BLÄHUNGEN VON DINOSAURIERN - Zur Geschichte der deutschen Saderezeption.

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Hans-Ulrich Seifert

                 BLÄHUNGEN VON DINOSAURIERN . . .
                Zur Geschichte der deutschen Saderezeption.
     Vortrag gehalten im Institut Français zu Heidelberg am 15. Januar 1992
                    (Unveränderter, lediglich um eine Fußnote erweiterter Abdruck)

Die Blähungen von Dinosauriern, so war Ende letzten Jahres in verschiedenen Zeitungen zu
lesen1, haben zur Erwärmung der Erdatmosphäre beigetragen. Und das in einem Maße, dass
die sorglos vor sich hin defäzierenden Reptilien sich schließlich ihrer Existenzgrundlage
selbst beraubt haben und ausgestorben sind. Auch wenn der beschriebene Vorgang vor
allem auf die vegetarischen Riesenechsen der späten Kreidezeit zurückzuführen ist, weist er
doch eine gewisse Analogie zu dem blutdürstigen Tyrannosaurus rex der Spätaufklärung,
als den das 19. Jahrhundert uns Sade zeichnet, auf. Die Frage nach dem Dinosaurierkot lässt
zudem im gegebenen Kontext unweigerlich an die hysterische Koprophobie denken, mit der
Justine ou les Malheurs de la vertu von Anfang an als Codex aus Unflat, Kot und Schmutz
verfolgt wurde.2

Hält man sich an die vielgelesenen Massenblätter der Gegenwart, kann man den Eindruck
gewinnen, dass die wachsende Durchsetzung der literarischen Stratosphäre mit Partikeln
des sadeschen Werks auch schon ein bevorstehendes Ende ankündigt, jedenfalls dort, wo
diese im Bodensatz des Feuilleton ihren Niederschlag gefunden haben. Der deutsche
Playboy grüßt 1990 zum Geburtstag mit der Überschrift: "Happy birthday, du alte Sau"3,
und die Bildzeitung titelt im Dezember 1991: "Seine Frau - wie konnte sie es so lange mit
ihm aushalten"4. Es sieht ganz so aus, als wollte man Sade in dem literarischen
Kuriositätenkabinett5, in das man ihn seit dem 19. Jahrhundert verfrachtet hat, massenwirk-
sam verenden lassen. Der schnelle Sprung vom Mesozoikum zur Postmoderne lässt
vielleicht ein gewisses Gefühl der Benommenheit aufkommen, so dass es sich empfiehlt,
zunächst einmal auf ungleichem Wege Halt zu machen, ab ovo, sprich bei Sade zu beginnen
und einen Blick ins 18. Jahrhundert zu tun, das ja das seine war.

Jedem mit der Sade-Literatur ein wenig Vertrautem wird folgendes Urteil als Perle aus dem
Schatzkästlein früher antisadeianischer Rhetorik erscheinen:

Man sieht in diesem Werke einen lasterhaften Greisen, der in jeder Art von Geilheit unterrichtet und
erfahren ist; der nach den schandvollsten Unflätereyen noch lechzet; der nur in den schmutzigsten
Lüsten Erquickung und Freude findet; der Geistlich und Weltlich, Göttlich und Menschlich ohne
Unterschied durcheinander mengt, und den Herrn Jesus, die seligste Jungfrau, und die Heiligen in
eben dieselben Schandmährchen verwickelt; der mit Gotteslästerungen kurzweilet, mit
Gottlosigkeiten sich belustiget, und in Geilheit entzückt wird, da er fähig ist, in diesem Stücke noch
weit gräulichere Unterweisungen zu geben, als selbst die Hölle nicht geben könnte.6

1
  Vgl. z.B. Frankfurter Rundschau vom 25.10. 1991. Das Aussterben der Dinosaurier ist nicht auf die in dieser
Zeitungsnotiz kolportierte Hypothese, sondern auf Meteoriteneinschlag zurückzuführen.
2
  Vgl. z.B. Jules Janin, Der Marquis von Sade, Leipzig 1835 (hier zitiert nach Ausgabe München: Belleville,
1986, S. 21-22).
3
  Playboy (deutsche Ausgabe) Nr.6 (1990), S. 53.
4
  Bild vom 20. Dezember 1991.
5
  Vgl. Franz Blei, "Der Marquis de Sade", in: Das Kuriositätenkabinett der Literatur, Hannover 1924, S. 344-
351 und Emil Szyi11a, Das Kuriositäten-Kabinett, Konstanz 1923.
6
  Vgl. Les Erreurs de Voltaire, par M. l'Abbe Nonnotte, t.2, Lyon 1770, 6ième éd. 1770, S. 318. Hier zitiert
nach Historische und kritische Nachrichten von dem Leben und den Schriften des Herrn von Voltaire und
anderer Neuphilosophen unserer Zeiten, gesammelt und herausgegeben von Johann Christoph von Zabuesnig,
Doch mit dem lasterhaften Greis ist nicht der Greis von Charenton7 gemeint, von dem
noch Victorien Sardou sich berichten lässt, er habe genussvoll Rosen in den Morast
getreten8 - ein Bild, das emblematischen Charakter hat und von André Breton noch mit
Vergnügen zitiert wird9. Die Rede ist von Voltaire, der Text stammt aus dem Jahr 1762 und
rührt von einem enragierten Jesuiten (Nonnotte), erreichte binnen weniger Jahre sieben
Auflagen und wurde auch ins Deutsche übersetzt.
Auch Sade hat Nonnottes antiphilosophische Philippika gelesen und festgehalten, dass diese
keineswegs "une réfutation de morale" sei, eine Widerlegung der moralphilosophischen
Implikate der Theorien über Fatalismus und Prädestination, über Fremdbestimmung und
Eigenverantwortlichkeit, wie man heute vielleicht sagen würde, sondern allenfalls
philologische Haarspalterei, "une réfutation d'histoire" eben10. Die antiphilosophische
Polemik, die die geistige Auseinandersetzung, den Streit der philosophischen und
gesellschaftlichen Systeme in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Frankreich prägt,
von Palissots Philosophensatire bis zu der mit akademischem Lorbeer überschütteten Satire
des romans du jour von Millevoye, in der es nicht an Seitenhieben auf Sades ‚livres
élémentaires de la débauche’ fehlt11, hat in Deutschland in dieser Zeit kein eigentliches
Pendant. Auch fehlt es an einer die Romanproduktion seit dem Anbruch des
enzyklopädischen Zeitalters beflügelnden Verquickung philosophischer Maximen mit
erotischen Rahmenhandlungen, die in Frankreich mit Diderots Bijoux indiscrets und der
dem Marquis d'Argens zugeschriebenen Thérèse philosophe 1748 einsetzt, im selben Jahr,
in dem De 1'Esprit des Lois, L'Homme machine und Toussaints vielgedruckte Abhandlung
Des Moeurs erschienen ist, um nur einige Texte aus dieser Zeit anzuführen, die Sades
Denken und Schreiben später beeinflussen werden. Das Amalgam aus Epikureismus,
sensualistisch gefärbtem Materialismus, moralphilosophischer und gesellschaftspolitischer
Pragmatik, das eine Vielzahl französischer Traktate und Romane aus der 2. Hälfte des 18.
Jahrhunderts kennzeichnet, findet sich in nuce in Deutschland allenfalls bei Wieland wieder
und einigen heute vergessenen Minores wie dem ostpreußischen Erotiker und Kantianer
(eine eher seltene Verbindung!) Johann Georg Scheffner, der als einziger deutscher Autor
einen Roman geschrieben hat, in dem versucht wird, die Vermittlung aufgeklärter Thematik
auf der Bahn einer schlüpfrigen Rahmenhandlung zu beschleunigen.12
Auch der altruistische Atheismus eines d'Holbach oder Diderot - "le premier pas vers la
philosophie, c'est l'incrédulite", sollen dessen letzten Worte gewesen sein13, - findet kein zu
gesellschaftlicher Wirksamkeit erstarkendes Echo hierzulande. Man vergleiche Sades frühe
Satire, den Dialogue entre un prêtre et un moribond (1782) mit den vier Jahre zuvor in
Frankfurt gedruckten Briefe[n] von Sterbenden an ihre hinterlassenen Freunde, in denen
allenthalben den "sträflichen Begierden" (S.221) und "wollüstigen Trieben" (S.10) ein
schreckliches Schicksal in Aussicht gestellt wird14, oder mit Gellerts Schilderung des 'Todes

Bd. l, Augsburg 1777, S. 231-232.
7
  Vgl. Sade, Der Greis in Charenton. Letzte Aufzeichnungen und Kalkulationen, München: Belleville, 1990.
8
  Vgl. Chronique médicale N° 24, 1902, S. 807-808.
9
  André Breton, Manifestes du surréalisme, Paris 1962, S. 219.
10
   Sade, Lettres et Mélanges littéraires, publ. par Georges Daumas et Gilbert Lely, t.3 (CXLVIII Lettres
inédites à Madame de Sade), Paris 1980.
11
   Charles-Hubert Millevoye, Satire des romans du jour, considérés dans leur influence sur le goût et les
mœurs de la Nation, Paris An XI-1802, insbes. S. 4 und 14.
12
   Vgl. hierzu das Nachwort von H.-U. Seifert und M. Farin zur Neuausgabe der Thérèse philosophe des
Marquis d'Argens (München: Schneekluth, 1990). Ernst und Minette, Königsberg 1791 erschienen, wurde
zuletzt 1972 im Hamburger Merlin-Verlag neu aufgelegt. Zu Sades Lektüren allgemein vgl. Seifert, Sade:
Leser und Autor, Bern [u.a.]: Lang, 1983.
13
   Vgl. Mémoires, correspondance et ouvrages inédits de Diderot, Paris 1830, Bd. l, S. 56.
14
   Briefe von Sterbenden an ihre hinterlassenen Freunde, Frankfurt und Leipzig 1778 (hier insbes. S. 10 und
221).
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eines Freigeistes' (1746)15, zu der Chodowiecky warnende Kupfer gestochen hat, um zu
ermessen, dass die Grenzen, innerhalb derer sich die Rezeption eines Werkes wie Justine in
Deutschland vollziehen konnte, eng abgesteckt waren.

Justine ou les malheurs de la vertu erscheint Ende 1791. Das als "très dangereux"
eingestufte Werk16 erlebt in den folgenden Jahren mehrere Neuauflagen, von denen eine im
Journal général de France vom 27. September 1792 besprochen wird17. Auszüge aus dieser
Besprechung erscheinen ein dreiviertel Jahr später in den Gothaischen gelehrten
Zeitungen.18 Im Gothaischen Manuskript der Correspondance littéraire, einem 1753 von
Melchior Grimm ins Leben gerufenen Informationsbulletin, das monatlich in
handschriftlichen Kopien an eine Vielzahl bedeutender europäischer Fürstenhäuser
verbreitet wurde, findet sich Anfang 1794 eine Notiz zur Justine aus der Feder des Zürcher
Schriftstellers und Journalisten Jacques-Henri Meister. Meister hatte die Correspondance
littéraire seit 1775 von Paris aus redigiert, war nach der Revolution aber in seine
Heimatstadt zurückgekehrt, in die man ihm ein Exemplar von Sades Roman oder
Nachrichten dazu geschickt haben muss. Meister schreibt, dass die Verbreitung des
gefährlichen, ja des "gefährlichsten aller schlechten Bücher" vom Wohlfahrtsausschuss der
französischen Republik untersagt worden sei, welche Maßnahme man jedoch erst nach der
vierten oder fünften Auflage ergriffen habe19. Schwingt in dieser Aussage die Verbindung
des Romans mit der unmittelbar gegebenen historischen Situation lediglich als Andeutung
mit, führt eine ungefähr zur selben Zeit für die Zeitschrift Humaniora geschriebene
Besprechung des Romans dessen Verwurzlung im ideologischen Kontext der Revolution in
extenso aus. Sie stammt aus der Feder von Ludwig Ferdinand Huber, einem Jugendfreund
Schillers und späteren Weggefährten Georg Forsters, und wurde ebenfalls in der Schweiz
verfasst, denn Huber redigierte das von ihm in Leipzig herausgegebene Journal von
Neuchâtel aus. Es handelt sich um den ausführlichsten und wohl auch interessantesten Text
zu Sades Werk, der während er noch lebte in deutscher Sprache erschienen ist, weshalb hier
wenigstens der erste Abschnitt in voller Länge zitiert sei:

Justine, ou les malheurs de la vertu: das ist der Titel eines Buches, dessen Existenz, so viel wir
wissen, in Deutschland wenig oder gar nicht bekannt ist, und das durch seinen Innhalt, durch den
Succeß, den es in Frankreich gehabt hat, durch den Zeitpunkt, in welchem es herauskam, zu den
merkwürdigsten Erscheinungen unsers Jahrhunderts gehört.
Die erste von den zahlreichen Auflagen dieses Buches ist vom Jahr 1791. Es enthält unter dem
Gewande der Fiktion einen vollständigen theoretischen und Experimentalkursus des Atheismus, der
Immoralität, und des Verbrechens. Aber die trockne Anzeige, die wir mit diesen wenigen Worten
von dem Gegenstand dieser Schrift machen, ist noch sehr entfernt, einen Begrif von deren Geiste zu
geben. Wir sind überzeugt, dass Justinens Existenz eine von den Thatsachen ist, ohne deren
Kenntniß die philosophische Beurtheilung der Revolutionsgeschichte nicht anders als unvollständig
ausfallen kann; und diese Ueberzeugung bewegt uns, bei einem Gegenstand zu verweilen, der,
indem er Imagination, Gefühl und Sinnlichkeit auf die grausamste Folter spannt, zugleich die
Vernunft betäubt, und - wir wagen es zu behaupten - den stärksten Denker auf einen Augenblick
verwirren kann.20

15
   In den Fabeln und Erzählungen, 2. Teil, Leipzig 1748 erstmals veröffentlicht.
16
   In der ersten Besprechung des Romans in Aubrys Feuille de correspondance du libraire - vgl. Jean-Jacques
Pauvert, Der göttliche Marquis, Bd.2, München 1991, S. 913.
17
   S.4095-4096. Wieder abgedruckt im Journal encyclopédique vom 20. Oktober 1792, S. 110-115.
18
   30. Stück vom 27. Juli 1793, S. 236.
19
   Vgl. Michel Delon, "Meister lecteur de Sade", in: Du Baroque aux Lumieres. Pages a la memoire de Jeanne
Carriat, Rougerie 1986, S. 180-182.
20
   L.F. Huber, "Über ein merkwürdiges Buch", in: Humaniora 1 (1796), S. 71-85. Wieder abgedruckt in Jules
Janin, Der Marquis de Sade und andere Anschuldigungen, München: Belleville, 1986, S.45-52. Zu Huber vgl.
Sabine Dorothea Jordan, Ludwig Ferdinand Huber (1764-1804). His Life and his works, Stuttgart 1978.
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Neben der Einbindung des Romans in seinen historischen Bezugsrahmen ist Hubers
Hervorhebung des fehlenden Echos in Deutschland zu unterstreichen, zumal er zu berichten
weiß, dass "Justine in Frankreich verschlungen worden ..., eine Modelektüre in Paris
gewesen ist" und "als eine solche den entschiedensten, durch viele Auflagen erwiesenen,
literarischen Succeß gehabt" habe. Warum wurde der Roman, der in Frankreich ein
literarisches Gewitter entfesselt hat, wie Jean-Jacques Pauvert schreibt21, nicht ins Deutsche
übersetzt? Selbst die weniger bekannten Romane eines Louvet de Couvray fanden
unmittelbar nach ihrem Erscheinen deutsche Bearbeiter, Rétif de la Bretonne konnte sich
rühmen, diesseits des Rheins zu den meistgelesenen Autoren zu zählen und Merciers
Nouveau Tableau de Paris wurde schon aus dem Manuskript übersetzt, bevor überhaupt
eine französische Druckausgabe auf dem Markt war. Nur im Falle Sades (und anderer
einschlägiger philosophisch motivierter Erotika22) scheint die kommerzielle Verwertung an
eine nur schwerlich näher zu bestimmende Grenze gestoßen zu sein.

Es gibt zwar Gerüchte, denen zufolge im Herzogtum Braunschweig eine Zehntausender-
Auflage von Justine und Juliette durch einen französischen Emigranten vorbereitet worden
sein soll23, doch erweisen diese sich als ebenso wenig konsistent wie die Behauptung des
italienischen Romantikers Ugo Foscolo, der 1804 in "einer kleinen Stadt zwischen
Frankreich und Flandern im Hause eines armen Druckers" beobachtet haben will, dass dort
die "zwanzigste oder dreißigste Auflage" von Sades Roman für einen Pariser Drucker
vorbereitet wurde, wobei das achtzehnjährige Töchterchen ihm bei der Fahnenkorrektur zur
Hand gehen musste24. Die tatsächliche Auflagenhöhe von Sades Romanen dürfte, je nach
Werk, bei 1000 bis 3000 Exemplaren, die Zahl der Auflagen im 18. und frühen 19.
Jahrhundert bei zwei bis fünf gelegen haben, wenn man sich an die von Pauvert erstmals
konsequent ausgewerteten Akten über Beschlagnahmungen insbesondere der Nouvelle
Justine und Histoire de Juliette als Indikator hält.25

Auch wenn die Zahl sich so betrachtet reduziert, bleibt doch erstaunlich, dass so wenige
Exemplare im Felleisen der zahlreichen Revolutionstouristen, von denen einige in
Frankreich über den Roman und seine frühe Legende gestolpert sind26, oder im Gepäck der

21
   Jean-Jacques Pauvert (wie Anm.16).
22
    Es existiert eine Manuskript gebliebene Übersetzung der Thérèse philosophe aus dem Jahr 1796; eine
gedruckte Ausgabe des Werkes in deutscher Sprache erschien jedoch erst 1908. Vgl. dazu das in Anm. 11
zitierte Nachwort von Seifert/Farin.
23
   Vgl. Montgaillard, Histoire de France depuis la fin du règne de Louis XIV iusqu'à l'annee 1825, 2de éd.,
Paris 1827, Bd.2, S.440-441: "Les épouvantables écrits du comte de Sade (Justine, Juliette) se trouvent sur le
divan des femmes a la mode! Cette horrible dépravation n'est pas, au reste, particulière aux Français de Paris:
les émigrés la voient se propager au milieu d'eux; un émigré, affublé du titre de marquis ... inondera
l'Allemagne des monstrueuses productions du comte de Sades; il imprimera dans les états du duc de
Brunswick, Justine et Juliette, tirera à dix mille exemplaires ces oeuvres infernales, et y joindra les gravures
les plus infâmes qu'on ait jamais produit au grand jour ...".
Gerüchte über die Verbreitung von Sades Werk in Deutschland hatte bereits 1810 der Pamphletist Victor
Alexandre Chretien Le Plat du Temple in eine Mes censeurs betitelten antinapoleonischen Abhandlung
gestreut. Dort heißt es, eine Teilauflage „du plus sale des roman qu’ait composés le dévergondé Sades, après
avoir été confisquée à Paris fut revendue en masse, avec la clause d’en exporter une partie; ce qui, au grand
profit des mœurs, a fait voyager cette belle production dans toute l’Allemagne, et sans doute plus loin » (Le
Plat, Les Voilà, 2ième partie, Londres et Paris 1815, S. 133-134).
24
   Foscolo, Della servitù dell'Italia, Edizione Nazionale, t.VIII, S. 200-201, zitiert nach Fausto Curi, Struttura
del risveglio, Bologna 1991, S. 155-156.
25
   Vgl. Jean-Jacques Pauvert (wie Anm.16), S. 1195-1202.
26
   Vgl. Georg Friedrich Rebmann, Die neue Schildwache, Bd. l, Paris 1798 (Nachdruck Nendeln 1972), S. 73;
Johann Georg Heinzmann, Meine Frühstunden in Paris, Basel 1800, S. 190. Villers zufolge (vgl. unten Anm.
27) soll auch der Freiheitspilger Johann Lorenz Meyer (ein Hamburger Domherr) sich in seinen Auf-
zeichnungen aus Paris zu Sade geäußert haben. Diese lagen Villers in der Handschrift vor; in der
Druckausgabe von Meyers Bericht findet sich kein Hinweis zu Sade.
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noch zahlreicheren Emigranten, die seit 1789 die Kleinstaaten zwischen Hamburg und dem
Bodensee überschwemmten, nach Deutschland gelangt sind.

Eines zumindest hat sich der lothringische Schriftsteller und Philosoph Charles de Villers
besorgt, um 1797 für den Spectateur du Nord, eine in Hamburg verlegte
Emigrantenzeitschrift, seine "Lettre sur le roman intitulé: Justine, ou les Malheurs de la
vertu" zu verfassen27. Als Adressatin des Rezensionsbriefes darf man Dorothea Schlözer
vermuten, die schon in Gesprächen mit dem Freund Villers auf Sades Roman zu sprechen
gekommen war und als erste in Deutschland zur Philosophin promovierte Frau
gewissermaßen professionelles Interesse an dem Buch haben musste28.

Ähnlich Huber betont Villers die immense Verbreitung des Werks in Frankreich. Es wird
als unmittelbarer Ausdruck der historischen Ereignisse gedeutet: "c'est un des fruits les plus
odieux de la crise révolutionnaire". Villers fordert zu seiner Vernichtung auf, der er auch
die letzten drei Exemplare seines Hamburger Buchhändlers zuführen will.

Zehn Jahre später wird Villers die historisierende Erläuterung zum Ursprung des Romans
durch eine nationalistische ersetzen. In seiner Abhandlung Sur la manière essentiellement
différente dont les Poètes français et les allemands traitent l'Amour stellt er die These auf,
dass in Frankreich die Liebe seit dem Roman de la Rose ("ce poème n'est autre chose qu'un
traité de la séduction") stets mit der Schilderung von Obszönitäten einhergegangen sei,
wohingegen die deutschen Dichter Liebe losgelöst von allen körperlichen Attributen in
mystifizierendem Idealismus theologisch verklärten. "Puisque nous avons abordé cet article
délicat de la pudeur dans l'expression de l'amour, que dirons nous de l'effroyable nombre de
ces écrits licencieux, qui déshonorent la langue et la littérature des Français; et dont le
cynisme révoltant dépasse les bornes même du libertinage le plus honteux? Quelle
dégoûtante catégorie depuis l'Aloysia jusqu'à la Justine!"29 In der drei Jahre später
erschienen deutschen Übersetzung dieses Aufsatzes heißt es an der entsprechenden Stelle
weiter ausführend: "Welch ekelhafte Reihe von der Aloysia an bis zur Justine, dem
abscheulichsten aller genielosen Erzeugnisse eines verworfenen Geistes!"30

Das Original seiner Studie hatte Villers bereits Ende 1806 an Goethe gesandt, der sich in
seinem Dankschreiben erfreut über die elogieuse Behandlung seines eigenen Werkes zeigte
zur Justine jedoch kein Wort verlor31. Goethe hatte Sades Roman im Herbst 1798 aus der
Weimarer Bibliothek für vier Wochen entliehen, wie man aus den 1931 veröffentlichten
Ausleih-Journalen weiß32, doch fehlt jeglicher Hinweis darauf, dass er die beiden Bände

27
   Bd.VI, Décembre 1797, S. 407-414.
28
   Vgl. Bärbel und Horst Kern, Madame Doctorin Schlözer, München 1988, S. 162.
29
   In: Polyanthea. Ein Taschenbuch für das Jahr 1807, Münster 1806, S. 3-38 (hier: S. 21). Vgl. hierzu auch
Michel Delon, "Clivages idéologiques et antagonismes nationaux à l'époque de la Révolution et de l'Empire: le
cas de Charles de Villers", in: Hans-Jürgen Lüsebrink/Janosz Ries (Hrsg.), Feindbild und Faszination.
Vermittlerfiguren und Wahrnehmungsprozesse in den deutsch-französischen Kulturbeziehungen (1798-1983),
Frankfurt am Main 1984, S. 25-38 sowie Alfred Opitz, "Das gallische Pandämonium. Frankreich und die
französische Literatur in der konterrevolutionären Presse des ausgehenden 18. Jahrhunderts", in: Pierre
Grappin (Hrsg.), L'Allemagne des Lumières, Paris 1982, S. 379-410.
Die Akademie von Dijon hatte 1808 die Preisfrage "Si la Nation Française mérite en effet le reproche de
légèreté que lui font les nations étrangères" ausgeschrieben, an der Villers aus Zeitgründen jedoch nicht
teilnehmen konnte, wie er in einem Brief vom 1. März 1810 (in: Extra-Beylage zum Morgenblatt für gebildete
Stände N° 6/1810, S. 25-27) darlegt. Den Preis hatte Lemoine mit einer die Frage verneinenden Abhandlung
gewonnen, wie das Morgenblatt in seiner Lieferung vom 9. Januar 1810 (Band 4,1, S. 32) berichtet.
30
   In: Vaterländisches Museum, Bd. 1, 3. Heft, Hamburg 1810, S. 299-343 (hier: S. 328). Vgl. auch Edmond
Eggli, L'Erotique Comparée de Charles de Villers, Paris 1927.
31
   Vgl. Werke (Sophien-Ausgabe), 4. Abt., 19. Band, Weimar 1895, S. 232-233 (N° 5283).
32
   Vgl. Goethe als Benutzer der Weimarer Bibliothek. Ein Verzeichnis
                                                                                                           5
auch tatsächlich gelesen hat. Es ist gewiss nicht ohne Reiz sich vorzustellen, dass Sades
Heldin den einen oder anderen Zug zur bereits 1790 im Kern vorhandenen Gretchenepisode
des Faust33 geliefert haben könnte oder dass sein Roman Gegenstand der Gespräche
zwischen Goethe und Jean Paul war, der damals gerade den Weimarer Patriarchen besuchte.
Doch nichts ist unwahrscheinlicher als das! Vergeblich sucht man in den Werken und
Briefen der Hauptvertreter der deutschen Klassik und Romantik, in Bibliotheksinventaren
und Exzerptheften jener Zeit nach einer Spur von Sades Werk, das nicht nur an den
Genannten, sondern auch an Tieck und Brentano, an den Schlegels und Lamotte-Fouqué
spurlos vorbeigegangen ist.

In Deutschland wird Sade (d.h. Justine) damals von Fichte34 (Sommer 1796), von dem
Weimarer Gelehrten und Schriftsteller Karl August Böttiger35 (1797 und 1803; seine
Zehntausende von Briefen umfassende Korrespondenz wurde bislang nur in Auszügen
veröffentlicht), dem Literaturhistoriker Friedrich Bouterwek36 (1807) und dem Schweizer
Historiker Johannes von Müller (1800) gelesen. Die drei erstgenannten verschweigen ihre
Lektüre fast gänzlich oder erwähnen nur am Rande die "cynische", den "Höllenroman"
Justine. Lediglich Müller hält fest, dass Sade

„nicht, wie vormals viele [andere Schriftsteller] durch schlüpfrige Gemähide nur reizen, sondern
durch tiefsinnig scheinende philosophische Raisonnements zu zeigen such[t], dass alles erlaubt, gut,
nützlich, ja nothwendig ist. Systematisirt wurde das Verbrechen nie so. Hierzu kommt bei Sade die
er schreckliche Mischung der Grausamkeit mit der schamlosesten Lust; und dass gar alles, alle
Religion, alle Moral in allen Puncten durch diese Metaphysik angegriffen wird. So ein Buch ist mir
in der ganzen Literatur nirgend vorgekommen."37

Dem Werk eilt sein skandalöser Ruf voraus, ein Gerücht vom Allerschrecklichsten, das
auch Georg Christoph Lichtenberg kolportiert (der sich erst 143 Jahre später in Bretons
Anthologie de l'humour noir mit Sade vereinigt wiederfindet):

Von der Justine habe ich gehört, aber sie noch nicht gesehen. Es wird auch schwer sein sie jetzt
käuflich zu erhalten, aber gesprochen habe ich jemanden der sie gelesen hat. Es soll ganz über alle
deutsche Imagination hinaus abscheulich sein. In Vergleichung mit der Stadt oder dem Hofe, wo es
so herging, hätten Sodom und Gomorrha statt Feuer und Schwefel Orange-Blüten-Regen verdient.
Der Verfasser soll Laclos sein, der die Liaisons dangereuses geschrieben hat. In Hamburg sollen in
kurzer Zeit 1200 Exemplare verkauft worden sein. Das kann wirken. Ich hoffe nun, dass man
ehestens auch das Gelbe Fieber zu Hamburg wird haben können. Reichardt in seinem Revolutions-
Almanach soll auch von dieser Justine sprechen.38

Wie auch immer man Sade liest: Der singuläre Charakter des Romans, sein enragierter
Atheismus wie seine alle Körperlichkeit auf die kadavereske Dichotomie von Wollust und
Tod reduzierende Tendenz lassen ihn vor dem ästhetischen Kanon der Weimarer Klassik
ebenso scheitern wie vor dem jenseitshungrigen Programm der deutschen Romantik, die

der von ihm entliehenen Werke, hrsg. von Werner Deetjen, Weimar 1931, S.24 (N° 122).
33
    Von Goethes Sadelektüre sind keine Exzerpte überliefert, jedoch fand man Auszüge aus seinen
Aufzeichnungen gelegentlich der Lektüre der Manon Lescaut des Abbe Prévost, die nicht ohne Einfluss auf
die Gretchenfigur geblieben war - vgl. Goethe-Jahrbuch N.F. 19 (1957), S. 128-154 und 28 (1966), S. 76-92.
34
   Vgl. J.G. Fichte im Gespräch. Berichte der Zeitgenossen, hrsg. von Erich Fuchs (u.a.), Band 5, Stuttgart
1991, S. 259 und Band 6 (1992), Nr. 436a.
35 35
      Vgl. Neuer Teutscher Merkur 1 (1797), S. 264-267 (in einer Besprechung zu Rétif de la Bretonnes
Monsieur Nicolas) und Sabina, oder Morgenscenen im Putzzimmer einer reichen Römerin, Leipzig 1803, S.
263-264 (in einer Anmerkung).
36
   Geschichte der Poesie und Beredsamkeit, Band 6, Göttingen 1807, S. 406.
37
   Brief vom 7. November 1800 an seinen Bruder, in: Sämtliche Werke, 6. Teil, Tübingen 1811, S. 415-416.
38
   Brief an Jeremias David Reuß vom 9. November 1796, in: Schriften und Briefe, Bd. 4, München 1967, S.
953-954.
                                                                                                           6
ihre polymorph-perverse Phase bereits früh mit Schlegels Lucinde (1799) abgeschlossen
hatte.

Auch weniger agressive Werke, die ihren Nihilismus als verunsicherten ennui vortragen,
wie Senancours' Oberman (1804) oder Nodiers Proscrits (1802) finden damals in
Deutschland keinen Übersetzer. Von Sade erscheinen lediglich die ersten beiden Bände der
Crimes de l'amour unter dem Titel Die Verbrechen der Liebe, aus dem Englischen(!) in
einer heute unauffindbaren deutschen Übersetzung.39
Villers Redeweise von der nationalen Schmach fällt in der Zeit nach den Freiheitskriegen
auf fruchtbaren Boden. Die Frage, "welch ein tief verdorbenes Volk dasjenige seyn müsse,
unter welchem solche Bücher [wie die de Sades] mit Beifall aufgenommen werden und
reißenden Abgang finden konnten"40 quält den Journalisten Wagenseil 1829 nur als
rhetorische, und es versteht sich von selbst, dass den "besseren Deutschen", an die er sich
wendet, solche Lektüre nicht in den Sinn kommen kann. Während Sainte-Beuve in
Frankreich moniert, dass Sade zum Inspirator der Moderne wird41, kommt es in
Deutschland lediglich zur Übersetzung der von phantastischen Erfindungen nur so
strotzenden Sadebiographie des Pariser Literaturpapstes Jules Janin42, ohne dass sich dessen
Diktum: "Das ist ein Name, den jedermann weiß, und den doch niemand ausspricht"
wirklich ins Deutsche übertragen ließe. Außer einigen Lexikographen, Memorialisten und
Literaturhistorikern bleibt Sade den meisten deutschen Lesern tatsächlich verborgen, ein
unbekannter Kontinent der Lasterhaftigkeit jenseits des Rheins, von dem man allenfalls
vom Hörensagen weiß.43

Erst 1874 - die Education sentimentale liegt fünf Jahre zurück, von den Rougon-Macquart
sind die ersten vier Bände erschienen, Une Saison en enfer kann, obgleich kaum verbreitet,
seit einem Jahr gelesen werden, von Hugo erscheint Quatre-vingt-treize, von Barbey Les
Diaboliques - wird ein Buch mit dem Titel "Justine und Juliette oder die Gefahren der
Tugend und die Wonnen des Lasters. Kritische Ausgabe nach dem Französischen des
Marquis de Sâde[!]" veröffentlicht44. Der Titel trügt. Das vermutlich dem aus Ungarn
gebürtigen Schriftsteller und Philosophen Daniel von Kaszonyi zuzuschreibende Büchlein
bietet auf seinen gerade 155 Seiten alles andere als eine "kritische Ausgabe" von Sades
zehnbändigem Hauptwerk. In einer wirren Mischung biographischer Versatzstücke mit
Reminiszenzen an die Chronique scandaleuse des 18. Jahrhunderts entwirft der Autor ein
konfuses sittengeschichtliches Fresko des französischen Lotterlebens. Dieses soll
erklärtermaßen von der Lektüre des Originals und der Kenntnisnahme der darin

39
   Leipzig: Wilhelm Rein, 1803. Die zwischenzeitlich aufgefundenen Novellen dieser Übersetzung hat
Julia Bohnengel 2001 unter dem Titel Verbrechen der Liebe : drei Erzählungen in der wiederentdeckten
ersten deutschen Sade-Übersetzung im St. Ingberter Röhrig-Verlag veröffentlicht (Kleines Archiv des
achtzehnten Jahrhunderts ; 39). Im gleichen Verlag hat Julia Bohnengel 2003 ihre Mannheimer Dissertation
Sade in Deutschland : eine Spurensuche im 18. und 19. Jahrhundert ; mit einer Dokumentation
deutschsprachiger Rezeptionszeugnisse zu Sade 1768-1899 (Literatur im historischen Kontext ; 5),
veröffentlicht: die bislang umfassendste Studie zur Geschichte der deutschen Sade-Rezeption.
40
   [Christian Jacob Wagenseil], "Von einem der allerabscheulichsten Bücher", in: Literarischer
Almanach für 1829, Leipzig 1829, S. 109-113.
41
   Vgl. "Quelques vérités sur la situation en littérature" , in: Revue des deux mondes, Juli
1834, S. 13-14.
42
   In der Übersetzung von F. Niebour im Dezember 1834 in den Literarischefn] Blätter[n] der Börsen-Halle,
1835 in Leipzig bei Michelsen als Buch. Neu herausgegeben von Michael Farin unter dem Titel Der Marquis
de Sade und andere Anschuldigungen (München: belleville, 1986).
43
   Einen bibliographischen Überblick zur "Literatur von und über Sade in deutscher Sprache 1791-1989" gebe
ich in dem von Michael Farin und mir herausgegebenen Band Marquis de Sade: Der Mensch ist böse,
München: Heyne, 1991, S. 273-350.
44
   Leipzig: Carl Minde, o.J. Wiederabdruck in Marquis de Sade, Die
Wonne des Lasters. Seltene Sadiana, München: Heyne, 1988, S. 35-146.
                                                                                                         7
eingeschlossenen staatszersetzenden Theorien abhalten. Dieses sei zwar äußerst rar, werde
jedoch in der neueren französischen Literatur allenthalben zitiert. Zumindest in diesem
letzten Punkt hat Kaszonyi nicht unrecht: die Referenz zu Sade fehlt in keinem der gerade
als Neuerscheinungen des Jahres 1874 zitierten Bücher, sei es, dass er darin ausdrücklich
genannt wird, sei es, dass seine Präsenz im Nachhinein von der Literaturkritik aufgespürt
wurde. So gelangt sein Werk als contrebande mit den Übersetzungen von Balzac, Stendhal,
Soulié, dem älteren Dumas, Flaubert, später den Goncourts, Huysmans und Rachilde, nach
Deutschland, kurz: mit "jenem literarischen Unflat, der zu uns von unseren leichtfertigen
Nachbarn - den Franzosen, von der Fluth des Buchhandels herübergeschwemmt worden
ist", wie es Kaszonyi in seinem zweiten Buch zu Sade, das erstmals Auszüge aus der
Philosophie dans le boudoir in deutscher Übersetzung wiedergibt, formuliert.45
Dass dabei die Ahnungslosigkeit eines Übersetzers Rezeption verhindern kann, zeigt die
erste Eindeutschung von Stendhals De l'Amour (Berlin 1888, von Bernhard Saint-Denis,
S.3), in der "les horreurs de Justine" zu den "Schrecken der Zeit des römischen Verfalls"
unfreiwillig verfremdet werden46. Der "Dämon des Verderbens à la Justine"47, der Anfang
des 19. Jahrhunderts in einem deutschen Roman beschworen worden war, übte lange Zeit
nur auf "reiche Liebhaber"48 eine gewisse Anziehungskraft aus, in deren
Nachtischschubladen Sades Bücher spurlos verschwunden sind. Erst die Rezeption des
französischen Fin de siecle im Verein mit den Verlautbarungen der zur etablierten
wissenschaftlichen Disziplin avancierten Psychiatrie führt zu weiterreichender
Beschäftigung mit Leben und Werk des Marquis de Sade, wobei letzteres nach wie vor als
Ausfluss einer skandalösen Biographie betrachtet wird. Damit sind Sades Schriften auf den
engen Bezugsrahmen naturalistischer Deutung49 festgelegt, und er betritt die Bühne des 20.
Jahrhunderts als Psychopath und Inbegriff französischer Sittenlosigkeit.

Als Meister dieser Methode der Betrachtung kann der Berliner Hautarzt und
Kulturhistoriker Iwan Bloch angesehen werden, der 1900 ein erfolgreiches Buch mit dem
Titel Der Marquis de Sade und seine Zeit. Ein Beitrag zur Kultur- und Sittengeschichte des
18. Jahrhunderts veröffentlichte50. Diese von erstaunlicher Belesenheit zeugende
Darstellung der chronique scandaleuse des 18. Jahrhunderts im allgemeinen und von Sades
Leben im besonderen wurde in Frankreich mit Skepsis begrüßt51, witterten die Rezensenten
doch schon 1901, dass Blochs Auslassungen zur propagandistischen Munition in den
Händen derer werden könnten, die Sade als anthropologisches Modell für den
'Nationalcharakter' des ungeliebten Nachbarn missbrauchen wollten. Dergleichen lag jedoch
nicht in Blochs Absicht. Er unterhielt beste persönliche Kontakte zu den französischen
Sadeforschern jener Jahre, zu Paul Ginisty, Alfred Bégis, Maurice Talmeyr und Augustin
Cabanès, denen er in einem zweiten, 1904 veröffentlichten Buch mit dem Titel Neue
Forschungen über den Marquis de Sade und seine Zeit ausdrücklich für ihre tätige Mithilfe

45
   Die Schule der Wonne. Aus dem Französischen des Werks: "La Philosophie dans le boudoir" von Marquis
de Sâde [!], Verfasser von Justine und Juliette, Leipzig: Carl Minde, [1878], S. 5.
46
   Übersetzt von Bernhard Saint-Denis, Berlin 1888, S. 3.
47
   [E.T.A. Hoffmann (?)], Schwester Monika, München 1971, S. 115 (die erste Ausgabe des Romans war 1815
in Leipzig erschienen).
48
   [Alois Wilhelm Schreiber (?)], Comoedia Divina, o.O. 1808, S. 44 (Nachdruck Leipzig 1907, hrsg. von
Franz Blei).
49
   Spürbar auch in der einzigen romanistischen Verlautbarung zu Sade aus dieser Zeit (aus der Feder des
Göttinger Ordinarius für romanische Philologie Joseph Haas: "Über die Justine und Juliette des Marquis de
Sade", in: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 22 (1900), S. 282-296).
50
   Berlin: H. Barsdorf-Verlag, 1900, 502 S. Das Buch erlebte sieben Auflagen und zahlreiche Nachdrucke,
wurde ins Französische, Englische und Spanische übersetzt.
51
   Vgl. z.B. die Besprechung von Henri Albert im Mercure de France 34 (1900), S. 271-274 oder die von
Edmond Locard in den Archives d'anthropologie criminelle 17 (1902), S. 568-569 mit den bei Michel Delon
(wie Anm. 58) zitierten Quellen.
                                                                                                        8
und Unterstützung dankt52. Gegenüber dem Vorwurf der "Gallophobie" verwahrt Bloch sich
ausdrücklich53, was jedoch nichts daran ändert, dass seine biologistisch unterlegten Thesen
Raum für weite Interpretation ließen.

In der Zwischenzeit war es ihm geglückt, dass bei der Erstürmung der Bastille
verlorengegangene Manuskript der 120 Journées de Sodome aufzufinden und die
mikroskopisch kleine Schrift der legendären Manuskriptrolle von einem "tüchtigen
deutschen Romanisten"54 entziffern zu lassen. Er und die Fachwelt werten den Fund als
Psychopathia sexualis des 18. Jahrhunderts, also als klinisches Inventar sexueller
Verirrungen, das, einer enthusiastischen Notiz in der Wiener Klinische Wochenschrift
zufolge, "nicht weniger als 600 wertvolle Perversionen in systematischer Reihenfolge"55
enthält. Neben dem an die Besessenheit eines maniakischen Käfersammlers erinnernden
Auswüchsen des esprit de système im Grenzgebiet zwischen Natur- und
Geisteswissenschaft, zeichnet die literarische Landschaft der Epoche sich durch einen
unwiderstehlichen Hang zum Schwülstigen, zum erotischen Raffinement von Décadence
und Jugendstil aus, was dazu führt, das in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahr-
hunderts in Deutschland fast die gesamte erotische Weltliteratur in Übersetzungen
erscheint, als ob es gelte, die im 19. Jahrhundert hier hinterlassene Lücke aufs schnellste
auszufüllen. Dieser Erotisierung der Literatur des wilhelminischen Deutschlands, für die
Namen von Übersetzern, Herausgebern und Bibliographen wie Heinrich Conrad, Felix von
Schlichtegroll, Franz Blei und Hugo Hayn stehen, verdanken sich auch die ersten deutschen
Fassungen der Nouvelle Justine und der Histoire de Juliette, der 120 Journées de Sodome
und der Philosophie dans le boudoir.56

Allesamt im Jahrzehnt vor Ausbruch des 1. Weltkrieges erschienen, haben diese, von
Privatdruckern in kleinen Auflagen von 500 bis 1000 Exemplaren verbreiteten Drucke,
jedoch nicht zur Folge, dass Sade nun als "freier Geist im Sinne Nietzsches" oder Moralist
vom Format eines Montaigne oder Chamfort assimiliert wird57, wie es Äußerungen in Karl
Kraus' Fackel glauben lassen könnten. Im Gegenteil: zwischen den Schützengräben des
ersten Weltkrieges58 versandet dieser erste Ansatz ernsthafter Auseinandersetzung mit
Sades Werk zur propagandistischen Schlacht gegen den morbiden Charakter des

52
   Berlin: Verlag von Max von Harrwitz, 1904, 488 S. (hier: S.279).
53
   ebd. S. 276.
54
   ebd. S. 393 und Zeitschrift für Bücherfreunde 8.1 (1904/05), S. 46.
55
    Nr. 9 (1904), wiederverwandt in einem 32seitigen Verlagsprospekt zu Blochs Neuen Forschungen, der
seiner 1906 erschienenen Monographie über Rétif de la Bretonne beigeheftet wurde.
56
   Alle zwischen 1904 und 1908 erschienen - genaue bibliographische Nachweise bei Seifert (wie Anm. 43 ) ,
S. 286-288. Die Übersetzer verbergen sich hinter Pseudonymen, wobei dasjenige von Raoul Haller, der für
eine der Ausgaben der Nouvelle Justine verantwortlich zeichnet, ein Anagramm von Karl Hauer (vgl. die
folgende Anmerkung) bilden könnte. Lesenswert ist heute nur noch die von
einem "Dr. A. Schwarz" unterzeichnete Version der Philosophie dans le boudoir, die den Ton des
aristokratischen Boudoirs im nachrevolutionären Paris geschickt in den Jargon des wienerischen Cafehauses
der Jahrhundertwende überträgt.
57
   Karl Hauer, "Sätze von Marquis de Sade", in: Die Fackel Nr. 203 vom 12. Mai 1906, S. 1-5 und Nr. 206
vom 5. Juli 1906, S. 1-4. Karl Kraus legt seiner Freundin Berthe Maria Denk die Lektüre der Juliette ans Herz
(vgl. Nike Wagner, Geist und Geschlecht. Karl Kraus und die Erotik der Wiener Moderne, Frankfurt am Main
1982, S. 141). Eine vergleichbare Auffassung, die Sades Werk nicht als pathologische Verirrung, sondern als
literarisches Zeitdokument im Geiste Chamforts betrachtet, findet sich damals auch bei Karl Bleibtreu ("Der
Marquis de Sade. Eine neue Auffassung", in: Die Gegenwart vom 31. August 1907, S. 134-136 und vom 7.
September 1907, S. 151-154 [Wiederabdruck in Sade, Der Mensch ist böse (wie Anm. 43), S. 7-25]).Klug
auch die Sade Lektüre von Willy Haas (in Die Literarische Welt Nr. 21 vom 13. Juni 1930, S. 7-8 und Nr. 25
vom 20. Juni 1930, S. 5-6) sowie die Aufzeichnungen Hugo Balls zu seiner Heidelberger Begegnung mit Sade
um 1915 (in: Die Flucht aus der Zeit, Luzern 1946 [1. Aufl. 1926/27], S. 29ff.).
58
    Vgl. Michel Delon, "Candide et Justine dans les tranchées", in: Studies on Voltaire and the eightteenth
Century 185 (1980), S. 103-118.
                                                                                                            9
Erbfeindes, für dessen ursadistische Gesinnung Sades Werk nun als Referenz dienen muss.
Schriften wie Die Sadisten am Rhein (1920), Dem französischen Sadismus entronnen
(1921) oder Der Marquis de Sade und sein Volk. Der historische Franzmann im Spiegel
seiner Grausamkeit (1921)59 belegen diese Tendenz, die anzuheizen sich auch das
Zentralorgan der deutschen Sexualforscher, die Zeitschrift für Sexualwissenschaft, kurz
nach Kriegsausbruch nicht entblödete, indem sie schrieb, dass es gewiss kein Zufall sei,
dass der Marquis de Sade ein Franzose war60.

Die nach dem Krieg in Frankreich einsetzende Rehabilitierung von Sades Werk durch die
Surrealisten61 findet in Deutschland kein Pendant. Man muss schon an abgelegenen Stellen
wühlen, um im Nachlass von Stefan Zweig ein Sadeautograph zu finden62, bei Kafka die
Erinnerung an die Lektüre einer Sadebiographie63 oder bei Max Scheler ein Sadezitat64. Zu
mehr als zu einer kulturhistorischen Fußnote hat Sade es in diesen Jahren nicht gebracht,
woran auch Otto Flakes 1930 als Auftragsarbeit veröffentlichte Sade-Biographie65 nichts
ändert, deren wichtigstes Verdienst es war, Pierre Klossowski - er übersetzte das Buch ins
Französische - zu eingehenderer Beschäftigung mit Sade anzuleiten und Peter Weiss zu
seinem Marat/Sade zu inspirieren66. Sade bleibt in Deutschland ein toter Hund im
Kuriositätenkabinett der Literatur, der allenfalls Anlass zu einem Bonmot bietet, wie
demjenigen Tucholskys: "Was tat der Marquis de Sade? Er röstete kleine Mädchen und
bestreute sie mit gestoßenem jungen Mann"67. Einige nennenswerte Autoren wie Ernst
Jünger68 und Walter Benjamin69 stoßen im französischen Literaturbetrieb auf Sade, in
Deutschland sucht man seine Spuren bei Thomas und Heinrich Mann, bei Lion
Feuchtwanger und Alfred Döblin vergeblich. Der loup-garou aus der Provence bleibt dem
Autor des Steppenwolf verborgen, was nicht verwundert, aber auch Gottfried Benn, was
sehr erstaunt. Brecht und Sade? Wohl kaum! Sade und Musil? May be.

Erst die Gräuel des zweiten Weltkrieges, in dem der universalisierte Sadismus Sade

59
   Die erstgenannte Schrift, ein Roman, ist anonym veröffentlicht worden. Die beiden anderen Pamphlete
haben einen Dorstener Schulrat namens Hermann Schmeck respektive einen Luka zeichnenden Autor aus
Bremen zum Verfasser.
60
   Zeitschrift für Sexualwissenschaft 2 (1915/16), S. 437.
61
   Vgl. Svein Eirik Fauskevåg, Sade dans le surréalisme, [Lysaker]: Editions Privat 1982.
62
    Vgl. Bibliotheca Bodmeriana. Catalogue I: Manuscrits et autographes français, hrsg. von Bernard
Gagnebin, Cologny-Geneve 1973 – dort wird Stefan Zweig als Vorbesitzer eines von Bodmer angekauften
Sade-Autographs genannt. Als Autographensammler hatte sich bereits früh Varnhagen von Ense für Sade
interessiert; das ihm von seinem Briefpartner, dem Swinburnefreund Monckton Milnes geschenkte Fragment,
das heute in der jagellonischen Bibliothek zu Krakau aufbewahrt wird, wurde erstmals von Jean-Louis
Debauve (Sade, Lettres inedites..., Paris 1990, S. 211) publiziert. Vgl. Walther Fischer, Die Briefe Richard
Monckton Milnes an Varnhagen von Ense, Heidelberg 1922, S. 104, 131 und 17C.
63
   Um 1921 in einem Gespräch mit Gustav Janouch (Gespräche mit Kafka, Erinnerungen und Aufzeichnungen,
Frankfurt am Main 1951, S. 78).
64
   Vgl. Max Scheler, "Über Scham und Schamgefühl" [1912/13], in: Schriften aus dem Nachlaß, Band 1, 2.
Aufl., Bern 1957, S.67-154 (hier: S.95). Die Sade-Rezeption lässt sich hier bis zu Johannes Paul II.
fortdenken, der über Schelers Werk promoviert hat.
65
   Marquis de Sade. Mit einem Anhang über Rétif de la Bretonne, Berlin: Fischer, 1930, 273 S. Neuauflagen
1966, 1976 und 1981, Übersetzungen ins Französische, Englische und Spanische.
66
   Vgl. Rolf Hochhuths Nachwort in Flake, Werke in Einzelausgaben, Band 5, Gütersloh o. J., S.572. Das
Stück von Peter Weiss wurde 1964 uraufgeführt.
67
   Gesammelte Werke, Band 6, Reinbek 1975, S. 269 (1928 geschrieben).
68
    Vgl. Karl Heinz Bohrer, "Das Interesse an de Sades System", in: Ästhetik des Schreckens. Die
pessimistische Romantik in Ernst Jüngers Frühwerk, München 1978, S. 239-245 sowie Wolfgang Kaempfer,
"Das Schöne Böse. Zum ästhetischen Verfahren Ernst Jüngers in den Schriften der dreissiger Jahre im
Hinblick auf Nietzsche, Sade und Lautréamont", in: Recherches germaniques 14 (1984), S. 103-117.
69
   Vgl. Gesammelte Schriften Bd.IV.l, Frankfurt am Main 1972, S. 573-574 (Tagebucheintragung vom 18.
Januar 1930), erstmals in Die Literarische Welt Nr. 18 vom 2. Mai 1930, S.7 veröffentlicht.
                                                                                                         10
auslöscht, führt zu einer neuen Betrachtungsweise der Texte70. Walter Mehring, der schon
unmittelbar nach dem Reichstagsbrand hatte fliehen müssen und in der geretteten
Bibliothek seines Vaters im Exil auf die 120 Journées de Sodome gestoßen war, schrieb
nach dem Krieg zurückblickend: "Als ich nun das Exemplar in Händen hatte, in dieser
Epoche sadistischen Handelns und masochistischen Denkens, fragte ich mich, auf welches
Regal sollte ich den Autor stellen? Unter Weltliteratur oder Kulturkuriosa?"71
Horkheimer und Adorno sehen in dem Doppelroman Justine und Juliette in ihrer im
amerikanischen Exil im letzten Kriegsjahr fertiggestellten Dialektik der Aufklärung "das
homerische Epos, nachdem es die letzte mythologische Hülle noch abgeworfen hat: die
Geschichte des Denkens als Organ der Herrschaft"72, der Maler Georges Grosz schreibt ein
paar Jahre später einem Korrespondenten: "Lies Marquis de Sade. Justine & Juliette, das
größte Buch seit [der] Bibel".73

Das Bedürfnis nach einer Gegenoffenbarung, nach Offenlegung der verdrängten, mit Sades
Werk fatalerweise als anthropologisch determiniert deutbar werdenden Wurzeln des
Faschismus zeitigt in den Folgejahren eine ganze Reihe von Artikeln, die sich dem
Zusammenhang zwischen Sadismus und Nazismus, Sodom und Treblinka widmen74, Keiner
davon erscheint in einer deutschsprachigen Zeitschrift. Lediglich François Bondy führt die
"Sade-Mode" der Nachkriegszeit in einem kurzen Artikel in der Zürcher Weltwoche auf die
"Vertrautheit zu allem Extremen, die geistige Bindungslosigkeit" seiner Generation
zurück.75

"Weltliteratur" wird Sade erst 1968, vier Jahre nach der Uraufführung von Peter Weiss'
vieldiskutiertem Stück Marat/Sade, als der Romanist Erich Köhler in einer Reihe luzider
Artikel zu Gero von Wilperts Lexikon der Weltliteratur die Romane Aline et Valcour, Les
120 Journées de Sodome, Justine, Juliette und die Philosophie dans le boudoir vorstellt76.
Die französische Saderezeption bleibt nun nicht mehr ohne Einfluss auf die deutsche Dis-
70
   Es erscheint in Deutschland damals kein einziges Buch von oder zu de Sade; das einzige Werk des ‚daheim’
gebliebenen Otto Flake, das auf dem Index der Nazis landet, ist seine Sade-Biographie aus dem Jahr 1930.
71
   Die verlorene Bibliothek. Autobiographie einer Kultur, Hamburg 1952, S. 52-55.
72
   Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, Frankfurt am Main 1971, S. 106.
Das auch als Exkurs zu Sade und Nietzsche lesbare philosophische Fragment tangiert einen zentralen Nerv der
deutschen Saderezeption die Analogie Sade - Nietzsche, die auf keinerlei intertextuelle Hilfskonstrukte
rekurrieren kann. Vgl. dazu insbesondere Gerd Henniger, "Der blinde Fleck - Sade und Nietzsche", in: Spuren
ins Offene. Essays über Literatur, München 1984, S. 48-70; Alois K. Soller, "Der Libertin bei Sade - ein
Übermensch?", in: Friedrich Nietzsche und das Leiden am Nichts, München 1989, S. 54-62 sowie Gerhard
Zwerenz, "Der Marquis de Sade", in: Neue deutsche Literatur 45 (1990), S. 52-63.
73
   Ulrich Becher/George Grosz, Flaschenpost. Geschichte einer
Freundschaft, hrsg. von Uwe Naumann und Michael Töteberg, Basel 1989, S. 314 (Brief vom 21. November
[1949(?)]).
74
   Vgl. Bertrand d'Astorg, Introduction au monde de la Terreur,
Paris 1945; Raymond Queneau, "Lectures pour un front", in: Bâtons chiffres et lettres, Paris 1950 (deutsch
erstmals 1990 in der Übersetzung von Eugen Heimle); S.I. Kulcsar, "De Sade and Eichmann", in: Mental
Health and Society 3 (1-2), 1976, S. 102-113; Colette Capitan Peter, "Maurassisme, sadisme et nazisme", in:
Esprit 55 (1972), S.184-192. Verquer, aber erfrischend, das Kapitel "Faschismus und Sexualität" in Michael
Siegerts De Sade und Wir. Zur sexualökonomischen Pathologie des Imperialismus, Frankfurt am Main 1971,
S. 180-210.
75
   "Sade und die Lasterschule", in: Weltwoche (Zürich) 16. Jg. 1948, Nr. 770, S.5. Neun Jahre später führt
Georg Lukacs noch das "Wiedererwecken des Marquis de Sade" auf den "Irrationalsinus der Nachkriegszeit"
zurück (Die Krise der Vernunft, Bd.3, Darmstadt und Neuwied 1974, S. 213). Vgl. auch den Beitrag von
Günther Steffen in der Zeit (4. Jg. 1949, Nr. 29, S.4),"War Sade ein 'Sadist'?", der 1966 zur ersten Sade-
Titelgeschichte des Spiegel (Nr. 27. vom 27. Juni 1966, S. 80-95, vom selben Autor) ausgeschrieben wurde.
76
   Lexikon der Weltliteratur, Band 2, Stuttgart 1968. Köhlers Ausführungen könnten zusammen mit denen
seines Leipziger Kollegen Werner Krauss den Anknüpfungspunkt für Überlegungen zur bis 1990 zweigleisig
verlaufenden "deutsch-deutschen" Saderezeption bilden, was den hier gesetzten Rahmen jedoch sprengen
würde.
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kussion. Camus, Sartre, Blanchot und Lely werden übersetzt, Georges Bataille mit großer
zeitlicher Verzögerung. Die Diskussionsergebnisse der Gruppe Tel-Quel erscheinen zwei
Jahre nach der französischen Originalausgabe in einer deutschen Übersetzung, für Barthes’
Sade Fourier, Loyola benötigt der Übersetzer ein Jahr mehr. Kolloquien zu Sade in Aix-en-
Provence (1966) und Cerisy-la-Salle (1981) geben den Rhythmus für die zunehmende
Akzeptanz in den Vorlesungen und Seminaren der Hochschulen vor77; das Werk des
Marquis de Sade wird Dissertationsthema. Es wird auch übersetzt, vielleicht nicht immer
sehr glücklich, aber Marion Luckow hat hier Anfang der sechziger Jahre doch eine
Pionierleistung vollbracht, die nicht unerwähnt bleiben darf78. In den siebziger und
achtziger Jahren folgt die deutsche Saderezeption der französischen Neuberwertung des
Werkes des Marquis auf dem Fuße, ohne selbst über den engen Rahmen interuniversitärer
Diskussion hinausreichende Beiträge beizusteuern.

Doch wird Sade in dieser Zeit zur selbstverständlichen Referenz sämtlicher
Humanwissenschaften und zu einem der meistgelesenen Autoren des französischen Dix-
huitième hierzulande79. Künstler und Schriftsteller, von Tomi Ungerer bis Arnulf Rainer,
von Helmut Heissenbüttel bis Hubert Fichte, knüpfen ihre Überlegungen und Werke an
Sade oder den Sademythos an, der vom Feuilleton disneyfiziert, wie eingangs angedeutet,
zum Sammelbecken postmoderner Splitter von Kinski, Reich und Reich-Ranicki wird. Dem
großen Furz der Weltliteratur und koprolithischem Werk begegnet man jedoch nur selten
mit jenem befreienden Lachen, das allein die karthatische Wirkung verbürgt und vor
ungefähr zwanzig Jahren Ingeborg Bachmann entfuhr, als sie einem Vortrag über Sade im
Institut Français von Berlin beiwohnte:

Heute nachmittag raffe ich mich auf und gehe zu diesem Vortrag ins Institut Français, ich komme
natürlich zu spät und muß hinten an der Türe stehen, von weitem grüßt mich François, der an der
Botschaft arbeitet und irgendwie unsere Kulturen austauscht, versöhnt oder gegenseitig befruchtet,
er weiß es selber nicht so genau, wir wissen es beide nicht, weil wir es nicht brauchen, aber unseren
Staaten nützt es, er winkt mich näher, will aufstehen, deutet auf seinen Platz, aber ich will jetzt nicht
stören und bis zu François vorgehen, denn ältere Damen mit Hüten und viele alte Herren, auch
einige junge Leute, die neben mir an der Wand stehen, hören zu wie in der Kirche, langsam fasse
ich den einen oder anderen Satz auf und schlage jetzt auch die Augen nieder, ich höre immerzu
etwas von ‚la Prostitution universelle’, sehr schön, denke ich, ja, wie richtig, der Mann aus Paris,
mit einem asketischen blassen Gesicht, spricht mit der Stimme eines Chorknaben über die 120 Tage

77
   Vgl. Hans-Günter Beiersdorff , Das Angebot zur französischen Literatur in den Lehrveranstaltungen der
bundesrepublikanischen Universitäten 1948-1973, Heidelberg 1979, S. 68-69 und 205.
78
   Ihr verdankt man u.a. die erste kommentierte Ausgabe Ausgewählte[ r ] Werke in Neuübersetzungen (1962-
1965 in drei Bänden im Merlin-Verlag, später als Fischer-Taschenbuch und Nachdruck bei Zweitausendeins).
Und genannt werden muss hier auch Albert Drach, der österreichische Autor Romancier und
Büchnerpreisträger, dem Sade ein ganzes Schriftstellerleben lang ein steter Begleiter war (bibliographische
Nachweise bei Seifert [wie Anm. 43], S. 294, 323 und 344).
79
    Eine im Bonner Verlag Bouvier für 1993 gemeinsam mit Michael Farin geplante Bibliographie des
Schrifttums über Sade mit dem Titel Sade. Seltene Sadiana. Analytische Bibliographie 1768 –1990 kam leider
nie zustande.

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von Sodom, und ich höre nun schon zum zehnten Mal etwas über die universelle Prostitution, der
Raum mit den Andächtigen, mit seiner universellen Sterilität, fängt sich um mich zu drehen an, aber
ich möchte nun endlich wissen, ob es weitergeht mit der universellen Prostitution, und werfe in
dieser de Sade-Kirche einen herausfordernden Blick auf einen jungen Mann, der auch, wie während
eines Gottesdienstes, einen blasphemischen Blick zurückgibt, und noch eine Stunde lang schauen
wir einander verschwörerisch und heimlich an, in einer Kirche zur Zeit der Inquisition. Bevor ich zu
lachen anfange, mit dem Taschentuch zwischen den Zähnen, und ehe mein ersticktes Lachen
übergeht in einen Krampfhusten, verlasse ich den Saal, mit einem die Zuhörer empörenden Abgang.
Ich muß sofort Ivan anrufen.80

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     Malina, in: Werke, Bd.3, München/Zürich 1978, S. 78-79.

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