTEGRATIONSPOLITIK FÜR DIE
MEHRHEITSGESELLSCHAFT
    Bildungs- und Beteiligungsmöglichkeiten
    für junge und alte Menschen im Ruhrgebiet
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INHALT

               GRUSSWORT VON DR. BORIS BERGER                              SEITE 07

               VORWORT VON PROF. BODO HOMBACH                              SEITE 08

               EINLEITUNG
              	
               INTEGRATIONSPOLITIK FÜR DIE MEHRHEITSGESELLSCHAFT.         SEITE 10
               EIN PRAXISORIENTIERTES FORSCHUNGSPROJEKT

              	TEILHABE IN EINER GESELLSCHAFT DES WANDELS:                 SEITE 14
                CHANCEN FÜR NRW UND DAS RUHRGEBIET 
                DR. JOACHIM STAMP

             I.	PRAXIS – AKTEURE VOR ORT. PROBLEMLAGEN, HERAUSFORDERUNGEN
                 UND ERRUNGENSCHAFTEN.

                 	ABGEHÄNGT VON DER MEHRHEITSGESELLSCHAFT?                 SEITE 19
                   ANALYSE DER LEITFADENGESTÜTZTEN EXPERTENINTERVIEWS
                   LUCAS SCHEEL, M.A.

                 	REPRÄSENTATIVE DEMOKRATIE, VERTRAUEN, AKZEPTANZ          SEITE 34
                   UND DIE INTEGRATION DER MEHRHEITSGESELLSCHAFT.
                   URSACHEN – MASSNAHMEN – ZUSAMMENHÄNGE
                   PROF. DR. VOLKER KRONENBERG

                 	DIE VOLKSPARTEIEN HABEN DAS VOLK VERGESSEN               SEITE 42
                   ENTFREMDUNG ZWISCHEN BÜRGERN UND POLITIK
                   IM RUHRGEBIET
                   PROF. MANFRED GÜLLNER

    INHALT
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II. POPULISMUS, DEMOKRATIE UND GESELLSCHAFT

    	MITTE UNTER DRUCK? HERAUSFORDERUNGEN UND CHANCEN          SEITE 55
      FÜR DEMOKRATIE, BÜRGER UND PARTEIEN
      PROF. DR. KARL-RUDOLF KORTE

    	WIE PARTEIEN DEN BÜRGER IN ZEITEN SOZIALER UND            SEITE 62
      MIGRATIONSPOLITISCHER SPALTUNG WIEDER ERREICHEN KÖNNEN
      PROF. DR. ELMAR WIESENDAHL

    	POPULISMUS, INTEGRATION UND POLITISCHE BILDUNG            SEITE 77
      DR. SIMON T. FRANZMANN

III. BERICHTE ZU DEN VERANSTALTUNGEN

    	27. MÄRZ 2018: WAS DIE MENSCHEN „WIRKLICH“ DENKEN –       SEITE 86
      DEMOKRATIE IN ZEITEN DES POPULISMUS

    	25. JUNI 2018: RECHTE VOR GERICHT –                       SEITE 88
      EINE BILANZ DES NSU PROZESSES

    	19. NOVEMBER 2018: TOWNHALL MIT OBERBÜRGERMEISTER         SEITE 90
      THOMAS KUFEN 

    	29. NOVEMBER 2018: WAS IST HEIMAT? ZUR POLITISCHEN        SEITE 92
      WIRKUNGSMACHT EINER FAST VERGESSENEN KATEGORIE

    	07. DEZEMBER 2018: WORKSHOP: INTEGRATIONSPOLITIK          SEITE 94
      FÜR DIE MEHRHEITSGESELLSCHAFT – AKZEPTANZ, PARTIZIPATION
      UND BILDUNG

    	22. MÄRZ 2019: WER HÄLT DAS LAND ZUSAMMEN?                SEITE 96
      REPRÄSENTATION UND GESELLSCHAFTLICHE TEILHABE
      VOR NEUEN HERAUSFORDERUNGEN

                                                                            INHALT
                                                                                     5
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GRUSSWORT VON DR. BORIS BERGER
                                                                  Auf politischer Seite hat man diese Problematik lange Zeit
                                                                  unterschätzt und betrachtet die aktuelle Entwicklung nun
                                                                  mit Sorge. Die Parteien wechseln zwischen Annäherung und
                                                                  Abwertung der Betroffenen als ‚Ewiggestrige‘, ohne bislang
                                                                  eine versöhnliche und nachhaltige Lösung gefunden prä-
                       Dr. Boris Berger
                       Vorsitzender des Vereins für Forschung
                                                                  sentieren zu können. So manifestiert sich das Fortbestehen
                       und Lehre Praktischer Politik              des Misstrauens in der gerade im Ruhrgebiet sinkenden
                                                                  Wählerschaft der Volksparteien, die einst auf nahezu unein-
Die Gewinner und Verlierer der letzten Bundes- und Land-          geschränkte Loyalität ihrer Wähler hoffen konnten.
tagswahlen sind schnell identifiziert: Die sogenannten Volks-
parteien haben kontinuierlich an Stimmanteilen verloren,          Genau diesem Spannungsfeld widmet sich die Bonner
während neben der FDP und den Grünen vor allem die Alter-         Akademie in Kooperation mit der Brost-Stiftung mit dem
native für Deutschland (AfD) als die großen Gewinner aus den      Projekt „Integrationspolitik für die Mehrheitsgesellschaft –
Wahlen hervorgegangen sind. Neben dem flächendeckenden            Bildungs- und Beteiligungsmöglichkeiten für junge und
Erfolg der populistischen Herausforderer ist jedoch beson-        alte Menschen im Ruhrgebiet“. Innerhalb des dreijährigen
ders besorgniserregend, wie viele Menschen sich dagegen           Projekts sollen zunächst die Gründe für die zunehmende
entschieden haben, überhaupt an den Wahlen teilzunehmen.          Unzufriedenheit und wachsende Entfremdung großer Teile
Auf kommunaler Ebene gingen in den letzten Jahren über            der Gesellschaft herausgearbeitet werden. Der besonde-
50 Prozent der Menschen nicht wählen, auf Bundesebene             re Schwerpunkt des Projekts liegt auf der Begleitung aus-
waren es rund 25 Prozent. Doch was sind die genauen Grün-         gewählter Projekte, anhand derer konkrete Ansätze und
de für diese wachsende Politikverdrossenheit? Ein Blick auf       Bildungsangebote zur Re-Integration der ‚Abgehängten‘
aktuelle Debatten offenbart, dass bei vielen Deutschen eine       verbessert, weiterentwickelt und entworfen werden. Damit
Entfremdung von der Politik, den Medien und so genann-            leistet das Projekt nicht nur einen wichtigen Beitrag zur Ana-
ten ‚etablierten Parteien’ herrscht. Auch aktuelle Umfragen       lyse der kritischen Faktoren, sondern auch zur Entwicklung
stützen das fehlende Vertrauen der Menschen in die Politik        konkreter Ansätze, die für eine effektive Integrationspolitik
und seine Akteure. Immer mehr Menschen fühlen sich ‚abge-         für die Mehrheitsgesellschaft notwendig sind.
hängt‘, politisch ausgeschlossen und nicht repräsentiert und
stellen dies vermehrt – auch medial für alle wahrnehmbar –        Die vorliegende Publikation präsentiert eine erste Bestands-
zur Schau. Egal ob in Dresden, in Berlin oder im Internet – die   aufnahme der Verhältnisse im Ruhrgebiet und beleuchtet
Menge der Unzufriedenen scheint stetig zu wachsen.                die allgemeine Problematik der wachsenden Politik- und
                                                                  Parteienverdrossenheit aus unterschiedlichen Perspekti-
Auch im Ruhrgebiet, einst Wirtschafts- aber auch Integrati-       ven. Neben der im Rahmen des Projektes bereits gewonnen
onsmotor Deutschlands, lässt sich eine solche Desintegrati-       Erkenntnisse freue ich mich deshalb ganz besonders, dass
on großer Teile der sogenannten Mehrheitsgesellschaft be-         neben unserem Schirmherrn, dem nordrhein-westfälischen
obachten. Nirgendwo anders in Westdeutschland konnten             Integrationsminister Dr. Joachim Stamp, renommierte Wis-
Rechtspopulisten bei den vergangenen Bundestagswahlen             senschaftler und Experten Beiträge zu dieser Publikation
mehr Stimmanteile gewinnen als in den großen Ruhrgebiets-         geleistet haben. Ihre weitreichende Expertise bereichert
metropolen. Der Wandel von Bergbau und Montanindustrie            das Projekt in großem Maße.
hin zu Wissenschaft und Hochtechnologie hatte nicht nur
wirtschaftliche Folgen für ‚die Kumpel‘, sondern auch weitrei-
chende Konsequenzen für deren Identität. Hinzu kommt, dass
die große Zahl von Menschen mit Migrationshintergrund, die
das Ruhrgebiet ihr zu Hause nennen, von vielen Bewohnern
zunehmend kritisch betrachtet wird. So vermischen sich öko-       Dr. Boris Berger
nomische Abstiegsängste mit Sorgen um einen Identitätsver-
lust zu einer Furcht vor jeglichen weiteren Veränderungen und     Vorsitzender des Vereins für Forschung und Lehre
all jenen, die diese Veränderungen zu verantworten haben.         Praktischer Politik

                                                                                                                              GRUSSWORT
                                                                                                                                          7
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VORWORT VON PROF. BODO HOMBACH

                                   Prof. Bodo Hombach
                                   Präsident der
                                   Bonner Akademie

            „INTEGRATION“ IST EIN SCHLÜSSEL-
            WORT UNSERER NERVÖSEN ZEIT.
            Schon immer gab es Epochen großer Unruhe. Unerwar-          können Integrationsprobleme zuspitzen oder abfedern.
            tete Veränderungen konnten sich durch Tempo, Vielfalt       Die humanen und universellen Grundsätze der Verfas-
            und Komplexität zu einem verdüsterten Weltgefühl            sung werden unvermittelt beim Wort genommen und
            bündeln und je nach Spannkraft der Gesellschaft Ver-        strapaziert. Man soll zusammenrücken, was die Verlet-
            lust- und Abstiegsängste erzeugen.                          zungsgefahr für die persönliche „Hoheitszone“ steigert.
                                                                        Kulturelle Unterschiede erschweren ein kollisionsfreies
            · Technische Innovationen überfallen mit der Wucht         Zusammenleben. Populistische Bewegungen nutzen
               einer Naturgewalt die vertrauten Verhältnisse. Nach      die Unübersichtlichkeit der Verhältnisse, um einfache
               einer anarchischen und emphatischen Phase werden         „Lösungen“ anzubieten, Schuldige zu etikettieren und
               negative Folgen sichtbar. Die nötige Anpassung des       das bestehende System der offenen Gesellschaft zu
               Regelwerks hinkt hinterher.                              attackieren. Dabei nutzen Sie Freiheiten und Spielräu-
                                                                        me, die die freie Gesellschaft bietet. Das Ergebnis: Eine
            · Emanzipationsschübe zerrütten Milieus und ver-           zunehmend gespaltene und sich selbst entfremdete
              schieben die Koordinaten des früheren Wertekanons.        Gesellschaft, die ihre Kräfte vergeudet, anstatt sie kon-
              Sie erlauben, erfordern aber auch, neue und individuel-   struktiv zu nutzen. Da ist Integration das Gebot der
              le Inszenierungen der persönlichen Lebensgestaltung.      Stunde. Sie ist vor allem Sache der Zivilgesellschaft.
                                                                        Sie geschieht im Alltag der Leute, in der Nachbarschaft,
            · Globalisierung beflügelt den Welthandel. Sie             am Arbeitsplatz, in der Schule, in Gemeinde, im Verein
               erzeugt Gewinner und Verlierer. Offene Grenzen erhö-     und beim Schwatz an der Marktplatzecke. Sie braucht
               hen Mobilität.                                           Zeit und Geduld. Sie braucht auf allen Seiten die Be-
                                                                        reitschaft, sich selbst im Gegenüber zu erkennen. Inte-
            · Menschen setzen sich in Bewegung, auf der Flucht         gration ist nicht Preisgabe eigener Identität. Sie ist nie
               vor kriegerischen Ereignissen, oder weil ihr ange-       „Einbahnstraße“. Anpassungsbereitschaft Zuziehender
               stammtes Siedlungsgebiet sie nicht mehr ernähren         darf erwartet werden. Dabei geht es um Argumente und
               kann. Die Einheimischen stehen plötzlich vor unge-       Diskurs, aber auch um non-verbale Kommunikation
               wohnten Herausforderungen.                               (Gesten, Mimik, Körperhaltung). Politik und Behörden
                                                                        können verlautbaren oder verordnen. Sie können je-
            Große Bevölkerungsdichte in Ballungsräumen, demo-           doch nur einen Rahmen abstecken und ein günstiges
            grafische Verschiebungen und politische Bewegungen          Klima fördern. Sie können Initiativen der Bürgerebene

    INTEGRATIONSPOLITIK FÜR DIE MEHRHEITSGESELLSCHAFT
8   VORWORT VON PROF. BODO HOMBACH
MEHRHEITS-GESELLSCHAFT - INTEGRATIONS-POLITIK FÜR DIE - Bildungs- und Beteiligungsmöglichkeiten für junge und alte Menschen im Ruhrgebiet ...
wahrnehmen, formal absichern und verstetigen. Dazu
braucht es klare Ansagen und Orientierungshilfen. Dazu
                                                             „POPULISTISCHE
braucht es auch wissenschaftliche Begleitung, die den
Entscheidungsträgern realitätsnahe Kriterien und Fak-
                                                             BEWEGUNGEN NUTZEN
ten anbietet.                                                DIE UNÜBERSICHT­LICHKEIT
Die Bonner Akademie für Forschung und Lehre prakti-          DER VERHÄLTNISSE,
scher Politik (BAPP), gefördert durch die Brost-Stiftung,
Essen – wenn sie sich um drängende Probleme des              UM EINFACHE „LÖSUNGEN“
Ruhrgebietes kümmert – greift neue und dringliche
Themen mit ihren Mitteln und Werkzeugen auf. Syste-          ANZUBIETEN, SCHULDIGE
matische Erkundungen, Veranstaltungen und Publikati-
onen leisten einen Beitrag, die Probleme zu erkennen,
                                                             ZU ETIKETTIEREN UND
sie zu gewichten und sie mit praxisnahen Vorschlägen
auszustatten.
                                                             DAS BESTEHENDE SYSTEM
                                                             DER OFFENEN GESELLSCHAFT
Die vorliegende Publikation ist Auftakt für das Projekt
„Integrationspolitik für die Mehrheitsgesellschaft – Bil-    ZU ATTACKIEREN.“
dungs- und Beteiligungsmöglichkeiten für junge und
alte Menschen am Beispiel des Ruhrgebiets“. Es ist
auf drei Jahre ausgelegt und wird die Gründe für die
wachsende Unzufriedenheit und Entfremdung brei-
ter Gesellschaftsschichten von etablierten politischen
und gesellschaftlichen Institutionen untersuchen. Im
Ruhrgebiet sind die Abstiegsängste besonders virulent.
Der Strukturwandel und ein hoher Anteil muslimischer
Migranten schüren Furcht vor weiteren Veränderungen.
Das Projekt begnügt sich nicht mit bloßer Diagnose. Es
entwickelt – empirisch fundiert – konkrete Ansätze zur
Re-Integration der „abgehängten“ Bevölkerungsgrup-
pen in das politische und gesellschaftliche Leben. Das
geschieht durch Bildungsangebote speziell für junge
und alte Menschen. Schirmherr ist dankenswerterwei-
se der sehr interessierte und hoch engagiertere Herr
Dr. Joachim Stamp, stellvertretender Ministerpräsident
und Minister für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integra-
tion des Landes NRW.

                                                                     INTEGRATIONSPOLITIK FÜR DIE MEHRHEITSGESELLSCHAFT
                                                                                       VORWORT VON PROF. BODO HOMBACH    9
MEHRHEITS-GESELLSCHAFT - INTEGRATIONS-POLITIK FÜR DIE - Bildungs- und Beteiligungsmöglichkeiten für junge und alte Menschen im Ruhrgebiet ...
EINFÜHRUNG

              INTEGRATIONSPOLITIK FÜR
              DIE MEHRHEITSGESELLSCHAFT
              Bildungs- und Beteiligungsmöglichkeiten für junge und alte Menschen im Ruhrgebiet
              Ein Forschungsprojekt der Bonner Akademie in Kooperation mit der Brost-Stiftung unter der
              Schirmherrschaft von Dr. Joachim Stamp, stellvertretender Ministerpräsident des Landes
              ­Nordrhein-Westfalen und Minister für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration.

              „Egal, ob ich wählen gehe oder nicht – Es wird sich        men für sich gewinnen. Gleichzeitig setzte sich der
              doch sowieso nichts ändern.“ – Diese oder ähnliche         Abwärtstrend der etablierten Parteien fort, die im Ver-
              Aussagen konnte man bei den vergangenen Wahlen             gleich zur Wahl von 2013 weiter an Stimmen verloren
              vielerorts in Deutschland vernehmen. Hinter den Äu-        haben. Obwohl die Wahlbeteiligung in NRW höher als
              ßerungen verbirgt sich eine substanzielle Entfremdung      bei vorherigen Wahlen war, entschieden sich immer
              von der Politik, die zugleich eine grundlegende Unzu-      noch knapp 35 Prozent der Stimmberechtigten gegen
              friedenheit in großen Teilen der Mehrheitsgesellschaft     eine Stimmenabgabe.
              widerspiegelt. Ein großer Teil der Bevölkerung fühlt
              sich von der Politik nicht repräsentiert und mit ihren     Doch wie geht die Gesellschaft mit der großen Grup-
              Problemen alleine gelassen. Die Politikverdrossenheit      pe von Menschen, die sich von der Politik und zum Teil
              schlägt sich nicht zuletzt in der Abspaltung vieler Men-   auch der Mehrheitsgesellschaft entfremdet haben,
              schen von der Mitte und der damit einhergehenden           um? In bundesweiten Debatten ist mittlerweile vom
              Stärkung der politischen Ränder nieder, die vorgeben,      sogenannten ‚Abgehängten‘ die Rede, der sich von der
              mit dem aktuellen politischen Status quo zu brechen.       Politik nicht mehr vertreten sieht und der von gesell-
              Lange Zeit haben viele Politiker und Entscheidungsträ-     schaftlicher Teilhabe größtenteils ausgeschlossen ist.
              ger den Vertrauensverlust in die Politik und die gene-     Im Ruhrgebiet kommen zudem noch die gesellschaft-
              relle Politikverdrossenheit der Gesellschaft ignoriert     lichen und wirtschaftlichen Umwälzungen durch den
              oder zumindest verdrängt. Nicht zuletzt aufgrund von       Strukturwandel zum Tragen, dadurch werden Desin-
              Ereignissen wie in Chemnitz letzten September steht        tegrationsprozesse zusätzlich verschärft. Monokausa-
              das Problem zwar nun wieder auf allen politischen          le Erklärungsansätze für die Abspaltung großer Teile
              Ebenen auf der Tagesordnung, eine effektive Strategie      der Mehrheitsgesellschaft, wie etwa die Modelle des
              zur Re-Integration des unzufriedenen und desillusio-       Arbeitsmarkts- oder des Globalisierungsverlierers,
              nierten Teils der Bevölkerung in die Gesellschaft wurde    gelten mittlerweile jedoch als zu einseitig, da sich die
              jedoch noch nicht gefunden.                                steigende Unzufriedenheit und die Abspaltung von der
                                                                         Gesellschaft nicht nur über den sozialen Status erklä-
                                                                         ren lässt. Vielmehr müssen verschiedenste Facetten,
              DIE PROBLEMLAGE                                            die nicht nur im engeren sondern auch im weitesten
                                                                         Sinne mit der Integration der Gesellschaft zusammen-
              Gerade im Ruhrgebiet, in dem verschiedenste Prob-          hängen, betrachtet werden.
              lemlagen aufeinandertreffen, zeigen sich diese He-
              rausforderungen unmittelbar. Nirgendwo in West-            Die Gründe für das Gefühl, abgehängt zu sein, sind so
              deutschland konnte die Alternative für Deutschland         vielschichtig wie die Menschen selbst. Und genau die-
              (AfD) bei der letzten Bundestagswahl so viele Stim-        se Unterschiede zwischen den Menschen, die lediglich

     EINFÜHRUNG
10   INTEGRATIONSPOLITIK FÜR DIE MEHRHEITSGESELLSCHAFT
über das ‚Abgehängtsein‘ gemeinsam charakterisiert         DAS PROJEKT
werden können – während sie sonstige Charakteris-
tika wie politische Einstellung, soziale Herkunft oder     In dem auf drei Jahre angelegten Projekt „Integrations­
Bildungsstand nur in unterschiedlicher Ausprägung          politik für die Mehrheitsgesellschaft – Bildungs- und
teilen –, erschweren den Erfolg einer gesamtgesell-        Beteiligungsmöglichkeiten für junge und alte Men-
schaftlichen Integrationspolitik erheblich. Es reicht      schen im Ruhrgebiet“ will die Bonner Akademie in
nicht aus, den Blick nur auf einen Aspekt der (Re-)In-     Kooperation mit der Essener Brost-Stiftung die Le-
tegration wie etwa die Integration in das Berufsleben      bensrealitäten der Menschen im Ruhrgebiet analysie-
zu werfen, wenn die Gründe so vielfältig sein können.      ren. Im Kern der Untersuchungen stehen dabei die
Zwei Altersgruppen sind besonders von Desintegrati-        Ursachen, die dazu geführt haben, dass sich ein gro-
onstendenzen betroffen: Junge Menschen sind für die        ßer Teil der Mehrheitsgesellschaft von politischen und
Thematik empfänglich, da ihre Zukunft im direkten          gesellschaftlichen Institutionen vernachlässigt fühlt
Zusammenhang mit gesellschaftlichen Aspekten wie           und sich letztendlich von ihnen entfernt hat. Im Rah-
Chancengleichheit oder beruflicher Perspektive steht.      men des Projektes sollen nicht nur das Verständnis für
Da die Weichen für eine spätere Bindung an die Gesell-     die Sorgen und Ängste dieser Menschen verbessert,
schaft schon früh gestellt werden, gilt es dort frühzei-   sondern auch praxisnahe Ansätze zur (Re-)Integrati-
tig anzusetzen und Präventionsarbeit zu leisten, denn      on dieser ‚abgehängten’ Bevölkerungsschicht in das
Defizite bei den oben genannten Aspekten wirken            politische und gesellschaftliche Leben entwickelt und
sich äußerst negativ auf das Vertrauen in politische       umgesetzt werden.
Prozesse aus. Eine zweite Gruppe, auf die besonderes
Augenmerk gelegt werden muss, ist die Gruppe der           Besonders wichtig ist dabei der konkrete Praxisbezug,
Seniorinnen und Senioren, die häufig mit Anpassungs-       da nur durch die fundierte Beobachtung und Analyse
problemen aufgrund schnell fortschreitender Ent-           von Angeboten vor Ort zielgruppengerechte Ansätze
wicklungen und Veränderungen konfrontiert werden.          entworfen und mit Leben gefüllt werden können. Auf-
Dies hat häufig einen Rückzug in das Private und somit     bauend auf einer fundierten Untersuchung der Situa-
auch die Aufgabe der sozialen Kontakte zur Folge. Zu-      tion im Ruhrgebiet und der Evaluation ausgewählter
sätzlich verhärten sich dadurch politische Ansichten       Bildungs- und Teilhabeangebote, die gleichzeitig auch
und Misstrauen oftmals, weshalb Partizipations- und        das im Ruhrgebiet bestehende Angebot in seinen ver-
Integrationsangebote schwerer zu den älteren Men-          schiedenen Facetten darstellen sollen, können Vor-
schen durchdringen können. In beiden Fällen, so lau-       schläge entwickelt werden, die in konkrete Projekte
tet die Arbeitsthese des Projekts, kann die zielgrup-      für junge und alte Menschen einfließen werden. Hier-
penorientierte politische Bildung ein wirksames Mittel     bei ist es uns wichtig, nicht nur auf unser theoretisches
gegen die Desintegration darstellen.                       Verständnis von Integrationskenntnissen zurückzu-

     „DA DIE WEICHEN FÜR EINE SPÄTERE BINDUNG AN DIE
        GESELLSCHAFT SCHON FRÜH GESTELLT WERDEN,
  GILT ES DORT FRÜHZEITIG ANZUSETZEN UND PRÄVENTIONS­
       ARBEIT ZU LEISTEN, DENN DEFIZITE BEI DEN OBEN
   GENANNTEN ASPEKTEN WIRKEN SICH ÄUSSERST NEGATIV
      AUF DAS VERTRAUEN IN POLITISCHE PROZESSE AUS.“

                                                                                                                       EINFÜHRUNG
                                                                                  INTEGRATIONSPOLITIK FÜR DIE MEHRHEITSGESELLSCHAFT   11
greifen, sondern mit den Menschen vor Ort erfah-           DIESER BAND
              rungsorientiertes Wissen zu sammeln und weiterzu-
              verarbeiten. Der besondere Fokus liegt hierbei auf         Gerade entlang der zentralen Fragestellungen des
              der Fragestellung, welche Angebote benötigt werden,        Projekts sind bundesweit hitzige Debatten entstan-
              um eine intergenerationale und interkulturelle – und       den. Auf allen politischen Ebenen wird diskutiert,
              somit gesamtgesellschaftliche – Integrationspolitik zu     warum sich diese Desintegrationstendenzen auf ein-
              gewährleisten.                                             mal so stark zeigen und wie man mit den betroffenen
                                                                         Menschen umgehen muss. Diesen politischen und
              Um diesen Zielen gerecht zu werden, ist eine enge Ver-     gesellschaftlichen Debatten kann sich das Projekt na-
              netzung mit Praktikern und Experten aus dem Ruhrge-        türlich nicht entziehen, andererseits verpflichtet der
              biet unabdingbar. Dazu zählen vor allem jene Instituti-    praxisorientierte Fokus zur Formulierung und Umset-
              onen und Personen, die das Leben der Menschen vor          zung konkreter Ziele, die in den häufig theoretisch ge-
              Ort prägen: Parteien, Vereine, Kirchen, Schulen und        führten Debatten nicht zum Tragen kommen: Welche
              Volkshochschulen, politische Bildner, Stadtteilprojek-     Rolle spielt der Bedeutungsverlust von traditionellen
              te – sie alle betreiben auf mehr oder minder indirekte     Institutionen? Wurden alltagsnahe und identitätsstif-
              Weise Integration für die Mehrheitsgesellschaft. Auch      tende Institutionen in der jüngeren Vergangenheit
              kommunale und städtische Akteure, die sich u.a. mit        vernachlässigt? Kann politische Bildung den aktuel-
              der Jugend- und Altenhilfe befassen, sollen miteinge-      len antidemokratischen Tendenzen etwas entgegen-
              bunden werden, da sie oftmals eine wichtige Brücken-       setzen? Welche Probleme haben für die Betroffenen
              funktion zwischen den Anwohnern und den privaten           selber die höchste Bedeutung? Bezieht sich der Inte-
              Initiativen darstellen. Die umfassenden und vielfälti-     grationsbegriff im Wesentlichen auf Zugewanderte
              gen Erfahrungen all dieser Institutionen gilt es für das   oder bedarf es einer gesamtgesellschaftlichen Integ-
              Projekt nutzbar zu machen. Gleichzeitig sind sie auch      rationspolitik?
              diejenigen, an die sich die Ergebnisse dieses Projekts
              richten, und somit ideale Partner bei der Realisierung     Diese Publikation versucht auf diese und weitere Fra-
              konkreter Initiativen, bei denen sich eine langfristige    gen aus der praxisorientierten Perspektive heraus
              und effektive Umsetzung der erarbeiteten Handlungs-        Antworten zu finden. Einleitend stellt Dr. Joachim
              empfehlungen erwarten lässt.                               Stamp die Herausforderungen aber auch Chancen
                                                                         für NRW aus Sicht der praktischen Politik dar, wobei
                                                                         er vor allem auf die Notwendigkeit der gesamtgesell-
                                                                         schaftlichen Zusammenarbeit zur Überwindung des
                                                                         Strukturwandels hinweist. Im ersten Teil dieser Publi-
                                                                         kation stehen dann die bisherigen Ergebnisse des Pro-
                                                                         jekts im Mittelpunkt. Zentral ist dabei die Auswertung
                                                                         der Experteninterviews, die die gesamte Komplexität
              „WELCHE ROLLE SPIELT                                       der steigenden Unzufriedenheit herausstellen. Die im
                                                                         Rahmen des Projekts von Jasmin Sandhaus, Taner
              DER BEDEUTUNGSVERLUST                                      Ekici und Lucas Scheel durchgeführten qualitativen
                                                                         Experteninterviews gewähren Einblicke in die für die
              VON TRADITIONELLEN                                         Desintegration der Mehrheitsgesellschaft kritischen
                                                                         Problemfelder – durch die Erfahrungen der befragten
              INSTITUTIONEN?                                             Praxisexperten können die Gründe für wachsende
                                                                         Entfremdung von Politik und Gesellschaft greifbar dar-
              WURDEN ALLTAGS­NAHE                                        gestellt werden. Projektleiter Prof. Dr. Volker Kronen-
              UND IDENTITÄTS­STIFTENDE                                   berg untersucht in seinem Beitrag die Ursachen für
                                                                         das fehlende Vertrauen vieler Bürgerinnen und Bürger
              INSTITUTIONEN IN DER                                       in die repräsentative Demokratie. Dabei stellt er drei
                                                                         konkrete Anknüpfungspunkte zur Überwindung der
              JÜNGEREN VERGANGENHEIT                                     Vertrauenskrise als praktische Handlungshinweise für
                                                                         die Politik heraus, die auch als Referenzrahmen für die
              ­VERNACHLÄSSIGT?“                                          weitere Projektarbeit genutzt werden können. Zusam-

     EINFÜHRUNG
12   INTEGRATIONSPOLITIK FÜR DIE MEHRHEITSGESELLSCHAFT
men ergibt sich dadurch ein klares Bild über die größ-   Karl-Rudolf Korte charakterisiert den aktuellen Stand
ten Integrationshürden, die zu beseitigen gilt, wenn     unserer Demokratie hinsichtlich steigender Politikver-
man eine effektive Integrationspolitik für die ganze     drossenheit und wachsendem Populismus, wobei das
Gesellschaft entwickeln möchte. Flankiert wird die       Verhältnis der politischen Mitte als Pfeiler der liberalen
Bestandsaufnahme durch eine quantitative Umfrage         Demokratie und den Parteien im Mittelpunkt steht. In
des forsa-Instituts. Ausgehend von aktuellen Statisti-   diesem Kontext hebt er auch die lokale Ebene, die eine
ken beschreibt Prof. Manfred Güllner detailliert, wie    Schlüssel­rolle bei der Reintegration von Unzufriede-
die Menschen im Ruhrgebiet zu den Parteien stehen,       nen spiele, hervor. Abschließend zeigt Prof. Dr. ­Elmar
ob von einer Entfremdung zu sprechen ist und was die     Wiesendahl Wege auf, wie die Parteien die Mehr-
Wähler sich für die Zukunft erhoffen.                    heitsgesellschaft, die sich aufgrund kultureller und
                                                         sozioökonomischer Gründe von der Politik nicht mehr
Im zweiten Teil wird das komplexe Verhältnis zwischen    repräsentiert sehe, wieder konkret erreichen können.
den Menschen und den Politikern, die häufig als ‚abge-
hoben‘ und ‚bürgerfern‘ wahrgenommen werden, so-         Vor dem Hintergrund der in den Expertenbeiträgen
wie zwischen der Gesellschaft und Populismus durch       dargelegten Problemstellungen, Integrationshürden
Beiträge von renommierten Soziologen und Politikwis-     aber auch Lösungsansätze sollen in den kommen-
senschaftlern dokumentiert. Dr. Simon Franzmann          den Monaten verschiedene Angebote im Ruhrgebiet
analysiert die Möglichkeiten, die politische Bildung     hinsichtlich ihrer (Re-)Integrationswirkung untersucht
bieten kann, um dem steigenden Populismus Einhalt        und evaluiert werden. Gemeinsam mit den Projekt-
zu gebieten. Dabei zeichnet er ein nüchternes und von    partnern sollen somit konkrete Maßnahmen entwi-
gängigen Klischees freies Bild vom Populismus, dem       ckelt werden, die wichtige Schritte auf dem Weg zu
man gerade im Aspekt der gesellschaftlichen Entfrem-     einer erfolgreichen Integrationspolitik für die Mehr-
dung entgegentreten könnte und müsste. Prof. Dr.         heitsgesellschaft darstellen.

                                                                                                                     EINFÜHRUNG
                                                                                INTEGRATIONSPOLITIK FÜR DIE MEHRHEITSGESELLSCHAFT   13
TEILHABE IN EINER
              GESELLSCHAFT DES WANDELS:
              CHANCEN FÜR NRW UND DAS RUHRGEBIET

                                     Dr. Joachim Stamp
                                     Minister für Kinder, Familie, Flüchtlinge
                                     und Integration des Landes
                                     Nordrhein-Westfalen

              Das Ruhrgebiet und die Menschen in der Region haben                Dies geht nicht spurlos an den Menschen vorbei. Sie ha-
              sich immer durch zwei Werte ausgezeichnet: Offenheit               ben Angst, ob im Einzelfall berechtigt, oder nicht. Angst
              und Zusammenhalt. Die Mentalität der Kumpels, das                  vor dem Klimawandel, vor Migration, vor dem Erstarken
              Zusammengehörigkeitsgefühl, die gemeinsame harte                   von Extremisten und Terroristen, vor Kriminalität. Angst
              Arbeit, aber auch die Identitätsstiftung, dass man ge-             auch, vielleicht in der digitalen Welt nicht mehr mitzu-
              meinsam etwas schafft, das hat eine ganze Region ge-               kommen.
              prägt. Dieser Zusammenhalt verbindet auch Menschen
              unterschiedlicher Herkunft. Von den ersten polnischen              Diese Sorgen werden von Populisten durchaus ge-
              Bergleuten im 19. Jahrhundert bis zu den türkischen                schickt genutzt. Ihnen geht es dabei aber nicht um die
              und südeuropäischen Einwanderern in der boomende                   Lösung von konkreten Problemen, sondern sie schüren
              Industrieregion der Wirtschaftswunderzeit – das Ruhr-              Ängste, um von diesen zu profitieren. Sie versuchen,
              gebiet war immer ein Schmelztiegel, in dem die Men-                Teile der Bevölkerung von der politischen Mitte zu ent-
              schen sich durch Leistung beweisen, sich hocharbeiten              fernen und sie gegen „die da oben“ oder „die Etablier-
              konnten und sich durch die gemeinsame Arbeit enge                  ten“ zu mobilisieren. Dabei handeln sie nur vorgeblich
              Gemeinschaften bildeten. Das war und ist ein natürli-              lösungsorientiert; in der Realität geht es ihnen primär
              cher Motor auch für Integration im privaten und gesell-            darum, Stimmung für ihre eigenen Zwecke zu machen.
              schaftlichen Leben.                                                Niemand hat das schonungsloser und entlarvender zu-
                                                                                 gegeben als Alexander Gauland, der die Migrationskrise
              Heute, mitten in einem noch nicht abgeschlossenen                  als Segen für seine Partei bezeichnet hat.
              Strukturwandel und in Anbetracht der zunehmenden
              Digitalisierung, die unser Zusammenleben und unse-                 Wir brauchen neue Ideen, um die vielfältige Gesellschaft
              re Arbeitswelt radikal verändert, stehen wir vor neuen             gegen extremistische Bestrebungen zu stärken – für
              Aufgaben für das Land und die Region. Gerade vor dem               Vernunft statt Populismus. Dabei müssen wir deutlich
              Hintergrund eines großen Zuzugs aus den Kriegs- und                machen, dass Vielfalt keine Bedrohung, sondern auch
              Krisengebieten des Nahen Ostens und Afrikas sowie aus              Chance ist. Die Menschen müssen spüren, dass die al-
              Südosteuropa sind dies große Herausforderungen.                    ten, vertrauten Mechanismen noch greifen und durch

     TEILHABE IN EINER GESELLSCHAFT DES WANDELS:
14   CHANCEN FÜR NRW UND DAS RUHRGEBIET
neue Strukturen ergänzt werden, dass Wandel Heimat           dass jeder durch gute Bildung eine faire Chance hat,
nicht zerstört, sondern Heimat eine neue Zukunft gibt.       seine Möglichkeiten zu entwickeln und auszubauen.
                                                             Das kostet Geld. Denn wer glaubt, beste Bildung gäbe
Wir nehmen die Sorgen der Menschen ernst. Wir wol-           es zum Nulltarif, der irrt.
len, dass sie sich anerkannt und zu Hause fühlen als Teil
einer funktionierenden Gemeinschaft. Wir wollen allen        Als eine der ersten Maßnahmen nach der Regierungs-
Menschen die Chance geben, sich einzubringen, teilzu-        übernahme 2017 haben wir deshalb ein Kita-Rettungs-
haben und mitzuwirken.                                       paket geschnürt, um drohende Kita-Schließungen we-
                                                             gen chronischer Unterfinanzierung zu vermeiden. Eine
Wie wir das tun, möchte ich an den zwei Gruppen erläu-       halbe Milliarde Euro floss als Sofortmaßnahme in die
tern, für die ich als Integrations- und Familienminister     rund 10.000 Kitas Nordrhein-Westfalens. Doch das war
tagtäglich arbeite: Kindern und Jugendlichen sowie           nur ein erster Schritt. Wir wollen gute Personalschlüssel
Menschen mit Einwanderungshintergrund, denen wir             dauerhaft sichern und arbeiten bereits intensiv an einer
Bildungs-, Teilhabe- und Aufstiegschancen ermöglichen        grundlegenden Reform unseres Kindergartengesetzes.
wollen. Wir nennen unser Familien- und Integrationsmi-       Dieses heißt in Nordrhein-Westfalen übrigens „Kinderbil-
nisterium in NRW daher auch kurz das Chancenminis-           dungsgesetz“ – wie ich finde ein sehr passender Name,
terium. Wir wollen neue Chancen schaffen, für jeden          an dem sich Politik immer wieder messen lassen muss.
unabhängig von der Herkunft.
                                                             Der wichtigste Bildungs- und Erziehungsort der Kinder
Die frühkindliche Bildung und Förderung in den ersten        sind jedoch nicht Kitas, das bleiben selbstverständlich
Lebensjahren prägt ein ganzes Leben. Wir wünschen al-        die Familien. Wir müssen deshalb auch die Familien
len Kindern, dass sie ihre ersten Schritte in der Welt be-   dazu befähigen, ihren Kindern Bildungschancen zu er-
hütet und gefördert gehen können. Aber nicht alle Kin-       öffnen, sie zu stärken, zu ermutigen und ihnen Rückhalt
der wachsen mit den gleichen Chancen auf. Wir müssen         zu geben. Schon die damalige schwarz-gelbe Landesre-
deshalb für alle Kinder Chancengerechtigkeit schaffen,       gierung hat 2006 deshalb in Nordrhein-Westfalen damit
damit die Hoffnung auf ein gutes, erfülltes Leben kein       angefangen, Kitas zu sogenannten Familienzentren aus-
Luxus ist, sondern etwas Normales – der Regelfall.           zubauen.

Familiäre Herkunft und Schicksale dürfen dem nicht im        Hier erhalten die Eltern Zugang zu niederschwelligen
Wege stehen. Jedes Kind muss an Bildung teilhaben            Unterstützungs-, Beratungs- und Bildungsangeboten.
und seine Talente und Fähigkeiten frei entfalten können.     Es gibt ein viel zitiertes afrikanisches Sprichwort: „Es
                                                             braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind großzuziehen“.
Wenn Eltern – aus welchen Gründen auch immer – nicht         Um ein solches Dorf, im übertragenen Sinne, handelt es
in der Lage sind, ihren Kindern alle Möglichkeiten zur       sich auch bei den Familienzentren in Nordrhein-Westfa-
Persönlichkeitsentwicklung zu garantieren, dann müs-         len: Sie sind ein Netzwerk rund um unsere Kinder und
sen wir dafür sorgen, das nach Möglichkeit auszuglei-        ihre Familien. Diese Netzwerke sind ganz bewusst an
chen. Wir sind in der Verantwortung, dafür zu sorgen,        die Kindertageseinrichtungen angedockt. Denn Kitas

         „WIR BRAUCHEN NEUE IDEEN, UM DIE VIELFÄLTIGE
     ­GESELLSCHAFT GEGEN EXTREMISTISCHE BESTREBUNGEN
        ZU STÄRKEN – FÜR VERNUNFT STATT POPULISMUS.
       DABEI MÜSSEN WIR DEUTLICH MACHEN, DASS VIELFALT
         KEINE BEDROHUNG, SONDERN AUCH CHANCE IST.“

                                                                                       TEILHABE IN EINER GESELLSCHAFT DES WANDELS:
                                                                                                CHANCEN FÜR NRW UND DAS RUHRGEBIET   15
sind für die Eltern eine gewohnte Umgebung, der sie
              mit einem hohen Vertrauen begegnen. Und sie sind ein
                                                                                         „GELINGEN KANN
              guter Ort, um Eltern erreichen zu können – im Vorbeige-
              hen sozusagen, beim Bringen und Abholen.
                                                                                  ­INTEGRATION NUR DANN,
                                                                                     WENN SIE ALS GESAMT­
              Dieses Konzept ist äußerst erfolgreich: Im kommenden
              Kindergartenjahr haben wir fast 2.650 Familienzentren,             GESELLSCHAFTLICHE AUF­
              in denen rund 3.700 Kindertageseinrichtungen zusam-
              menarbeiten. Bei der frühen Förderung gerade junger                GABE VERSTANDEN WIRD.“
              Familien haben die Familienzentren eine Schlüsselstel-
              lung. Sie sind unverzichtbar, wenn es darum geht, Kin-
              dern bestmögliche Startchancen zu eröffnen, aber auch
              die Erziehungs- und Bildungskompetenz der Eltern zu          Kein anderes Bundesland ist so von Einwanderung
              fördern.                                                     geprägt wie Nordrhein-Westfalen. Über fünf Millio-
                                                                           nen Menschen haben eine Einwanderungsgeschich-
              Mir ist es außerdem ein großes Anliegen, dass alle Kin-      te. Unter ihnen sind ehemalige „Gastarbeiterinnen“
              der, egal welcher sozialen oder regionalen Herkunft,         und „Gastarbeiter“, Aussiedlerinnen und Aussiedler,
              durch das Erlernen der deutschen Sprache die Chan-           EU-Angehörige, Studentinnen und Studenten und wie
              cen in ihrem Leben auch ergreifen können. In Nord-           auch Geflüchtete und Asylsuchende, die erst in den
              rhein-Westfalen ist die Sprachförderung in den Alltag        letzten Jahren zu uns gekommen sind. Wenn die Integ-
              integriert. Allzu oft entscheidet jedoch noch der Zufall –   ration von Zugewanderten gelingt, dann profitiert da-
              auch bedingt durch die zu knapp bemessene Finanzie-          von unsere ganze Gesellschaft. Das zeigt die Geschich-
              rung –, ob ein Kind die passgenaue Sprachförderung           te unseres Landes Nordrhein-Westfalen eindrucksvoll.
              erfährt oder nicht. Wir können uns damit jedoch nicht
              abfinden, dass der Zufall über Bildung und Förderung         Im Dezember 2018 haben wir die landesweite Wertschät-
              entscheidet. Wir wollen den bestmöglichen Übergang           zungs- und Integrationskampagne „#IchDuWirNRW“
              in die Grundschule sicherstellen. Kinder müssen dort         gestartet. Sie zeigt die positiven Integrationsbeispiele
              von Beginn an vollumfänglich dem Unterricht folgen           von Menschen mit Einwanderungsgeschichte. #IchDu-
              können. Das ist der Anspruch, den wir an die frühkind-       WirNRW zeigt, dass Integration gelingt. Unsere Vorbilder
              liche Bildung stellen.                                       sind mit ihren Geschichten Beispiele für die erfolgreiche
                                                                           Einwanderungsgesellschaft. Sie stehen für gemeinsam
              Bildung darf kein Privileg sein, wenn wir wirklich           gelebte Werte und bürgerschaftliches Engagement.
              Chancen für alle schaffen wollen. Daher müssen wir           Wir werben für mehr Menschen mit Einwanderungs-
              Bildung, auch exzellente Bildung, an Orte tragen, an         geschichte im öffentlichen Dienst und für verbesserte
              denen es derzeit für Kinder aus bildungsfernen Famili-       Einbürgerung, die volle Teilhabe an der Gesellschaft mit
              en noch nicht so chancenreich ist. Deswegen gründen          allen Rechten und Pflichten ermöglicht. Wir möchten,
              wir in NRW Talentschulen gerade in eher schwierigeren        dass in Nordrhein-Westfalen jeder – unabhängig von
              Stadtteilen. Sie werden nicht nur besonders ausge-           seiner Herkunft – Chancen auf sozialen Aufstieg hat.
              stattet, sondern arbeiten auch konzeptionell anders.
              Ziel ist eine bessere Vernetzung mit der Stadtgesell-        Unsere Kampagne zeigt Werte, für die es sich lohnt,
              schaft und mit den Unternehmen in der Umgebung,              einzutreten. Denn wir wollen den negativen Bildern
              damit die vielen Talente, die wir auch in diesen Stadt-      und Ressentiments im Boulevard und den sozialen Me-
              teilen haben, so gefördert werden, dass tatsächlich          dien entgegentreten. Ausgehend von „#IchDuWirNRW“
              der Sprung gelingt, auch aus einem bildungsfernen            werden wir deshalb 2019 eine öffentliche Wertedebat-
              Umfeld eine berufliche oder akademische Karriere be-         te einleiten, um grundsätzlich darüber zu diskutieren,
              ginnen zu können.                                            was die Einwanderungsgesellschaft in NRW ausmacht,
                                                                           wer wir sind und welche Werte wir teilen und leben.
              Um Kinder zu motivieren, bedarf es außerdem Vorbil-
              dern, denen sie nacheifern. Das gilt ganz besonders          Die Grundwerte unserer Gesellschaft sind nicht verhan-
              für Kinder und Jugendliche aus Familien mit einem            delbar. Nordrhein-Westfalen ist stolz auf die Errungen-
              Einwanderungshintergrund.                                    schaften dieser offenen Gesellschaft, in der nicht darauf

     TEILHABE IN EINER GESELLSCHAFT DES WANDELS:
16   CHANCEN FÜR NRW UND DAS RUHRGEBIET
geschaut wird, woher man kommt, sondern welche Hal-         schaftliche Vielfalt ist für uns keine Gefahr, sondern ein
tung man hat und wie man sich einbringen möchte. Die        Motor für mehr Fortschritt, Freiheit und Wohlstand.
Vermittlung der Grundwerte unserer Gesellschaft und         Wir brauchen mehr qualifizierte Einwanderung und
der Rechtsordnung ist eine wichtige Säule der Integra-      sollten auch das Potenzial der Migranten, die hier le-
tionspolitik und Aufgabe aller Akteure, die am Integrati-   ben, besser entwickeln und nutzen.
onsprozess mitwirken. Sie muss mit der Einreise begin-
nen und bleibt eine permanente Querschnittsaufgabe.         Wer zum Beispiel bereits in Deutschland lebt und am
                                                            Arbeitsmarkt Fuß fassen konnte, keine Sozialleistun-
Darum arbeiten wir an einer Integrationsstrategie           gen bezieht, die deutsche Sprache spricht und nicht
2030, die diese Querschnittsaufgabe voll berücksich-        straffällig geworden ist, soll die Möglichkeit bekom-
tigt. Gelingen kann Integration nur dann, wenn sie als      men, auch unabhängig vom Ausgang seines Asylver-
gesamtgesellschaftliche Aufgabe verstanden wird.            fahrens in Deutschland zu bleiben. Es ist weder huma-
                                                            nitär vertretbar noch volkswirtschaftlich sinnvoll, gut
Dabei kann auch die Digitalisierung helfen: Der digi-       integrierte Steuerzahler und ihre Familien abzuschie-
tale Wandel revolutioniert die Art und Weise, wie wir       ben. Deswegen wollen wir Asylbewerbern und Gedul-
leben, arbeiten, kommunizieren und uns informieren.         deten den Spurwechsel in den Rechtskreis der qualifi-
Mit nur wenigen Klicks können Ideen, Informationen,         zierten Einwanderung ermöglichen. Aber ebenso klar
Waren und Dienstleistungen weltweit geteilt und aus-        muss sein, dass wir konsequenter handeln müssen,
getauscht werden.                                           wenn Integrationsverweigerer, Gefährder und Krimi-
                                                            nelle zur Gefahr für andere Menschen und für den Zu-
Die Landesregierung hat sich zum Ziel gesetzt, die          sammenhalt in unserer Gesellschaft werden.
Chancen der Digitalisierung gerade auch für die Inte-
gration von Menschen mit Einwanderungsgeschichte            Nicht zuletzt startet NRW eine Einbürgerungskampa-
zu nutzen. Als Teil der landesweiten Digitalisierungs-      gne. Wir wollen verdeutlichen, dass es sich lohnt, sich
strategie sollen digitale Anwendungen künftig die ana-      nicht nur zur Stadt oder dem Land NRW, sondern auch
loge Integrationsarbeit vor Ort ergänzen, um mithilfe       zu Deutschland und seiner Demokratie zu bekennen,
digitaler Angebote noch mehr Menschen mit Einwan-           zu dem Land, das längst Heimat geworden ist. Wir
derungsgeschichte zu erreichen.                             wollen aufzeigen, welche Perspektiven sich durch den
                                                            deutschen Pass eröffnen. Wir werden daher gezielt in-
Als alternde Gesellschaft sind wir darauf angewiesen,       formieren zu Voraussetzungen, Möglichkeiten, Chan-
dass qualifizierte Fachkräfte aus anderen Teilen der        cen und dem Mehrwert einer Einbürgerung.
Welt zu uns kommen. Deutschland muss für Einwan-
derung offen bleiben, wenn wir weiterhin in Wohlstand       Bildung, Sprache, Arbeit und Wertevermittlung – das
leben wollen. Und als offene Gesellschaft sollte es uns     sind und bleiben die Dreh- und Angelpunkte gesell-
egal sein, woher jemand kommt. Entscheidend ist, wo         schaftlicher Teilhabe und gelingender Integration. Wie
er oder sie mit uns zusammen hin will. Größere gesell-      Deutschland die gegenwärtigen Entwicklungen meis-
                                                            tern wird, ist entscheidend für unsere wirtschaftliche
                                                            Stärke, den gesellschaftlichen Zusammenhalt und den
                                                            sozialen Frieden.
„BILDUNG, SPRACHE, ARBEIT
                                                            Was am Anfang versäumt wird, kann später nur sehr
UND WERTEVERMITTLUNG –                                      schwer nachgeholt werden – manches niemals mehr.
                                                            Das gilt für die frühkindliche Bildung genauso wie für
DAS SIND UND BLEIBEN DIE                                    die Integration von Menschen, die zu uns kommen.
DREH- UND ANGELPUNK-                                        Dort wird das Fundament gelegt für erfolgreiche
                                                            Lebenswege und damit für Chancengerechtigkeit,
TE GESELLSCHAFTLICHER                                       Selbstbestimmung und Teilhabe.

TEILHABE UND GELINGENDER                                    Diese Chancen konsequent zu ermöglichen und wei-
                                                            terzuentwickeln ist unser Auftrag – im Ruhrgebiet,
INTEGRATION.“                                               aber auch weit darüber hinaus.

                                                                                       TEILHABE IN EINER GESELLSCHAFT DES WANDELS:
                                                                                                CHANCEN FÜR NRW UND DAS RUHRGEBIET   17
I. PRAXIS –
     AKTEURE VOR ORT.
     PROBLEMLAGEN, HERAUS-
     FORDERUNGEN UND
     ERRUNGENSCHAFTEN.

18
ABGEHÄNGT VON DER
MEHRHEITSGESELLSCHAFT?
Eine Analyse der leitfadengestützten Experteninterviews

                     Lucas Scheel, M.A.
                     Wissenschaftlicher Mitarbeiter der
                     Bonner Akademie für Forschung und Lehre
                     praktischer Politik

1. METHODIK UND FRAGESTELLUNG
Im Zuge des Projekts „Integrationspolitik für die Mehr-        Zivilgesellschaft dabei, Unzufriedenheit und Ängsten
heitsgesellschaft – Bildungs- und Beteiligungsmög-             entgegenzuwirken? Welche Rolle kann politische Bil-
lichkeiten für junge und alte Menschen im Ruhrgebiet“          dung mit dem Blick auf wachsende Desintegrations-
sind im Rahmen der Bestandsaufnahme der ersten                 prozesse spielen?
Projektphase 25 qualitative, leitfadengestützte Ex-
perteninterviews durchgeführt worden. Durch die                Konzeptionell sollten die befragten Experten jeweils
Befragung von Akteuren vor Ort konnte ein breiter              ihre eigene Sichtweise und eigenen lokalen Erfahrun-
Überblick über den Sachstand, die relevanten Struktu-          gen in das Projekt einbringen, um so alle relevanten
ren und Protagonisten im Ruhrgebiet gewonnen und               Themenfelder abzudecken. Das Spektrum der Inter-
ein erstes Verständnis über die Herausforderungen,             viewpartner umfasste dadurch bedingt Wissenschaft-
positiven Errungenschaften, Bedarfe und Probleme               ler, politische Bildner, Medienvertreter, Lokalpolitiker,
einer gesamtgesellschaftlichen Integrationspolitik             Mitarbeiter der Stadtverwaltungen, Kirchenvertreter,
geschaffen werden. Da der Integrationsbegriff des              Gewerkschafter sowie Praktiker aus der Zivilgesell-
Projekts – bezogen auf Teile der Mehrheitsgesell-              schaft vor Ort – immer in besonderem Hinblick auf die
schaft – weiter gefasst und weniger greifbar ist als das       Integration von jungen und alten Menschen. Metho-
klassische Verständnis von Integration, war es not-            disch waren die Interviews so konzipiert, dass die Fra-
wendig, verschiedene gesellschaftliche Facetten aus            genkataloge aus einem allgemeinen Pool an Fragen
unterschiedlichen Perspektiven zu untersuchen, um              auf jeden Experten und seinen Bereich zugeschnitten
ein möglichst umfassendes Bild über die Gründe für             wurden. Die Interviews fanden in einem dreimonati-
fortschreitende Desintegrationstendenzen in der Ge-            gen Zeitraum vom 11. Juli bis zum 9. Oktober 2018 in
sellschaft zu erhalten. Welche Kriterien müssen erfüllt        persönlichen Gesprächen statt. Die für das Projekt
sein, damit auch ein Mitglied der Mehrheitsgesellschaft        ausgewählten Experten kamen aus unterschiedlichen
als in die Gesellschaft integriert gilt? Warum fühlen sich     Städten des Ruhrgebiets, wobei das Hauptaugenmerk
Menschen als ‚abgehängt‘ oder ‚ausgegrenzt‘ und wel-           auf den vier im Projekt fokussierten Städten Duisburg,
che Gruppen sind davon besonders betroffen? Gibt               Essen, Gelsenkirchen und Dortmund lag. Zwar kann
es Unterschiede im Hinblick auf die gesellschaftliche          eine breit angelegte, aber dennoch stichprobenartige,
und politische Teilhabe alter und junger Menschen?             Auswahl von Interviewpartnern keine Repräsentativi-
Welche Rolle spielen gesellschaftliche Akteure aus der         tät garantieren, allerdings kann eine Auswertung der

                                                                                           ABGEHÄNGT VON DER MEHRHEITSGESELLSCHAFT?
                                                                                 EINE ANALYSE DER LEITFADENGESTÜTZTEN EXPERTENINTERVIEWS   19
in den Interviews erkennbaren Tendenzen für das Pro-
              jekt relevante Zielrichtungen und Problemstellungen            „Ich kriege viel mit – dass etwa viele
              aufzeigen. Dies wird in späteren Projektphasen eine            Schüler sagen, die jetzt nicht auf dem
              lösungs- und praxisorientierte Vertiefung sowie Spezi-         Gymnasium sind: „Wir sind sowieso die
              alisierung ermöglichen.
                                                                             Abgehängten. Ich bin Haupt­schüler,
                                                                             aus mir wird nichts…“ (…)
              2. ANALYSE DER PROBLEMFELDER                                   Es sind schon überall Sorgen und
              Die Auswertung der Experteninterviews weist auf                Ängste da. Also bei den Alten – klar –
              verschiedene Problemfelder hin, die eng mit wach-              Thema Gesundheit, Geld, Pflege
              senden Desintegrationstendenzen im Zusammen-                   spielt eine Rolle.“
              hang stehen. Da die Experten aus verschiedensten
                                                                             Michael Zühlke, Bezirksbürgermeister
              Professionen und Praxisbereichen kommen, wurden
                                                                             für u.a. Essen Katernberg
              die auffälligen Trends in Bezug auf bestimmte Felder
              herausgestellt und inhaltlich gebündelt. Aus den Inter-
              views ließen sich fünf Problemfelder extrahieren, die
              aus Sicht der Befragten kausal im Zusammenhang mit          Natürlich können auch die sozial-bedingten Sorgen
              der Abspaltung von Teilen der Mehrheitsgesellschaft         wiederum vielfältige Gründe haben. Häufig lässt es
              im Ruhrgebiet stehen: (A) Über den außerordentlich          sich allerdings auf mangelnde Zukunftsperspektiven
              starken Einfluss der sozialen Situation im Ruhrgebiet       reduzieren, die gerade im Ruhrgebiet aufgrund des
              auf das Verhältnis der Menschen zur Gesellschaft und        Strukturwandels vorherrschend sind. Fehlende Per-
              Politik gab es nahezu Einigkeit, aber auch (B) die Me-      spektiven in Bezug auf Ausbildung und Arbeit haben
              dien als integrationsstiftendes Medium wurden oft           besonders für junge Menschen drastische Auswir-
              thematisiert. Ein weiterer zentraler Punkt aller Inter-     kungen, da viele Jugendliche angesichts der eigenen
              views war zudem (C) die Rolle der Politik, die einerseits   (wahrgenommenen) Hoffnungslosigkeit schnell resig-
              effektiv Lösungen parat stellen kann, aber auch sehr        nieren und sich von gesellschaftlichen und politischen
              häufig als einer der Hauptgründe für die Desintegra-        Prozessen zurückziehen. Bei den älteren Mitmenschen
              tion genannt wurde. Auch das (D) direkte Umfeld und         führen Zukunftsängste häufig zu der Furcht vor sozia-
              die Quartiersentwicklung spielen eine wichtige Rolle,       lem Abstieg und zu dem Gefühl, dass sich die Dinge
              da die Wahrnehmung der Menschen durch die Stadt             zum ‚Schlechten‘ wandeln. Allerdings darf man nicht
              beziehungsweise den Stadtteil geprägt wird. Nicht zu        unterschätzen, dass diese Verlust- und Abstiegsängste
              vernachlässigen ist auch der Aspekt (E) der politischen     durchaus auch bei jungen Menschen genauso wie in
              Bildung, auf dem im Rahmen des Projektes ein beson-         verschiedenen sozialen Schichten auftauchen können
              derer Fokus als mögliches ‚Gegenmittel‘ für aktuelle        – nicht nur Menschen aus sozial schwachen Verhältnis-
              politische Entwicklungen liegt.                             sen laufen Gefahr, ‚abgehängt‘ zu werden.

              A) DIE SOZIALEN PROBLEME
                                                                             „Aber da gibt es natürlich schon gewisse
              Eine Vielzahl der Befragten hat die soziale Situation im       Zukunftsängste von jungen Menschen,
              Ruhrgebiet als den maßgeblichen Grund für die Abspal-
              tung großer Teile der örtlichen Mehrheitsgesellschaft          die sich keine solide Grundlage bauen
              verantwortlich gemacht. Dementsprechend sind an-               und nicht wissen, was sie machen und
              dere Gründe, die die Zielgruppe eventuell selber äu-           wie es weitergehen soll. An dieser Stelle
              ßert, meist nur vorgeschoben; die wahren Beweggrün-
              de liegen aber in den sozialen Problemen. Auch wenn            sind dann auch ­kriminelle Energien vor­
              andere Sorgen und Ängste durchaus begründet und                zufinden, auch das bleibt nicht aus.“
              auch real sein können, so ist zumeist die soziale Situa-       Pater Otto Nosbisch,
              tion ausschlaggebend, ob sich jemand als ‚abgehängt‘           Direktor Salesianer Don Boscos in Essen
              betrachtet beziehungsweise so betrachtet wird.

     ABGEHÄNGT VON DER MEHRHEITSGESELLSCHAFT?
20   EINE ANALYSE DER LEITFADENGESTÜTZTEN EXPERTENINTERVIEWS
für sich selbst und andere einsetzen. Gerade hier deu-
   „Essen ist in einem echten Wandlungs­                   tet sich eine perspektivlose Zukunft in Bezug auf Ar-
   prozess, der sich schon vollzogen hat                   beit und Wohlstand an, die schon früh die Weichen für
   und sich auch zeigen lassen kann.                       die Desintegration stellen kann. Dabei spielen häufig
                                                           unscheinbare Dinge eine entscheidende Rolle für das
   Wir sind von der Montanindustrie zur                    Unzufriedenheitsgefühl der Anwohner: herunterge-
   Dienstleistungsstadt gewachsen.                         kommene Schulen, Straßen im schlechten Zustand,
   Die Gewinner davon sind sicherlich                      triste Straßenzüge etc. Nicht selten machten die In-
                                                           terviewpartner dafür auch politische Versäumnisse
   die B
       ­ ildungsbürger und die Leute, die                  verantwortlich, die dazu geführt haben, dass so eine
   zuverlässig zu Ihrem Job kommen und                     Teilung entstehen konnte und weiterhin so prominent
   durch die Institutionen rennen.“                        sichtbar ist. Insbesondere niedrige Investitionen bei
                                                           gleichzeitiger Bevorzugung der ‚besseren‘ Stadtteile
   Florian van Rheinberg,
                                                           wurden häufig als ein Faktor für das Gefühl der fehlen-
   Politische Jugendbildung Stadt Essen
                                                           den Wertschätzung der – in vielen Fällen jungen – Be-
                                                           wohner durch die Politik genannt.

Viele der sozialen Probleme resultieren immer noch di-
rekt oder indirekt aus dem Strukturwandel, also dem           „In der Schule ist es so, dass man,
kulturellen und wirtschaftlichen Wandel im Ruhrge-
biet. Besonders die Abkehr von der ruhrgebietstypi-           wenn man die Schülerinnen und
schen Arbeit unter Tage hin zu einer am Service und           ­Schüler fragt, ob sie sich in der
an Hochqualifikation orientierten Wirtschaftsstruktur          ­Gesellschaft wertgeschätzt fühlen,
lässt viele Menschen zurück. So bleibt eine Schicht, die
sich nicht uneingeschränkt in den Arbeitsmarkt integ-           in der Regel die Antwort ‚nein‘ erhält.
rieren kann und der somit auch die finanziellen Mittel          Anderen ist es doch egal, ob die Fenster
fehlen, sich am gesellschaftlichen Leben zu beteiligen.         geöffnet werden können oder nicht.
Diese Frustration kann schnell in Resignation und folg-
lich eine weitreichende Abschottung von politischen             Wir sind froh, wenn wir in jeder Klasse
Prozessen umschlagen.                                           zwei Fenster öffnen können, weil es
                                                                keine Griffe mehr gibt. Aber daraus
                                                                lesen die Schülerinnen und Schüler
   „Hier kann doch keiner aus dem
                                                                ab, dass sie nicht wertgeschätzt
   Stadtteil zu einer Kulturveranstaltung
                                                                werden.“
   gehen, wo eine Karte 45€ kostet! Das
                                                              Julia Gajewski, Schulleiterin Gesamtschule
   bedeutet aber, Jugendliche sind von                        Bockmühle in Essen
   jedem Konzert von ihrer Fangruppe
   ausgeschlossen.“
   Dr. Rolf Heinrich, Vorsitzender der Bürger­stiftung        „Und das Klassische, was sich hier
   „Leben in Hassel“ (Gelsenkirchen)
                                                              wie immer abzeichnet: im Essener
                                                              Süden entstehen teure Eigentums­
                                                              wohnungen und teure Neubauten und
Verstärkt wird dieser Faktor durch die häufig sicht-
bare Teilung – die A40 in Essen wird im Volksmund             wir im Essener Norden kriegen die
als ‚Armutsäquator’ bezeichnet – in die wohlhaben-            Sozialwohnungen.“
den Stadtteile und die sozialen Brennpunkte. In den           Sabine Schreck,
Brennpunktquartieren erfahren die Menschen nicht              Politische Jugendbildung Stadt Essen
die Wertschätzung, die dafür nötig wäre, dass sie sich

                                                                                        ABGEHÄNGT VON DER MEHRHEITSGESELLSCHAFT?
                                                                              EINE ANALYSE DER LEITFADENGESTÜTZTEN EXPERTENINTERVIEWS   21
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