Genesung auf der Überholspur: Fast-Track-Chirurgie im DRG-Zeitalter

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Genesung auf der Überholspur: Fast-Track-Chirurgie im DRG-Zeitalter
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Genesung auf der Überholspur:
Fast-Track-Chirurgie im DRG-Zeitalter
Sabrina M. Ebinger, Michel Adamina
Kantonsspital St. Gallen, Klinik für Chirurgie

                                                                                 Henrik Kehlet entwickelte unter dem Begriff «Enhanced
                                                                                 Recovery Pathways» (ERP) ein auf fünf Prinzipien be-
Quintessenz
                                                                                 stehendes Konzept der perioperativen Versorgung [1].
   Fast-Track-Chirurgie: Das hat nichts mit McDonald’s & Co zu tun.              Er setzte sich zum Ziel, mittels standardisierter, evidenz-
Auch deshalb bezeichnen wir sie – in Abgrenzung zu den bekannten                 basierter Massnahmen Komplikationen zu vermeiden
Schnellrestaurant-Ketten – vorzugsweise als «Enhanced Recovery Path-             und den Patienten bei einer raschen Rekonvaleszenz zu
ways» (ERP).                                                                     unterstützen. Dabei haben Kehlet et al. das Thema
   Das Kriterium der Geschwindigkeit ist dabei kein Selbstzweck, son-            «Kommunikation» an erster Stelle ihres 5-Säulen-Kon-
dern vielmehr ein Instrument, um dem Patienten zu einer rascheren Re-            zepts platziert (Tab. 1 ). Wohl nicht ohne Grund, wie
konvaleszenz zu verhelfen, und zwar mit einer nachweislich geringeren            der eingangs aufgezeichnete Dialog aus dem klinischen
Rate an peri- und postoperativen Komplikationen.                                 Alltag nahelegt. Wenn Patienten, Angehörige und Spital-
                                                                                 personal nicht wissen, worauf es ankommt – z.B. rasche
   ERP stehen für ein 5-Säulen-Konzept des perioperativen Managements            Mobilisation und Kostaufbau –, können sie auch nicht
und umfassen die ausführliche Information von Patienten und Angehörigen,         aktiv an der (eigenen) Genesung mitarbeiten. Zudem ist
das Erhalten der gastrointestinalen Funktion (z.B. durch raschen Kost-           es wichtig zu vermitteln, dass das Kriterium der Ge-
aufbau), eine adäquate Schmerzkontrolle, das Verhindern von Organdys-            schwindigkeit kein Selbstzweck, sondern vielmehr ein
funktion (z.B. durch Vermeiden von Drainagen und Magensonden), die               Instrument ist, um die Erfolge zu erlangen, die ERP
Patientenautonomie und rasche Mobilisation.                                      nachweislich erbringt: vor allem eine Halbierung der
   ERP halbieren die 30-Tages-Morbidität, verkürzen den Spitalaufenthalt         30-Tages-Morbidität und eine höhere Patientenzufrie-
um durchschnittlich 2,5 Tage und erhöhen insbesondere die Patienten-             denheit [2, 3].
zufriedenheit.                                                                   Gleichwohl geht mit der kürzeren Hospitalisations-
                                                                                 dauer (und natürlich auch mit einer niedrigeren Kom-
    Ein erfreulicher Effekt aus ökonomischer Sicht ist die hohe Kosten-          plikationsrate) der ökonomisch erfreuliche Nebeneffekt
effizienz von ERP.                                                               der Kosteneinsparung einher – und diese ist in der heu-
                                                                                 tigen Zeit nicht zu vernachlässigen:
                                                                                 Die Ausgaben für Gesundheit betrugen im Jahr 2010 in
                                                                                 der Schweiz rund 62,5 Mrd. CHF, das sind 10,9% des
                                                                                 Schweizer Bruttoinlandprodukts oder, anders ausge-
                     Die Tochter von Herrn S. schaut mich aufgebracht an:        drückt, rund sechsmal so viel wie der jährliche Reinge-
                     «Ist das nicht etwas übereilt, meinen Vater vier Tage       winn des weltgrössten Nahrungsmittelkonzerns Nestlé
                     nach der Operation schon zu entlassen? Meine Mutter         [4]. Sie sind seit 1995 stetig angestiegen, im Durch-
                     war nach ihrer Darmoperation 10 Tage im Spital – und        schnitt um 3,8% pro Jahr. Die Gründe hierfür sind viel-
                     sie war damals erst 50. Müssen wir jetzt auch schon so      fältig, als prominent gilt die These von der Alterung der
                     sparen?» Es ist Dienstagnachmittag, 14 Uhr, Chefarzt-       Bevölkerung und der verstärkten Nachfrage nach me-
                     visite. Gerade habe ich auf dem Stationsflur zufrieden      dizinischen Dienstleistungen. Ein optimaler Einsatz der
                     die Rahmendaten präsentiert: «Herr S., 75-jähriger Pa-      Ressourcen ist im Hinblick auf die genannten Zahlen
                     tient, dritter postoperativer Tag nach laparoskopischer     unabdingbar. Die im Rahmen des DRG-Vergütungssys-
                     Hemikolektomie links bei einem T2-Kolonkarzinom,            tems vorgegebenen Fristen für minimale, mittlere und
                     Kostaufbau ist erfolgt, keine Drainagen oder Katheter       maximale Verweildauer können zusätzlich neue An-
                     mehr, Austritt ist für morgen geplant.» Nun hole ich tief   reize zur Ressourcenoptimierung schaffen [5].
                     Luft und erkläre …                                          ERP-Chirurgie hat nachgewiesenermassen in Europa
Sabrina M.                                                                       und speziell auch in der Schweiz eine hohe Kosteneffi-
Ebinger                                                                          zienz [6, 7]. In diesem Artikel konzentrieren wir uns auf
                     Definition der Fast-Track-Chirurgie                         ERP-Konzepte im Rahmen kolorektaler Eingriffe, da
Die Autoren haben                                                                diese ein vergleichsweise grosses Potential für mögliche
keine finanzielle
                     Der Begriff Fast-Track-Chirurgie stammt aus den             Kosteneinsparungen haben. Kolorektale Operationen
Unterstützung und
keine Interessen-    1990ern; geprägt wurde er also, lange bevor die Diagno-     machen zwar nur ca. 10% aller operativen Eingriffe
konflikte im         sis-Related Groups (DRG) als Basis eines neuen Ver-         aus, verursachen aber überdurchschnittlich viele – und
Zusammenhang         gütungssystems in Europa herangezogen und populär           zwar ein Viertel – aller Komplikationen [8, 9]. ERP-Kon-
mit diesem Beitrag
deklariert.
                     wurden (Einführung in Deutschland 2003, in der Schweiz      zepte werden jedoch zunehmend auch in der Herz-
                     2012) [2]. Der dänische Chirurg und Wissenschaftler         Thorax-Chirurgie, in der bariatrischen und hepatobili-

                                                                                              Schweiz Med Forum 2013;13(44):890–895    890
Genesung auf der Überholspur: Fast-Track-Chirurgie im DRG-Zeitalter
CURRICULUM

                                                                                     betreuende Hausarzt – die Ziele und Standards kennen
Tabelle 1
                                                                                     und an einem Strang ziehen müssen.
5-Säulen-Konzept in der Fast-Track-Chirurgie.

1. Patienten-Information
a) Zustellung eines Merkblattes bzgl. ERP an den zuweisenden/                        Was kann ERP-Chirurgie?
   mitbetreuenden Kollegen
b) Schriftliche und mündliche Information des Patienten und seiner Angehörigen       «Enhanced Recovery Pathways» verbessern die Quali-
   über alle Aspekte der perioperativen Behandlung                                   tät und die Effizienz chirurgischer Behandlung. Eine
c) Im Voraus festgelegte und kommunizierte Kriterien zur Entlassungsfähigkeit        aktuelle Metaanalyse, die sechs randomisierte klinische
d) Geplante Nachkontrollen und abgesprochene Kriterien zur Wiederaufnahme            Studien (RCT) aus Europa, inklusive der Schweiz, und
                                                                                     den USA einbezog, konnte das mit eindrücklichen Zah-
2. Erhaltung der gastrointestinalen Funktion
                                                                                     len belegen [2]. Indem alle fünf Schlüsselelemente des
a) Klare Flüssigkeit bis unmittelbar vor Operation/Kohlenhydrat-Lösung bis 2 h
                                                                                     ERP-Konzepts befolgt wurden (Patienteninformation, Er-
   vor Operation erlaubt
                                                                                     halten der gastrointestinalen Funktion, Vermeiden von
b) Pharmakologische Prophylaxe der postoperativen Übelkeit
                                                                                     Organdysfunktion, Schmerzkontrolle und Förderung
c) Grosszügiger Einsatz von Kaugummi und Laxantien                                   der Patientenautonomie), konnte die Morbidität in den
3. Minimierung von Organdysfunktion                                                  ersten 30 Tagen nach Operation halbiert werden (rela-
a) Vermeiden einer präoperativen Darmreinigung                                       tives Risiko [RR] 0,52; 95% CI 0,36–0,73); bei jedem
b) Restriktive Flüssigkeitstherapie, Minimieren eines Flüssigkeits-Overloads         fünften Patienten konnte eine Komplikation vermieden
                                                                                     werden. Zudem liess sich durch das Befolgen der ERP-
c) Vermeiden von prophylaktischen Drainagen und Magensonden
                                                                                     Richtlinien die Hospitali-
d) Laparoskopischer Zugang oder quere Oberbauchlaparotomie
                                                                                     sationsdauer nach kolo- Die Gesundheitsausgaben
4. Aktive Schmerzkontrolle                                                           rektalen Eingriffen um betrugen in der Schweiz im
a) Präventive präoperative Analgesie                                                 beachtliche 2,5 Tage Jahr 2010 rund 62,3 Mrd.
b) Opioid-sparende Anästhesie und Analgesie                                          senken. Die Wahrschein- Franken (10,9% des BIP)
c) Einsatz von thorakaler PDA oder PCA, intravenöse Lokalanästhesie                  lichkeit, dass ERP zu ei- oder monatlich 661 Franken
                                                                                     nem kürzeren Aufenthalt für jede in der Schweiz
d) Infiltration aller Hautinzisionen mit Lokalanästhetika
                                                                                     führte, betrug insgesamt wohnhafte Person; seit 1995
e) Verwendung peripherer Opioid-Antagonisten
                                                                                     99,4%. Zum Vergleich: steigen sie um ca. 3,8% pro
5. Förderung der Patientenautonomie                                                  Daten für Patienten, die Jahr
a) Erhaltung der Schlafgewohnheiten durch liberalen Gebrauch von Sedativa            konventionell behandelt
b) Frühzeitige Mobilisierung ab dem Operationstag                                    wurden, zeigen eine Verweildauer nach elektiver Kolon-
c) Intensive Atemtherapie
                                                                                     segmentresektion von sieben (USA) bis neun Tagen
                                                                                     (Deutschland) [19, 20]. Der kürzere Aufenthalt wurde
d) Vermeiden oder frühzeitiges Entfernen des Blasenkatheters
                                                                                     keinesfalls durch eine erhöhte Wiederaufnahmerate er-
e) Rasches Sistieren der intravenösen Flüssigkeitstherapie zugunsten der enteralen
                                                                                     kauft (RR 0,59; 95% CI 0,14–1,43), im Gegenteil: Die
   Hydrierung und Ernährung
                                                                                     Wahrscheinlichkeit, dass Patienten, die im Rahmen des
                                                                                     ERP-Konzepts behandelt wurden, eine geringere Wieder-
                    ären Chirurgie sowie in Gynäkologie und Orthopädie               aufnahmerate hatten, betrug 90,9%. Ebenso wenig führte
                    erfolgreich angewandt [10–14].                                   die frühere Entlassung dazu, dass Arbeitsaufwand in
                    Trotz der eindrücklichen und evidenzbasierten Erfolge            den ambulanten Bereich verschoben wurde: ERP-Chirur-
                    des ERP-Konzepts werden diese Innovationen in der                gie verursacht keine Mehrbelastung von Angehörigen,
                    Praxis nur langsam umgesetzt. In den USA und Gross-              Hausärzten und Spitex [21].
                    britannien werden weniger als ein Drittel aller Opera-           Die Behandlung im Rahmen von ERP ist keinesfalls nur
                    tionen im Rahmen von ERP durchgeführt [15, 16] – und             für ein selektioniertes Patientenkollektiv geeignet. Auch
                    das Schicksal der Laparoskopie als schonender Opera-             Patienten über 70 Jahre und Patienten mit relevanten
                    tionszugang ist nicht besser. Gemäss einer Studie aus            Vorerkrankungen (ASA-Grad III oder höher) profitieren
                    dem Jahr 2008 wurden von rund 20 000 deutschen Pa-               davon [22–24]. Darüber hinaus hat eine multizentrische
                    tienten mit Kolonkarzinom weniger als 5% laparosko-              RCT aus der Schweiz im Jahr 2009 die Alltagstauglich-
                    pisch operiert [17]. Medizinische Märchen, zum Beispiel          keit dieses Konzepts unter Beweis gestellt [25].
                    jene über den Nutzen von prophylaktischen Magenson-              Kohärent mit Daten in der Literatur [21] konnte eine pro-
                    den und Drainagen, halten sich hartnäckig im klinischen          spektive Untersuchung am Kantonsspital St. Gallen zei-
                    Alltag. Berwick et al. überlegten 2003, wie wissenschaft-        gen, dass ERP im Vergleich zur konventionellen Behand-
                    liche Innovationen besser in die Klinik gebracht werden          lung nach offener Kolektomie den täglichen Pflegeaufwand
                    könnten: «Between the health care we have and the care           um durchschnittlich 83 Minuten senkt. Dies ist insofern
                    we could have lies not just a gap, but a chasm» [18].            ein wichtiger Punkt, als ein häufig zitierter Grund dafür,
                    In diesem Sinn wollen wir im vorliegenden Artikel Neu-           ERP nicht einzuführen, die vermutete Mehrbelastung der
                    erungen im perioperativen Management und Vorteile                Pflege durch die aktive Förderung der Patientenautonomie
                    der ERP-Chirurgie vorstellen. Umso mehr, als ERP ein             ist. In der Tat wird das Gegenteil beobachtet: Die pflege-
                    multidisziplinäres Konzept ist, bei dem alle Beteiligten         rische Mehrarbeit am ersten postoperativen Tag wird
                    – Patient und Angehörige, Chirurg und Anästhesist,               während der Folgetage durch die erlangte Selbständig-
                    Physiotherapeut und Pflegepersonal und natürlich der             keit der Patienten mehr als wettgemacht (Abb. 1 ).

                                                                                                 Schweiz Med Forum 2013;13(44):890–895    891
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                                                           Erhaltung der gastrointestinalen Funktion:
Tabelle 2
                                                           Kaffee und seine Vorteile
Level-1-Evidence für Fast-Track-Chirurgie.
                                                           Die gastrointestinale Funktion sollte perioperativ so weit
– Halbierung der 30-Tages-Morbidität                       als möglich aufrechterhalten werden. Hierzu hat es sich
– Pro 4,5 Patienten 1 Komplikation vermieden               bewährt, Flüssigkeiten (einschliesslich Kaffee oder Tee
– 83 Minuten weniger Pflegezeit pro Tag                    mit Milch) bis zu zwei Stunden vor der Operation und
– 2,5 Tage kürzerer Aufenthalt
                                                           feste Nahrung bis sechs Stunden präoperativ zu erlau-
                                                           ben [28]. Es gibt zudem Hinweise, dass eine am Vor-
– Kein Einfluss auf die Wiederaufnahme
                                                           abend der Operation verabreichte Kohlenhydrat-Lösung
                                                           einer postoperativen Insulinresistenz und einem Kata-
                                                           bolismus entgegenwirkt [29]. Direkt im Anschluss an die
Die niedrigere Rate an Komplikationen, Wiederaufnah-       Operation dürfen Flüssigkeiten unbeschränkt angeboten
men und Hospitalisationstagen führt folgerichtig auch      werden. Eine Cochrane-Metaanalyse zeigte sogar, dass
zur Senkung von Kosten, was mehrere Studien belegen        die enterale Ernährung innerhalb der ersten 24 Stunden
[26]. Eine Untersuchung des Massachusetts General Hos-     zu einer reduzierten Morbidität und schnelleren Er-
pital verglich Patienten, die im Rahmen von ERP ope-       holung führt [30]; jenseits der ersten 24 postoperativen
riert wurden, mit solchen, die konventionell behandelt     Stunden benötigt es keine – wie auch immer geartete –
wurden; die Studie zeigte, dass die durchschnittlichen     Restriktionen bezüglich der Kost [2].
Kosten pro Patient (Wiederaufnahmen eingerechnet) von      Zur Zielsetzung, die gastrointestinale Funktion
9310 auf 7070 US$ sanken, also um ca. 24% [6]. Eine        aufrechtzuerhalten, zählt auch, die Dauer des postope-
Kosten-Nutzen-Analyse am Universitätsspital Lausanne       rativen Ileus (POI) so kurz wie möglich zu halten. Ein
zeigte interessanterweise einen ähnlichen Trend: Bei       POI tritt häufig und in gewissem Ausmass auch physio-
den ersten 50 Patienten, die innerhalb des ERP-Kon-        logisch nach abdominellen, insbesondere kolorektalen
zepts behandelt wurden, konnte die Rate an schweren        Eingriffen auf und ist ein wesentlicher Faktor für Mor-
Komplikationen von 20 auf 12% reduziert werden – bei       bidität und verzögerte Entlassung. US-amerikanische
einer durchschnittlichen Kostenersparnis von 1981          Schätzungen ergaben, dass POI zusätzliche Kosten von
                               Franken pro Patient.        750 Mio. US$ pro Jahr verursachen [31]. Um die Zeit
Auch Patienten >70 Jahre       Auch Einführungs- und       bis zur ersten Stuhlpassage zu verkürzen, hat es sich
und Patienten mit Vorerkran- Schulungskosten waren         unter anderem bewährt, Magensonden und intra-
kungen (≥ ASA III) profitie-   dabei eingeschlossen [7].   venöse Flüssigkeitsüberdosierung zu vermeiden sowie
ren von ERP                    Insgesamt ergibt sich       frühpostoperativ prophylaktisch Laxantien zu verabrei-
                               nach der Oxford-Klassifi-   chen und Kaugummi anzubieten. Vor dem Hintergrund
kation für evidenzbasierte Medizin eine Level-1-Evidenz    der beträchtlichen Auswirkungen, aber wenig potenten
für das ERP-Konzept im Rahmen kolorektaler Eingriffe       Therapiemöglichkeiten führten Müller et al. im Jahr
(Tab. 2 ). Was müssen Kliniken bei der Durchführung        2012 eine RCT mit 80 Patienten durch. Die Forschen-
beachten? Welche anwendungsbezogenen Beispiele             den stellten sich die Frage, ob Kaffeegenuss die Zeit bis
gibt es – und was hat Kaffee mit ERP zu tun?               zur ersten Stuhlpassage
                                                           nach Kolektomien ver-
                                                                                        Kaffeetrinken nach Kolekto-
                                                           kürzen kann. Tatsächlich
                                                                                        mie reduziert die Zeit bis zur
Die 5 Säulen der ERP-Chirurgie                             hatten die Kaffeetrinker
                                                                                        ersten Stuhlpassage um
                                                           bereits nach 60,4 Stun-
                                                                                        mehr als einen halben Tag
Patienteninformation: schon nach vier Tagen                den eine Passage; bei den
nach Hause?                                                Patienten der Kontroll-
Die umfassende Information von Patienten und ihren         gruppe dauerte es 13,6 Stunden länger. Kaffee trinken
Angehörigen ist zentraler Bestandteil des ERP-Konzepts     ist also eine einfache, risikoarme, kosteneffiziente – und
und unerlässlich für das Gelingen, da der Patient die      genussvolle – Massnahme [32].
Ziele verstehen und seinen eigenen Erholungsprozess
aktiv mitgestalten muss [27]. Wenn möglich sollten Pa-     Minimierung von Organdysfunktionen:
tienten sowohl in der hausärztlichen Praxis als auch in    das Märchen von Magensonden und Drainagen
einem prästationären Ambulatorium über die wichtigs-       Seit der Publikation von Halsted et al. im Jahr 1887 galt
ten Massnahmen aufgeklärt und instruiert werden; dazu      es über 100 Jahre lang als Dogma, vor einer elektiven
gehören rascher Kostaufbau und rasche Mobilisation,        Kolon-Operation eine Darmreinigung vorzunehmen
Schmerzkontrolle sowie die geplante Hospitalisations-      [33]. Es wurde postuliert, dass es dadurch zu einer ge-
dauer und Entlassungskriterien. Auch schriftliches In-     ringeren Anzahl von Anastomoseninsuffizienzen und
formationsmaterial in verständlicher Sprache und mit       Wundinfekten käme. Eine Cochrane-Metaanalyse konn-
nachvollziehbaren Beispielen, das ausserdem Kontakt-       te dies mit bemerkenswerten Zahlen widerlegen [33]:
daten und Schemata zur Nachkontrolle enthält, führt        Die präoperative Darmreinigung (DR) hatte weder
dazu, dass sich Patienten wohlbehütet fühlen. Kriterien,   einen Einfluss auf die Rate an Wundinfekten (9,6 vs.
die vor einer Entlassung erfüllt sein müssen, sind drei    8,5% ohne DR, OR 1,16, CI 0,95–1,42) noch auf die Ent-
nacheinander vertragene Mahlzeiten, Wind oder Stuhl-       stehung von Anastomoseninsuffizienzen (3,0 vs. 3,5%
abgang und eine adäquate orale Analgesie (visuelle         ohne DR, OR 0,85, CI 0,58–1,26). Auch die Rate an In-
Analogskala
CURRICULUM

Abbildung 1
Pflegeaufwand im Kontext von ERP.

nicht signifikant erhöht (8,8 vs. 10,3% ohne DR, OR 0,88,     avisiert werden. Lowell et al. stellten fest, dass bei einer
CI 0,55–1,40). Die präoperative DR hat nicht nur keine        Gewichtszunahme von 10% die Mortalität beachtliche
nachweisbaren positiven Effekte, sie kann sogar das Out-      10–20% betrug; bei einer Zunahme um 20% sogar 32%
come verschlechtern, da der präoperative Elektrolyt- und      [35, 37].
Flüssigkeitsverlust intraoperativ ersetzt werden muss und     Eine prophylaktische postoperative Magensonde galt
dadurch ein postoperativer Flüssigkeits-Overload mit ent-     lange Zeit als Standard in der Darmchirurgie. Damit
sprechender Morbidität begünstigt wird [2].                   sollten Aspirationspneumonien verhindert, die Passage
Das perioperative Flüssigkeitsmanagement ist insge-           gefördert und dadurch Anastomoseninsuffizienzen ver-
samt ein schwieriges Unterfangen, und schon die Wort-         mieden werden. Bereits 1995 zeigte eine Metaanalyse,
wahl, die zwischen «Therapie» und «Substitution»              dass alle drei Annahmen falsch sind: Die Rate an Aspi-
schwankt, ist bezeichnend für das Dilemma. Die meis-          rationen und Passagestörungen ist bei Patienten mit
ten Forscher plädieren aktuell für ein «restriktives»         Magensonde sogar höher [38]. Bestätigt wurde dieses
oder «trockenes» Management [3, 27], so wie es auch           Ergebnis durch eine Cochrane-Metaanalyse im Jahr
das ERP-Konzept vorsieht. Dabei ist die Definition völlig     2007 [39]. Trotzdem hielt und hält sich die Magensonde
vage: In einer Metaanalyse von Bundgaard-Nielsen et           im klinischen Alltag. Jottard et al. entschieden sich
al., die sieben RCT umfasste, variierte die intraoperative    2007 dafür, dagegen anzugehen: Sie riefen eine Kampa-
Flüssigkeitsgabe bei den als «restriktiv» bezeichneten        gne ins Leben und gaben ihrer Studie den einpräg-
Fällen zwischen 998 und 2740 ml, die der «liberalen»          samen Titel «Leben und Tod der Magensonde» [40]. Auf
zwischen 2750 und 5388 ml [34]. Klare und einfache,           diese Weise konnten sie an 26 Spitälern in den Nieder-
evidenzbasierte Richtlinien für fixe Volumenschemata          landen die Rate an prophylaktischen Magensonden von
lassen sich nicht formulieren. Chappell et al. summie-        88 auf 7% senken – mit den daraus ableitbaren positi-
ren denn auch, es sei nur halb wahr, dass die restriktive     ven Konsequenzen.
der liberalen Flüssigkeitstherapie überlegen sei [35].        Prophylaktische intraoperative Drainagen haben ver-
Vielmehr gehe es darum, die aktuellen individuellen           meintlich eine Warnfunktion für Blutungen oder Lecka-
Verluste zu ersetzen: einerseits diejenigen Flüssigkeits-     gen. Die Sensitivität hierfür ist jedoch sehr gering [41]
verluste durch die Perspiratio insensibilis (0,5–1 ml/        – und vielleicht ist die hohe Rate an Drainagen, die man
kg/h während grosser abdomineller Eingriffe), anderer-        im klinischen Alltag antrifft, eher im Rahmen des eige-
seits die Plasmaverluste aufgrund von Flüssigkeits-           nen Sicherheitsbedürfnisses zu interpretieren. Mehrfach,
Shifts oder akuter Blutung.                                   unter anderem in einer Metaanalyse von Petrowsky et
Praktikabel und einprägsam sind ausserdem folgende            al., konnte gezeigt werden, dass Drainagen im Rahmen
zwei Punkte: Will man eine Hypotension im Rahmen              von unkomplizierten kolorektalen und hepatobiliären
der Regionalanästhesie therapieren, so sollten Sympa-         Eingriffen keinen Vorteil bringen [42].
thomimetika anstelle von Flüssigkeit bevorzugt werden         Die Laparoskopie gilt als die bevorzugte Operations-
[36]. Des Weiteren sollte perioperativ ein stabiles Gewicht   technik im Rahmen des ERP-Konzepts. Vlug et al. ver-

                                                                           Schweiz Med Forum 2013;13(44):890–895     893
CURRICULUM

öffentlichten eine Studie mit dem bezeichnenden Titel         zung und auch die zwischen aufklärendem Chirurgen,
«Laparoskopie in Kombination mit ERP ist die beste            Anästhesisten und Hausarzt einheitlichen und überein-
perioperative Strategie für Patienten bei kolorektalen        stimmenden Erläuterungen geben dem Patienten Sicher-
Eingriffen» [43]. Sie zeigt, dass Patienten, die mittels      heit und Vertrauen. Ein Merkblatt über spitalspezifische
Laparoskopie (LSK) in Kombination mit ERP behandelt           Eigenheiten des ERP-Konzepts, das dem Hausarzt zu-
wurden, eine signifikant schnellere Erholung aufwiesen        gesandt wird, kann für eine solche übereinstimmende
als Patienten, bei denen andere Strategien angewendet         Kommunikation sorgen.
wurden (offen/ERP, LSK/konventionell, offen/konventio-        «Welche meiner Patienten qualifizieren nun für ERP?»
nell). Ebenso konnte die totale Hospitalisationsdauer um      Diese Frage von Hausärzten ist tatsächlich einfach zu
zwei Tage verkürzt (LSK/ERP vs. offen/ERP: 5 vs.7 Tage)       beantworten: die Mehrzahl. Eine Ausnahme bilden
und die Morbidität signifikant verringert werden.             Menschen, für die eine
                                                              aktive Teilnahme an der Laparoskopie in Kombina-
Aktive Schmerzkontrolle                                       eigenen Genesung auf- tion mit ERP ist die beste
Eine aktive Schmerzkontrolle ist Voraussetzung für alle       grund kognitiver Defizite perioperative Strategie bei
wichtigen Erfolgsparameter des ERP-Konzepts: Er-              nicht möglich ist. Ältere kolorektaler Chirurgie
holung, Mobilisation, Vermeiden eines postoperativen          und/oder polymorbide
Ileus – um nur drei zu nennen. Die zur Verfügung ste-         Patienten profitieren hingegen sogar besonders [7].
henden Optionen sind vielfältig: thorakale Epiduralka-        Durch ERP wird beispielsweise auch der oft beobachtete
theter, patientenkontrollierte Analgesie, Lokalanästhesie,    Verlust von Selbständigkeit nach einem langen Spitalauf-
totale intravenöse Anästhesie etc. [44]. Es ist prinzipiell   enthalt (im Sinne einer Dekonditionierung) minimiert.
sinnvoll, verschiedene Therapiemodalitäten zu kombi-          Die Nachbetreuung erfolgt nach den gleichen Prinzipien
nieren, um durch die unterschiedlichen Angriffspunkte         der maximalen Patientenautonomie. Auch hier ist
einerseits einen potenzierenden Effekt zu erreichen und       eine dynamische Kommunikation zwischen Spital- und
andererseits mögliche Nebenwirkungen zu minimieren            Hausarzt der Schlüssel zum Erfolg. Jeder Patient und
[45, 46]. In aktuellen klinischen Studien ist der Trans-      dessen Umfeld sind unterschiedlich – der Hausarzt
versus-abdominis-Block mittels Lokalanästhesie auf dem        weiss darüber naturgemäss viel mehr als der betreu-
Vormarsch. Randomisierte Studien zeigten, dass dieser         ende Chirurg.
der patientenkontrollierten Analgesie im Rahmen offener       Insgesamt, sei es durch Selbst- oder Hausarztzuweisung,
abdomineller Chirurgie überlegen ist [47].                    werden bis zu 10% aller Patienten nach kolorektaler
                                                              Operation wieder im Spital aufgenommen. Ob die Patien-
Förderung der Patientenautonomie                              ten konventionell oder im Rahmen von ERP behandelt
In die Praxis übersetzt bedeutet «Patientenautonomie»,        wurden, spielt diesbezüglich und auch hinsichtlich des
dass die Patienten ab dem ersten postoperativen Tag           Schweregrads der Komplikation und des Behandlungs-
mindestens sechs Stunden in einem Stuhl sitzen und            ergebnisses keine Rolle [7]. Wichtig ist, dass eine
fünfmal täglich auf dem Stationsgang spazieren gehen.         etwaige Rehospitalisation unkompliziert, ohne büro-
Ebenso wichtig ist konsequentes Atemtraining. Ein Bla-        kratische Hürden und mit sofortiger effizienter Behand-
senkatheter sollte am ersten postoperativen Tag ent-          lungseinleitung stattfindet. Solche Rehospitalisierungen
fernt werden. Dies fördert einerseits – wie auch das frühe    dürfen dann nicht als Misserfolg von ERP fehlinterpre-
Sistieren der intravenösen Flüssigkeitstherapie – die Mo-     tiert werden. Auch darüber sollten Patienten im Vorfeld
bilisation, andererseits werden häufige Komplikationen        der Operation ausführlich aufgeklärt werden – sowohl
vermieden. Ein Blasenkatheter kann auch trotz einer           konventionell behandelte als auch Patienten, die im
eventuell einliegenden thorakalen PDA am ersten post-         Rahmen eines ERP-Konzepts behandelt werden.
operativen Tag gezogen werden. Das führt keinesfalls –
                               wie oft befürchtet – zu
Bei einer perioperativen       einer höheren Rate an          Ausblick
Gewichtszunahme über 10% Harnverhalten und Re-
des Körpergewichts beträgt katheterisierungen [48].           Seit Einführung der Swiss-DRG am 1. Januar 2012 sind
die Mortalität 10–20%          Sehr wohl führt eine der       zusätzliche Anreize für die Implementierung von ERP
                               PDF-Dauer angepasste           geschaffen worden. Die mittlere Verweildauer, das heisst
Blasenkatheter-Dauer jedoch zu einer signifikant erhöh-       die Anzahl von Tagen, die ein Patient mit einer be-
ten Rate an Harnwegsinfekten, nämlich 14 vs. 2% [49].         stimmten Krankheit/Operation (einschliesslich etwaiger
                                                              Komplikationen) im Spital bleiben darf, damit ein aus-
                                                              geglichenes Kostenverhältnis entsteht, beträgt bei einer
Die Rolle des Hausarztes                                      offenen Sigmaresektion beispielsweise 10,3 Tage. Hier
                                                              schafft das neue System Anreize, ERP – zum Wohl des
Selbst der bestmögliche Behandlungspfad wird sein             Patienten – zu verwirklichen, die es im Zeitalter der
volles Potential nicht erreichen, wenn eine optimale          Tagespauschalen noch nicht gab. Denn damals wurde
Kommunikation zwischen Haus- und Spitalärzten nicht           an jedem zusätzlichen Spitaltag mehr Geld verdient,
gewährleistet ist und Kontinuität und Konformität der         und somit wurden die hohen Auslagen der Operation
Konzepte fehlen. So sollte bereits der zuweisende Haus-       mehr und mehr ausgeglichen. ERP-Chirurgie spart Kos-
arzt dem Patienten und seinen Angehörigen die Grund-          ten, aber viel wichtiger noch, sie erspart den Patienten
abläufe von ERP erklären. Die hausärztliche Unterstüt-        Komplikationen und erhöht ihre Zufriedenheit.

                                                                          Schweiz Med Forum 2013;13(44):890–895   894
CURRICULUM

Wie alle Veränderungen bedarf allerdings auch die Ein-                  Korrespondenz:
führung eines innovativen medizinischen Konzepts eines                  PD Dr. med. Michel Adamina
langen Atems. Es braucht ausgezeichnete Kommunika-                      Kantonsspital St. Gallen
                                                                        Rorschacherstrasse 95
tions- und Motivationskünste seitens des ärztlichen Per-
                                                                        CH-9007 St. Gallen
                              sonals – sowohl gegen-                    michel.adamina[at]kssg.ch
Patienten sollen mindestens über den Patienten als
fünfmal täglich auf dem       auch im interdisziplinä-
Stationsgang spazieren        ren   Team und unter                      Empfohlene Literatur
                              besonderer Berücksichti-                  – Adamina M, Gie O, Demartines N, Ris F. Contemporary perioperative
gung der zentralen Rolle des Hausarztes. Nur so kann                      care strategies. Br J Surg. 2013;100(1):38–54.
                                                                        – Kehlet H. Fast-track colorectal surgery. Lancet. 2008;371(9615):791–3.
sich die ERP-Chirurgie in der Schweiz ausbreiten.                       – Muller S, Zalunardo MP, Hubner M, Clavien PA, Demartines N. A fast-
Wir hoffen, dass dieser Artikel einen Beitrag leisten                     track program reduces complications and length of hospital stay after
kann, um die Wahrnehmung und die Unterstützung für                        open colonic surgery. Gastroenterology. 2009;136(3):842–7.
                                                                        – Vlug MS, Wind J, Hollmann MW, Ubbink DT, Cense HA, Engel AF, et
all diese kleinen Veränderungen im klinischen Alltag zu                   al. Laparoscopy in combination with fast track multimodal manage-
stärken, die gebündelt einen bedeutenden Unterschied                      ment is the best perioperative strategy in patients undergoing colonic
zugunsten der Patienten ausmachen können. Und wenn                        surgery: a randomized clinical trial (LAFA-study). Ann Surg. 2011;
                                                                          254(6):868–75.
wir unsere Patienten motivieren können, in die Cafeteria
zu spazieren (Mobilisation), um einen Kaffee zu trinken                 Die vollständige Literaturliste finden Sie unter www.medicalforum.ch.
(Verkürzung des POI), so sind schon zwei Elemente des
ERP verwirklicht.

Danksagung
Die Autoren danken Thomas Clerici, Andreas Lüthi und Maggie Khan
für die Bereitstellung der Daten zur Pflegezeit im Kontext von ERP am
KSSG.

                                                                                       Schweiz Med Forum 2013;13(44):890–895              895
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