Gesucht wird: eine Sprache für Fertigungsanweisungen

Die Seite wird erstellt Christopher Bär
 
WEITER LESEN
Gesucht wird: eine Sprache für Fertigungsanweisungen
Round-Table-Gespräch zu Industrie 4.0: Wettbewerbsfähig produzieren

Gesucht wird: eine Sprache
für Fertigungsanweisungen
Industrie 4.0 – selten gibt es Schlagwörter, die so viel Aufmerksamkeit auf
sich ziehen. Zu Recht, denn es geht um die Produktionstechnik von morgen.
Im Round-Table-Gespräch der elektro AUTOMATION wurde klar, dass Industrie
4.0 von der Allgegenwärtigkeit der Informationen lebt sowie dem Schulter-
schluss von IT- und Automatisierungstechnik. Eine der Herausforderungen
ist es, eine gemeinsame Sprache für Fertigungsanweisungen zu entwickeln,
auf deren Basis Produktionsanlagen flexibel einsetzbar sind – bis hinab zur
Losgröße Eins. Klar ist auch, dass Industrie 4.0 Ländergrenzen überwinden
muss – und dass noch einige Jahre an Entwicklungsarbeit vor uns liegen.

                                                                              Bilder: elektro AUTOMATION/Balluff (Logistik)
Gesucht wird: eine Sprache für Fertigungsanweisungen
ROUND TABLE                                                                                                            TRENDS
                                                                   INTEGRATED MANUFACTURING / INDUSTRIE 4.0

elektro AUTOMATION: Die Komplexität von Produkten und
Fertigungsverfahren beziehungsweise -abläufen nimmt
zu, gleichzeitig sollen kundenindividuelle Wünsche bis hi-
nab zur Losgröße Eins realisierbar sein. Damit ist zu er-
warten, dass Steuerungsarchitekturen, die an zentraler
Stelle Prozesse verwalten, in Schwierigkeiten kommen –
Industrie 4.0 will hier Abhilfe schaffen. Zieht man eine
Analogie zu einer großen Stadt mit ihren Bewohnern
und der Infrastruktur, spielt die Intelligenz der Bewoh-
ner eine entscheidende Rolle. Liegt die Lösung für die
Industrie also darin, Produkte ‚intelligent‘ zu machen?

Zühlke (DFKI): Ja – auch wenn ich nicht von intelligen-
ten Produkten reden würde, smarte Produkte trifft es
besser. Die Probleme mit einer zentralen Steuerung las-
sen sich leichter lösen, wenn es gelingt, mehr Auto-
nomie in den unteren Steuerungsebenen zu erreichen.
Der Vorteil ist, dass dann nicht mehr alle Abläufe in der
zentralen Steuerung vorgedacht werden müssen. Bei
unerwarteten Ereignissen kann also bereits auf den da-
runter liegenden Ebenen entschieden werden, wie am           Was bringt dem Anwender die Industrie 4.0? Zur Diskussion rund um diese Frage
besten darauf zu reagieren ist.                              nahmen Gerd Hoppe, Roland Bent und Hondo Santos (auf der linken Seite) sowie
                                                             Prof. Detlef Zühlke, Markus Sandhöfner und Jürgen Gutekunst (auf der rechten) die
Santos (Balluff): Das eröffnet uns zudem den Schritt         Einladung der Redaktion der elektro AUTOMATION zum Round-Table-Gespräch an.
weg von einzelnen Wertschöpfungsketten hin zu Wert-
schöpfungsnetzwerken. Das bietet ein enormes Poten-
zial – insbesondere in der Logistik.                         über eine ausreichende Teilintelligenz verfügen, um sich
                                                             sinnvoll miteinander zu vernetzen – und entsprechend
Bent (Phoenix Contact): Um Komplexität zu beherr-            den Bedürfnissen konfigurieren.
schen, muss diese heruntergebrochen werden – auto-
nome Teilsysteme, die für sich selbst Entscheidungen         Sandhöfner (B&R): Diese Vernetzung zu ermöglichen,
treffen können und mit ihrer Umgebung interagieren,          ist die große Herausforderung bei der Umsetzung von
sind dabei ein wesentliches Element. Damit lässt sich        Industrie 4.0. Verdeutlichen lässt sich das am Beispiel
der Vergleich sogar noch weiter ziehen: In der Stadt be-     der Navigation im Straßenverkehr: Moderne Systeme
wegen sich nicht nur ‚intelligente‘ Menschen, auch die       werden künftig über die Erfassung der Mobilfunksig-
Infrastruktur ist ‚intelligent‘ – beispielsweise Verkehrs-   nale der Verkehrsteilnehmer – und damit Positions- und
oder Energieversorgungssysteme, die mit den Men-             Geschwindigkeitsdaten – die adaptive Ermittlung der
schen interagieren. Übertragen auf Industrie 4.0 führt       besten Route ermöglichen. In der Automatisierung ar-
dies zu einem intelligenten Produktionsumfeld, in dem        beiten wir bereits an Vergleichbarem, wozu die beteilig-
Betriebsmittel sowie Logistik- und Geschäftsprozesse         ten Systeme miteinander kommunizieren müssen – mit
                                                             dem Ziel, es dem Anwender so einfach wie möglich zu
                                                             machen, seine Produktion zu steuern.

                                                             Hoppe (Beckhoff Automation): Die Analogie zur
 DIE TEILNEHMER DES                                          Stadt erlaubt allerdings auch andere Interpretationen. In
 ROUND-TABLE-GESPRÄCHS                                       ihr bewegen sich natürlich viele Individuen – aber ohne
                                                             ein Mindestmaß an vorheriger Planung und Bereitstel-
      · Roland Bent, Geschäftsführer Marketing               lung der Infrastruktur führt das nur zu den bekannten
        und Entwicklung,                                     Problemen der Megacities. Etwa dazu, dass sie im Ver-
        Phoenix Contact GmbH & Co. KG                        kehr ertrinken; hier funktionieren selbstregelnde Prozes-
      · Jürgen Gutekunst, Geschäftsbereichsleiter            se nicht gut und die Freiheit des Einzelnen besteht dann
        Networking/Systeme, Balluff GmbH                     darin, mit dem existierenden Missstand so gut es geht
                                                             zurechtzukommen. Gleichwohl ist in diesem Fall ein Na-
      · Gerd Hoppe, Corporate Management,
                                                             vigationssystem ein klassisches Beispiel dafür, dem An-
        Beckhoff Automation GmbH
                                                             wender softwaregestützt situativ die beste Lösung an-           Intralogistik als
      · Markus Sandhöfner, Geschäftsleitung,
                                                             zubieten – in Teilansätzen sind solche Ansätze auch             Trendsetter
        B&R Industrie-Elektronik GmbH
                                                             schon in Produktionsanlagen verwirklicht.                       (Bild links):
      · Hondo Santos, Director Logistics,                                                                                    Mit dem Internet der
        Balluff GmbH
                                                             elektro AUTOMATION: Vorauszusetzen ist natürlich in je-         Dinge und selbst-
      · Prof. Detlef Zühlke, Forschungsbereich               dem Fall eine Produktionsanlage, mit der sich die ge-           regelnden Systemen
        Innovative Fabriksysteme,                            stellte Aufgabe auch lösen lässt – hinsichtlich des Ver-        wurden hier einige Ide-
        Deutsches Forschungszentrum für                      kehrs ist das ja typischerweise in einer Megacity nicht         en schon aufgegriffen,
        Künstliche Intelligenz (DFKI)                        gegeben. Wenn es zudem Umsetzungen in Teilen                    bevor es den Begriff
                                                             schon gibt, was bringt uns Industrie 4.0 an Neuem?              Industrie 4.0 gab.

                                                                                                    elektro AUTOMATION 12/2013                   21
Gesucht wird: eine Sprache für Fertigungsanweisungen
TRENDS                                                                                                               ROUND TABLE
     INTEGRATED MANUFACTURING / INDUSTRIE 4.0

                         Hoppe (Beckhoff Automation): Industrie 4.0 be-               Bent (Phoenix Contact): Man wird darüber hinaus auch
                         schreibt keine revolutionäre, ganz andere Art der Pro-       den Begriff des ‚intelligenten‘ Produktes genereller fas-
                         duktionstechnik – sondern das Grundwesen dieses An-          sen müssen: Eine wesentliche Zäsur wird sein, dass das
                         satzes besteht in der Allgegenwärtigkeit von Informa-        Produkt künftig über seinen gesamten Lebenszyklus Teil
                         tionen. In klassischen Systemen wird ja in strikten Pro-     der Prozesse des Gesamtsystems wird. Schon mit seiner
                         duktionshierarchien von oben nach unten geplant und          digitalen Entwicklung im CAD-System werden bereits
                         ausgeführt. Fehlende Informationen aus den untersten         Daten erzeugt, die sich dazu verwenden lassen, die ent-
                         Produktionsebenen bringen darin das übergeordnete            sprechenden Produktionsmittel zu entwickeln, zu simu-
                         Planungssystem in Schwierigkeiten. Die Anwendung             lieren und zu testen. Auf diese Weise wird parallel zur
                         der Smart-Technologien – und damit der Informations-         physischen Welt die Datenwelt immer weiter ausgebaut.
                         austausch zwischen den beteiligten Systemen – soll es        Ein komplexeres Produkt wird also eine Art digitales Ge-
                         also ermöglichen, situativ zu reagieren. Der Einsatz         dächtnis haben, das über den Lebenszyklus hinweg Zu-
                         smarter Produkte ist dabei nur ein mögliches Szenario.       griff auf eine Reihe von Informationen bietet. Abstrakt
                         Entscheidend wird die Einbettung in bestehende Syste-        gesprochen finden wir diese Daten dann in der Cloud.
                         me sein. Es wird also eine Evolution geben hin zu intelli-
                         genteren und damit autonomeren Teilsystemen – das            elektro AUTOMATION: Speziell aus der Logistik kennen
                         kann eine Vorrichtung innerhalb einer Maschine sein,         wir ja bereits erste Umsetzungen unter dem Stichwort
                         die Maschine selbst oder auch eine ganze Fertigungs-         ‚Internet der Dinge‘, beispielsweise Förderanlagen, in de-
                         linie oder Halle. In allen diesen Einheiten müssen wir       nen Shuttles Wegstrecken selbst erkunden und mit Hilfe
                         diese Smart-Technologien denken und daraus die richti-       von Agentensystemen sich selbst organisieren. In Indus-
                         gen Schlüsse ziehen. Nicht zuletzt können wir auf diese      trie-4.0-Konzepten entsteht also die ‚Intelligenz‘ aus der
                         Weise auch ressourcenschonender produzieren.                 Vernetzung aller Teilsysteme und dem Zugriff auf mög-
                                                                                      lichst viele Informationen...

                                                                                      Zühlke (DFKI): ...die jetzt online verfügbar und damit
                        „Wir sind als Automatisierungs-                               nutzbar sind – das ist genau der Punkt. Ein Stau in einer
                        anbieter ja nicht nur Enabler für                             Fertigungslinie lässt sich auf diese Weise zunächst ein-
                        Industrie 4.0, als Anwender treibt                            mal umfahren, ohne direkt zu Folgeproblemen zu führen.
                        uns das Thema auch selbst sehr                                Entscheidend ist dabei, dass wir die insgesamt wachsen-
                                                                                      de Komplexität wieder reduzieren können – denn mit
                        stark. Unser Ziel ist es, den Pro-                            komplexen Prozessen kann der Mensch schlecht umge-
                        duktionsstandort Deutschland                                  hen. In der Automatisierung führt dies allerdings dazu,
                        wettbewerbsfähig zu halten – ins-                             dass sich zwar die Komplexität für den Anwender redu-
                        besondere auch hinsichtlich einer                             ziert, die für die Automatisierungsingenieure aber steigt.
                                                                                      Beides müssen wir zusammenbringen, in dem wir weni-
                        sehr variantenreichen Fertigung –                             ger komplexe Subsysteme schaffen.
zu den Kosten eines Massenproduktes. Industrie 4.0 wird
uns hier mehr Flexibilität bringen, eine höhere Verfügbar-                            Gutekunst (Balluff): Man kann es auch umdrehen: Ge-
                                                                                      rade bezüglich des Zugriffs auf möglichst viele Informa-
keit der Maschinen und mehr Schnelligkeit, um auf die
                                                                                      tionen müssen wir über neue Konzepte nachdenken –
Anforderungen unserer Kunden zu reagieren.“                                           wie Industrie 4.0. Die Datenflut bei uns im Unternehmen
Roland Bent, Geschäftsführer Marketing und Entwicklung, Phoenix Contact               ist bereits jetzt so immens groß geworden, dass wir We-
                                                                                      ge suchen, sie zu kanalisieren und wertschöpfend zu
                                                                                      nutzen. Das fängt bei der Sensorik an – ein entscheiden-
                                                                                      der Baustein ist an dieser Stelle die Identifikation, ins-
                       „Industrie 4.0 ist ein Ansatz,                                 besondere per RFID – und reicht über die interpretativen
                       basierend auf der Verschmelzung                                Systeme bis hin zu fabrik- und unternehmensübergrei-
                                                                                      fenden Konzepten. Mithin zu der Frage, wie wir selbst
                       mit IT-Mechanismen, -Methoden                                  unsere Lieferanten steuern – beziehungsweise unser
                       und -Technologien die nächsten                                 Kunde uns als Lieferant. Daraus können ganz neue Ge-
                       Entwicklungsschritte in der Auto-                              schäftsmodelle entstehen.
                       matisierungstechnik zu machen.
                                                                                      elektro AUTOMATION: Um diese neuen Modelle zu reali-
                       Dies ermöglicht uns ein integrier-                             sieren, ist dann aber wie erwähnt die Reduzierung der
                       tes und einfacheres Engineering –                              Komplexität der Subsysteme ein Schlüssel zur erfolgrei-
                       ein wesentlicher Vorteil bei der                               chen Nutzung von Industrie 4.0. Und um den Anwender
automatisierten Zusammenstellung und Interaktion von                                  zu entlasten, trifft das vor allem die Entwickler von Au-
                                                                                      tomatisierungssystemen. In welcher Weise kann hier der
Maschinen, Aggregaten und Anlagen. Damit können wir                                   ebenfalls bereits genannte Zugriff auf die CAD-Daten
Produkte sehr schnell in den Markt bringen – auch mit                                 von Nutzen sein?
Losgröße Eins – und dabei weltweit mit Partnern, Liefe-
                                                                                      Hoppe (Beckhoff Automation): Die Daten im CAD-
ranten und Kunden interagieren.“
                                                                                      System werden heute noch zu wenig genutzt. Klassisch
Gerd Hoppe, Corporate Management, Beckhoff Automation                                 ist etwa das Beispiel Hochregallager: Vor dessen Bau wird

22      elektro AUTOMATION 12/2013
Gesucht wird: eine Sprache für Fertigungsanweisungen
TRENDS
                                                                      INTEGRATED MANUFACTURING / INDUSTRIE 4.0

der Durchsatz simuliert und auf dieser Basis die Investiti-                          „Dem Verbraucher öffnet sich über
onsentscheidung gefällt. Nicht abgeleitet wird daraus aber
die Bewegungssteuerung für die einzelnen Bediengeräte,
                                                                                     Industrie 4.0 eine individuell auf ihn
obwohl die dynamischen Abläufe ja bereits vorgedacht                                 zugeschnittene Konsumwelt. Für
sind. Vielmehr erhält derzeit noch ein Automatisierer die                            den Maschinenbauer, der das er-
Aufgabe, in einem ganz anderen Engineering-Tool die                                  möglichen will, spielt dabei die Wie-
Bewegungssteuerung für einzelne Shuttles zu program-
mieren. Dieser Bruch ist unsinnig – sinnvoller wäre es, da-                          derverwendbarkeit von Steuerungs-
für ebenfalls die Daten aus der Simulation zu nutzen. Wir                            code eine entscheidende Rolle, um
haben dafür den Begriff ‚Zero Engineering‘ geprägt, über                             die gewünschten Maschinenfunk-
den sich auch bestimmte Engineering-Abläufe automati-                                tionen einfach und schnell realisie-
sieren lassen. Die brillante Idee von Industrie 4.0 ist also,
die Vernetzung nicht nur auf den Hersteller einer Ware          ren zu können. Die Durchgängigkeit der Systeme und eine
oder die Produktionstechnik zu beschränken, sondern             offene Kommunikation sind dazu Voraussetzungen.“
auch die bislang sehr stark gegeneinander abgegrenzten
                                                                Markus Sandhöfner, Geschäftsleitung, B&R Deutschland
Domänen des Engineerings zu verschmelzen.

Sandhöfner (B&R): Ziel muss es sein, Produkte auch in           schränkung will Industrie 4.0 ja überspringen. Wir wollen
der Losgröße Eins fertigen zu können. Das gelingt heute         ja zu Systemen kommen, die zukünftig etwas leisten kön-
nur in Teilbereichen, weil die Produktionsanlagen dafür         nen, was wir heute noch nicht vorgedacht haben. So ent-
nicht ausgelegt sind. Diese müssen also flexibler gestal-       stehen Produktionssysteme, die in der Lage sein werden,
tet werden – nicht nur hinsichtlich kleinerer Losgrößen,        sich an zukünftige, heute noch unbekannte Anforderun-
sondern insbesondere auch für Losgröße Eins. Passen             gen – auch in Bezug auf die zu produzierenden Produkte
wir dazu unsere Engineering-Abläufe nicht an, schlägt           und Varianten – zu adaptieren.
sich das aber in einer Explosion des Steuerungscodes
nieder – was wir uns nicht leisten können, weil das so-         Gutekunst (Balluff): Was bei CIM fehlte, war der Rück-
wohl Entwicklungszeit als auch -kosten nach oben                wärtspfad – konnte auf einer unteren Ebene etwas nicht
treibt. Gefragt sind damit intelligente Konzepte, in de-        gelöst werden, konnte es die Steuerung darüber auch
nen sich bestehender Code wiederverwenden lässt und             nicht. Es fehlte der wichtige Aspekt der Autonomie, der
in denen Schnittstellen zwischen den Entwicklungstools          Industrie-4.0-Konzepte kennzeichnet.
das Schreiben von Code vereinfachen und beschleuni-
gen. Erste Schritte sind ja bereits gemacht, Informatio-        Hoppe (Beckhoff Automation): Der CIM-Gedanke hat
nen aus Simulationssystemen heraus direkt in echtzeit-          allerdings dazu geführt, dass in der Werkzeugmaschinen-
fähigen Code zu verwandeln. Das reduziert dann wie-             industrie bereits eine integrierte homogene Umgebung
derum die Komplexität nicht nur der Maschine selbst,            existiert. Basierend auf den CAD-Daten eines Produktes
sondern auch die ihrer Entstehung.                              kann über den daraus abgeleiteten NC-Datensatz dessen
                                                                Entstehung vollautomatisch ablaufen. Diesen Gedanken
elektro AUTOMATION: Ist das dann nicht die Wiederkehr           müssen wir in der Industrie 4.0 aufnehmen und weiter-
des CIM-Gedankens, des Computer Integrated Manu-                entwickeln.
facturings?
                                                                elektro AUTOMATION: Was muss dazu mit Blick etwa auf
Sandhöfner (B&R): Ja und nein, denn bei der CIM-Dis-            Montageprozesse getan werden?
kussion vor 20 Jahren ging man von einer zentralen
Steuerung aus, die bereits vorgedacht und entsprechend          Hoppe (Beckhoff Automation): Wir müssen eine Meta-
strukturiert ist. Außer Acht gelassen wurde dabei, dass         sprache entwickeln – eine Taxonomie und Ontologie bezie-
Störungen auftreten können und hinsichtlich der Los-            hungsweise eine Begriffswelt –, die es erlaubt, die Herstel-
größe sprach man eher von hohen Stückzahlen. Diese              lung eines Produktes so zu beschreiben, dass sich diese
Aspekte greift aber Industrie 4.0 auf, was nicht zuletzt        Informationen weltweit an vielen verschiedenen Maschinen
hinsichtlich der Offenheit der beteiligten Systeme we-          nutzen lassen. Das gibt es in dieser Form noch nicht, auch
sentlich höhere Anforderungen stellt.                           wenn es in Teilbereichen beziehungsweise Branchen
                                                                bereits Industrie-4.0-Inseln gibt.
Bent (Phoenix Contact): CIM ist damals gescheitert,             Dann lässt sich auch die Stück-
weil die technischen Mittel nicht bereitstanden und die         zahl Eins realisieren, ohne dass        VIDEO-TIPP
Komplexität zu hoch war. Entstanden ist daraus aber             man dazu zunächst einen kom-
auch unsere heutige Automatisierungspyramide mit ih-            plexen Engineering-Prozess auf-
rer hierarchischen Struktur. Industrie 4.0 verlässt diese       setzen muss.
Struktur komplett – es gibt keine Hierarchie in einer In-
dustrie-4.0-Automatisierungs- oder -Kommunikations-             elektro AUTOMATION: Damit nä-
welt, was wiederum eine Grundvoraussetzung für den              hern wir uns dann aber wieder
                                                                                                             Eine Zusammenfassung der
Aufbau flexibler und adaptiver Systeme ist. Sobald eine         dem eingangs erwähnten ‚smarten‘
                                                                                                             Kernaussagen dieses Gespräches
Hierarchie vorliegt, muss ich ein System vordenken –            Produkt, dem ich über die digitale
                                                                                                             finden Sie im elektro AUTOMATION
und sobald ich das mache, komme ich nicht über die              Entwicklung analog zum NC-Code
                                                                                                             Video unter:
Grenzen meines heutigen Wissens hinaus. Ich kann nur            bereits sämtliche Informationen
                                                                                                             http://youtu.be/udVsuyCjeN4
das planen, was ich heute weiß – und genau diese Be-            mitgebe, wie es zu fertigen ist...

                                                                                                     elektro AUTOMATION 12/2013            23
Gesucht wird: eine Sprache für Fertigungsanweisungen
TRENDS                                                                                                                  ROUND TABLE
              INTEGRATED MANUFACTURING / INDUSTRIE 4.0

                                                                                                Englischen die Security. Denn die beteiligten Unterneh-
                                                                                                men werden sich natürlich fragen, ob sie ihre Informa-
                                                                                                tionen in solch einen Legostein legen sollen und was da-
                                                                                                mit passiert. Nur auf diese Weise lässt sich allerdings ei-
                                                                                                ne Plug&Play-Fertigung modular aufbauen. Ganz wichtig
                                                                                                ist, dass wir hier schnell erste greifbare Ergebnisse zei-
                                                                                                gen können. Bereits zur Hannover Messe 2014 wollen
                                                                                                wir dazu als DFKI mit Industriepartnern eine Modellanla-
                                                                                                ge realisieren. Denn nur so lässt sich zeigen, dass Indus-
                                                                                                trie 4.0 keine ‚Blase‘ ist, sondern vielmehr eine langfristi-
                                                                                                ge Strategie für die Produktionstechnik. Überwunden
                                                                                                werden muss dazu auch der bereits thematisierte Bruch
                                                                                                bei der Verbindung von virtueller und realer Welt. Unse-
                                                                                                re Kollegen im Bereich des Product Lifecycle Manage-
                                                                                                ments nutzen ja bereits wunderbare Objektwelten, in
                                                                                                denen sich Parameter verändern lassen. Geht es aber in
                                                                                                an den realen Betrieb, muss wieder eine SPS program-
                                                                                                miert werden – das darf nicht sein!
         Hondo Santos ist als Director Logistics
         bei Balluff bereits mit ersten Umsetzun-
                                                                                                Bent (Phoenix Contact): Automatisierungs- und IKT-
         gen der Industrie-4.0-Konzepte vertraut.
                                                                                                Welt müssen eine gemeinsame Sprache finden – das ist
         Für ihn ergeben sich daraus vor allem
                                                                                                die große Chance, die hinter Industrie 4.0 steckt. Denn
         neue Möglichkeiten, über die Unterneh-
                                                                                                industriebranchenübergreifend ist hier ja ein Konsens
         mensgrenzen hinweg neue Prozesse zu gestalten, aus Wert-
                                                                                                entstanden, eine gemeinsame Vision, die keiner alleine
         schöpfungsketten ganze Wertschöpfungsnetze zu gestalten.
                                                                                                umsetzen kann. Aufgabe der von Bitkom, VDMA und
                                                                                                ZVEI gegründeten Plattform Industrie 4.0 ist es deshalb,
                                 Hoppe (Beckhoff Automation): ...was aber nur funk-             gemeinsam an der Umsetzung zu arbeiten.
                                 tioniert, wenn die Fertigungsmaschinen beziehungswei-
                                 se -anlagen das auch verstehen! An welcher Stelle die          Santos (Balluff): Nur so werden wir auch in der Lage
                                 Fertigungshinweise liegen, spielt keine Rolle – wichtig        sein, die vielen, bereits heute gespeicherten Informatio-
                                 ist, dass der Produktionsvorgang so beschrieben ist,           nen sinnvoll zu nutzen. Denn bislang greifen wir Ver-
                                 dass die jeweils vorhandenen Maschinen und Anlagen             gleichbares nur in Teilbereichen beziehungsweise punk-
                                 daraus selbstständig und autonom die notwendigen               tuell bezogen auf bestimmte Aufgabenstellungen auf.
                                 Schritte extrahieren können. Derzeit gibt es dazu keine        Industrie 4.0 muss uns dabei helfen, all diese Informatio-
                                 einheitliche Taxonomie – im Rahmen der Umsetzung               nen sinnvoll zu nutzen – im Sinne der eingangs erwähn-
                                 von Industrie 4.0 müssen wir diese aber entwickeln.            ten Wertschöpfungsnetzwerke. Und an der Unterneh-
                                                                                                mensgrenze darf diese Vernetzung nicht aufhören.
                                 Sandhöfner (B&R): Das Ziel von Industrie 4.0 beinhal-
                                 tet auf diese Weise die Möglichkeit, zwischen unter-           elektro AUTOMATION: Um die Ziele von Industrie 4.0 zu
                                 schiedlichen Wegen – zwischen Prozessen unterschiedli-         erreichen, müssen wir uns also sowohl um eine standardi-
                                 cher Anbieter – wählen zu können. Das setzt einheitli-         sierte Beschreibung von Fertigungsprozessen kümmern als
                                 che Daten voraus, die innerhalb der gesamten Prozess-          auch sicherstellen, dass Aspekte der Security beachtet wer-
                                 kette verstanden werden.                                       den. Da wir von einer Ethernet-basierenden Vernetzung
                                                                                                ausgehen können, müsste an dieser Stelle doch OPC-UA
                                 Zühlke (DFKI): Hier fehlen uns in der Tat derzeit sowohl       als Protokoll einige Aufgaben übernehmen können?
                                 eine Referenzarchitektur als auch wissenschaftliche Be-
                                 grifflichkeiten für viele Dinge. Rede ich beispielsweise mit   Hoppe (Beckhoff Automation): Exakt das kann OPC-
                                 Kollegen aus der Informatik, finden sich dort teilweise        UA leisten. Dazu lohnt es, sich kurz die Historie ins Ge-
                                 völlig andere Begrifflichkeiten als in der Produktionstech-    dächtnis zu rufen. Wurden in der ersten Phase der Ma-
                                 nik. Hier sind wir alle gefordert, zusammenzukommen,           schinen- und Produktionsautomatisierung noch Infor-
                                 wobei wir erst am Anfang stehen. Aus wissenschaftlicher        mationen mit Hilfe eines Kabels übertragen, folgten
                                 Sicht sind hier noch extrem viele Aufgaben zu lösen, was       anschließend serielle Verbindungen. Dafür war ein Da-
                                 meiner Meinung nach auch noch nicht in zwei oder drei          tenformat erforderlich, was zu vielen proprietären se-
                                 Jahren abgeschlossen ist – wir reden hier über eine Vision.    riellen Protokoll-Varianten führte. Die Standardisie-
                                                                                                rung begann dann mit den Feldbus-Systemen – ins-
                                 elektro AUTOMATION: Was sind denn die nächsten                 besondere CAN ist hier als Vorreiter zu nennen. Hier
                                 Schritte, die vorrangig angegangen werden müssen?              wurden bereits Profile definiert, auf Basis derer sich
Links:
                                                                                                Geräte erkennen lassen und die Bedeutung der Daten
www.balluff.com                  Zühlke (DFKI): Die neue Welt wird nur funktionieren,           interpretieren lässt. Mit OPC-UA erfolgte dann sehr
www.beckhoff.de                  wenn wir Standards schaffen! Nur so werden die Kom-            früh der Schritt hin zu einem Protokoll, das auch eine
www.br-automation.com            ponenten einer Produktionsumgebung wie Lego-Bau-               semantische Beschreibung ermöglicht – und darauf
www.dfki.de                      steine per Plug&Play zueinander passen. Ein zweiter,           wollen wir ja hinaus. OPC-UA bietet sich deshalb mit
www.phoenixcontact.com           wesentlicher Aspekt betrifft hinsichtlich der erforderli-      der fortschreitenden Verbreitung der Ethernet-basie-
                                 chen offenen Netzwerke das Thema Sicherheit – im               renden Kommunikation als Baustein an.

         24      elektro AUTOMATION 12/2013
Gesucht wird: eine Sprache für Fertigungsanweisungen
TRENDS
                                                                 INTEGRATED MANUFACTURING / INDUSTRIE 4.0

Sandhöfner (B&R): Ein großer Vorteil von OPC-UA ist        sen – eine der brillanten Ideen hinter Industrie 4.0. In
zudem, dass dort keine hohen Anforderungen an die          Deutschland können wir dabei auf dem bestehenden her-
Hardware gestellt werden – es ist also nicht notwendig,    vorragenden Produktionsniveau aufbauen, das wir er-
immer leistungsstarke PC-Prozessoren einzusetzen. Das      reicht haben und damit als Vorstufe für Industrie 4.0 se-
ist schließlich eine der Voraussetzungen, um einen brei-   hen können.
ten Einsatz von OPC-UA zu fördern, insbesondere auch
in kleineren Einheiten.                                    elektro AUTOMATION: Welche Bedeutung hat abschlie-
                                                           ßend angesichts der vielen autonomen Abläufe in Indus-
Zühlke (DFKI): Entsprechend dem OSI-Modell als Refe-       trie-4.0-Konzepten die Frage, in welcher Form der
renzmodell bietet OPC-UA für die Schichten 5 und 6 –       Mensch dies überblicken und gegebenenfalls eingreifen
also bezüglich Sitzung und Darstellung – im Moment         kann? Welche Rolle können hier zukünftig MES-Lösun-
den umfassendsten Dienst an. Ein Nachteil ist aber, dass   gen spielen?
OPC-UA derzeit sehr komplex ist – sowohl bezüglich der
Struktur als auch der Laufzeitbedingungen. Zudem lie-      Zühlke (DFKI): Hier sollten wir nicht den Fehler aus CIM-
gen die Schwierigkeiten insbesondere in der Schicht 7,     Zeiten wiederholen, von menschenleeren Fabriken zu spre-
also der Anwendungsschicht. An dieser Stelle müssen        chen. Wir brauchen den Menschen, er ist der einzige
die Applikationen vernünftig miteinander kommunizie-       wirklich intelligente Partner – ihn durch Vollautomatisie-
ren und Dienste austauschen können, die zuvor in ir-       rung ersetzen zu wollen, wäre völliger Unsinn. Sollte etwas
gendeiner Form standardisiert worden sind. Hier sehe       schief laufen, kann kein Algorithmus das Problem lösen;
ich zwar schon Ansätze, aber noch keine Lösungen.          wir können die Intelligenz des Menschen nicht ersetzen.

elektro AUTOMATION: Wie könnten denn Lösungs-
ansätze für die Schicht 7 aussehen, um auch Applikatio-                                     „Die auch weltweit steigenden
nen miteinander zu verbinden?
                                                                                            Bedürfnisse erfordern produkti-
Zühlke (DFKI): An diesen Aufgabenstellungen arbeiten                                        ons- und logistikseitig ein erheb-
derzeit einige Arbeitsgruppen. Dabei landen wir                                             lich reaktiveres System. Industrie
zwangsläufig wieder bei der Frage der Semantik, der                                         4.0 ist darauf ausgerichtet, diesen
Metasprache, um Fertigungsprozesse beschreiben zu
können. Das Schlimmste, was uns an dieser Stelle pas-                                       Anforderungen zu begegnen, die
sieren kann, ist, dass etwa jeder Sensorhersteller einen                                    uns die Bedürfnisse des Marktes
eigenen Dienst für eine bestimmte Aufgabe definiert –                                       von Morgen stellen.“
gefordert ist hier also eine gewisse Standardisierung.
                                                           Jürgen Gutekunst, Geschäftsbereichsleiter Networking/Systeme, Balluff
Sandhöfner (B&R): Hinsichtlich der Semantik werden
zudem neben allgemeinen auch branchenspezifische
Lösungen zu erarbeiten sein, wie wir sie teilweise schon                                    „Der Anwender wird in seinen Syste-
kennen – etwa in Form der Weihenstephaner Standards                                         men eine wesentlich größere Flexi-
in der Getränkeabfüllung. Auf diese Weise lassen sich                                       bilität und Agilität bekommen – und
branchenspezifische Maschinengegebenheiten, Anla-
genbedingungen und -zustände abdecken.
                                                                                            damit auch die vom Markt geforder-
                                                                                            ten immer kürzeren Lebenszyklen
Bent (Phoenix Contact): Innerhalb der Plattform In-                                         realisieren können. Industrie 4.0
dustrie 4.0 etabliert sich gerade eine Arbeitsgruppe                                        liefert ihm dazu einen Baukasten,
mit dem Ziel, eine Referenzarchitektur zu schaffen
und Standardisierung sowie Normung voranzutrei-                                             aus dem sich Fertigungsanlagen viel
ben. Da verschiedenste Applikationen miteinander                                            schneller zusammenstellen lassen.“
kommunizieren müssen, liegt noch viel Grundlagen-
                                                           Prof. Detlef Zühlke, Forschungsbereich Innovative Fabriksysteme, DFKI
arbeit vor den Beteiligten. Entscheidend ist aber, dass
eine Institution geschaffen wurde, in der sich die Ent-
wicklungen synchronisieren und harmonisieren lassen.
                                                           Bent (Phoenix Contact): MES-Systeme werden eine
Hoppe (Beckhoff Automation): Wir werden eine Ent-          ganz zentrale Rolle in der Industrie 4.0 oder auf dem
wicklung sehen weg von Datenstrukturen und Profilen hin    Weg dahin spielen. Denn über sie lassen sich die relevan-
zu dienstebasierenden Kommunikationsverfahren. Solche      ten Daten aus einem Produktionsprozess der dienstorien-
Dienste beschreiben dann beispielsweise die Möglichkeit,   tierten Middleware kontextbezogen bereitstellen – und
abzufragen, welche Informationsmöglichkeiten ein Ag-       darauf kommt es an. Der Anwender muss darüber genau
gregat, ein Sensor oder eine Steuerung bietet. Dieses      die Informationen erhalten, die er in der spezifischen Si-       Das Round-Table-
Browsen, über das sich ein Dienst anstoßen lässt, führt    tuation, die sein Eingreifen erfordert, auch benötigt.           Gespräch wurde von
dann dazu, dass man über verschiedene Industrien mit                                                                        den Redakteuren der
unterschiedlichen Ausprägungen hinweg viele Gemein-        elektro AUTOMATION: Der Diskussionsstoff rund um das             elektro AUTOMATION,
samkeiten findet. Letztlich können sich auf diesem Weg     Thema Industrie 4.0 wird uns also so schnell nicht aus-          Andreas Gees und
über Unternehmens- und Ländergrenzen hinweg Ma-            gehen, die weitere Entwicklung bleibt spannend. Wir dan-         Michael Corban,
schinenaggregate und Anlagen zusammenschalten las-         ken allen Teilnehmern für dieses Round-Table-Gespräch. co        geleitet.

                                                                                                   elektro AUTOMATION 12/2013               25
Gesucht wird: eine Sprache für Fertigungsanweisungen Gesucht wird: eine Sprache für Fertigungsanweisungen Gesucht wird: eine Sprache für Fertigungsanweisungen
Sie können auch lesen