Corona-Pandemie: Implikationen für die Sicherheitspolitik

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Corona-Pandemie: Implikationen für die Sicherheitspolitik
Corona-Pandemie:
  Implikationen für die
  Sicherheitspolitik
        Wie beeinflusst die Corona-Pandemie die Aussichten für Frieden
        und Sicherheit in Europa? Einige Trends zeichnen sich bereits ab.
        Sie betreffen die Rahmenbedingungen der traditionellen Sicher-
        heitspolitik mit ihren diplomatischen und militärischen Mitteln.
        Das Ausmaß der Veränderungen ist allerdings noch offen.

         Die Vorbereitungen auf ein breiteres Spektrum existenzieller Risiken
          haben sich als unzureichend erwiesen. Ihre Ausweitung stellt den
          Stellenwert traditioneller Sicherheitspolitik mit ihrem hohen Finanzbe-
          darf für militärische Mittel in Frage.
         Die ersten politischen Reaktionen auf die Pandemie waren durch
          Renationalisierung und Schwächung internationaler Institutionen
          bestimmt. Um eine zukunftsträchtige als Friedenspolitik verstandene
          Sicherheitspolitik voran zu bringen, sind neue Initiativen geboten.

02|21                          MICHAEL BRZOSKA, GÖTZ NEUNECK UND JÜRGEN SCHEFFRAN | 2021
Corona-Pandemie: Implikationen für die Sicherheitspolitik
IFSH – Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg

Obwohl wir uns noch mitten in der Pandemie befinden, ist eine erste Einschätzung der friedens- und
sicherheitspolitischen Folgen der aktuellen Problemlage möglich. Die Trends sind zwar widersprüch-
lich, aber Veränderungen in den Rahmenbedingungen deutscher und europäischer Sicherheitspoli-
tik lassen sich bereits jetzt erkennen und erste Empfehlungen daraus ableiten. Kurz gesagt: Die
aktuelle Pandemie macht bereits bestehende Probleme und Defizite sichtbarer. Offen ist allerdings,
inwieweit sich diese Erkenntnis in einer veränderten Sicherheitspolitik niederschlagen wird und ob
die Pandemie zu einem Katalysator für die Suche nach neuen Ansätzen und besseren Lösungen
wird. Wir plädieren in diesem Policy Brief dafür, aus der Pandemie Lehren für grundlegende Verän-
derungen der Sicherheitspolitik in Europa zu ziehen.

          FOLGEN DER PANDEMIE VON                                          Ein anderes Bild ergibt sich, wenn man über den
     SICHERHEITSPOLITISCHER BEDEUTUNG                                      Kernbereich der traditionellen Sicherheitspolitik hi-
                                                                           naus auf deren Rahmenbedingen blickt und damit
Auf den ersten Blick scheint die aktuelle Krise nur                        auf mögliche mittel- und langfristige Auswirkungen
wenige Auswirkungen auf Frieden und Sicherheit in                          der Pandemie auf die traditionelle Sicherheitspolitik.
Europa und der Welt zu haben. Warum sollte sie da-                         Mehrere durch Corona zum Teil erst deutlich gewor-
her von Bedeutung für die traditionelle Sicherheits-                       dene, zum Teil verstärkte Entwicklungen haben das
politik sein, die sich um die Wahrung von Frieden                          Potenzial, auch die traditionelle Sicherheitspolitik zu
und Sicherheit vor äußeren Bedrohungen kümmert,                            verändern, weil sie Grundlagen dieser Politik in Frage
primär gestützt auf militärische und diplomatische                         stellen.
Mittel? Weder hat sich das Verhältnis zwischen Russ-
land und dem Westen zum Besseren oder Schlech-                             Der erste Punkt betrifft den Stellenwert traditioneller
teren verändert, noch hat das Kriegsgeschehen in                           Sicherheitspolitik sowohl im Hinblick auf die existenzi-
der Welt deutlich ab- oder zugenommen. Der ange-                           ellen Bedrohungen für Individuen und Gesellschaften
sichts der humanitären Folgen der Pandemie nahe-                           in Deutschland, Europa und anderswo als auch den
liegend erscheinende Vorstoß des Generalsekretärs                          mit diesem Stellenwert begründeten Finanzbedarf für
der Vereinten Nationen António Guterres, alle Kriegs-                      sicherheitspolitische Institutionen mit den Streitkräf-
parteien zu Waffenstillständen aufzurufen, ist weit-                       ten als größtem Kostenfaktor.
gehend verpufft. Die vielleicht am breitesten wahrge-
nommene Entwicklung betrifft die weitere Zerrüttung                        Die Corona-Krise hat fast überall die unzureichende
der Beziehungen zwischen den USA und China, die                            Vorbereitung auf die Pandemie deutlich gemacht.
von US-Präsident Trump mit der polemischen Wort-                           Nur in sehr wenigen Staaten waren umfassende Pan-
schöpfung vom „China-Virus“ betrieben wurde.                               demiepläne und ausreichend Kapazitäten für eine
Insgesamt ist allerdings fraglich, ob das Verhältnis                       Extrembelastung des Gesundheitssektors vorhan-
zwischen den USA und China sich nicht auch ohne                            den. Dabei hat sowohl die Wahrscheinlichkeit des
Pandemie verschlechtert hätte. Wie weit die Wahl­                          Ausbruchs von Epidemien als auch deren globale
niederlage Donald Trumps, die zumindest teilwei-                           Weiterverbreitung in den letzten Jahrzehnten deutlich
se mit der Pandemie und seiner Reaktion darauf in                          zugenommen. Warnungen vor und Übungen zur Be-
Verbindung gebracht wird, daran etwas ändert, ist                          wältigung von Pandemien wurden nur in kleinen Ex-
offen.                                                                     pertenkreisen ernst genommen. Ausnahmen waren

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Corona-Pandemie: Implikationen für die Sicherheitspolitik
Policy Brief | Corona-Pandemie: Implikationen für die Sicherheitspolitik

vor allem Staaten in Ostasien, die 2002/2003 von der         stachen, etwa in der An-
SARS-Epidemie besonders stark betroffen waren.               fangsphase bei Schutz-
Nur wenig besser waren die meisten Staaten auf die           ausrüstungen gegen das
                                                                                                         „MEHRERE DURCH
sozialen und wirtschaftlichen Folgen der Pandemie            Corona-Virus und im wei-                     CORONA ZUM TEIL
vorbereitet. Zwar konnten reiche Länder in früheren          teren Verlauf bei Impfstof-                 ERST DEUTLICH GE-
Wirtschaftskrisen, zuletzt der Finanzkrise 2008, er-         fen.                                      WORDENE ENTWICK-
probte finanzpolitische Instrumente rasch zum Einsatz
bringen, wie staatliche Ausgabenprogramme oder Er-           Der Trend zur Renationa-
                                                                                                       LUNGEN HABEN DAS
weiterungen des Kurzarbeitergeldes. Aber auch mit            lisierung der Politik zeig-                  POTENZIAL, AUCH
den dafür eingesetzten umfangreichen Finanzmitteln           te sich auch in einem                      DIE TRADITIONELLE
konnten die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie             anderen Bereich mit si-                   SICHERHEITSPOLITIK
nur bedingt eingedämmt werden. Sollte es in kürze-           cherheitspolitischer Be-
ren Zeiträumen wieder zu ähnlichen Krisen kommen,            deutung.     Internationale
                                                                                                           ZU VERÄNDERN.“
könnten selbst reiche Staaten an die Grenzen ihrer           Organisationen        hatten
finanziellen Möglichkeiten kommen. Umso wichtiger            große Probleme, die ihnen übertragenen Aufgaben
ist es daher, durch die Intensivierung vorbeugender          wahrzunehmen. So litt die WHO (World Health Orga-
Maßnahmen zu versuchen, derartig tiefe wirtschaftli-         nisation) unter Defiziten sowohl hinsichtlich ihrer poli-
che Abschwünge weniger wahrscheinlich zu machen.             tischen Autorität als auch bezüglich ihrer Ausstattung
                                                             mit Ressourcen. Organisationen für wirtschaftliche
Ein zweiter Punkt betrifft das Verhältnis nationaler         Entwicklung wie die Weltbank und Organisationen
und internationaler Institutionen und Instrumente tra-       der humanitären Hilfe, zum Beispiel das Welternäh-
ditioneller Sicherheitspolitik. Auf dem militärischen        rungsprogramm der Vereinten Nationen, konnten
und diplomatischen Feld hat für die meisten Staaten          nicht verhindern, dass Not und Armut im globalen Sü-
nationales Handeln zwar weiter Vorrang, aber alle ha-        den stark zunahmen. Die Vereinten Nationen blieben
ben sich zu den Grundsätzen der Vereinten Nationen           eine schwache Stimme in der Pandemie.
zu Gewaltverzicht und friedlicher Streitbeilegung be-
kannt und viele arbeiten darüber hinaus in regionalen        Diese und andere Probleme, die in den vergange-
Organisationen wie der NATO oder der Europäischen            nen zwölf Monaten deutlich wurden, sind nicht erst
Union (EU) zusammen. Auf dem wirtschaftlichen Feld           durch die Pandemie entstanden. Vielmehr verschärft
hingegen wurden internationale Verflechtungen und            die Krise Defizite, Trends und Spannungsfelder, die
eine Art von Globalisierung gefördert, die zum weitge-       schon vorher vorhanden waren. Das gilt für Probleme
henden Verlust nationaler Souveränität über wichtige         in den Staaten selbst, in zunehmendem Maße aber
Bereiche wirtschaftlicher Aktivität beigetragen haben.       auch für Probleme zwischen den Staaten. Die Pande-
In der Pandemie wurde deutlich, dass wirtschaftliche         mie hat umso stärker deutlich gemacht, dass wir in
Internationalisierung mit dem Prinzip der Risikovor-         einer global vernetzten Welt leben, in der sich kom-
sorge in Konflikt stehen kann. Selbst in Staaten mit         plexe Krisenphänomene innerhalb kurzer Zeit wech-
großen und differenzierten Wirtschaften wurden Ab-           selseitig verstärken können.
hängigkeiten von Zulieferungen von Gütern manifest,
die kurzfristig auf nationaler Ebene nicht ersetzbar         Wie gut waren Deutschland und die EU auf die Pan-
waren. Dies führte zu einem Wettbewerb um Importe            demie und ihre Folgen vorbereitet? Wie weit haben
wichtiger Güter, in dem reiche Staaten ärmere aus-           sie dem Trend zur Renationalisierung widerstanden?

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Corona-Pandemie: Implikationen für die Sicherheitspolitik
IFSH – Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg

     WIDERSPRÜCHLICHE ASPEKTE STAATLICHER                                     wirtschaftlicher Hilfen blieb die Europäische Kommis-
             REAKTIONEN IN EUROPA                                             sion zunächst praktisch unsichtbar, der Europäische
                                                                              Rat war nicht handlungsfähig. Die Vorteile gemein-
   Die Pandemie-Krise betraf alle europäischen Staaten,                       samen Handelns wurden nicht ausgeschöpft. Das
   aber die Maßnahmen zur Eindämmung des Corona-                              begann sich in der zweiten Hälfte des Jahres 2020
   Virus erfolgten fast ausschließlich auf staatlicher und                    zu ändern. Die EU-Kommission verhandelte für alle
   substaatlicher Ebene. Typisch dafür waren die Grenz-                       Mitgliedsstaaten mit den Impfstoffherstellern und
   schließungen in der EU selbst durch Staaten, die die                       der Rat beschloss ein umfangreiches Hilfspaket für
   Mobilität innerhalb des Landes nicht oder kaum ein-                        die Wirtschaft. Aber es bleibt der Eindruck einer Ins-
   schränkten. Die dominante politische Reaktion war                          titution bestehen, die den Herausforderungen großer
   der Rückzug der Politik auf den Nationalstaat, selbst                      und plötzlich auftretender Krisen nicht gewachsen ist.
   wenn gemeinschaftliches Handeln möglich gewe-
   sen wäre. Die Stärkung des Nationalstaats erfolgte                         Europäische Regierungen reagierten vor allem mit
   auch nach innen: Für die Wahrung des Rechtes auf                           großen finanziellen Hilfsprogrammen für ihre Volks-
   Gesundheit und Leben wurden individuelle Freiheits-                        wirtschaften auf die wirtschaftlichen Folgen der Pan-
   rechte sehr stark eingeschränkt. Zusammen mit der                          demie. Je nach Finanzkraft der Staaten konnten damit
   Analyse der sicherheitspolitischen Grundlagen ist                          die wirtschaftlichen Folgen der Krise mehr oder we-
   der Widerspruch zwischen der allgemeinen Analyse                           niger deutlich eingedämmt oder gedämpft werden.
   der Pandemie als globalem Problem und dem Fokus                            Überall stieg die Staatsverschuldung, die vielerorts
   auf nationalstaatlichem Regierungshandeln von be-                          bereits durch die Maßnahmen zur Überwindung der
   sonderer Bedeutung für die Einschätzung der sicher-                        Finanzkrise von 2008 zugenommen hatte. Auch eine
   heitspolitischen Folgen der Corona-Pandemie.                               rasche Erholung der nationalen Volkswirtschaften
                                                                              wird nichts daran ändern, dass zumindest kurz- und
   Sowohl in Europa als auch global erwiesen sich über-                       mittelfristig die Spielräume für öffentliche Ausgaben
   staatliche Institutionen als schwach. Statt gemeinsam                      durch Schuldentilgung und niedrigere Steuereinnah-
   nach Lösungen zu suchen, handelten die Mitglieds-                          men eingeschränkt sein werden.
   staaten der EU zunächst im nationalen Alleingang.
   Dies stand in offensichtlichem Widerspruch zum                             Trotz kurzfristiger Ausweitung der finanziellen Mittel
   Bild der EU als einer Organisation für alle Bürgerin-                      für das Gesundheitswesen sind in allen europäischen
   nen und Bürger in der Union. Nach einer Umfrage                            Staaten Defizite etwa bei der Ausstattung mit medi-
                                 des European Council                         zinischer Ausrüstung, Ärzt*innen und Pflegepersonal
                                 on Foreign Relations                         deutlich geworden. Die nach früheren Übungen und
„MIT DER AKTUELLEN               hätte sich schon in der                      in Pandemieplänen angemahnte Aufstockung von
                                 Frühphase der Krise eine                     Notfallausstattung war häufig nicht durchgeführt wor-
 KRISE DÜRFTE DAS
                                 Mehrheit der befragten                       den. Die Krise zeigte die Grenzen der geschrumpften
 BEWUSSTSEIN FÜR                 Bevölkerung in den Mit-                      nationalen Gesundheitssysteme auf, die auf wirt-
 ANDERE, OFT GERING              gliedstaaten eine ge-                        schaftliche Effizienz getrimmt worden waren.
 GESCHÄTZTE ODER                 wichtigere Rolle der EU
                                 bei der Bewältigung der                      Über die aktuelle Krise hinaus sind bestehende De-
VERDRÄNGTE RISIKEN
                                 Krise gewünscht. Bis auf                     fizite in der Vorsorge vor großen Risiken deutlich ge-
 STEIGEN.“                       Ankündigungen enormer                        worden, die von Nationalstaaten nicht alleine zu be-

                                                                          4
Policy Brief | Corona-Pandemie: Implikationen für die Sicherheitspolitik

wältigen sind. Die aktuelle Pandemie wird nicht die            Die erste Schlussfol-
letzte gewesen sein. Im Gegenteil: Die Wahrschein-             gerung betrifft die Not-
lichkeit derartiger Ereignisse ist in den letzten Jahr-        wendigkeit einer Neube-
                                                                                                         „DIE ANALYSE DER
zehnten kontinuierlich angestiegen und könnte mit              wertung zu erwartender                     PANDEMIEFOLGEN
wachsender Globalisierung und Urbanisierung sowie              existenzieller Risiken für                 OFFENBART ABER
durch den Klimawandel und das Artensterben weiter              die Bevölkerung und die                        AUCH STARKE
zunehmen. Dabei sind Pandemien nur eine Katego-                Gesellschaft in Deutsch-
rie von Großschadensereignissen. Mit der aktuellen             land und die daraus
                                                                                                        ANSATZPUNKTE FÜR
Krise dürfte das Bewusstsein für andere, oft gering            er­wachsenden        Anfor-              NEUES DENKEN UND
geschätzte oder verdrängte Risiken steigen, von Nuk-           derungen für deren kurz-                         HANDELN.“
learkriegen über Klimawandel und Wetterextreme bis             fristigen und langfristigen
hin zu Asteroideneinschlägen. Durch eine gezielte Kli-         Schutz. Aus einer stärke-
mapolitik, den Ausbau des Gesundheitswesens und                ren Wahrnehmung von
weitere Maßnahmen zur Stärkung der gesellschaftli-             nicht-traditionellen Sicherheitsrisiken, von Pande-
chen Resilienz und der menschlichen Sicherheit, lie-           mien bis zum Klimawandel, folgt nicht notwendig eine
ßen sich die Folgeschäden dieser Naturkatastrophen             Abwertung traditioneller Sicherheitsrisiken wie Terro-
minimieren. Allerdings kostet der bessere Schutz oft           rismus oder der militärischen Konfrontation mit Russ-
auch viel Geld.                                                land. Sie lässt sich durchaus mit einem erweiterten
                                                               Sicherheitsverständnis in Einklang bringen wie es die
      EMPFEHLUNGEN FÜR DIE DEUTSCHE                            Bundesregierung seit einiger Zeit propagiert, bisher
     SICHERHEITSPOLITISCHE DISKUSSION                          allerdings ohne die notwendigen Schlüsse daraus zu
                                                               ziehen. Ein Beispiel ist das weitgehende Verpuffen
Die ersten staatlichen Reaktionen auf die aktuelle Kri-        von Risikoanalysen wie sie etwa vom Bundesamt für
se – verstärkter Nationalismus, auch Autoritarismus,           Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe regelmä-
Schwächung des Multilateralismus – lassen eine Ver-            ßig durchgeführt werden.
schärfung sicherheitspolitischer Problemlagen be-
fürchten, global und in Europa. Die Analyse der Pan-           Konkret wird empfohlen, Sicherheitsbedrohungen
demiefolgen offenbart aber auch starke Ansatzpunkte            umfassender zu sehen, d.h. unter Einbeziehung öko-
für neues Denken und Handeln. Die Pandemie und                 nomischer, rechtsstaatlicher, medizinischer und psy-
ihre Folgen stellen Grundlagen der Sicherheitspolitik,         chologischer Konsequenzen, und diese auch institu-
wie ihren Stellenwert in der Risikovorsorge, interna-          tionell durch regelmäßige Bestandsaufnahmen und
tionale Verflechtung und multilaterale Allianzen, auf          Umsetzungsübungen sowohl von der Wissenschaft
den Prüfstand. Ein Rückfall in sicherheitspolitische           als auch durch staatliche Behörden zu verankern. Da-
Muster, in denen nationales Handeln und militärische           rauf aufbauend könnte eine erweiterte Sicherheitspo-
Instrumente dominieren, wäre nicht zukunftsträchtig,           litik der Risiko-Vorbeugung dienen, indem sie Folgen
ebenso wenig ein Denken, das die Herausforderun-               von Ereignissen mindert, die die gesellschaftliche
gen der traditionellen Sicherheitspolitik über andere          Ordnung oder die Gesundheit und das Leben der Be-
existentielle Risiken stellt. Stattdessen scheint es uns       völkerung gefährden könnten.
geboten, aus der aktuellen Krise folgende Schlussfol-
gerungen für Veränderungen in der Sicherheitspolitik           Auch in der erweiterten Sicherheitspolitik sollten die
zu ziehen.                                                     Kompetenzen der verschiedenen Akteure auf zentral-

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IFSH – Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg

   staatlicher, bundesstaatlicher und kommunaler Ebe-                         über umfassende Sicherheitsrisiken und die daraus
   ne nicht vermischt werden. Aber dort, wo Synergien                         erwachsenden Möglichkeiten für eine engere Zusam-
   möglich sind, etwa im Bereich des Vorhaltens von                           menarbeit in Europa zu verstärken. Eine geeignete
   Reserven im Gesundheitssektor auch für Großscha-                           Plattform dafür ist die Organisation für Sicherheit
   densereignisse, sollten sie genutzt werden.                                und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). Zum ande-
                                                                              ren sollten Initiativen für nukleare und konventionelle
   Die Abwehr, Vorbeugung und Bearbeitung der ver-                            Rüstungskontrolle in Europa verstärkt werden. Pri-
   schiedenen existentiellen Risiken, von Pandemien                           märes Ziel ist es, gegenseitig als Bedrohung wahrge-
   über Klimawandel bis zum Atomkrieg, erfordert eine                         nommene militärische Fähigkeiten der anderen Sei-
   Beurteilung ihrer Bedeutung für den Schutz von Le-                         te abzubauen. Darüber hinaus sollte langfristig eine
   ben, Gesundheit, gesellschaftlicher Ordnung, wirt-                         Minderung der Potentiale und der für ihre Finanzie-
   schaftlicher Existenz und natürlicher Umwelt. Sie ist                      rung notwendigen Ressourcen angestrebt werden.
   eine Grundlage für die Zuteilung staatlicher Ressour-                      In diesem Zusammenhang ist es weiterhin sinnvoll,
   cen an Personal und Geld.                                                  aktuelle Rüstungsprojekte der Bundeswehr kritisch
                                                                              zu überprüfen, sowohl unter finanziellen Gesichts-
   Die zweite Schlussfolgerung ist ein Plädoyer, neue                         punkten als auch im Hinblick darauf, inwieweit sie
   Chancen und Perspektiven zu eröffnen, die die Risi-                        möglicherweise durch Gegenreaktionen Initiativen
   ken traditioneller sicherheitspolitischer Bedrohungen                      für Rüstungskontrolle und Spannungsabbau konter-
   abbauen. Damit würden die finanziellen und perso-                          karieren könnten. Beispiele betreffen das geplante
   nellen Spielräume ausgebaut, die für eine vorbeugen-                       deutsch-französische Luftabwehrsystem FCAS und
   de und nachhaltige erweiterte Sicherheitspolitik not-                      die Beschaffung von neuen F-18 Kampfflugzeugen
   wendig sind.                                                               für die Bundeswehr, die im Rahmen der Nuklearen
                                                                              Teilhabe als Trägersysteme für U.S.-amerikanische
   Aus der erforderlichen Neubewertung von Sicher-                            Nuklearwaffen dienen sollen.
   heitsrisiken ergeben sich Chancen für Initiativen zur
   Entspannung in Europa, nicht zuletzt für das Ver-                          Als weitere Maßnahme empfehlen wir, die Vorsorge
   hältnis zwischen Russland und dem Westen. Überall                          und Resilienz gegenüber existentiellen Risiken grund-
   steigen die Anforderungen an einen umfassenderen                           sätzlich auszubauen. Insbesondere müssen destabili-
                              Bevölkerungsschutz bei                          sierende Gefahren frühzeitig vermieden und verringert
                              gleichzeitigem Rückgang                         werden, durch die sich Krisen verstärken und damit
                              der finanziellen Spiel-                         außer Kontrolle geraten können. Ein Element für einen
„AUS DER ERFOR-               räume. Die Pandemie                             besseren Umgang mit komplexen Krisen ist die Über-
                              und ihre Folgen haben                           prüfung und gegebenenfalls Verminderung der Rück-
 DERLICHEN NEU-               zudem mögliche Felder                           koppelungen, die zwischen verschiedenen Krisen
 BEWERTUNG VON                für eine stärkere Zusam-                        als Verstärker wirken und Dominoeffekte auslösen.
 SICHERHEITS­RISIKEN          menarbeit in der EU und                         Ein Beispiel dafür ist der Abbau von Abhängigkeiten
 ERGEBEN SICH CHAN-           darüber hinaus deutlich                         in den für die Sicherheit der Bevölkerung relevanten
                              gemacht.                                        Lieferketten aus dem Ausland, um die Notfallversor-
 CEN FÜR INITIATIVEN                                                          gung mit notwendigen Gütern zu garantieren. Ein
ZUR ENTSPANNUNG                         Konkret wird zum einen                weiteres Element ist die Sicherstellung einer ausrei-
 IN EUROPA.“                            empfohlen, den Dialog                 chenden Infrastruktur für die Versorgung und Exis-

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Policy Brief | Corona-Pandemie: Implikationen für die Sicherheitspolitik

Bundeswehrangehörige auf dem Weg zu ihrem Hilfseinsatz in Portugal. Das Land ist von der Corona-Pandemie besonders stark be-
troffen. © AFP

tenzsicherung der Bevölkerung in Extremfällen, also              reich der umfassenden Risikovorsorge und Resilienz
z.B. bei Pandemien oder einem Atomkrieg. Das Ge-                 für den Krisenfall, etwa beim Klimawandel (Pariser
sundheitssystem sollte nicht nur an wirtschaftlichen             Abkommen) und der Gesundheitsvorsorge. Dabei
Kriterien ausgerichtet werden, sondern für die Anfor-            sollte insbesondere die Weltgesundheitsorganisa-
derungen in Großschadensfällen ausreichend sein.                 tion (WHO) gestärkt werden, Katastrophenrisiken mi-
                                                                 nimiert, die Abrüstungsbemühungen verstärkt und
Die vorgehenden Empfehlungen richten sich zwar                   humanitärer Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit
vorrangig an Akteur*innen in Deutschland, sie las-               ausgebaut werden.
sen sich aber leichter in multilateraler Kooperation
umsetzen. Zudem widerspricht der alleinige Schutz                              WECKRUF CORONA-KRISE
der Bevölkerung in Deutschland dem Postulat globa-
ler Solidarität. Internationales Agieren muss vom Ziel           Die Entwicklung von Impfstoffen und die angelaufe-
bestimmt sein, Leben und Lebensbedingungen aller                 nen Impfkampagnen machen Hoffnung auf das bal-
und die Umwelt zu schützen. Das betrifft sowohl fi-              dige Ende der Pandemie. Aber die Bewältigung ihrer
nanzielle Aspekte als auch die Chancen, komplexen                Folgen wird deutlich länger dauern. Zudem zeichnen
Sicherheitsrisiken vorzubeugen wie etwa im Bereich               sich weitere globale Gefahrenlagen ab. Es darf daher
des Klimawandels.                                                auch in der Sicherheitspolitik kein einfaches Zurück
                                                                 zu den Vor-Coronakrise-Zeiten geben. Vielmehr sollte
Konkret empfehlen wir Initiativen zur Stärkung der               die aktuelle Krise Anlass sein, die Grundlagen der Si-
Europäischen Union sowie den Ausbau bestehender                  cherheitspolitik zu überprüfen und an das zu befürch-
multilateraler Abkommen und Institutionen im Be-                 tende breite Spektrum an Risiken anzupassen.

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LITERATUR
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    tischer Bedrohungen und Risiken unter Aspekten der Zivilen Verteidi-                  Sighart Neckel S (Hrsg.). Gesellschaftstheorie im Anthropozän. Cam-
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  Krastev, Ivan und Mark Leonard. Europe’s Pandemic Politics: How the                   Scheffran, Jürgen. Kollaps und Transformation: Die Corona-Krise und
    Virus has Changed the Public’s Worldview. European Council on                         die Grenzen des Anthropozäns. Wissenschaft & Frieden 2–2020: 6–9.
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  Dieser Text ist im Kontext von Diskussionen in der Studiengruppe „Europäische Sicherheit und Frieden“ der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler
  (https://vdw-ev.de/ueber-uns/studiengruppen/) entstanden. Wir danken den Mitgliedern für zahlreiche Anmerkungen und Kommentare.

ÜBER DIE AUTOREN                                                                                                   ÜBER DAS INSTITUT
Prof. Dr. Michael Brzoska ist Senior Research           Prof. Dr. Jürgen Scheffran ist Non-Resident                Das Institut für Friedensforschung und Sicher-
Fellow am IFSH. Von 2006 bis 2016 war er                Fellow am IFSH und Professor für integrative               heitspolitik (IFSH) erforscht die Bedingungen
Wissenschaftlicher Direktor des Instituts.              Geographie an der Universität Hamburg. Er                  von Frieden und Sicherheit in Deutschland,
                                                        leitet die Forschungsgruppe Klimawandel                    Europa und darüber hinaus. Das IFSH forscht
Prof. Dr. Götz Neuneck ist Senior Research              und Sicherheit (CLISEC) am Centrum für                     eigenständig und unabhängig. Es wird von der
Fellow am IFSH und Professor an der MIN-Fa-             Erdsystemforschung und Nachhaltigkeit und                  Freien und Hansestadt Hamburg finanziert.
kultät der Universität Hamburg.                         im Klima-Exzellenzcluster „Climate, Climatic
                                                        Change and Society“ (CLICCS).

DOI: https://doi.org/10.25592/ifsh-policy-brief-0221
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IFSH – Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg
Beim Schlump 83 20144 Hamburg Germany Telefon +49 40 866077 - 0 ifsh@ifsh.de www.ifsh.de
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