Corona-Pandemie: Implikationen für die Sicherheitspolitik
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Corona-Pandemie: Implikationen für die Sicherheitspolitik Wie beeinflusst die Corona-Pandemie die Aussichten für Frieden und Sicherheit in Europa? Einige Trends zeichnen sich bereits ab. Sie betreffen die Rahmenbedingungen der traditionellen Sicher- heitspolitik mit ihren diplomatischen und militärischen Mitteln. Das Ausmaß der Veränderungen ist allerdings noch offen. Die Vorbereitungen auf ein breiteres Spektrum existenzieller Risiken haben sich als unzureichend erwiesen. Ihre Ausweitung stellt den Stellenwert traditioneller Sicherheitspolitik mit ihrem hohen Finanzbe- darf für militärische Mittel in Frage. Die ersten politischen Reaktionen auf die Pandemie waren durch Renationalisierung und Schwächung internationaler Institutionen bestimmt. Um eine zukunftsträchtige als Friedenspolitik verstandene Sicherheitspolitik voran zu bringen, sind neue Initiativen geboten. 02|21 MICHAEL BRZOSKA, GÖTZ NEUNECK UND JÜRGEN SCHEFFRAN | 2021
IFSH – Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg Obwohl wir uns noch mitten in der Pandemie befinden, ist eine erste Einschätzung der friedens- und sicherheitspolitischen Folgen der aktuellen Problemlage möglich. Die Trends sind zwar widersprüch- lich, aber Veränderungen in den Rahmenbedingungen deutscher und europäischer Sicherheitspoli- tik lassen sich bereits jetzt erkennen und erste Empfehlungen daraus ableiten. Kurz gesagt: Die aktuelle Pandemie macht bereits bestehende Probleme und Defizite sichtbarer. Offen ist allerdings, inwieweit sich diese Erkenntnis in einer veränderten Sicherheitspolitik niederschlagen wird und ob die Pandemie zu einem Katalysator für die Suche nach neuen Ansätzen und besseren Lösungen wird. Wir plädieren in diesem Policy Brief dafür, aus der Pandemie Lehren für grundlegende Verän- derungen der Sicherheitspolitik in Europa zu ziehen. FOLGEN DER PANDEMIE VON Ein anderes Bild ergibt sich, wenn man über den SICHERHEITSPOLITISCHER BEDEUTUNG Kernbereich der traditionellen Sicherheitspolitik hi- naus auf deren Rahmenbedingen blickt und damit Auf den ersten Blick scheint die aktuelle Krise nur auf mögliche mittel- und langfristige Auswirkungen wenige Auswirkungen auf Frieden und Sicherheit in der Pandemie auf die traditionelle Sicherheitspolitik. Europa und der Welt zu haben. Warum sollte sie da- Mehrere durch Corona zum Teil erst deutlich gewor- her von Bedeutung für die traditionelle Sicherheits- dene, zum Teil verstärkte Entwicklungen haben das politik sein, die sich um die Wahrung von Frieden Potenzial, auch die traditionelle Sicherheitspolitik zu und Sicherheit vor äußeren Bedrohungen kümmert, verändern, weil sie Grundlagen dieser Politik in Frage primär gestützt auf militärische und diplomatische stellen. Mittel? Weder hat sich das Verhältnis zwischen Russ- land und dem Westen zum Besseren oder Schlech- Der erste Punkt betrifft den Stellenwert traditioneller teren verändert, noch hat das Kriegsgeschehen in Sicherheitspolitik sowohl im Hinblick auf die existenzi- der Welt deutlich ab- oder zugenommen. Der ange- ellen Bedrohungen für Individuen und Gesellschaften sichts der humanitären Folgen der Pandemie nahe- in Deutschland, Europa und anderswo als auch den liegend erscheinende Vorstoß des Generalsekretärs mit diesem Stellenwert begründeten Finanzbedarf für der Vereinten Nationen António Guterres, alle Kriegs- sicherheitspolitische Institutionen mit den Streitkräf- parteien zu Waffenstillständen aufzurufen, ist weit- ten als größtem Kostenfaktor. gehend verpufft. Die vielleicht am breitesten wahrge- nommene Entwicklung betrifft die weitere Zerrüttung Die Corona-Krise hat fast überall die unzureichende der Beziehungen zwischen den USA und China, die Vorbereitung auf die Pandemie deutlich gemacht. von US-Präsident Trump mit der polemischen Wort- Nur in sehr wenigen Staaten waren umfassende Pan- schöpfung vom „China-Virus“ betrieben wurde. demiepläne und ausreichend Kapazitäten für eine Insgesamt ist allerdings fraglich, ob das Verhältnis Extrembelastung des Gesundheitssektors vorhan- zwischen den USA und China sich nicht auch ohne den. Dabei hat sowohl die Wahrscheinlichkeit des Pandemie verschlechtert hätte. Wie weit die Wahl Ausbruchs von Epidemien als auch deren globale niederlage Donald Trumps, die zumindest teilwei- Weiterverbreitung in den letzten Jahrzehnten deutlich se mit der Pandemie und seiner Reaktion darauf in zugenommen. Warnungen vor und Übungen zur Be- Verbindung gebracht wird, daran etwas ändert, ist wältigung von Pandemien wurden nur in kleinen Ex- offen. pertenkreisen ernst genommen. Ausnahmen waren 2
Policy Brief | Corona-Pandemie: Implikationen für die Sicherheitspolitik vor allem Staaten in Ostasien, die 2002/2003 von der stachen, etwa in der An- SARS-Epidemie besonders stark betroffen waren. fangsphase bei Schutz- Nur wenig besser waren die meisten Staaten auf die ausrüstungen gegen das „MEHRERE DURCH sozialen und wirtschaftlichen Folgen der Pandemie Corona-Virus und im wei- CORONA ZUM TEIL vorbereitet. Zwar konnten reiche Länder in früheren teren Verlauf bei Impfstof- ERST DEUTLICH GE- Wirtschaftskrisen, zuletzt der Finanzkrise 2008, er- fen. WORDENE ENTWICK- probte finanzpolitische Instrumente rasch zum Einsatz bringen, wie staatliche Ausgabenprogramme oder Er- Der Trend zur Renationa- LUNGEN HABEN DAS weiterungen des Kurzarbeitergeldes. Aber auch mit lisierung der Politik zeig- POTENZIAL, AUCH den dafür eingesetzten umfangreichen Finanzmitteln te sich auch in einem DIE TRADITIONELLE konnten die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie anderen Bereich mit si- SICHERHEITSPOLITIK nur bedingt eingedämmt werden. Sollte es in kürze- cherheitspolitischer Be- ren Zeiträumen wieder zu ähnlichen Krisen kommen, deutung. Internationale ZU VERÄNDERN.“ könnten selbst reiche Staaten an die Grenzen ihrer Organisationen hatten finanziellen Möglichkeiten kommen. Umso wichtiger große Probleme, die ihnen übertragenen Aufgaben ist es daher, durch die Intensivierung vorbeugender wahrzunehmen. So litt die WHO (World Health Orga- Maßnahmen zu versuchen, derartig tiefe wirtschaftli- nisation) unter Defiziten sowohl hinsichtlich ihrer poli- che Abschwünge weniger wahrscheinlich zu machen. tischen Autorität als auch bezüglich ihrer Ausstattung mit Ressourcen. Organisationen für wirtschaftliche Ein zweiter Punkt betrifft das Verhältnis nationaler Entwicklung wie die Weltbank und Organisationen und internationaler Institutionen und Instrumente tra- der humanitären Hilfe, zum Beispiel das Welternäh- ditioneller Sicherheitspolitik. Auf dem militärischen rungsprogramm der Vereinten Nationen, konnten und diplomatischen Feld hat für die meisten Staaten nicht verhindern, dass Not und Armut im globalen Sü- nationales Handeln zwar weiter Vorrang, aber alle ha- den stark zunahmen. Die Vereinten Nationen blieben ben sich zu den Grundsätzen der Vereinten Nationen eine schwache Stimme in der Pandemie. zu Gewaltverzicht und friedlicher Streitbeilegung be- kannt und viele arbeiten darüber hinaus in regionalen Diese und andere Probleme, die in den vergange- Organisationen wie der NATO oder der Europäischen nen zwölf Monaten deutlich wurden, sind nicht erst Union (EU) zusammen. Auf dem wirtschaftlichen Feld durch die Pandemie entstanden. Vielmehr verschärft hingegen wurden internationale Verflechtungen und die Krise Defizite, Trends und Spannungsfelder, die eine Art von Globalisierung gefördert, die zum weitge- schon vorher vorhanden waren. Das gilt für Probleme henden Verlust nationaler Souveränität über wichtige in den Staaten selbst, in zunehmendem Maße aber Bereiche wirtschaftlicher Aktivität beigetragen haben. auch für Probleme zwischen den Staaten. Die Pande- In der Pandemie wurde deutlich, dass wirtschaftliche mie hat umso stärker deutlich gemacht, dass wir in Internationalisierung mit dem Prinzip der Risikovor- einer global vernetzten Welt leben, in der sich kom- sorge in Konflikt stehen kann. Selbst in Staaten mit plexe Krisenphänomene innerhalb kurzer Zeit wech- großen und differenzierten Wirtschaften wurden Ab- selseitig verstärken können. hängigkeiten von Zulieferungen von Gütern manifest, die kurzfristig auf nationaler Ebene nicht ersetzbar Wie gut waren Deutschland und die EU auf die Pan- waren. Dies führte zu einem Wettbewerb um Importe demie und ihre Folgen vorbereitet? Wie weit haben wichtiger Güter, in dem reiche Staaten ärmere aus- sie dem Trend zur Renationalisierung widerstanden? 3
IFSH – Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg WIDERSPRÜCHLICHE ASPEKTE STAATLICHER wirtschaftlicher Hilfen blieb die Europäische Kommis- REAKTIONEN IN EUROPA sion zunächst praktisch unsichtbar, der Europäische Rat war nicht handlungsfähig. Die Vorteile gemein- Die Pandemie-Krise betraf alle europäischen Staaten, samen Handelns wurden nicht ausgeschöpft. Das aber die Maßnahmen zur Eindämmung des Corona- begann sich in der zweiten Hälfte des Jahres 2020 Virus erfolgten fast ausschließlich auf staatlicher und zu ändern. Die EU-Kommission verhandelte für alle substaatlicher Ebene. Typisch dafür waren die Grenz- Mitgliedsstaaten mit den Impfstoffherstellern und schließungen in der EU selbst durch Staaten, die die der Rat beschloss ein umfangreiches Hilfspaket für Mobilität innerhalb des Landes nicht oder kaum ein- die Wirtschaft. Aber es bleibt der Eindruck einer Ins- schränkten. Die dominante politische Reaktion war titution bestehen, die den Herausforderungen großer der Rückzug der Politik auf den Nationalstaat, selbst und plötzlich auftretender Krisen nicht gewachsen ist. wenn gemeinschaftliches Handeln möglich gewe- sen wäre. Die Stärkung des Nationalstaats erfolgte Europäische Regierungen reagierten vor allem mit auch nach innen: Für die Wahrung des Rechtes auf großen finanziellen Hilfsprogrammen für ihre Volks- Gesundheit und Leben wurden individuelle Freiheits- wirtschaften auf die wirtschaftlichen Folgen der Pan- rechte sehr stark eingeschränkt. Zusammen mit der demie. Je nach Finanzkraft der Staaten konnten damit Analyse der sicherheitspolitischen Grundlagen ist die wirtschaftlichen Folgen der Krise mehr oder we- der Widerspruch zwischen der allgemeinen Analyse niger deutlich eingedämmt oder gedämpft werden. der Pandemie als globalem Problem und dem Fokus Überall stieg die Staatsverschuldung, die vielerorts auf nationalstaatlichem Regierungshandeln von be- bereits durch die Maßnahmen zur Überwindung der sonderer Bedeutung für die Einschätzung der sicher- Finanzkrise von 2008 zugenommen hatte. Auch eine heitspolitischen Folgen der Corona-Pandemie. rasche Erholung der nationalen Volkswirtschaften wird nichts daran ändern, dass zumindest kurz- und Sowohl in Europa als auch global erwiesen sich über- mittelfristig die Spielräume für öffentliche Ausgaben staatliche Institutionen als schwach. Statt gemeinsam durch Schuldentilgung und niedrigere Steuereinnah- nach Lösungen zu suchen, handelten die Mitglieds- men eingeschränkt sein werden. staaten der EU zunächst im nationalen Alleingang. Dies stand in offensichtlichem Widerspruch zum Trotz kurzfristiger Ausweitung der finanziellen Mittel Bild der EU als einer Organisation für alle Bürgerin- für das Gesundheitswesen sind in allen europäischen nen und Bürger in der Union. Nach einer Umfrage Staaten Defizite etwa bei der Ausstattung mit medi- des European Council zinischer Ausrüstung, Ärzt*innen und Pflegepersonal on Foreign Relations deutlich geworden. Die nach früheren Übungen und „MIT DER AKTUELLEN hätte sich schon in der in Pandemieplänen angemahnte Aufstockung von Frühphase der Krise eine Notfallausstattung war häufig nicht durchgeführt wor- KRISE DÜRFTE DAS Mehrheit der befragten den. Die Krise zeigte die Grenzen der geschrumpften BEWUSSTSEIN FÜR Bevölkerung in den Mit- nationalen Gesundheitssysteme auf, die auf wirt- ANDERE, OFT GERING gliedstaaten eine ge- schaftliche Effizienz getrimmt worden waren. GESCHÄTZTE ODER wichtigere Rolle der EU bei der Bewältigung der Über die aktuelle Krise hinaus sind bestehende De- VERDRÄNGTE RISIKEN Krise gewünscht. Bis auf fizite in der Vorsorge vor großen Risiken deutlich ge- STEIGEN.“ Ankündigungen enormer worden, die von Nationalstaaten nicht alleine zu be- 4
Policy Brief | Corona-Pandemie: Implikationen für die Sicherheitspolitik wältigen sind. Die aktuelle Pandemie wird nicht die Die erste Schlussfol- letzte gewesen sein. Im Gegenteil: Die Wahrschein- gerung betrifft die Not- lichkeit derartiger Ereignisse ist in den letzten Jahr- wendigkeit einer Neube- „DIE ANALYSE DER zehnten kontinuierlich angestiegen und könnte mit wertung zu erwartender PANDEMIEFOLGEN wachsender Globalisierung und Urbanisierung sowie existenzieller Risiken für OFFENBART ABER durch den Klimawandel und das Artensterben weiter die Bevölkerung und die AUCH STARKE zunehmen. Dabei sind Pandemien nur eine Katego- Gesellschaft in Deutsch- rie von Großschadensereignissen. Mit der aktuellen land und die daraus ANSATZPUNKTE FÜR Krise dürfte das Bewusstsein für andere, oft gering erwachsenden Anfor- NEUES DENKEN UND geschätzte oder verdrängte Risiken steigen, von Nuk- derungen für deren kurz- HANDELN.“ learkriegen über Klimawandel und Wetterextreme bis fristigen und langfristigen hin zu Asteroideneinschlägen. Durch eine gezielte Kli- Schutz. Aus einer stärke- mapolitik, den Ausbau des Gesundheitswesens und ren Wahrnehmung von weitere Maßnahmen zur Stärkung der gesellschaftli- nicht-traditionellen Sicherheitsrisiken, von Pande- chen Resilienz und der menschlichen Sicherheit, lie- mien bis zum Klimawandel, folgt nicht notwendig eine ßen sich die Folgeschäden dieser Naturkatastrophen Abwertung traditioneller Sicherheitsrisiken wie Terro- minimieren. Allerdings kostet der bessere Schutz oft rismus oder der militärischen Konfrontation mit Russ- auch viel Geld. land. Sie lässt sich durchaus mit einem erweiterten Sicherheitsverständnis in Einklang bringen wie es die EMPFEHLUNGEN FÜR DIE DEUTSCHE Bundesregierung seit einiger Zeit propagiert, bisher SICHERHEITSPOLITISCHE DISKUSSION allerdings ohne die notwendigen Schlüsse daraus zu ziehen. Ein Beispiel ist das weitgehende Verpuffen Die ersten staatlichen Reaktionen auf die aktuelle Kri- von Risikoanalysen wie sie etwa vom Bundesamt für se – verstärkter Nationalismus, auch Autoritarismus, Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe regelmä- Schwächung des Multilateralismus – lassen eine Ver- ßig durchgeführt werden. schärfung sicherheitspolitischer Problemlagen be- fürchten, global und in Europa. Die Analyse der Pan- Konkret wird empfohlen, Sicherheitsbedrohungen demiefolgen offenbart aber auch starke Ansatzpunkte umfassender zu sehen, d.h. unter Einbeziehung öko- für neues Denken und Handeln. Die Pandemie und nomischer, rechtsstaatlicher, medizinischer und psy- ihre Folgen stellen Grundlagen der Sicherheitspolitik, chologischer Konsequenzen, und diese auch institu- wie ihren Stellenwert in der Risikovorsorge, interna- tionell durch regelmäßige Bestandsaufnahmen und tionale Verflechtung und multilaterale Allianzen, auf Umsetzungsübungen sowohl von der Wissenschaft den Prüfstand. Ein Rückfall in sicherheitspolitische als auch durch staatliche Behörden zu verankern. Da- Muster, in denen nationales Handeln und militärische rauf aufbauend könnte eine erweiterte Sicherheitspo- Instrumente dominieren, wäre nicht zukunftsträchtig, litik der Risiko-Vorbeugung dienen, indem sie Folgen ebenso wenig ein Denken, das die Herausforderun- von Ereignissen mindert, die die gesellschaftliche gen der traditionellen Sicherheitspolitik über andere Ordnung oder die Gesundheit und das Leben der Be- existentielle Risiken stellt. Stattdessen scheint es uns völkerung gefährden könnten. geboten, aus der aktuellen Krise folgende Schlussfol- gerungen für Veränderungen in der Sicherheitspolitik Auch in der erweiterten Sicherheitspolitik sollten die zu ziehen. Kompetenzen der verschiedenen Akteure auf zentral- 5
IFSH – Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg staatlicher, bundesstaatlicher und kommunaler Ebe- über umfassende Sicherheitsrisiken und die daraus ne nicht vermischt werden. Aber dort, wo Synergien erwachsenden Möglichkeiten für eine engere Zusam- möglich sind, etwa im Bereich des Vorhaltens von menarbeit in Europa zu verstärken. Eine geeignete Reserven im Gesundheitssektor auch für Großscha- Plattform dafür ist die Organisation für Sicherheit densereignisse, sollten sie genutzt werden. und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). Zum ande- ren sollten Initiativen für nukleare und konventionelle Die Abwehr, Vorbeugung und Bearbeitung der ver- Rüstungskontrolle in Europa verstärkt werden. Pri- schiedenen existentiellen Risiken, von Pandemien märes Ziel ist es, gegenseitig als Bedrohung wahrge- über Klimawandel bis zum Atomkrieg, erfordert eine nommene militärische Fähigkeiten der anderen Sei- Beurteilung ihrer Bedeutung für den Schutz von Le- te abzubauen. Darüber hinaus sollte langfristig eine ben, Gesundheit, gesellschaftlicher Ordnung, wirt- Minderung der Potentiale und der für ihre Finanzie- schaftlicher Existenz und natürlicher Umwelt. Sie ist rung notwendigen Ressourcen angestrebt werden. eine Grundlage für die Zuteilung staatlicher Ressour- In diesem Zusammenhang ist es weiterhin sinnvoll, cen an Personal und Geld. aktuelle Rüstungsprojekte der Bundeswehr kritisch zu überprüfen, sowohl unter finanziellen Gesichts- Die zweite Schlussfolgerung ist ein Plädoyer, neue punkten als auch im Hinblick darauf, inwieweit sie Chancen und Perspektiven zu eröffnen, die die Risi- möglicherweise durch Gegenreaktionen Initiativen ken traditioneller sicherheitspolitischer Bedrohungen für Rüstungskontrolle und Spannungsabbau konter- abbauen. Damit würden die finanziellen und perso- karieren könnten. Beispiele betreffen das geplante nellen Spielräume ausgebaut, die für eine vorbeugen- deutsch-französische Luftabwehrsystem FCAS und de und nachhaltige erweiterte Sicherheitspolitik not- die Beschaffung von neuen F-18 Kampfflugzeugen wendig sind. für die Bundeswehr, die im Rahmen der Nuklearen Teilhabe als Trägersysteme für U.S.-amerikanische Aus der erforderlichen Neubewertung von Sicher- Nuklearwaffen dienen sollen. heitsrisiken ergeben sich Chancen für Initiativen zur Entspannung in Europa, nicht zuletzt für das Ver- Als weitere Maßnahme empfehlen wir, die Vorsorge hältnis zwischen Russland und dem Westen. Überall und Resilienz gegenüber existentiellen Risiken grund- steigen die Anforderungen an einen umfassenderen sätzlich auszubauen. Insbesondere müssen destabili- Bevölkerungsschutz bei sierende Gefahren frühzeitig vermieden und verringert gleichzeitigem Rückgang werden, durch die sich Krisen verstärken und damit der finanziellen Spiel- außer Kontrolle geraten können. Ein Element für einen „AUS DER ERFOR- räume. Die Pandemie besseren Umgang mit komplexen Krisen ist die Über- und ihre Folgen haben prüfung und gegebenenfalls Verminderung der Rück- DERLICHEN NEU- zudem mögliche Felder koppelungen, die zwischen verschiedenen Krisen BEWERTUNG VON für eine stärkere Zusam- als Verstärker wirken und Dominoeffekte auslösen. SICHERHEITSRISIKEN menarbeit in der EU und Ein Beispiel dafür ist der Abbau von Abhängigkeiten ERGEBEN SICH CHAN- darüber hinaus deutlich in den für die Sicherheit der Bevölkerung relevanten gemacht. Lieferketten aus dem Ausland, um die Notfallversor- CEN FÜR INITIATIVEN gung mit notwendigen Gütern zu garantieren. Ein ZUR ENTSPANNUNG Konkret wird zum einen weiteres Element ist die Sicherstellung einer ausrei- IN EUROPA.“ empfohlen, den Dialog chenden Infrastruktur für die Versorgung und Exis- 6
Policy Brief | Corona-Pandemie: Implikationen für die Sicherheitspolitik Bundeswehrangehörige auf dem Weg zu ihrem Hilfseinsatz in Portugal. Das Land ist von der Corona-Pandemie besonders stark be- troffen. © AFP tenzsicherung der Bevölkerung in Extremfällen, also reich der umfassenden Risikovorsorge und Resilienz z.B. bei Pandemien oder einem Atomkrieg. Das Ge- für den Krisenfall, etwa beim Klimawandel (Pariser sundheitssystem sollte nicht nur an wirtschaftlichen Abkommen) und der Gesundheitsvorsorge. Dabei Kriterien ausgerichtet werden, sondern für die Anfor- sollte insbesondere die Weltgesundheitsorganisa- derungen in Großschadensfällen ausreichend sein. tion (WHO) gestärkt werden, Katastrophenrisiken mi- nimiert, die Abrüstungsbemühungen verstärkt und Die vorgehenden Empfehlungen richten sich zwar humanitärer Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit vorrangig an Akteur*innen in Deutschland, sie las- ausgebaut werden. sen sich aber leichter in multilateraler Kooperation umsetzen. Zudem widerspricht der alleinige Schutz WECKRUF CORONA-KRISE der Bevölkerung in Deutschland dem Postulat globa- ler Solidarität. Internationales Agieren muss vom Ziel Die Entwicklung von Impfstoffen und die angelaufe- bestimmt sein, Leben und Lebensbedingungen aller nen Impfkampagnen machen Hoffnung auf das bal- und die Umwelt zu schützen. Das betrifft sowohl fi- dige Ende der Pandemie. Aber die Bewältigung ihrer nanzielle Aspekte als auch die Chancen, komplexen Folgen wird deutlich länger dauern. Zudem zeichnen Sicherheitsrisiken vorzubeugen wie etwa im Bereich sich weitere globale Gefahrenlagen ab. Es darf daher des Klimawandels. auch in der Sicherheitspolitik kein einfaches Zurück zu den Vor-Coronakrise-Zeiten geben. Vielmehr sollte Konkret empfehlen wir Initiativen zur Stärkung der die aktuelle Krise Anlass sein, die Grundlagen der Si- Europäischen Union sowie den Ausbau bestehender cherheitspolitik zu überprüfen und an das zu befürch- multilateraler Abkommen und Institutionen im Be- tende breite Spektrum an Risiken anzupassen. 7
LITERATUR Brzoska, Michael. Understanding the Disaster-Migration-Violent Conflict europes_pandemic_politics_how_the_virus_has_changed_the_pu- Nexus in a Warming World: The Importance of International Policy blics_worldview/. Interventions. Social Sciences 8 (6), 2019. Scheffran, Jürgen. Das Anthropozän und seine Grenzen: Überlegungen Ehrhart, Hans-Georg und Götz Neuneck (Hrsg.). Analyse sicherheitspoli- zu Klimawandel, Nachhaltigkeit und Coronakrise. In: Frank Adloff und tischer Bedrohungen und Risiken unter Aspekten der Zivilen Verteidi- Sighart Neckel S (Hrsg.). Gesellschaftstheorie im Anthropozän. Cam- gung und des Zivilschutzes. Nomos-Verlag, Baden-Baden, 2015. pus-Verlag, Frankfurt, 2020: 257-279. Krastev, Ivan und Mark Leonard. Europe’s Pandemic Politics: How the Scheffran, Jürgen. Kollaps und Transformation: Die Corona-Krise und Virus has Changed the Public’s Worldview. European Council on die Grenzen des Anthropozäns. Wissenschaft & Frieden 2–2020: 6–9. Foreign Relations, Brüssel, June 2020, https://ecfr.eu/publication/ https://wissenschaft-und-frieden.de/seite.php?artikelID=2431. Dieser Text ist im Kontext von Diskussionen in der Studiengruppe „Europäische Sicherheit und Frieden“ der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (https://vdw-ev.de/ueber-uns/studiengruppen/) entstanden. Wir danken den Mitgliedern für zahlreiche Anmerkungen und Kommentare. ÜBER DIE AUTOREN ÜBER DAS INSTITUT Prof. Dr. Michael Brzoska ist Senior Research Prof. Dr. Jürgen Scheffran ist Non-Resident Das Institut für Friedensforschung und Sicher- Fellow am IFSH. Von 2006 bis 2016 war er Fellow am IFSH und Professor für integrative heitspolitik (IFSH) erforscht die Bedingungen Wissenschaftlicher Direktor des Instituts. Geographie an der Universität Hamburg. Er von Frieden und Sicherheit in Deutschland, leitet die Forschungsgruppe Klimawandel Europa und darüber hinaus. Das IFSH forscht Prof. Dr. Götz Neuneck ist Senior Research und Sicherheit (CLISEC) am Centrum für eigenständig und unabhängig. Es wird von der Fellow am IFSH und Professor an der MIN-Fa- Erdsystemforschung und Nachhaltigkeit und Freien und Hansestadt Hamburg finanziert. kultät der Universität Hamburg. im Klima-Exzellenzcluster „Climate, Climatic Change and Society“ (CLICCS). DOI: https://doi.org/10.25592/ifsh-policy-brief-0221 Copyright Cover Foto: AFP Text license: Creative Commons CC-BY-ND (Attribution/NoDerivatives/4.0 International). IFSH – Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg Beim Schlump 83 20144 Hamburg Germany Telefon +49 40 866077 - 0 ifsh@ifsh.de www.ifsh.de
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