MEHRHEITS-GESELLSCHAFT - INTEGRATIONS-POLITIK FÜR DIE - Bildungs- und Beteiligungsmöglichkeiten für junge und alte Menschen im Ruhrgebiet ...
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INTEGRATIONS- POLITIK FÜR DIE MEHRHEITS- GESELLSCHAFT Bildungs- und Beteiligungsmöglichkeiten für junge und alte Menschen im Ruhrgebiet
IMPRESSUM Die Publikation wird herausgegeben im Auftrag des Vereins für Forschung und Lehre praktischer Politik e.V. Umsetzung durch die Bonner Akademie für Forschung und Lehre praktischer Politik (BAPP) GmbH. Bonn, März 2019 Bonner Akademie für Forschung und Lehre praktischer Politik (BAPP) GmbH, Heussallee 18-24, 53113 Bonn Tel.: 0228/73-62990 Fax: 0228/73-62988 e-Mail: bapp@uni-bonn.de www.bapp-bonn.de Facebook: www.facebook.com/bapp.bonn Twitter: www.twitter.com/BonnerAkademie Redaktion Dr. Stefan Brüggemann (V.i.S.d.P.) Sandra Butz Taner Ekici Lucas Scheel Layout und Satz Kreativ Konzept – Agentur für Werbung GmbH Recht Das Werk ist in all seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung der Bonner Akademie für Forschung und Lehre praktischer Politik (BAPP) GmbH unzulässig. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elek- tronische Systeme.
INTEGRATIONSPOLITIK FÜR DIE MEHRHEITSGESELLSCHAFT Bildungs- und Beteiligungsmöglichkeiten für junge und alte Menschen im Ruhrgebiet
INHALT GRUSSWORT VON DR. BORIS BERGER SEITE 07 VORWORT VON PROF. BODO HOMBACH SEITE 08 EINLEITUNG INTEGRATIONSPOLITIK FÜR DIE MEHRHEITSGESELLSCHAFT. SEITE 10 EIN PRAXISORIENTIERTES FORSCHUNGSPROJEKT TEILHABE IN EINER GESELLSCHAFT DES WANDELS: SEITE 14 CHANCEN FÜR NRW UND DAS RUHRGEBIET DR. JOACHIM STAMP I. PRAXIS – AKTEURE VOR ORT. PROBLEMLAGEN, HERAUSFORDERUNGEN UND ERRUNGENSCHAFTEN. ABGEHÄNGT VON DER MEHRHEITSGESELLSCHAFT? SEITE 19 ANALYSE DER LEITFADENGESTÜTZTEN EXPERTENINTERVIEWS LUCAS SCHEEL, M.A. REPRÄSENTATIVE DEMOKRATIE, VERTRAUEN, AKZEPTANZ SEITE 34 UND DIE INTEGRATION DER MEHRHEITSGESELLSCHAFT. URSACHEN – MASSNAHMEN – ZUSAMMENHÄNGE PROF. DR. VOLKER KRONENBERG DIE VOLKSPARTEIEN HABEN DAS VOLK VERGESSEN SEITE 42 ENTFREMDUNG ZWISCHEN BÜRGERN UND POLITIK IM RUHRGEBIET PROF. MANFRED GÜLLNER INHALT 4
II. POPULISMUS, DEMOKRATIE UND GESELLSCHAFT MITTE UNTER DRUCK? HERAUSFORDERUNGEN UND CHANCEN SEITE 55 FÜR DEMOKRATIE, BÜRGER UND PARTEIEN PROF. DR. KARL-RUDOLF KORTE WIE PARTEIEN DEN BÜRGER IN ZEITEN SOZIALER UND SEITE 62 MIGRATIONSPOLITISCHER SPALTUNG WIEDER ERREICHEN KÖNNEN PROF. DR. ELMAR WIESENDAHL POPULISMUS, INTEGRATION UND POLITISCHE BILDUNG SEITE 77 DR. SIMON T. FRANZMANN III. BERICHTE ZU DEN VERANSTALTUNGEN 27. MÄRZ 2018: WAS DIE MENSCHEN „WIRKLICH“ DENKEN – SEITE 86 DEMOKRATIE IN ZEITEN DES POPULISMUS 25. JUNI 2018: RECHTE VOR GERICHT – SEITE 88 EINE BILANZ DES NSU PROZESSES 19. NOVEMBER 2018: TOWNHALL MIT OBERBÜRGERMEISTER SEITE 90 THOMAS KUFEN 29. NOVEMBER 2018: WAS IST HEIMAT? ZUR POLITISCHEN SEITE 92 WIRKUNGSMACHT EINER FAST VERGESSENEN KATEGORIE 07. DEZEMBER 2018: WORKSHOP: INTEGRATIONSPOLITIK SEITE 94 FÜR DIE MEHRHEITSGESELLSCHAFT – AKZEPTANZ, PARTIZIPATION UND BILDUNG 22. MÄRZ 2019: WER HÄLT DAS LAND ZUSAMMEN? SEITE 96 REPRÄSENTATION UND GESELLSCHAFTLICHE TEILHABE VOR NEUEN HERAUSFORDERUNGEN INHALT 5
GRUSSWORT VON DR. BORIS BERGER Auf politischer Seite hat man diese Problematik lange Zeit unterschätzt und betrachtet die aktuelle Entwicklung nun mit Sorge. Die Parteien wechseln zwischen Annäherung und Abwertung der Betroffenen als ‚Ewiggestrige‘, ohne bislang eine versöhnliche und nachhaltige Lösung gefunden prä- Dr. Boris Berger Vorsitzender des Vereins für Forschung sentieren zu können. So manifestiert sich das Fortbestehen und Lehre Praktischer Politik des Misstrauens in der gerade im Ruhrgebiet sinkenden Wählerschaft der Volksparteien, die einst auf nahezu unein- Die Gewinner und Verlierer der letzten Bundes- und Land- geschränkte Loyalität ihrer Wähler hoffen konnten. tagswahlen sind schnell identifiziert: Die sogenannten Volks- parteien haben kontinuierlich an Stimmanteilen verloren, Genau diesem Spannungsfeld widmet sich die Bonner während neben der FDP und den Grünen vor allem die Alter- Akademie in Kooperation mit der Brost-Stiftung mit dem native für Deutschland (AfD) als die großen Gewinner aus den Projekt „Integrationspolitik für die Mehrheitsgesellschaft – Wahlen hervorgegangen sind. Neben dem flächendeckenden Bildungs- und Beteiligungsmöglichkeiten für junge und Erfolg der populistischen Herausforderer ist jedoch beson- alte Menschen im Ruhrgebiet“. Innerhalb des dreijährigen ders besorgniserregend, wie viele Menschen sich dagegen Projekts sollen zunächst die Gründe für die zunehmende entschieden haben, überhaupt an den Wahlen teilzunehmen. Unzufriedenheit und wachsende Entfremdung großer Teile Auf kommunaler Ebene gingen in den letzten Jahren über der Gesellschaft herausgearbeitet werden. Der besonde- 50 Prozent der Menschen nicht wählen, auf Bundesebene re Schwerpunkt des Projekts liegt auf der Begleitung aus- waren es rund 25 Prozent. Doch was sind die genauen Grün- gewählter Projekte, anhand derer konkrete Ansätze und de für diese wachsende Politikverdrossenheit? Ein Blick auf Bildungsangebote zur Re-Integration der ‚Abgehängten‘ aktuelle Debatten offenbart, dass bei vielen Deutschen eine verbessert, weiterentwickelt und entworfen werden. Damit Entfremdung von der Politik, den Medien und so genann- leistet das Projekt nicht nur einen wichtigen Beitrag zur Ana- ten ‚etablierten Parteien’ herrscht. Auch aktuelle Umfragen lyse der kritischen Faktoren, sondern auch zur Entwicklung stützen das fehlende Vertrauen der Menschen in die Politik konkreter Ansätze, die für eine effektive Integrationspolitik und seine Akteure. Immer mehr Menschen fühlen sich ‚abge- für die Mehrheitsgesellschaft notwendig sind. hängt‘, politisch ausgeschlossen und nicht repräsentiert und stellen dies vermehrt – auch medial für alle wahrnehmbar – Die vorliegende Publikation präsentiert eine erste Bestands- zur Schau. Egal ob in Dresden, in Berlin oder im Internet – die aufnahme der Verhältnisse im Ruhrgebiet und beleuchtet Menge der Unzufriedenen scheint stetig zu wachsen. die allgemeine Problematik der wachsenden Politik- und Parteienverdrossenheit aus unterschiedlichen Perspekti- Auch im Ruhrgebiet, einst Wirtschafts- aber auch Integrati- ven. Neben der im Rahmen des Projektes bereits gewonnen onsmotor Deutschlands, lässt sich eine solche Desintegrati- Erkenntnisse freue ich mich deshalb ganz besonders, dass on großer Teile der sogenannten Mehrheitsgesellschaft be- neben unserem Schirmherrn, dem nordrhein-westfälischen obachten. Nirgendwo anders in Westdeutschland konnten Integrationsminister Dr. Joachim Stamp, renommierte Wis- Rechtspopulisten bei den vergangenen Bundestagswahlen senschaftler und Experten Beiträge zu dieser Publikation mehr Stimmanteile gewinnen als in den großen Ruhrgebiets- geleistet haben. Ihre weitreichende Expertise bereichert metropolen. Der Wandel von Bergbau und Montanindustrie das Projekt in großem Maße. hin zu Wissenschaft und Hochtechnologie hatte nicht nur wirtschaftliche Folgen für ‚die Kumpel‘, sondern auch weitrei- chende Konsequenzen für deren Identität. Hinzu kommt, dass die große Zahl von Menschen mit Migrationshintergrund, die das Ruhrgebiet ihr zu Hause nennen, von vielen Bewohnern zunehmend kritisch betrachtet wird. So vermischen sich öko- Dr. Boris Berger nomische Abstiegsängste mit Sorgen um einen Identitätsver- lust zu einer Furcht vor jeglichen weiteren Veränderungen und Vorsitzender des Vereins für Forschung und Lehre all jenen, die diese Veränderungen zu verantworten haben. Praktischer Politik GRUSSWORT 7
VORWORT VON PROF. BODO HOMBACH Prof. Bodo Hombach Präsident der Bonner Akademie „INTEGRATION“ IST EIN SCHLÜSSEL- WORT UNSERER NERVÖSEN ZEIT. Schon immer gab es Epochen großer Unruhe. Unerwar- können Integrationsprobleme zuspitzen oder abfedern. tete Veränderungen konnten sich durch Tempo, Vielfalt Die humanen und universellen Grundsätze der Verfas- und Komplexität zu einem verdüsterten Weltgefühl sung werden unvermittelt beim Wort genommen und bündeln und je nach Spannkraft der Gesellschaft Ver- strapaziert. Man soll zusammenrücken, was die Verlet- lust- und Abstiegsängste erzeugen. zungsgefahr für die persönliche „Hoheitszone“ steigert. Kulturelle Unterschiede erschweren ein kollisionsfreies · Technische Innovationen überfallen mit der Wucht Zusammenleben. Populistische Bewegungen nutzen einer Naturgewalt die vertrauten Verhältnisse. Nach die Unübersichtlichkeit der Verhältnisse, um einfache einer anarchischen und emphatischen Phase werden „Lösungen“ anzubieten, Schuldige zu etikettieren und negative Folgen sichtbar. Die nötige Anpassung des das bestehende System der offenen Gesellschaft zu Regelwerks hinkt hinterher. attackieren. Dabei nutzen Sie Freiheiten und Spielräu- me, die die freie Gesellschaft bietet. Das Ergebnis: Eine · Emanzipationsschübe zerrütten Milieus und ver- zunehmend gespaltene und sich selbst entfremdete schieben die Koordinaten des früheren Wertekanons. Gesellschaft, die ihre Kräfte vergeudet, anstatt sie kon- Sie erlauben, erfordern aber auch, neue und individuel- struktiv zu nutzen. Da ist Integration das Gebot der le Inszenierungen der persönlichen Lebensgestaltung. Stunde. Sie ist vor allem Sache der Zivilgesellschaft. Sie geschieht im Alltag der Leute, in der Nachbarschaft, · Globalisierung beflügelt den Welthandel. Sie am Arbeitsplatz, in der Schule, in Gemeinde, im Verein erzeugt Gewinner und Verlierer. Offene Grenzen erhö- und beim Schwatz an der Marktplatzecke. Sie braucht hen Mobilität. Zeit und Geduld. Sie braucht auf allen Seiten die Be- reitschaft, sich selbst im Gegenüber zu erkennen. Inte- · Menschen setzen sich in Bewegung, auf der Flucht gration ist nicht Preisgabe eigener Identität. Sie ist nie vor kriegerischen Ereignissen, oder weil ihr ange- „Einbahnstraße“. Anpassungsbereitschaft Zuziehender stammtes Siedlungsgebiet sie nicht mehr ernähren darf erwartet werden. Dabei geht es um Argumente und kann. Die Einheimischen stehen plötzlich vor unge- Diskurs, aber auch um non-verbale Kommunikation wohnten Herausforderungen. (Gesten, Mimik, Körperhaltung). Politik und Behörden können verlautbaren oder verordnen. Sie können je- Große Bevölkerungsdichte in Ballungsräumen, demo- doch nur einen Rahmen abstecken und ein günstiges grafische Verschiebungen und politische Bewegungen Klima fördern. Sie können Initiativen der Bürgerebene INTEGRATIONSPOLITIK FÜR DIE MEHRHEITSGESELLSCHAFT 8 VORWORT VON PROF. BODO HOMBACH
wahrnehmen, formal absichern und verstetigen. Dazu braucht es klare Ansagen und Orientierungshilfen. Dazu „POPULISTISCHE braucht es auch wissenschaftliche Begleitung, die den Entscheidungsträgern realitätsnahe Kriterien und Fak- BEWEGUNGEN NUTZEN ten anbietet. DIE UNÜBERSICHTLICHKEIT Die Bonner Akademie für Forschung und Lehre prakti- DER VERHÄLTNISSE, scher Politik (BAPP), gefördert durch die Brost-Stiftung, Essen – wenn sie sich um drängende Probleme des UM EINFACHE „LÖSUNGEN“ Ruhrgebietes kümmert – greift neue und dringliche Themen mit ihren Mitteln und Werkzeugen auf. Syste- ANZUBIETEN, SCHULDIGE matische Erkundungen, Veranstaltungen und Publikati- onen leisten einen Beitrag, die Probleme zu erkennen, ZU ETIKETTIEREN UND sie zu gewichten und sie mit praxisnahen Vorschlägen auszustatten. DAS BESTEHENDE SYSTEM DER OFFENEN GESELLSCHAFT Die vorliegende Publikation ist Auftakt für das Projekt „Integrationspolitik für die Mehrheitsgesellschaft – Bil- ZU ATTACKIEREN.“ dungs- und Beteiligungsmöglichkeiten für junge und alte Menschen am Beispiel des Ruhrgebiets“. Es ist auf drei Jahre ausgelegt und wird die Gründe für die wachsende Unzufriedenheit und Entfremdung brei- ter Gesellschaftsschichten von etablierten politischen und gesellschaftlichen Institutionen untersuchen. Im Ruhrgebiet sind die Abstiegsängste besonders virulent. Der Strukturwandel und ein hoher Anteil muslimischer Migranten schüren Furcht vor weiteren Veränderungen. Das Projekt begnügt sich nicht mit bloßer Diagnose. Es entwickelt – empirisch fundiert – konkrete Ansätze zur Re-Integration der „abgehängten“ Bevölkerungsgrup- pen in das politische und gesellschaftliche Leben. Das geschieht durch Bildungsangebote speziell für junge und alte Menschen. Schirmherr ist dankenswerterwei- se der sehr interessierte und hoch engagiertere Herr Dr. Joachim Stamp, stellvertretender Ministerpräsident und Minister für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integra- tion des Landes NRW. INTEGRATIONSPOLITIK FÜR DIE MEHRHEITSGESELLSCHAFT VORWORT VON PROF. BODO HOMBACH 9
EINFÜHRUNG INTEGRATIONSPOLITIK FÜR DIE MEHRHEITSGESELLSCHAFT Bildungs- und Beteiligungsmöglichkeiten für junge und alte Menschen im Ruhrgebiet Ein Forschungsprojekt der Bonner Akademie in Kooperation mit der Brost-Stiftung unter der Schirmherrschaft von Dr. Joachim Stamp, stellvertretender Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen und Minister für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration. „Egal, ob ich wählen gehe oder nicht – Es wird sich men für sich gewinnen. Gleichzeitig setzte sich der doch sowieso nichts ändern.“ – Diese oder ähnliche Abwärtstrend der etablierten Parteien fort, die im Ver- Aussagen konnte man bei den vergangenen Wahlen gleich zur Wahl von 2013 weiter an Stimmen verloren vielerorts in Deutschland vernehmen. Hinter den Äu- haben. Obwohl die Wahlbeteiligung in NRW höher als ßerungen verbirgt sich eine substanzielle Entfremdung bei vorherigen Wahlen war, entschieden sich immer von der Politik, die zugleich eine grundlegende Unzu- noch knapp 35 Prozent der Stimmberechtigten gegen friedenheit in großen Teilen der Mehrheitsgesellschaft eine Stimmenabgabe. widerspiegelt. Ein großer Teil der Bevölkerung fühlt sich von der Politik nicht repräsentiert und mit ihren Doch wie geht die Gesellschaft mit der großen Grup- Problemen alleine gelassen. Die Politikverdrossenheit pe von Menschen, die sich von der Politik und zum Teil schlägt sich nicht zuletzt in der Abspaltung vieler Men- auch der Mehrheitsgesellschaft entfremdet haben, schen von der Mitte und der damit einhergehenden um? In bundesweiten Debatten ist mittlerweile vom Stärkung der politischen Ränder nieder, die vorgeben, sogenannten ‚Abgehängten‘ die Rede, der sich von der mit dem aktuellen politischen Status quo zu brechen. Politik nicht mehr vertreten sieht und der von gesell- Lange Zeit haben viele Politiker und Entscheidungsträ- schaftlicher Teilhabe größtenteils ausgeschlossen ist. ger den Vertrauensverlust in die Politik und die gene- Im Ruhrgebiet kommen zudem noch die gesellschaft- relle Politikverdrossenheit der Gesellschaft ignoriert lichen und wirtschaftlichen Umwälzungen durch den oder zumindest verdrängt. Nicht zuletzt aufgrund von Strukturwandel zum Tragen, dadurch werden Desin- Ereignissen wie in Chemnitz letzten September steht tegrationsprozesse zusätzlich verschärft. Monokausa- das Problem zwar nun wieder auf allen politischen le Erklärungsansätze für die Abspaltung großer Teile Ebenen auf der Tagesordnung, eine effektive Strategie der Mehrheitsgesellschaft, wie etwa die Modelle des zur Re-Integration des unzufriedenen und desillusio- Arbeitsmarkts- oder des Globalisierungsverlierers, nierten Teils der Bevölkerung in die Gesellschaft wurde gelten mittlerweile jedoch als zu einseitig, da sich die jedoch noch nicht gefunden. steigende Unzufriedenheit und die Abspaltung von der Gesellschaft nicht nur über den sozialen Status erklä- ren lässt. Vielmehr müssen verschiedenste Facetten, DIE PROBLEMLAGE die nicht nur im engeren sondern auch im weitesten Sinne mit der Integration der Gesellschaft zusammen- Gerade im Ruhrgebiet, in dem verschiedenste Prob- hängen, betrachtet werden. lemlagen aufeinandertreffen, zeigen sich diese He- rausforderungen unmittelbar. Nirgendwo in West- Die Gründe für das Gefühl, abgehängt zu sein, sind so deutschland konnte die Alternative für Deutschland vielschichtig wie die Menschen selbst. Und genau die- (AfD) bei der letzten Bundestagswahl so viele Stim- se Unterschiede zwischen den Menschen, die lediglich EINFÜHRUNG 10 INTEGRATIONSPOLITIK FÜR DIE MEHRHEITSGESELLSCHAFT
über das ‚Abgehängtsein‘ gemeinsam charakterisiert DAS PROJEKT werden können – während sie sonstige Charakteris- tika wie politische Einstellung, soziale Herkunft oder In dem auf drei Jahre angelegten Projekt „Integrations Bildungsstand nur in unterschiedlicher Ausprägung politik für die Mehrheitsgesellschaft – Bildungs- und teilen –, erschweren den Erfolg einer gesamtgesell- Beteiligungsmöglichkeiten für junge und alte Men- schaftlichen Integrationspolitik erheblich. Es reicht schen im Ruhrgebiet“ will die Bonner Akademie in nicht aus, den Blick nur auf einen Aspekt der (Re-)In- Kooperation mit der Essener Brost-Stiftung die Le- tegration wie etwa die Integration in das Berufsleben bensrealitäten der Menschen im Ruhrgebiet analysie- zu werfen, wenn die Gründe so vielfältig sein können. ren. Im Kern der Untersuchungen stehen dabei die Zwei Altersgruppen sind besonders von Desintegrati- Ursachen, die dazu geführt haben, dass sich ein gro- onstendenzen betroffen: Junge Menschen sind für die ßer Teil der Mehrheitsgesellschaft von politischen und Thematik empfänglich, da ihre Zukunft im direkten gesellschaftlichen Institutionen vernachlässigt fühlt Zusammenhang mit gesellschaftlichen Aspekten wie und sich letztendlich von ihnen entfernt hat. Im Rah- Chancengleichheit oder beruflicher Perspektive steht. men des Projektes sollen nicht nur das Verständnis für Da die Weichen für eine spätere Bindung an die Gesell- die Sorgen und Ängste dieser Menschen verbessert, schaft schon früh gestellt werden, gilt es dort frühzei- sondern auch praxisnahe Ansätze zur (Re-)Integrati- tig anzusetzen und Präventionsarbeit zu leisten, denn on dieser ‚abgehängten’ Bevölkerungsschicht in das Defizite bei den oben genannten Aspekten wirken politische und gesellschaftliche Leben entwickelt und sich äußerst negativ auf das Vertrauen in politische umgesetzt werden. Prozesse aus. Eine zweite Gruppe, auf die besonderes Augenmerk gelegt werden muss, ist die Gruppe der Besonders wichtig ist dabei der konkrete Praxisbezug, Seniorinnen und Senioren, die häufig mit Anpassungs- da nur durch die fundierte Beobachtung und Analyse problemen aufgrund schnell fortschreitender Ent- von Angeboten vor Ort zielgruppengerechte Ansätze wicklungen und Veränderungen konfrontiert werden. entworfen und mit Leben gefüllt werden können. Auf- Dies hat häufig einen Rückzug in das Private und somit bauend auf einer fundierten Untersuchung der Situa- auch die Aufgabe der sozialen Kontakte zur Folge. Zu- tion im Ruhrgebiet und der Evaluation ausgewählter sätzlich verhärten sich dadurch politische Ansichten Bildungs- und Teilhabeangebote, die gleichzeitig auch und Misstrauen oftmals, weshalb Partizipations- und das im Ruhrgebiet bestehende Angebot in seinen ver- Integrationsangebote schwerer zu den älteren Men- schiedenen Facetten darstellen sollen, können Vor- schen durchdringen können. In beiden Fällen, so lau- schläge entwickelt werden, die in konkrete Projekte tet die Arbeitsthese des Projekts, kann die zielgrup- für junge und alte Menschen einfließen werden. Hier- penorientierte politische Bildung ein wirksames Mittel bei ist es uns wichtig, nicht nur auf unser theoretisches gegen die Desintegration darstellen. Verständnis von Integrationskenntnissen zurückzu- „DA DIE WEICHEN FÜR EINE SPÄTERE BINDUNG AN DIE GESELLSCHAFT SCHON FRÜH GESTELLT WERDEN, GILT ES DORT FRÜHZEITIG ANZUSETZEN UND PRÄVENTIONS ARBEIT ZU LEISTEN, DENN DEFIZITE BEI DEN OBEN GENANNTEN ASPEKTEN WIRKEN SICH ÄUSSERST NEGATIV AUF DAS VERTRAUEN IN POLITISCHE PROZESSE AUS.“ EINFÜHRUNG INTEGRATIONSPOLITIK FÜR DIE MEHRHEITSGESELLSCHAFT 11
greifen, sondern mit den Menschen vor Ort erfah- DIESER BAND rungsorientiertes Wissen zu sammeln und weiterzu- verarbeiten. Der besondere Fokus liegt hierbei auf Gerade entlang der zentralen Fragestellungen des der Fragestellung, welche Angebote benötigt werden, Projekts sind bundesweit hitzige Debatten entstan- um eine intergenerationale und interkulturelle – und den. Auf allen politischen Ebenen wird diskutiert, somit gesamtgesellschaftliche – Integrationspolitik zu warum sich diese Desintegrationstendenzen auf ein- gewährleisten. mal so stark zeigen und wie man mit den betroffenen Menschen umgehen muss. Diesen politischen und Um diesen Zielen gerecht zu werden, ist eine enge Ver- gesellschaftlichen Debatten kann sich das Projekt na- netzung mit Praktikern und Experten aus dem Ruhrge- türlich nicht entziehen, andererseits verpflichtet der biet unabdingbar. Dazu zählen vor allem jene Instituti- praxisorientierte Fokus zur Formulierung und Umset- onen und Personen, die das Leben der Menschen vor zung konkreter Ziele, die in den häufig theoretisch ge- Ort prägen: Parteien, Vereine, Kirchen, Schulen und führten Debatten nicht zum Tragen kommen: Welche Volkshochschulen, politische Bildner, Stadtteilprojek- Rolle spielt der Bedeutungsverlust von traditionellen te – sie alle betreiben auf mehr oder minder indirekte Institutionen? Wurden alltagsnahe und identitätsstif- Weise Integration für die Mehrheitsgesellschaft. Auch tende Institutionen in der jüngeren Vergangenheit kommunale und städtische Akteure, die sich u.a. mit vernachlässigt? Kann politische Bildung den aktuel- der Jugend- und Altenhilfe befassen, sollen miteinge- len antidemokratischen Tendenzen etwas entgegen- bunden werden, da sie oftmals eine wichtige Brücken- setzen? Welche Probleme haben für die Betroffenen funktion zwischen den Anwohnern und den privaten selber die höchste Bedeutung? Bezieht sich der Inte- Initiativen darstellen. Die umfassenden und vielfälti- grationsbegriff im Wesentlichen auf Zugewanderte gen Erfahrungen all dieser Institutionen gilt es für das oder bedarf es einer gesamtgesellschaftlichen Integ- Projekt nutzbar zu machen. Gleichzeitig sind sie auch rationspolitik? diejenigen, an die sich die Ergebnisse dieses Projekts richten, und somit ideale Partner bei der Realisierung Diese Publikation versucht auf diese und weitere Fra- konkreter Initiativen, bei denen sich eine langfristige gen aus der praxisorientierten Perspektive heraus und effektive Umsetzung der erarbeiteten Handlungs- Antworten zu finden. Einleitend stellt Dr. Joachim empfehlungen erwarten lässt. Stamp die Herausforderungen aber auch Chancen für NRW aus Sicht der praktischen Politik dar, wobei er vor allem auf die Notwendigkeit der gesamtgesell- schaftlichen Zusammenarbeit zur Überwindung des Strukturwandels hinweist. Im ersten Teil dieser Publi- kation stehen dann die bisherigen Ergebnisse des Pro- jekts im Mittelpunkt. Zentral ist dabei die Auswertung der Experteninterviews, die die gesamte Komplexität „WELCHE ROLLE SPIELT der steigenden Unzufriedenheit herausstellen. Die im Rahmen des Projekts von Jasmin Sandhaus, Taner DER BEDEUTUNGSVERLUST Ekici und Lucas Scheel durchgeführten qualitativen Experteninterviews gewähren Einblicke in die für die VON TRADITIONELLEN Desintegration der Mehrheitsgesellschaft kritischen Problemfelder – durch die Erfahrungen der befragten INSTITUTIONEN? Praxisexperten können die Gründe für wachsende Entfremdung von Politik und Gesellschaft greifbar dar- WURDEN ALLTAGSNAHE gestellt werden. Projektleiter Prof. Dr. Volker Kronen- UND IDENTITÄTSSTIFTENDE berg untersucht in seinem Beitrag die Ursachen für das fehlende Vertrauen vieler Bürgerinnen und Bürger INSTITUTIONEN IN DER in die repräsentative Demokratie. Dabei stellt er drei konkrete Anknüpfungspunkte zur Überwindung der JÜNGEREN VERGANGENHEIT Vertrauenskrise als praktische Handlungshinweise für die Politik heraus, die auch als Referenzrahmen für die VERNACHLÄSSIGT?“ weitere Projektarbeit genutzt werden können. Zusam- EINFÜHRUNG 12 INTEGRATIONSPOLITIK FÜR DIE MEHRHEITSGESELLSCHAFT
men ergibt sich dadurch ein klares Bild über die größ- Karl-Rudolf Korte charakterisiert den aktuellen Stand ten Integrationshürden, die zu beseitigen gilt, wenn unserer Demokratie hinsichtlich steigender Politikver- man eine effektive Integrationspolitik für die ganze drossenheit und wachsendem Populismus, wobei das Gesellschaft entwickeln möchte. Flankiert wird die Verhältnis der politischen Mitte als Pfeiler der liberalen Bestandsaufnahme durch eine quantitative Umfrage Demokratie und den Parteien im Mittelpunkt steht. In des forsa-Instituts. Ausgehend von aktuellen Statisti- diesem Kontext hebt er auch die lokale Ebene, die eine ken beschreibt Prof. Manfred Güllner detailliert, wie Schlüsselrolle bei der Reintegration von Unzufriede- die Menschen im Ruhrgebiet zu den Parteien stehen, nen spiele, hervor. Abschließend zeigt Prof. Dr. Elmar ob von einer Entfremdung zu sprechen ist und was die Wiesendahl Wege auf, wie die Parteien die Mehr- Wähler sich für die Zukunft erhoffen. heitsgesellschaft, die sich aufgrund kultureller und sozioökonomischer Gründe von der Politik nicht mehr Im zweiten Teil wird das komplexe Verhältnis zwischen repräsentiert sehe, wieder konkret erreichen können. den Menschen und den Politikern, die häufig als ‚abge- hoben‘ und ‚bürgerfern‘ wahrgenommen werden, so- Vor dem Hintergrund der in den Expertenbeiträgen wie zwischen der Gesellschaft und Populismus durch dargelegten Problemstellungen, Integrationshürden Beiträge von renommierten Soziologen und Politikwis- aber auch Lösungsansätze sollen in den kommen- senschaftlern dokumentiert. Dr. Simon Franzmann den Monaten verschiedene Angebote im Ruhrgebiet analysiert die Möglichkeiten, die politische Bildung hinsichtlich ihrer (Re-)Integrationswirkung untersucht bieten kann, um dem steigenden Populismus Einhalt und evaluiert werden. Gemeinsam mit den Projekt- zu gebieten. Dabei zeichnet er ein nüchternes und von partnern sollen somit konkrete Maßnahmen entwi- gängigen Klischees freies Bild vom Populismus, dem ckelt werden, die wichtige Schritte auf dem Weg zu man gerade im Aspekt der gesellschaftlichen Entfrem- einer erfolgreichen Integrationspolitik für die Mehr- dung entgegentreten könnte und müsste. Prof. Dr. heitsgesellschaft darstellen. EINFÜHRUNG INTEGRATIONSPOLITIK FÜR DIE MEHRHEITSGESELLSCHAFT 13
TEILHABE IN EINER GESELLSCHAFT DES WANDELS: CHANCEN FÜR NRW UND DAS RUHRGEBIET Dr. Joachim Stamp Minister für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration des Landes Nordrhein-Westfalen Das Ruhrgebiet und die Menschen in der Region haben Dies geht nicht spurlos an den Menschen vorbei. Sie ha- sich immer durch zwei Werte ausgezeichnet: Offenheit ben Angst, ob im Einzelfall berechtigt, oder nicht. Angst und Zusammenhalt. Die Mentalität der Kumpels, das vor dem Klimawandel, vor Migration, vor dem Erstarken Zusammengehörigkeitsgefühl, die gemeinsame harte von Extremisten und Terroristen, vor Kriminalität. Angst Arbeit, aber auch die Identitätsstiftung, dass man ge- auch, vielleicht in der digitalen Welt nicht mehr mitzu- meinsam etwas schafft, das hat eine ganze Region ge- kommen. prägt. Dieser Zusammenhalt verbindet auch Menschen unterschiedlicher Herkunft. Von den ersten polnischen Diese Sorgen werden von Populisten durchaus ge- Bergleuten im 19. Jahrhundert bis zu den türkischen schickt genutzt. Ihnen geht es dabei aber nicht um die und südeuropäischen Einwanderern in der boomende Lösung von konkreten Problemen, sondern sie schüren Industrieregion der Wirtschaftswunderzeit – das Ruhr- Ängste, um von diesen zu profitieren. Sie versuchen, gebiet war immer ein Schmelztiegel, in dem die Men- Teile der Bevölkerung von der politischen Mitte zu ent- schen sich durch Leistung beweisen, sich hocharbeiten fernen und sie gegen „die da oben“ oder „die Etablier- konnten und sich durch die gemeinsame Arbeit enge ten“ zu mobilisieren. Dabei handeln sie nur vorgeblich Gemeinschaften bildeten. Das war und ist ein natürli- lösungsorientiert; in der Realität geht es ihnen primär cher Motor auch für Integration im privaten und gesell- darum, Stimmung für ihre eigenen Zwecke zu machen. schaftlichen Leben. Niemand hat das schonungsloser und entlarvender zu- gegeben als Alexander Gauland, der die Migrationskrise Heute, mitten in einem noch nicht abgeschlossenen als Segen für seine Partei bezeichnet hat. Strukturwandel und in Anbetracht der zunehmenden Digitalisierung, die unser Zusammenleben und unse- Wir brauchen neue Ideen, um die vielfältige Gesellschaft re Arbeitswelt radikal verändert, stehen wir vor neuen gegen extremistische Bestrebungen zu stärken – für Aufgaben für das Land und die Region. Gerade vor dem Vernunft statt Populismus. Dabei müssen wir deutlich Hintergrund eines großen Zuzugs aus den Kriegs- und machen, dass Vielfalt keine Bedrohung, sondern auch Krisengebieten des Nahen Ostens und Afrikas sowie aus Chance ist. Die Menschen müssen spüren, dass die al- Südosteuropa sind dies große Herausforderungen. ten, vertrauten Mechanismen noch greifen und durch TEILHABE IN EINER GESELLSCHAFT DES WANDELS: 14 CHANCEN FÜR NRW UND DAS RUHRGEBIET
neue Strukturen ergänzt werden, dass Wandel Heimat dass jeder durch gute Bildung eine faire Chance hat, nicht zerstört, sondern Heimat eine neue Zukunft gibt. seine Möglichkeiten zu entwickeln und auszubauen. Das kostet Geld. Denn wer glaubt, beste Bildung gäbe Wir nehmen die Sorgen der Menschen ernst. Wir wol- es zum Nulltarif, der irrt. len, dass sie sich anerkannt und zu Hause fühlen als Teil einer funktionierenden Gemeinschaft. Wir wollen allen Als eine der ersten Maßnahmen nach der Regierungs- Menschen die Chance geben, sich einzubringen, teilzu- übernahme 2017 haben wir deshalb ein Kita-Rettungs- haben und mitzuwirken. paket geschnürt, um drohende Kita-Schließungen we- gen chronischer Unterfinanzierung zu vermeiden. Eine Wie wir das tun, möchte ich an den zwei Gruppen erläu- halbe Milliarde Euro floss als Sofortmaßnahme in die tern, für die ich als Integrations- und Familienminister rund 10.000 Kitas Nordrhein-Westfalens. Doch das war tagtäglich arbeite: Kindern und Jugendlichen sowie nur ein erster Schritt. Wir wollen gute Personalschlüssel Menschen mit Einwanderungshintergrund, denen wir dauerhaft sichern und arbeiten bereits intensiv an einer Bildungs-, Teilhabe- und Aufstiegschancen ermöglichen grundlegenden Reform unseres Kindergartengesetzes. wollen. Wir nennen unser Familien- und Integrationsmi- Dieses heißt in Nordrhein-Westfalen übrigens „Kinderbil- nisterium in NRW daher auch kurz das Chancenminis- dungsgesetz“ – wie ich finde ein sehr passender Name, terium. Wir wollen neue Chancen schaffen, für jeden an dem sich Politik immer wieder messen lassen muss. unabhängig von der Herkunft. Der wichtigste Bildungs- und Erziehungsort der Kinder Die frühkindliche Bildung und Förderung in den ersten sind jedoch nicht Kitas, das bleiben selbstverständlich Lebensjahren prägt ein ganzes Leben. Wir wünschen al- die Familien. Wir müssen deshalb auch die Familien len Kindern, dass sie ihre ersten Schritte in der Welt be- dazu befähigen, ihren Kindern Bildungschancen zu er- hütet und gefördert gehen können. Aber nicht alle Kin- öffnen, sie zu stärken, zu ermutigen und ihnen Rückhalt der wachsen mit den gleichen Chancen auf. Wir müssen zu geben. Schon die damalige schwarz-gelbe Landesre- deshalb für alle Kinder Chancengerechtigkeit schaffen, gierung hat 2006 deshalb in Nordrhein-Westfalen damit damit die Hoffnung auf ein gutes, erfülltes Leben kein angefangen, Kitas zu sogenannten Familienzentren aus- Luxus ist, sondern etwas Normales – der Regelfall. zubauen. Familiäre Herkunft und Schicksale dürfen dem nicht im Hier erhalten die Eltern Zugang zu niederschwelligen Wege stehen. Jedes Kind muss an Bildung teilhaben Unterstützungs-, Beratungs- und Bildungsangeboten. und seine Talente und Fähigkeiten frei entfalten können. Es gibt ein viel zitiertes afrikanisches Sprichwort: „Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind großzuziehen“. Wenn Eltern – aus welchen Gründen auch immer – nicht Um ein solches Dorf, im übertragenen Sinne, handelt es in der Lage sind, ihren Kindern alle Möglichkeiten zur sich auch bei den Familienzentren in Nordrhein-Westfa- Persönlichkeitsentwicklung zu garantieren, dann müs- len: Sie sind ein Netzwerk rund um unsere Kinder und sen wir dafür sorgen, das nach Möglichkeit auszuglei- ihre Familien. Diese Netzwerke sind ganz bewusst an chen. Wir sind in der Verantwortung, dafür zu sorgen, die Kindertageseinrichtungen angedockt. Denn Kitas „WIR BRAUCHEN NEUE IDEEN, UM DIE VIELFÄLTIGE GESELLSCHAFT GEGEN EXTREMISTISCHE BESTREBUNGEN ZU STÄRKEN – FÜR VERNUNFT STATT POPULISMUS. DABEI MÜSSEN WIR DEUTLICH MACHEN, DASS VIELFALT KEINE BEDROHUNG, SONDERN AUCH CHANCE IST.“ TEILHABE IN EINER GESELLSCHAFT DES WANDELS: CHANCEN FÜR NRW UND DAS RUHRGEBIET 15
sind für die Eltern eine gewohnte Umgebung, der sie mit einem hohen Vertrauen begegnen. Und sie sind ein „GELINGEN KANN guter Ort, um Eltern erreichen zu können – im Vorbeige- hen sozusagen, beim Bringen und Abholen. INTEGRATION NUR DANN, WENN SIE ALS GESAMT Dieses Konzept ist äußerst erfolgreich: Im kommenden Kindergartenjahr haben wir fast 2.650 Familienzentren, GESELLSCHAFTLICHE AUF in denen rund 3.700 Kindertageseinrichtungen zusam- menarbeiten. Bei der frühen Förderung gerade junger GABE VERSTANDEN WIRD.“ Familien haben die Familienzentren eine Schlüsselstel- lung. Sie sind unverzichtbar, wenn es darum geht, Kin- dern bestmögliche Startchancen zu eröffnen, aber auch die Erziehungs- und Bildungskompetenz der Eltern zu Kein anderes Bundesland ist so von Einwanderung fördern. geprägt wie Nordrhein-Westfalen. Über fünf Millio- nen Menschen haben eine Einwanderungsgeschich- Mir ist es außerdem ein großes Anliegen, dass alle Kin- te. Unter ihnen sind ehemalige „Gastarbeiterinnen“ der, egal welcher sozialen oder regionalen Herkunft, und „Gastarbeiter“, Aussiedlerinnen und Aussiedler, durch das Erlernen der deutschen Sprache die Chan- EU-Angehörige, Studentinnen und Studenten und wie cen in ihrem Leben auch ergreifen können. In Nord- auch Geflüchtete und Asylsuchende, die erst in den rhein-Westfalen ist die Sprachförderung in den Alltag letzten Jahren zu uns gekommen sind. Wenn die Integ- integriert. Allzu oft entscheidet jedoch noch der Zufall – ration von Zugewanderten gelingt, dann profitiert da- auch bedingt durch die zu knapp bemessene Finanzie- von unsere ganze Gesellschaft. Das zeigt die Geschich- rung –, ob ein Kind die passgenaue Sprachförderung te unseres Landes Nordrhein-Westfalen eindrucksvoll. erfährt oder nicht. Wir können uns damit jedoch nicht abfinden, dass der Zufall über Bildung und Förderung Im Dezember 2018 haben wir die landesweite Wertschät- entscheidet. Wir wollen den bestmöglichen Übergang zungs- und Integrationskampagne „#IchDuWirNRW“ in die Grundschule sicherstellen. Kinder müssen dort gestartet. Sie zeigt die positiven Integrationsbeispiele von Beginn an vollumfänglich dem Unterricht folgen von Menschen mit Einwanderungsgeschichte. #IchDu- können. Das ist der Anspruch, den wir an die frühkind- WirNRW zeigt, dass Integration gelingt. Unsere Vorbilder liche Bildung stellen. sind mit ihren Geschichten Beispiele für die erfolgreiche Einwanderungsgesellschaft. Sie stehen für gemeinsam Bildung darf kein Privileg sein, wenn wir wirklich gelebte Werte und bürgerschaftliches Engagement. Chancen für alle schaffen wollen. Daher müssen wir Wir werben für mehr Menschen mit Einwanderungs- Bildung, auch exzellente Bildung, an Orte tragen, an geschichte im öffentlichen Dienst und für verbesserte denen es derzeit für Kinder aus bildungsfernen Famili- Einbürgerung, die volle Teilhabe an der Gesellschaft mit en noch nicht so chancenreich ist. Deswegen gründen allen Rechten und Pflichten ermöglicht. Wir möchten, wir in NRW Talentschulen gerade in eher schwierigeren dass in Nordrhein-Westfalen jeder – unabhängig von Stadtteilen. Sie werden nicht nur besonders ausge- seiner Herkunft – Chancen auf sozialen Aufstieg hat. stattet, sondern arbeiten auch konzeptionell anders. Ziel ist eine bessere Vernetzung mit der Stadtgesell- Unsere Kampagne zeigt Werte, für die es sich lohnt, schaft und mit den Unternehmen in der Umgebung, einzutreten. Denn wir wollen den negativen Bildern damit die vielen Talente, die wir auch in diesen Stadt- und Ressentiments im Boulevard und den sozialen Me- teilen haben, so gefördert werden, dass tatsächlich dien entgegentreten. Ausgehend von „#IchDuWirNRW“ der Sprung gelingt, auch aus einem bildungsfernen werden wir deshalb 2019 eine öffentliche Wertedebat- Umfeld eine berufliche oder akademische Karriere be- te einleiten, um grundsätzlich darüber zu diskutieren, ginnen zu können. was die Einwanderungsgesellschaft in NRW ausmacht, wer wir sind und welche Werte wir teilen und leben. Um Kinder zu motivieren, bedarf es außerdem Vorbil- dern, denen sie nacheifern. Das gilt ganz besonders Die Grundwerte unserer Gesellschaft sind nicht verhan- für Kinder und Jugendliche aus Familien mit einem delbar. Nordrhein-Westfalen ist stolz auf die Errungen- Einwanderungshintergrund. schaften dieser offenen Gesellschaft, in der nicht darauf TEILHABE IN EINER GESELLSCHAFT DES WANDELS: 16 CHANCEN FÜR NRW UND DAS RUHRGEBIET
geschaut wird, woher man kommt, sondern welche Hal- schaftliche Vielfalt ist für uns keine Gefahr, sondern ein tung man hat und wie man sich einbringen möchte. Die Motor für mehr Fortschritt, Freiheit und Wohlstand. Vermittlung der Grundwerte unserer Gesellschaft und Wir brauchen mehr qualifizierte Einwanderung und der Rechtsordnung ist eine wichtige Säule der Integra- sollten auch das Potenzial der Migranten, die hier le- tionspolitik und Aufgabe aller Akteure, die am Integrati- ben, besser entwickeln und nutzen. onsprozess mitwirken. Sie muss mit der Einreise begin- nen und bleibt eine permanente Querschnittsaufgabe. Wer zum Beispiel bereits in Deutschland lebt und am Arbeitsmarkt Fuß fassen konnte, keine Sozialleistun- Darum arbeiten wir an einer Integrationsstrategie gen bezieht, die deutsche Sprache spricht und nicht 2030, die diese Querschnittsaufgabe voll berücksich- straffällig geworden ist, soll die Möglichkeit bekom- tigt. Gelingen kann Integration nur dann, wenn sie als men, auch unabhängig vom Ausgang seines Asylver- gesamtgesellschaftliche Aufgabe verstanden wird. fahrens in Deutschland zu bleiben. Es ist weder huma- nitär vertretbar noch volkswirtschaftlich sinnvoll, gut Dabei kann auch die Digitalisierung helfen: Der digi- integrierte Steuerzahler und ihre Familien abzuschie- tale Wandel revolutioniert die Art und Weise, wie wir ben. Deswegen wollen wir Asylbewerbern und Gedul- leben, arbeiten, kommunizieren und uns informieren. deten den Spurwechsel in den Rechtskreis der qualifi- Mit nur wenigen Klicks können Ideen, Informationen, zierten Einwanderung ermöglichen. Aber ebenso klar Waren und Dienstleistungen weltweit geteilt und aus- muss sein, dass wir konsequenter handeln müssen, getauscht werden. wenn Integrationsverweigerer, Gefährder und Krimi- nelle zur Gefahr für andere Menschen und für den Zu- Die Landesregierung hat sich zum Ziel gesetzt, die sammenhalt in unserer Gesellschaft werden. Chancen der Digitalisierung gerade auch für die Inte- gration von Menschen mit Einwanderungsgeschichte Nicht zuletzt startet NRW eine Einbürgerungskampa- zu nutzen. Als Teil der landesweiten Digitalisierungs- gne. Wir wollen verdeutlichen, dass es sich lohnt, sich strategie sollen digitale Anwendungen künftig die ana- nicht nur zur Stadt oder dem Land NRW, sondern auch loge Integrationsarbeit vor Ort ergänzen, um mithilfe zu Deutschland und seiner Demokratie zu bekennen, digitaler Angebote noch mehr Menschen mit Einwan- zu dem Land, das längst Heimat geworden ist. Wir derungsgeschichte zu erreichen. wollen aufzeigen, welche Perspektiven sich durch den deutschen Pass eröffnen. Wir werden daher gezielt in- Als alternde Gesellschaft sind wir darauf angewiesen, formieren zu Voraussetzungen, Möglichkeiten, Chan- dass qualifizierte Fachkräfte aus anderen Teilen der cen und dem Mehrwert einer Einbürgerung. Welt zu uns kommen. Deutschland muss für Einwan- derung offen bleiben, wenn wir weiterhin in Wohlstand Bildung, Sprache, Arbeit und Wertevermittlung – das leben wollen. Und als offene Gesellschaft sollte es uns sind und bleiben die Dreh- und Angelpunkte gesell- egal sein, woher jemand kommt. Entscheidend ist, wo schaftlicher Teilhabe und gelingender Integration. Wie er oder sie mit uns zusammen hin will. Größere gesell- Deutschland die gegenwärtigen Entwicklungen meis- tern wird, ist entscheidend für unsere wirtschaftliche Stärke, den gesellschaftlichen Zusammenhalt und den sozialen Frieden. „BILDUNG, SPRACHE, ARBEIT Was am Anfang versäumt wird, kann später nur sehr UND WERTEVERMITTLUNG – schwer nachgeholt werden – manches niemals mehr. Das gilt für die frühkindliche Bildung genauso wie für DAS SIND UND BLEIBEN DIE die Integration von Menschen, die zu uns kommen. DREH- UND ANGELPUNK- Dort wird das Fundament gelegt für erfolgreiche Lebenswege und damit für Chancengerechtigkeit, TE GESELLSCHAFTLICHER Selbstbestimmung und Teilhabe. TEILHABE UND GELINGENDER Diese Chancen konsequent zu ermöglichen und wei- terzuentwickeln ist unser Auftrag – im Ruhrgebiet, INTEGRATION.“ aber auch weit darüber hinaus. TEILHABE IN EINER GESELLSCHAFT DES WANDELS: CHANCEN FÜR NRW UND DAS RUHRGEBIET 17
I. PRAXIS – AKTEURE VOR ORT. PROBLEMLAGEN, HERAUS- FORDERUNGEN UND ERRUNGENSCHAFTEN. 18
ABGEHÄNGT VON DER MEHRHEITSGESELLSCHAFT? Eine Analyse der leitfadengestützten Experteninterviews Lucas Scheel, M.A. Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Bonner Akademie für Forschung und Lehre praktischer Politik 1. METHODIK UND FRAGESTELLUNG Im Zuge des Projekts „Integrationspolitik für die Mehr- Zivilgesellschaft dabei, Unzufriedenheit und Ängsten heitsgesellschaft – Bildungs- und Beteiligungsmög- entgegenzuwirken? Welche Rolle kann politische Bil- lichkeiten für junge und alte Menschen im Ruhrgebiet“ dung mit dem Blick auf wachsende Desintegrations- sind im Rahmen der Bestandsaufnahme der ersten prozesse spielen? Projektphase 25 qualitative, leitfadengestützte Ex- perteninterviews durchgeführt worden. Durch die Konzeptionell sollten die befragten Experten jeweils Befragung von Akteuren vor Ort konnte ein breiter ihre eigene Sichtweise und eigenen lokalen Erfahrun- Überblick über den Sachstand, die relevanten Struktu- gen in das Projekt einbringen, um so alle relevanten ren und Protagonisten im Ruhrgebiet gewonnen und Themenfelder abzudecken. Das Spektrum der Inter- ein erstes Verständnis über die Herausforderungen, viewpartner umfasste dadurch bedingt Wissenschaft- positiven Errungenschaften, Bedarfe und Probleme ler, politische Bildner, Medienvertreter, Lokalpolitiker, einer gesamtgesellschaftlichen Integrationspolitik Mitarbeiter der Stadtverwaltungen, Kirchenvertreter, geschaffen werden. Da der Integrationsbegriff des Gewerkschafter sowie Praktiker aus der Zivilgesell- Projekts – bezogen auf Teile der Mehrheitsgesell- schaft vor Ort – immer in besonderem Hinblick auf die schaft – weiter gefasst und weniger greifbar ist als das Integration von jungen und alten Menschen. Metho- klassische Verständnis von Integration, war es not- disch waren die Interviews so konzipiert, dass die Fra- wendig, verschiedene gesellschaftliche Facetten aus genkataloge aus einem allgemeinen Pool an Fragen unterschiedlichen Perspektiven zu untersuchen, um auf jeden Experten und seinen Bereich zugeschnitten ein möglichst umfassendes Bild über die Gründe für wurden. Die Interviews fanden in einem dreimonati- fortschreitende Desintegrationstendenzen in der Ge- gen Zeitraum vom 11. Juli bis zum 9. Oktober 2018 in sellschaft zu erhalten. Welche Kriterien müssen erfüllt persönlichen Gesprächen statt. Die für das Projekt sein, damit auch ein Mitglied der Mehrheitsgesellschaft ausgewählten Experten kamen aus unterschiedlichen als in die Gesellschaft integriert gilt? Warum fühlen sich Städten des Ruhrgebiets, wobei das Hauptaugenmerk Menschen als ‚abgehängt‘ oder ‚ausgegrenzt‘ und wel- auf den vier im Projekt fokussierten Städten Duisburg, che Gruppen sind davon besonders betroffen? Gibt Essen, Gelsenkirchen und Dortmund lag. Zwar kann es Unterschiede im Hinblick auf die gesellschaftliche eine breit angelegte, aber dennoch stichprobenartige, und politische Teilhabe alter und junger Menschen? Auswahl von Interviewpartnern keine Repräsentativi- Welche Rolle spielen gesellschaftliche Akteure aus der tät garantieren, allerdings kann eine Auswertung der ABGEHÄNGT VON DER MEHRHEITSGESELLSCHAFT? EINE ANALYSE DER LEITFADENGESTÜTZTEN EXPERTENINTERVIEWS 19
in den Interviews erkennbaren Tendenzen für das Pro- jekt relevante Zielrichtungen und Problemstellungen „Ich kriege viel mit – dass etwa viele aufzeigen. Dies wird in späteren Projektphasen eine Schüler sagen, die jetzt nicht auf dem lösungs- und praxisorientierte Vertiefung sowie Spezi- Gymnasium sind: „Wir sind sowieso die alisierung ermöglichen. Abgehängten. Ich bin Hauptschüler, aus mir wird nichts…“ (…) 2. ANALYSE DER PROBLEMFELDER Es sind schon überall Sorgen und Die Auswertung der Experteninterviews weist auf Ängste da. Also bei den Alten – klar – verschiedene Problemfelder hin, die eng mit wach- Thema Gesundheit, Geld, Pflege senden Desintegrationstendenzen im Zusammen- spielt eine Rolle.“ hang stehen. Da die Experten aus verschiedensten Michael Zühlke, Bezirksbürgermeister Professionen und Praxisbereichen kommen, wurden für u.a. Essen Katernberg die auffälligen Trends in Bezug auf bestimmte Felder herausgestellt und inhaltlich gebündelt. Aus den Inter- views ließen sich fünf Problemfelder extrahieren, die aus Sicht der Befragten kausal im Zusammenhang mit Natürlich können auch die sozial-bedingten Sorgen der Abspaltung von Teilen der Mehrheitsgesellschaft wiederum vielfältige Gründe haben. Häufig lässt es im Ruhrgebiet stehen: (A) Über den außerordentlich sich allerdings auf mangelnde Zukunftsperspektiven starken Einfluss der sozialen Situation im Ruhrgebiet reduzieren, die gerade im Ruhrgebiet aufgrund des auf das Verhältnis der Menschen zur Gesellschaft und Strukturwandels vorherrschend sind. Fehlende Per- Politik gab es nahezu Einigkeit, aber auch (B) die Me- spektiven in Bezug auf Ausbildung und Arbeit haben dien als integrationsstiftendes Medium wurden oft besonders für junge Menschen drastische Auswir- thematisiert. Ein weiterer zentraler Punkt aller Inter- kungen, da viele Jugendliche angesichts der eigenen views war zudem (C) die Rolle der Politik, die einerseits (wahrgenommenen) Hoffnungslosigkeit schnell resig- effektiv Lösungen parat stellen kann, aber auch sehr nieren und sich von gesellschaftlichen und politischen häufig als einer der Hauptgründe für die Desintegra- Prozessen zurückziehen. Bei den älteren Mitmenschen tion genannt wurde. Auch das (D) direkte Umfeld und führen Zukunftsängste häufig zu der Furcht vor sozia- die Quartiersentwicklung spielen eine wichtige Rolle, lem Abstieg und zu dem Gefühl, dass sich die Dinge da die Wahrnehmung der Menschen durch die Stadt zum ‚Schlechten‘ wandeln. Allerdings darf man nicht beziehungsweise den Stadtteil geprägt wird. Nicht zu unterschätzen, dass diese Verlust- und Abstiegsängste vernachlässigen ist auch der Aspekt (E) der politischen durchaus auch bei jungen Menschen genauso wie in Bildung, auf dem im Rahmen des Projektes ein beson- verschiedenen sozialen Schichten auftauchen können derer Fokus als mögliches ‚Gegenmittel‘ für aktuelle – nicht nur Menschen aus sozial schwachen Verhältnis- politische Entwicklungen liegt. sen laufen Gefahr, ‚abgehängt‘ zu werden. A) DIE SOZIALEN PROBLEME „Aber da gibt es natürlich schon gewisse Eine Vielzahl der Befragten hat die soziale Situation im Zukunftsängste von jungen Menschen, Ruhrgebiet als den maßgeblichen Grund für die Abspal- tung großer Teile der örtlichen Mehrheitsgesellschaft die sich keine solide Grundlage bauen verantwortlich gemacht. Dementsprechend sind an- und nicht wissen, was sie machen und dere Gründe, die die Zielgruppe eventuell selber äu- wie es weitergehen soll. An dieser Stelle ßert, meist nur vorgeschoben; die wahren Beweggrün- de liegen aber in den sozialen Problemen. Auch wenn sind dann auch kriminelle Energien vor andere Sorgen und Ängste durchaus begründet und zufinden, auch das bleibt nicht aus.“ auch real sein können, so ist zumeist die soziale Situa- Pater Otto Nosbisch, tion ausschlaggebend, ob sich jemand als ‚abgehängt‘ Direktor Salesianer Don Boscos in Essen betrachtet beziehungsweise so betrachtet wird. ABGEHÄNGT VON DER MEHRHEITSGESELLSCHAFT? 20 EINE ANALYSE DER LEITFADENGESTÜTZTEN EXPERTENINTERVIEWS
für sich selbst und andere einsetzen. Gerade hier deu- „Essen ist in einem echten Wandlungs tet sich eine perspektivlose Zukunft in Bezug auf Ar- prozess, der sich schon vollzogen hat beit und Wohlstand an, die schon früh die Weichen für und sich auch zeigen lassen kann. die Desintegration stellen kann. Dabei spielen häufig unscheinbare Dinge eine entscheidende Rolle für das Wir sind von der Montanindustrie zur Unzufriedenheitsgefühl der Anwohner: herunterge- Dienstleistungsstadt gewachsen. kommene Schulen, Straßen im schlechten Zustand, Die Gewinner davon sind sicherlich triste Straßenzüge etc. Nicht selten machten die In- terviewpartner dafür auch politische Versäumnisse die B ildungsbürger und die Leute, die verantwortlich, die dazu geführt haben, dass so eine zuverlässig zu Ihrem Job kommen und Teilung entstehen konnte und weiterhin so prominent durch die Institutionen rennen.“ sichtbar ist. Insbesondere niedrige Investitionen bei gleichzeitiger Bevorzugung der ‚besseren‘ Stadtteile Florian van Rheinberg, wurden häufig als ein Faktor für das Gefühl der fehlen- Politische Jugendbildung Stadt Essen den Wertschätzung der – in vielen Fällen jungen – Be- wohner durch die Politik genannt. Viele der sozialen Probleme resultieren immer noch di- rekt oder indirekt aus dem Strukturwandel, also dem „In der Schule ist es so, dass man, kulturellen und wirtschaftlichen Wandel im Ruhrge- biet. Besonders die Abkehr von der ruhrgebietstypi- wenn man die Schülerinnen und schen Arbeit unter Tage hin zu einer am Service und Schüler fragt, ob sie sich in der an Hochqualifikation orientierten Wirtschaftsstruktur Gesellschaft wertgeschätzt fühlen, lässt viele Menschen zurück. So bleibt eine Schicht, die sich nicht uneingeschränkt in den Arbeitsmarkt integ- in der Regel die Antwort ‚nein‘ erhält. rieren kann und der somit auch die finanziellen Mittel Anderen ist es doch egal, ob die Fenster fehlen, sich am gesellschaftlichen Leben zu beteiligen. geöffnet werden können oder nicht. Diese Frustration kann schnell in Resignation und folg- lich eine weitreichende Abschottung von politischen Wir sind froh, wenn wir in jeder Klasse Prozessen umschlagen. zwei Fenster öffnen können, weil es keine Griffe mehr gibt. Aber daraus lesen die Schülerinnen und Schüler „Hier kann doch keiner aus dem ab, dass sie nicht wertgeschätzt Stadtteil zu einer Kulturveranstaltung werden.“ gehen, wo eine Karte 45€ kostet! Das Julia Gajewski, Schulleiterin Gesamtschule bedeutet aber, Jugendliche sind von Bockmühle in Essen jedem Konzert von ihrer Fangruppe ausgeschlossen.“ Dr. Rolf Heinrich, Vorsitzender der Bürgerstiftung „Und das Klassische, was sich hier „Leben in Hassel“ (Gelsenkirchen) wie immer abzeichnet: im Essener Süden entstehen teure Eigentums wohnungen und teure Neubauten und Verstärkt wird dieser Faktor durch die häufig sicht- bare Teilung – die A40 in Essen wird im Volksmund wir im Essener Norden kriegen die als ‚Armutsäquator’ bezeichnet – in die wohlhaben- Sozialwohnungen.“ den Stadtteile und die sozialen Brennpunkte. In den Sabine Schreck, Brennpunktquartieren erfahren die Menschen nicht Politische Jugendbildung Stadt Essen die Wertschätzung, die dafür nötig wäre, dass sie sich ABGEHÄNGT VON DER MEHRHEITSGESELLSCHAFT? EINE ANALYSE DER LEITFADENGESTÜTZTEN EXPERTENINTERVIEWS 21
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