"Habe ich die Chance auf eine Zukunft?" - missio München
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VOR ORT TOGO „Habe ich die Chance auf eine Zukunft?“ Wer im vernachlässigten Hinterland von Togo zur Welt kommt, hat es sowieso schon nicht leicht. Wer ein Handicap trägt, oder wer keine Eltern als Unterstützer hat, dem ist der Weg heraus aus der Armut fast versperrt. Aber es gibt genügend Mädchen und Jungen, die es dennoch versuchen. TEXT: CHRISTIAN SELBHERR | FOTOS: JÖRG BÖTHLING 28 | missio 1/2020 missio 1/2020 | 29
VOR ORT TOGO mit einer körperlichen oder geistigen Be- hinderung in diesem Teil Afrikas noch oft zu hören. „Als unser Junge zur Welt kam“, sagt Yaogans Vater, Herr Koutoglo, „da waren wir nicht glücklich. Aber das hin- dert uns nicht daran, ihn genauso zu lie- ben, wie alle anderen.“ Die Familie ent- schied: Unser Sohn soll leben. Viele an- dere treffen eine andere Entscheidung – aus purer Not, aus Angst vor dem Zorn der Götter, aus der Furcht, im Dorf ge- ächtet und verstoßen zu werden. „Immer wieder werden Kinder zu uns gebracht“, sagt die katholische Ordens- schwester Rosaline Ekegnon. „Wenn wir die Kinder nicht aufnehmen, dann müs- sen sie sterben.“ Mal ist es jemand aus dem Dorf, der um Hilfe bittet. Mal mel- Auf dem Weg in die Ferien: Melanie und ihre Freundin Reine. Ihr Name bedeutet „Königin“. det sich ein Mitarbeiter einer Kranken- station und sagt: „Wir haben hier ein Frankreich und Deutschland glauben Ziegen haben, während die Geschwister Kind, das Hilfe braucht. Könnt ihr euch wollten. sich um andere Dinge – Futter sammeln, kümmern?“ Etwa 130 Kinder und Ju- Die Kinder suchen einen Platz im Wasser holen – kümmern. gendliche leben derzeit im Zentrum Waisenhaus oder in Gastfamilien. Aber Für Kinder mit Behinderung steigen „Jean Paul II“ in der Nähe der kleinen vor allem suchen sie für sich einen Platz die Chancen – die Schwestern haben eine Stadt Tohoun. Fast noch einmal so viele im Leben. Rosaline Ekegnon sagt: „Das Schule eröffnet, in der Kinder mit Han- sind bei Pflegefamilien untergebracht. Waisenhaus bildet die Ersatzfamilie. Wir dicap unterrichtet werden sollen. Auch Sie kamen als verstoßene Kinder, und jetzt kümmern sie sich um andere, die Hilfe brauchen. Im Waisenhaus kommen vor allem Schwestern sind bereit, die Waisenkinder andere Organisationen in Togo haben es Mädchen unter. Für die Jungen werden solange zu begleiten, bis sie selbst ihr geschafft, den Staat zu mehr Einsatz für Gastfamilien gesucht. Dafür fahren die Leben in die Hand nehmen können.“ benachteiligte Kinder zu bewegen. Ande- Schwestern oft tagelang durchs Land, bis Irgendwann wird auch ein Junge wie rerseits fiel im Schuljahr 2018 in staatli- IN ZEITEN DER NOT wächst hinunter in die 150 Kilometer entfernte Yaogan groß werden. „Ich hoffe,“ sagt chen Schulen fast der ganze Unterricht der Erfindergeist. So gesehen, muss die Hauptstadt Lomé, bis hinüber auf die Yaogans Mutter, Frau Afi Amouzou, aus, weil überall in Togo die Lehrer streik- Not der Familie Koutoglo groß sein, hier andere Seite der Grenze. Das Nachbar- „dass mein Sohn wenigstens einmal Tiere ten. Sie bekamen seit langem kein Geld im kleinen Dorf Adjikame in Togo. Der land Benin ist nicht allzu weit, und die hüten kann.“ Vielleicht würden seine Brü- vom Staat. Rollstuhl, den die Familie für ihren Sohn Menschen in Togo und Benin verbindet der ihn mitnehmen und er könnte dann Yaogan verwendet, ist ein abenteuerliches mehr, als es koloniale Grenzzieher aus auf dem Feld ein Auge auf die Schafe und SR. ROSALINE EKEGNON: Gefährt aus einem weißen Plastikstuhl, „Wenn wir die Kinder nicht aufnehmen, der auf einem Konstrukt aus Eisenstan- dann müssen sie sterben.“ gen sitzt und links und rechts von zwei Fahrradreifen gehalten wird. Eine schlaue Erfindung. Der Rollstuhl ist robust genug für die verschlungenen Wege durch die Wälder und den holpri- gen Lehmboden im Dorf. Und der Stuhl ist groß, der 12 Jahre alte Yaogan hat reichlich Platz darin. Das heißt: Der Junge kann noch viel größer werden. Und das soll er auch. Denn Yaogan darf leben. Obwohl er mit einer Behinderung zur Welt kam. „Du bist verflucht!“ – „Deine Mutter ist verflucht!“ – „Das ganze Dorf wird verflucht!“ Das bekommen Menschen 30 | missio 1/2020 missio 1/2020 | 31
Ja, es gibt Fortschritte, aber auch schneller Straßenimbiss. „Damit wollen an – und vielleicht hören die älteren Rückschläge, und oft auch beides zu- wir unser eigenes Geld verdienen“, sagen Mädchen ihr ja zu. Jene, die 16, 17 Jahre gleich. „Akovi“ heißt „Mittwoch“, und die Frauen. alt sind, gelten in den Dörfern lange das war der Name eines verstoßenen Kin- „Schwester, was müssen wir tun, damit schon als begehrte Heiratskandidatinnen. des, das vor einigen Jahren zu den wir nach Europa gehen können?“ – Kur- Zwangsverheiratungen sind nicht selten Schwestern kam. Sie konnte nur auf zes Kichern in der Runde, dann: ge- – oft nimmt sich ein älterer Mann ein Knien am Boden rutschen, doch trotz- spannte Stille. Es wird dunkel jetzt, der junges Mädchen zur zweiten oder dritten dem kam sie schnell vorwärts. Sie lernte, Tag ist bald zu Ende, die Nacht bricht an, Frau. Weil es eben geht. Oder es die Göt- wurde erwachsen, kehrte zurück in ihr die Schwestern haben ihre Waisenkinder ter so bestimmt haben. Oder weil der Dorf und konnte ein kleines Geschäft am lehmigen Platz vor einem der Ge- Preis stimmt, den der Mann zu zahlen aufmachen. Doch nach einer Weile kam bäude versammelt. Sie werden gleich bereit ist. sie wieder – mit einem kleinen Kind, von noch ein kleines Gebet sprechen, dann Da kann ein Zentrum wie das der einem alkoholkranken Mann. Heute lebt ist Schlafenszeit. Schwestern einen gewissen Schutz bieten. sie wieder bei den Schwestern. Akovi ist Aber für wie lange? Und was die Schwes- erwachsen – und übernimmt selbst Ver- Mit 16 oder 17 Jahren gelten sie als ter eben sagte: Fleißig sein, lernen – das antwortung für Bedürftige. „Ich küm- Kandidatinnen für eine Heirat allein wird doch nicht für eine Zukunft in mere mich jetzt um sechs andere Kinder“, Aber jetzt – diese Frage. Schwester Rosa- Europa reichen? Die Schwester ahnt das sagt sie stolz. line überlegt nicht lange, dann gibt sie die natürlich auch. Aber kann es schaden, Zusammen mit ihrer Freundin Pasca- Antwort: „Ihr müsst fleißig sein. Macht den Mädchen Hoffnung auf ein besseres line verrührt sie eine Erdnusspaste mit euren Schulabschluss. Lernt einen Beruf. Dasein zu geben, sie anzuspornen, aus ih- Palmöl zu einem Teig. Daraus wird eine Dann könnt ihr alles schaffen,“ sagt rem Leben etwas zu machen? Und wenn Art Erdnusskeks werden, der hier in der Schwester Rosaline. „Und lasst euch Zeit. es nur in ihrem eigenen Dorf ist? Gegend sehr beliebt ist. Der nahrhafte Überlegt euch, wann ihr Kinder haben „Ich will es versuchen, jeden Tag“, sagt Snack verkauft sich besonders gut als wollt.“ Da spricht sie eine wichtige Sache ein junger Mann namens François Togbe. Leere Schule: Die Lehrer streiken. Unten: Familie Koutoglo mit Sohn Yaogan (Mitte). PASCALINE BALO AKPENE: Wer mit Behinderung zur Welt kommt, gilt als verflucht. 32 | missio 1/2020 missio 1/2020 | 33
VOR ORT TOGO Er ist heute am späten Nachmittag nach wischt, Matratzen gereinigt. Wer Ver- AFRIKATAG 2020 Tohoun gekommen, weil er kurz bei den wandte hat oder einen Platz in der Pfle- Schwestern vorbeischauen will. Sie för- gefamilie, darf die Ferien dort verbrin- Die Einheimischen fördern, damit sie ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen können dern ihn seit einer Weile. Er konnte eine gen. Die Mädchen sind jetzt 16, 17 Jahre – das ist eines der Anliegen moderner Entwicklungszusammenarbeit. Einen solchen Ausbildung zum Koch in einem kleinen alt. Was sie nicht mehr brauchen werden, einheimischen Partner hat missio München in der Schwesterngemeinschaft „Soeurs de Lokal in der Stadt Notsé machen. „Jetzt das stapeln sie vor dem Wohngebäude: Notre Dame de Nazareth“ gefunden. Sie wurde 1983 in Togo gegründet. Die Schwes- würde ich gerne meinen eigenen Imbiss Spielzeug zum Beispiel. Ein gelbes Plas- tern sorgen sich um benachteiligte Frauen und Mädchen und bieten Waisenkindern aufmachen“, sagt er. Aber er weiß noch tikflugzeug ist dabei, eine „Schlumpf“-Fi- und Kindern mit Behinderung ein sicheres Zuhause. Die wirtschaftliche Lage im west- nicht, wie es ihm gelingen soll. Ob die gur und andere Stofftiere. Während die afrikanischen Togo ist weiterhin sehr schwierig. Schwestern vielleicht ein wenig helfen Mädchen wieder aufräumen gehen, nä- Trotz massiver Proteste könnten? hern sich einige jüngere Kinder. Sie grei- gegen seine von Korrup- Ein paar Meter weiter: Wie immer um fen nach dem aussortierten Spielzeug. tion und Misswirtschaft diese Zeit im Jahr haben die älteren Mäd- Die anderen haben es für die Jüngeren geprägte Regierungszeit chen ihre Schlafsäle ausgeräumt. Groß- zurückgelassen, denn sie selbst sind bald konnte sich Präsident putz ist angesagt, die Ferien beginnen keine Kinder mehr. Obwohl sie für im- Faure Gnassingbé bei den bald. Koffer werden gepackt, Böden ge- mer Waisen bleiben werden.A Wahlen 2015 im Amt hal- ten. Damit regiert seine Nicht viel los an der Grenze zwischen Togo und Benin. Links unten: Ein Fetisch-Altar zeigt, wieviel Macht die traditionellen Götter besitzen. Familiendynastie die frü- here deutsche Kolonie seit mehr als 50 Jahren. Der Vater des Präsiden- ten war der langjährige Machthaber Gnassingbé Eyadema, dem bis heute schwere Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen werden. Trotzdem erlebte das Land und besonders die Hauptstadt in den 70er-Jahren eine kurze Blütezeit („Swinging Lomé’). Es folgten Niedergang und Armut, vor allem auf den Dörfern. Das Zentrum „Jean Paul II“, nahe des kleinen Grenzortes Tohoun, wurde 1994 gegründet. Dort und bei Pflegefamilien beherbergen die Schwestern um Sr. Rosaline Ekegnon (im Bild links) fast 250 Waisen. missio München unterstützt die Einrichtung seit vielen Jahren. Spenden kommen aus Pfarrgemeinden, wie etwa St. Bonifatius in Haar bei München und von „Sternstunden e.V.“, der Benefizaktion des Bayerischen Rundfunks. Zum Afrikatag 2020 wirbt missio München mit dem biblischen Leitwort „Damit sie das Leben haben“ (Joh 10, 10) um Unterstützung: Am 6. Januar 2020 sammeln die bayerischen Diözesen Spenden, am 12. Januar 2020 ist das Bistum Speyer dran. Plakate und kostenloses Infomaterial gibt es auf www.missio.com sowie bei Michael Krischer, Tel.: 089-5162-247 und m.krischer@missio.de 34 | missio 1/2020 missio 1/2020 | 35
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