"Gimme Shelter" (The Stones): COVID-19 - Konrad-Adenauer ...

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ZWISCHENRUF

      „Gimme Shelter“
        (The Stones):
         COVID-19
            Die Corona-Pandemie erfordert einen radikalen Blickwechsel

ANNA MARGARETHA
HORATSCHEK
Geboren 1952 in Steinfeld, Altstipendiatin           das besser heimlich geblieben wäre, da
und ehemalige Vertrauensdozentin                     es eine Erkenntnis erzwingt, die man lie-
der Konrad-Adenauer-Stiftung, 2000 bis               ber mit dem Siegel des Unbewussten ver-
2018 Inhaberin des Lehrstuhls für                    sehen und aus dem Bewusstsein des All-
Englische Literaturwissenschaft an der               tags verdrängt hätte. Auch Gesellschaften
Christian-Albrechts-Universität zu Kiel,             haben ihr je eigenes Verdrängtes; sozial-
seit 2016 Vizepräsidentin der Akademie               psychologische Theorien von Sigmund
der Wissenschaften in Hamburg.                       Freud, Jacques Lacan, Terry Eagleton
                                                     oder Julia Kristeva haben das ausführlich
Corona ist unheimlich. Sigmund Freud                 beschrieben. Rebecca Solnit zeigt in ih-
beschreibt das Unheim liche als etwas,               rem Bestseller A Paradise Built in Hell, wie

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Zwischenruf

Katastrophen diese kollektiven Verdrän-        LET’S TALK ABOUT DEATH
gungen freilegen, indem sie das Hamster-       (MICHAEL HEBB)
rad der habitualisierten Handlungs- und
Denkgewohnheiten anhalten und so den
Lack des gesellschaftlich geprägten All-       Das allstündliche Sterben normaler Bür-
tagsbewusstseins durchbrechen. Eine Ka-        gerinnen und Bürger wird bereits seit dem
tastrophe ist in der griechischen Tragödie     ausgehenden 19. Jahrhundert zunehmend
die unerwartete Wendung zum Schlim-            aus dem Alltag verbannt. Gestorben wird
men, sie setzt den Prozess der Katharsis,      heute alltagsfern in Krankenhäusern und
der „seelischen Reinigung“ der Zuschauer,      Hospizen – Bedingung, Ursache und Fol-
in Gang.                                       ge für die Verdrängung des Todes aus dem
     Die Corona-Pandemie ist – aus euro-       Bewusstsein der Industrienationen. Unse-
päischer Perspektive – die größte Kata-        re Meisterschaft in der Verdrängung die-
strophe seit dem Zweiten Weltkrieg. Sie        ser ungewollten Wirklichkeiten zeigt sich
macht sichtbar, was ansonsten in der Nor-      beklemmend bei Corona-Partys und un-
malität aufging und unsichtbar war. Das        geschützten Großveranstaltungen zu Zei-
Wort „Normalität“ beinhaltet signifikan-        ten der Pandemie.
terweise die Norm: Normalität ist eine              Was aus dem Bewusstsein verdrängt
normierte Ordnung der Dinge, Werte und         ist, ist unbewusst und dem Zugriff der
Menschen, die institutionell verankert,        Sprache entzogen. Gepaart mit dem Ver-
durch Rituale, Belohnungen und Sanktio-        lust der Autorität von religiösen Ritualen,
nen affirmiert und so naturalisiert wird,      die Formen der Darstellung und der Ver-
dass sie vielen Menschen als der einzig ver-   arbeitung von Tod und Trauer bereithiel-
fügbare Rahmen ihres Welt- und Selbst-         ten, fehlen uns Worte, Bilder und Verhal-
entwurfs gilt. Zerbricht dieser Rahmen,        tensmuster, die das Skandalon des Todes
dann zerbricht das Gerüst, das Stabilität,     in die Diskurse des Lebens einbetten. Und
Berechenbarkeit und Sicherheit suggerier-      so griffen die Fernsehmacher auf immer
te, solange es hielt.                          gleiche Bilder zurück, die das Grauen über
     Die radikalste Form der Unterbre-         das medizinisch unbeherrschbare Sterben
chung der Normalität ist der Tod. In unse-     in Formen bannen sollten: Warteschlan-
rer spätmodernen Hochleistungsgesell-          gen von italienischen Militärlastwagen vor
schaft, in welcher die Idolisierung von        den Krematorien, beladen mit den Särgen
Leistung, Effizienz, Mobilität und Vernet-     von Corona-Toten; entkleidete Körper mit
zung zum Dauerstress nicht nur der er-         unkenntlich gemachtem Gesicht, einge-
werbstätigen Generationen führt, zeigt         spannt in eine Maschinerie von Schläu-
der schlagartige Lockdown, die damit er-       chen und medizinischen Messgeräten;
zwungene soziale Isolierung und die –          dystopisch vermummte Gestalten, die aus
vielbeschworene, aber wenig praktizierte –     gläsernen Drehtüren vor die Kameras tra-
Entschleunigung ähnlich drastische Wir-        ten und resignierte Ohnmacht ausdrück-
kungen. In der Corona-Pandemie kom-            ten. Im Gegensatz zu den Großaufnah-
men Tod, radikale Verlangsamung und            men verstümmelter Körper und schmerz-
soziale Isoliertheit zusammen.                 verzerrter Gesichter in den abendlichen
                                               Krimis blieben die Toten ebenso wie die

56            Die Politische Meinung
„Gimme Shelter“ (The Stones): COVID-19, Anna Margaretha Horatschek

existenzielle Einsamkeit der Schwerst-                viele nicht Lebensmittelpunkt, sondern
kranken und des heroisch kämpfenden                   ein Knotenpunkt diverser Netzwerke –
medizinischen Personals gnädig verbor-                oftmals nicht der wichtigste.
gen – und damit der Phantasie und dem                      Die Gegentherapie für diese allgemei-
Unbewussten der Betrachter überlassen.                nen Verunsicherungen: Expertengesprä-
Nicht das Sterben, sondern die Unverfüg-              che, die den Tod auf ein medizinisches
barkeit des Sterbens und des Todes wurde              Phänomen reduzieren, das wir durch ei-
illustriert.                                          nen Impfstoff oder ein Medikament in ab-
     Diese Bankrotterklärung westlich-                sehbarer Zukunft werden beherrschen
aufklärerischer Selbstmächtigkeitsideolo-             können. Und damit wäre der beunru-
gien wurde angereichert durch die Unter-              higende Blick in den Abgrund einer nur
grabung kollektiver Mythen des Alltags.               illusorischen Selbstmächtigkeit wieder
Drei Beispiele: Obdachlose und Arme, die              verdeckt? Nicht ganz. Denn die vielen
mit der Schließung der Heime und Tafeln               Professoren und wenigen Professorinnen
keine Bleibe für die Nacht, keine Dusche              in ritualisierten TV-Extras zeigten, wie
und kein Essen haben, zerstören die glatte            mühsam das Geschäft der Forschung ist,
Fassade einer abgesicherten, reichen und              wie unsicher der jeweils erreichte Wis-
gesättigten Wohlstandsgesellschaft; El-               sensstand und wie falsch das Bild des
tern, die im Homeoffice abwechselnd den               autarken Individuums, das qua Intellekt
Computer benutzen und eventuell noch                  die Welt erkennen und beherrschen kann.
die Online-Schulaufgaben ihrer Kinder                 Sie weigerten sich, beruhigende Pseudo-
weitergeben und betreuen sollen, strafen              gewissheiten in die Welt zu setzen, und
den Mythos des Homeoffice als Arbeits-                markierten den begrenzten Geltungs-
modell der Zukunft – individuell zu hand-             raum ihrer Empfehlungen. Die allgemei-
haben, f lexibel, eigenständig – Lügen:               ne Aufkündigung vermeintlicher Sicher-
Homeoffice braucht eine zeitlich geregelte            heiten machte damit vor der Epistemologie
und zuverlässige institutionelle Infra-               nicht halt: Explizierte und reflektierte Un-
struktur, die Kinder versorgt, Mahlzeiten             sicherheit und Offenheit für Alternativen
organisiert, das individuelle Zeitmanage-             sind das neue alte Qualitätsmerkmal von
ment und die monologische Arbeitssitua-               Wissen. Ein Teil der herrschenden politi-
tion bewältigen hilft, will heißen: Das               schen Minderheit, allen voran die Kanzle-
„Familienleben“ muss um fixe Arbeitszei-               rin – selbst ausgebildete Wissenschaft-
ten herum organisiert werden – genau wie              lerin –, hat diesen Paradigmenwechsel
bei der aushäusigen Arbeit. Und schließ-              begriffen.
lich der Mythos Familie als Lebensmit-
telpunkt: Sehr viele Paare, Eltern und
Kinder ertragen es kaum, wochenlang                   THE SAME, SAME OLD STORY
nur aufeinander angewiesen zu sein, das               (CAT STEVENS): DIE NEUE
Funktionieren des Familienverbandes ist               NORMALITÄT I
angewiesen auf die gesellschaftlichen
Netzwerke der einzelnen Familienmit-
glieder – von der Kinderkrippe über die               Und dann kam der Ausstieg aus dem
Schule bis zum Altersheim. Familie ist für            L ockdown, sprachgeregelt als „die

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neue Normalität“. Als erstes preschte ein     IMAGINE (JOHN LENNON):
Landesvater mit der Forderung vor, Auto-      DIE NEUE NORMALITÄT II
häuser wieder zu öffnen. Nicht Kitas,
Schulen, Universitäten, Pflegeheime, nicht
Museen, Theater oder Sportstätten, nein:      Corona kam nach Deutschland und fegte
Autohäuser durften der Corona-verschreck-     in wenigen Tagen die unhinterfragten
ten Kundschaft ihr technisch veraltetes       Selbstverständlichkeiten eines geregelten,
Neublech als Kompensation für erlittene       abgesicherten und berechenbaren Alltags
Entbehrungen anbieten, womöglich noch         in einem der reichsten Länder der Welt
gefördert durch steuerfinanzierte Prä-        vom Tisch. Und fast genauso schnell
mien – eine un-heimliche Überblendung         schienen sich die Menschen zu verändern,
von Politik und Wirtschaft.                   verdeckte Seiten offen zu legen, Vergesse-
     Damit begann eine Serie dezidiert        nes zu erinnern: fast entwöhnte Ruhe, lee-
männlicher Selbstprofilierungen der po-        re Zeit-Räume. Noch nie habe ich so viele
litischen folks on the hill (John Lennon)     Menschen explizit sagen hören, dass sie
durch immer neue Öffnungsstrategien,          die „alte“ Normalität nicht zurückhaben
getrieben von ökonomischen Erwägungen         wollen: so schnell, so gestresst, so über-
und der Hoffnung, den diffusen Corona-        füttert mit Informationen, Gelegenheiten,
Beschränkungsüberdruss der Bevölke-           Terminen, Einladungen und Verpflichtun-
rung in politisches Kapital umzumünzen.       gen – und das von Menschen, deren öko-
Beängstigend die Mischung aus Wunsch-         nomische Existenz am Abgrund stand.
denken und Selbsttäuschung, wenn ein          Innerhalb von Tagen brachen sich Kreati-
Landesfürst die Pandemie kurzerhand für       vität und zivilgesellschaftliche Hilfsbereit-
überwunden erklärt und wenn einer seiner      schaft in einem Ausmaß Bahn, das nur
Kollegen das gesetzte Maximum an Neu-         erstaunen konnte: Eine Studentin von ge-
infektionen auf Landkreisebene für er-        genüber fragte, ob sie für mich einkaufen
neute Restriktionen des öffentlichen Le-      sollte, Kinder in Hamburg veranstalteten
bens – fünfzig Neuinfektionen pro 100.000     ein allabendliches Balkonkonzert für die
Einwohner in sieben Tagen – rechnerisch       Nachbarschaft, Videos, Witze und Mut-
vervielfacht. Dabei erreichte nicht einmal    machtexte kamen von Adressen, die seit
die Hälfte aller Kreise je den gesetzten      Jahren nichts von sich hatten hören lassen.
Wert, und die Coronakrise wäre nach dieser    Eine Welle der offenkundigen Freude am
Zählung ein rein süddeutsches und nord-       gegenseitigen Austausch sprach aus den
rhein-westfälisches Phänomen gewesen.         Texten, Liedern und Bildern, die durch
     Aber Medien und Bevölkerung spiel-       die sozialen Medien kursierten, eine Freu-
ten mit: Am Tag der Öffnung von Ver-          de angesichts einer Katastrophe, für die es
kaufsflächen bis 800 Quadratmetern ver-        nach Rebecca Solnit keinen Namen gibt,
kündete ein Mann im Menschen- und             „this emotion, in which the wonderful
Warengetümmel eines Kauf hauses zur           comes wrapped in the terrible, joy in sor-
besten TV-Sendezeit: „Es ist wunderbar.       row, courage in fear“.
Ich muss gar nichts kaufen – nur hier zu           Nach Katastrophen ist ein solcher
sein und zu wissen, dass ich das alles kau-   Ausbruch von Solidarität, Kreativität und
fen könnte: Das ist Freiheit.“                Nächstenliebe die Regel, wie Solnit in

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„Gimme Shelter“ (The Stones): COVID-19, Anna Margaretha Horatschek

A Paradise Built in Hell an vielen Beispielen         sierbaren Bedürfnissen der Menschen ab-
aufzeigt, und das belegt für sie zweierlei:           solute Priorität zu geben, und das heißt
zum einen, wie dünn die Schicht der kul-              einen radikalen Wechsel der Blickrich-
turellen Prägung ist, die diese Bedürfnisse           tung: Gemeinschaftsrelevant sind weder
nach und diese Bereitschaft zu Nähe, Krea-            Banken noch die Großindustrie, sondern
tivität und Gemeinschaft verbirgt. Zum                Menschen, die für hilfs-, freude- und lie-
anderen entlarvt diese Reaktion – und da-             besbedürftige Menschen und nicht in die
rauf geht Solnit ausführlich ein – unser              eigene Tasche arbeiten, in Kindergärten,
„everyday life as desaster“: Effizienz ver-           Krankenhäusern, Altersheimen, Bildungs-
trägt keine spielerische Kreativität, Ein-            einrichtungen, Theater und Kunst. Das
druck schindet, wer unnahbar und unver-               einzig relevante Zeichen der Wertschät-
letzlich auftritt, Autorität wird suggeriert          zung für diese Gemeinschaftsarbeit unter
durch zweckrationale Selbstkontrolle.                 den Bedingungen des Spätkapitalismus
     Die Leopoldina, gegründet 1652 und               ist das ökonomische: bessere Bezahlung,
damit die älteste dauerhaft existierende              bessere Personalausstattung, bessere För-
naturforschende Akademie der Welt, steht              derungsmöglichkeiten. Gemeinschaftsar-
nicht im Verdacht des Utopismus. Ihr                  beit – professionelle und zivilgesellschaft-
Ad-hoc-Statement zur Corona-Pandemie                  liche – braucht Zeit und Ruhe. Entschleu-
vom 13. April 2020 versteht das globale               nigung als Teil der „neuen Normalität“ zu
Ausmaß der Pandemie ausdrücklich als                  ermöglichen und zu fördern, hat langfris-
„Chance zum gegenseitigen Lernen, zur                 tig weitreichende systemische, institutio-
Überprüfung der eigenen Reaktionen                    nelle und kulturelle Konsequenzen. Denn
und zum Erwerb eines neuen Verhaltens-                wie die Kulturwissenschaftlerin Corinna
repertoires“, für die Leopoldina vor allem            Carduff in Szenen des Todes ausführt, „Zeit
mit Blick auf „zivilisatorische Herausfor-            haben“, „in der Zeit sein“ und die Zeit
derungen […] des Klima- und Artenschut-               wieder zu erfahren, ist die Voraussetzung,
zes und der transnationalen Kooperation“.             um die Welt und die Menschen jenseits
Genau so wichtig ist es jedoch, die weni-             der Forderungen des Tages in den Blick zu
ger greif baren Missstände im eigenen                 bekommen, im Bewusstsein der rezipro-
Land anzugehen: überholte Mythen des                  ken Verbundenheit und Abhängigkeit und
Alltags und darauf gegründete (politische)            im Horizont der gemeinsamen Vergäng-
Programme anzupassen, Werteskalen zu                  lichkeit.
überdenken und systemische und institu-                    Der Hinweis auf Sachzwänge und
tionelle Veränderungen zu ermöglichen,                Nichtfinanzierbarkeit als Gegenargument
die einer nicht-effizienten gemeinschafts-            für eine solche Normalität kann nach den
orientierten Lebenspraxis Raum geben                  einschneidenden Veränderungen der letz-
für die Entwicklung von „another kind of              ten Wochen, die in Deutschland in inter-
society [supplying] connection, partici-              national bewundertem Tempo bewerk-
pation, altruism, and purposefulness“                 stelligt wurden, nicht mehr überzeugen:
(Solnit). Das ist nur ohne Patentrezepte              Wo der politische Wille, da sind auch
möglich; unabdingbar dagegen ist die Be-              Möglichkeit und Geld.
reitschaft der Politik, den nicht ökonomi-

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