Hilfe ohne Wenn und Aber - Soziales Engagement - Medizin Hilft eV

Die Seite wird erstellt Titus-Stefan Ritter
 
WEITER LESEN
Hilfe ohne Wenn und Aber - Soziales Engagement - Medizin Hilft eV
Fotos: axentis.de/Georg J. Lopata
                      Soziales Engagement

                      Hilfe ohne Wenn und Aber
                      Versicherungsstatus? Zählt hier nicht. Über den Berliner Verein „Medizin Hilft“ bekommt jeder
                      Patient eine Behandlung, der eine Behandlung braucht. Ärzte geben Herz und Zeit. Unentgeltlich.

                      W
                               as Dr. med. Burkhard         gen. Abhören klappt. In Ohren, Na-           gut“, erläutert der Arzt der Famili-
                               Schütte da gerade macht,     se und Rachen gucken auch. Selbst            enhelferin, als alle nach der nerven-
Nicht jeder Patient            gefällt Yousef gar nicht.    das Wiegen irgendwann. Nur beim              aufreibenden Untersuchung wieder
    lässt sich ohne   Mit Händen und Füßen wehrt sich       Messen streikt der Kleine. Da zieht          am großen weißen Schreibtisch am
   Gegenwehr von      der Dreijährige gegen die Untersu-    er partout nicht mit. Schütte nimmts         Kopf des großen Behandlungszim-
  Burkhard Schütte
                      chung. Weder seine Mutter noch die    gelassen. „Dann halt nicht.“                 mers Platz nehmen. Die Familien-
        behandeln.
                      Familienhelferin, die zu dem Ter-                                                  helferin übersetzt diese Einschät-
                      min als Übersetzerin mitgekommen      Die Familienhelferin übersetzt               zung für die aus Tunesien stammen-
                      ist, können den Jungen beruhigen.     Yousefs Mutter, die ohne Papiere in          de Mutter sogleich ins Arabische.
                      Es fließen Krokodilstränen, das Ge-   Deutschland lebt, ist mit ihrem                 Der erfahrene Mediziner glaubt
                      schrei ist groß. Pfleger Jens-Peter   Sohn zur Kindersprechstunde in die           grundsätzlich nicht, dass dem Jun-
                      Boeck-Schmidt fährt sein ganzes       Praxisräume von Medizin Hilft ge-            gen wirklich etwas fehlt, der in sei-
                      Repertoire auf: Macht Faxen. Zieht    kommen, weil er sich auffällig ver-          nen bunten Gummistiefeln fröhlich
                      Grimassen. Lenkt Yousef ab. Auch      hält. Das glauben zumindest die Er-          und neugierig den Behandlungs-
                      der pensionierte Kinderarzt selbst    zieherinnen im Kindergarten. Der             raum erkundet, während die Er-
                      muss seine ganze Erfahrung aus-       Kleine ist dort weitestgehend iso-           wachsenen sprechen. „Der Junge
                      spielen. „Komm, Mama nimmt            liert. Schreit und kratzt, befolgt kei-      hat nichts Schlimmes“, sagt Schütte.
                      Dich auf den Schoß“, sagt er und      ne Anweisungen. Entwicklungsver-             „Auf ihn prasseln einfach zu viele
                      geht geduldig auf das unruhige        zögerung, Autismus. So lauten die            Dinge ein.“
                      Kind ein. „Super machst Du das“,      Laieneinschätzungen, die im Raum                Aus dem ausführlichen Anamne-
                      muntert er auf. Und dann kehrt        stehen. Oder Schwerhörigkeit. Mor-           segespräch weiß der Kinderarzt:
                      doch noch Ruhe ein: Gemeinsam         gen geht es noch zum Hörtest.                Yousef lebt mit seiner Mutter und
                      gelingt es den Erwachsenen, den          Schütte glaubt nicht, dass dabei          seinem kaum anwesenden Vater in
                      Jungen zum Mitmachen zu bewe-         etwas rauskommt. „Der Junge hört             Berlin in einer Einzimmerwoh-

A 2408                                                                                    Deutsches Ärzteblatt | Jg. 115 | Heft 51–52 | 24. Dezember 2018
Hilfe ohne Wenn und Aber - Soziales Engagement - Medizin Hilft eV
THEMEN DER ZEIT

nung. Die Tunesierin, die vor drei                                                                   weite Wege in Kauf, kommen aus
Jahren als Flüchtling über Italien                                                                   entfernten Stadtteilen. Darüber bin
nach Deutschland gekommen ist,                                                                       ich immer wieder erstaunt.“
spricht mit ihm vier Sprachen.                                                                          Viele der Kinder, die Schütte in
Französisch. Englisch. Italienisch.                                                                  der Sprechstunde behandelt, sind
Und Arabisch, ihre Muttersprache.                                                                    nicht versichert, weil die Berliner
Im Kindergarten soll der Junge, der                                                                  Bürokratie langsam mahlt und es
in Deutschland geboren ist,                                                                          Monate dauert, bis die Kleinen ins
Deutsch sprechen – was er aber                                                                       deutsche Gesundheitssystem kom-
kaum beherrscht. Noch dazu haben                                                                     men. Andere Fälle sind Eltern, die
die Eltern keine klare Linie in der                                                                  ohne Papiere teils bereits seit vielen
Erziehung. Die Mutter, übersetzt                                                                     Jahren in Deutschland leben, und
die Familienhelferin, versuche Re-                                                                   deshalb den Gang zur Behörde
geln aufzustellen und konsequent                                                                     scheuen. Behandlungen im System
zu sein, der Vater, sofern er denn                                                                   der Regelversorgung können sie aus
mal anwesend sei, lasse dem Kind                                                                     eigener Tasche aber meist nicht be-
alles durchgehen. „Tja, da kann ich                                                                  zahlen – selbst für ihre Kinder nicht.
wenig machen“, sagt der Arzt zur
Übersetzerin gewandt. „Aber ich                                                                      Ein eigenes Ultraschallgerät
sage Ihnen deutlich: Der Junge                                                                       Die Tür geht auf. Studentin Alexan-
braucht eine konsequente Anspra-                                                                     dra Kimel, die in dieser besonderen
che und klare Regeln.“                                                                               Praxis ein Praktikum macht, bringt
                                                                                                     eine Frau herein, die einen Säugling
Kinder mit normalen Problemen                                                                        auf dem Arm trägt. Es ist Dustin,
Schütte, blaue Jeans, blauer Pullo-                                                                  drei Monate alt. Das Gesundheits-
ver, weißes Hemd, schüttelt den                                                                      amt hat seine aus Nordafrika stam-
Kopf als das Trio den Behandlungs-                                                                   mende Mutter mit ihm zu open.med
raum verlässt. „Dieser Sprachen-                                                                     für die U3 geschickt, weil die Pra-
mix ist natürlich schwierig für das                                                                  xis – anders als das Gesundheitsamt
Kind.“ Ansonsten aber, betont er,                                                                    – über ein eigenes Ultraschallgerät
kämpfe der Junge mit den gleichen                                                                    verfügt. Darüber sind hier alle sehr
Problemen wie andere Kinder in                                                                       stolz. Denn es ist noch dazu ein sehr
seinem Alter. „Die Kinder, die ich                                                                   gutes. Eine Firmenspende.
hier behandele, unterscheiden sich                                                                      Auch Dustin lässt die Untersu-
in keiner Weise von denen, die ich                                                                   chungsprozedur nicht ohne Abwehr
aus meiner Praxis kenne. Weder in                                                                    über sich ergehen. Doch er reagiert
ihrer Entwicklung, noch bei den                                                                      seinem Alter angemessen: Beim
medizinischen Problemen, die ich                                                                     Messen pinkelt er Schütte auf die
sehe“, sagt der Pensionär, der seit                                                                  Hose. Bei der Ultraschalluntersu-
anderthalb Jahren jeden Dienstag                                                                     chung weint er. Bei der Impfung
um 13 Uhr für zwei Stunden in die                                                                    brüllt er wie am Spieß. Doch das
Praxis von Medizin Hilft im West-                                                                    Summen und Liebkosen seiner
berliner    Stadtteil   Zehlendorf                                                                   Mutter, das Kitzeln der Haare ihres
kommt, um Kinder wie Yousef zu                                                                       rot geflochtenen Rastakopfes und
betreuen.                                                                                            Schütte, der mit geübten Handgrif-
   Der Mediziner hat seine eigene                                                                    fen das Kind untersucht, beruhigen
Praxis im Jahr 2012 geschlossen                                                                      den Säugling schnell.
und zog im Ruhestand gemeinsam                                                                          „Good boy“, lobt der Kinderarzt,
mit seiner Frau aus dem beschauli-    bleiben und helfen kann. Der Kon-     Drei von 17 Medi-        der in der Lage ist, Englisch oder
chen Südbaden nach Berlin. Als er     takt zu Eltern und Kindern ist mir    zinern, die zum          Französisch mit den Besuchern der
über einen privaten Kontakt im        sehr wichtig.“                        ärztlichen Stamm-        Sprechstunde zu reden, aber mitt-
                                                                            personal gehören:
Tennisverein auf Medizin Hilft und       Dass es in Berlin so viele Men-                             lerweile auch gewöhnt ist, in ein
                                                                            Medizin-Hilft-
deren Praxisräume open.med auf-       schen gebe, die außerhalb des Ver-                             fremdes Handy zu sprechen, um et-
                                                                            Gründerin
merksam gemacht wurde, hat er         sorgungsnetzes lebten, selbst Kin-    Pia Skarabis-Querfeld,   wa von einem Farsi-Übersetzer
nicht lange gezögert und zugesagt.    der, sei ihm vor Beginn seines Eh-    Burkhard Schütte und     Antworten auf seine Fragen zu be-
   „Jeden Tag müsste ich nicht        renamtes nicht bewusst gewesen –      Marieluise Linderer      kommen.
mehr praktizieren“, sagt der Arzt.    und es habe ihn schockiert. Wie nö-   (von oben)                  Medizin Hilft ist gut organisiert –
„Aber einmal in der Woche ist die     tig viele die unbürokratische Hilfe                            nicht nur bei Übersetzungsproble-
Belastung überschaubar und ich bin    hätten, erfährt Schütte jede Woche                             men. Dass hier Arbeit mit Köpfchen
froh, dass ich in meinem Metier       aufs Neue. „Die Eltern nehmen sehr                             gemacht wird, ist für jeden ersicht-

A 2410                                                                                Deutsches Ärzteblatt | Jg. 115 | Heft 51–52 | 24. Dezember 2018
Hilfe ohne Wenn und Aber - Soziales Engagement - Medizin Hilft eV
THEMEN DER ZEIT

lich, der die open.med-Praxisräume                                        bunt gemischt. Das ist nicht immer        senschaftsstudentin Kimmel, unter-
betritt, die der Verein Medizin Hilft                                     so. „Viele Patienten, die ich sehe,       stützt von Luzie Bremer, die in der
in Kooperation mit der Organisation                                       kommen aus Vietnam“, sagt er. Wa-         Praxis einen Bundesfreiwilligen-
Ärzte der Welt seit 2016 betreibt.                                        rum? Das wisse er selbst nicht.           dienst absolviert. Das Regiment im
   Über eine Seitentreppe eines alten                                        Kurz nach 16 Uhr. Bis auf den          Behandlungszimmer hat nun nicht
Gebäudes gelangen die Besucher                                            letzten Kinderwagen ist der helle         mehr Kinderarzt Schütte, sondern
nach wenigen Metern durch einen et-                                       Wartebereich nun nur noch in Er-          die Allgemeinmedizinerin Dr. med.
was abgeranzten Flur in die freundli-                                     wachsenenhand. Hinter dem Thre-           Marieluise Linderer. Dazu ist noch
chen Kellerräume der Praxis. Linker                                       sen wuselt weiter emsig Sozialwis-        Medizinstudent Marcel Heinrich
Hand erstreckt sich eine helle, offene                                                                              gekommen, der heute die Doku-
Küchenzeile, rechts ein großer Emp-                                                                                 mentation übernimmt. Boeck-
fangsthresen, dahinter, abgegrenzt                                                                                  Schmidt ist geblieben. Er ist bei
durch Regale, befindet sich der ein-
                                                       Vom Flüchtlingsprojekt zum                                   open.med der Herr über die Medi-
fach bestuhlte Wartebereich.                           breiten sozialen Auffangnetz                                 kamente und bei nahezu allen
   Patienten, die zum ersten Mal                                                                                    Sprechstunden an der Seite der Ärz-
hier sind, verschwinden zunächst in                                                                                 te. Wie das gesamte medizinische
der Tür, die rechts vom Kopf des                                                                                    Team arbeitet auch der frühverren-
Zimmers abgeht. Hier findet eine                                                                                    tete Krankenpfleger ehrenamtlich.
ausführliche Sozialanamnese und
Beratung statt, außerdem werden                                                                                     Stammkunde Holger
anonymisiert die Daten der Patien-                                                                                  Einer der ersten Patienten des Nach-
ten erhoben. Die Tür links führt                                                                                    mittages ist Holger. Er gehört zu der
zum Behandlungsraum. Von dort                                                                                       Gruppe, von der die wenigsten wis-
geht noch einmal eine Bürotür ab,                      Weihnachten 2014 fuhr Dr. med. Pia Skarabis-Querfeld         sen, dass sie in Deutschland durch
im Raum dahinter tippt Geschäfts-                      in eine Turnhalle, in der Flüchtlinge untergebracht waren,   das soziale Raster fallen. Holger, 49
führerin Dorothea Herlemann in die                     um eine Kleiderspende abzugeben. Dabei fiel ihr auf,         Jahre, war einmal selbständig. Er
Tasten; die einzige feste Vollzeit-                    dass viele der Kinder, die dort schliefen, krank waren.      hatte einen Werkzeuggroßhandel.
kraft im Haus.                                         Die Ärztin erfuhr, dass eine schnelle medizinische Be-       Einst privatversichert gelinge es ihm
                                                       handlung aus rechtlichen Gründen nicht so einfach war –      nun nicht, in die gesetzliche Kran-
Patientenzahlen steigen stetig                         und wurde aktiv. Gemeinsam mit ihrem Mann, einem             kenversicherung zu kommen – trotz
Die Vollzeitstelle ist nötig gewor-                    Kliniker, verbrachte sie an den Weihnachtstagen viele        anerkanntem ALG-II-Status, erzählt
den. Denn es hat sich in Berlin in-                    Stunden mit medizinischer Erstversorgung. Der Grund-         er. „Die private Krankenversiche-
zwischen herumgesprochen, dass in                      stein für das medizinische Hilfsprojekt war gelegt.          rung möchte, dass ich 13 500 Euro
Zehlendorf Menschen, die keinen                            In den kommenden Monaten und Jahren organsierte          nachzahle, die gesetzliche nimmt
oder nur einen erschwerten Zugang                      ein stetig wachsendes Team rund um Skarabis-Querfeld         mich nicht auf, weil ich einst privat
zum Gesundheitssystem haben, ge-                       ehrenamtliche Sprechstunden in verschiedenen Berliner        versichert war“, so schildert es Hol-
holfen wird. Die Zahl der Bedürfti-                    Notunterkünften, führte Impfaktionen durch, schuf eine       ger. Ein Dilemma.
gen ist groß. 60 000 Menschen ohne                     mehrsprachige medizinische Anlaufstelle im Internet und         Holger kommt regelmäßig in die
volle Krankenversicherung sollen in                    begann, Obdachlose zu versorgen. 2016 wurde der ge-          Sprechstunden der open.med-Pra-
der Hauptstadt leben, deutschland-                     meinnützige Verein Medizin Hilft offiziell gegründet und     xis. Mit Boeck-Schmidt ist er per
weit sollen es mehrere Hunderttau-                     die feste Anlaufstelle open.med eröffnet.                    Du. Aktuell plagt den Mann ein dia-
send sein. Die Patientenzahlen in der                      Heute bietet Medizin Hilft in der open.med-Praxis in     betischer Fuß. Holger durchquert
open.med-Praxis steigen nach Anga-                     Berlin-Zehlendorf zweimal in der Woche eine Erwachse-        humpelnd den Raum und steuert die
ben von Medizin Hilft stetig. Es                       nensprechstunde und einmal wöchentlich eine Kinder-          blaue Untersuchungsliege an. Ver-
kommen längst nicht nur Flüchtlin-                     sprechstunde an. Regelmäßig sind außerdem ein Psychia-       bandswechsel. Routiniert schneidet
ge, sondern auch Menschen, die be-                     ter und ein Zahnarzt für kostenfreie Behandlungen vor Ort.   Linderer, 70, den Verband vom
reits seit vielen Jahren ohne Papiere                  Das Team führte jüngst pro Quartal 55 Sprechstunden,         Fuß, Boeck-Schmidt assistiert. Me-
– und ohne Krankenversicherung –                       325 persönliche Konsultationen und 100 telefonische Be-      dizinstudent Heinrich tippt derweil
in Deutschland leben. Auch unversi-                    ratungen durch. Tendenz steigend.                            hinterm Schreibtisch relevante An-
cherte Selbstständige gehören zur                          Im vergangenen Jahr kamen acht Prozent der behan-        gaben wie Diagnose und Medikati-
Klientel. Ebenso Obdachlose. Und                       delten Menschen aus Deutschland. Knapp zwanzig Pro-          on in die Datenbank. Der 21-Jähri-
eben viele Kinder.                                     zent stammten aus anderen EU-Ländern – vor allem             ge hilft einmal im Monat in der Pra-
   Die Bilanz der Kindersprechstun-                    Bulgarien, Rumänien und Polen -, die überwiegende            xis, weil er hier „die andere Seite
de heute: Das Duo Schütte/Boeck-                       Mehrheit der Patienten war aus Nicht-EU-Staaten.             der Medizin“ sieht. „Sowas be-
Schmidt hat die Anlaufstelle an die-                       Die Patienten sind Asylsuchende, die vorübergehend       kommt man im Studium nicht mit.
sem kalten Novembertag drei statt                      von Gesundheitsleistungen ausgeschlossen sind, oder          Ich kann hier wirklich helfen und
zwei Stunden offen gehalten. Eher                      Menschen ohne Papiere. Viele wohnungslose Patienten          mich noch dazu weiterbilden.“
die Regel als die Ausnahme. Tune-                      sind darunter und Menschen, die einer Krankenkasse Bei-         Heinrich, der sich wie eigentlich
sien, Nordafrika, Afghanistan, Ser-                    träge schulden wie Selbstständige und auch Studierende.      alle hier nicht zum ersten Mal eh-
bien. Die Hintergründe waren heute                                                                                  renamtlich engagiert, ist immer

Deutsches Ärzteblatt | Jg. 115 | Heft 51–52 | 24. Dezember 2018                                                                                   A 2411
Hilfe ohne Wenn und Aber - Soziales Engagement - Medizin Hilft eV
THEMEN DER ZEIT

                                                                                                         die keinen oder kaum Zugang zum
                                                                                                         deutschen Gesundheitswesen haben
                                                                                                         (siehe Kasten). Manchmal, so sagt
                                                                                                         sie selbst, könne sie es kaum fassen,
                                                                                                         welche Dynamik das Hilfsprojekt
                                                                                                         in kurzer Zeit entwickelt habe.
                                                                                                            Dies liegt ohne Zweifel auch an
                                                                                                         ihr selbst: Vom ersten Tag an hat
                                                                                                         sich Skarabis-Querfeld voll reinge-
                                                                                                         schmissen in das „Baby“ Medizin
                                                                                                         Hilft: Kollegen angesprochen, für
                                                                                                         eine gute Logistik gesorgt, Koope-
                                                                                                         rationen ans Laufen gebracht, Gel-
                                                                                                         der reingeholt, Gespräche mit der
                                                                                                         Politik geführt – und sie tut dies bis
                                                                                                         heute unermüdlich.
                                                                                                            Für die 51-Jährige stand und
                                                                                                         steht dabei eins im Vordergrund:
                                                                                                         der bedürftige Patient. „Ob Flücht-
                                                                                                         ling, Obdachloser oder Selbststän-
                                                                                                         diger, das ist mit egal. Deutschland
                                                                                                         ist so ein wohlhabendes Land, da
                                                                                                         sollte jeder, der hier lebt, eine Ba-
                                                                                                         sisversorgung erhalten können“,
                                                                                                         sagt sie. Und genau nach dieser
                                                                                                         Philosophie arbeitet Medizin Hilft.
                                                                                                         Eine Gefahr des Ausnutzens? Sieht
                                                                                                         die Medizinerin, die trotz eigener
                                                                                                         Praxis und neben der vielen organi-
                                                                                                         satorischen Arbeit selbst noch re-
                                                                                                         gelmäßig die Erwachsenensprech-
                                                                                                         stunde betreut, nicht. Ausnahmen
                                                                                                         von ihrer Einstellung macht sie le-
                                                                                                         diglich hier: bei Medizintourismus.
                                                                                                         Ansonsten heißt die Devise: Behan-
wieder von der tiefen Dankbarkeit      Auf das eigene          hestand – und schon fast genauso          dele die Patienten mit Wertschät-
der Patienten berührt. „Die Men-       Ultraschallgerät        lange für Medizin Hilft im Einsatz.       zung. Nimm ihnen die Scham. Lass
schen gehen hier mit einem Lächeln     ist man in der Praxis   Wie auch Kinderarzt Schütte, ist sie      ihnen ihre Würde. Und vor allem:
                                       stolz. Es war eine
raus und sind sehr dankbar für die                             „froh“, dass sie ihr medizinisches        Hilf ihnen. Und das mit der best-
                                       Firmenspende.
Behandlung.“                                                   Wissen weitergeben und helfen             möglichen medizinischen Qualität,
   In der Tat. Danke. Merci. Thank                             kann. „Wo sollen die Leute denn           die ein Land wie Deutschland zu
you. Es sind viel gebrauchte Wörter                            hin?“, wirft sie eine eher rhetori-       bieten hat.
an diesem Nachmittag. Dazu gesel-                              sche Frage in den Raum. „Wir le-             Skarabis-Querfeld wird dabei
len sich eindeutige Gesten. Eine                               ben in einem Land, das unheimlich         nicht allein vom Gedanken des Hel-
französisch sprechende Frau ohne                               viel zu bieten hat. Hier zu helfen        fens geleitet. Sie sieht auch das
Papiere, die nicht richtig sehen                               bedeutet für mich, etwas zurückge-        ökonomische Problem des löchri-
kann und von Linderer ein Rezept                               ben zu können.“ In Deutschland sei        gen Versorgungsnetzes. „Patienten,
für eine kostenfreie Brille erhält,                            ein Loch in der Versorgung entstan-       die Krankheiten verschleppen, sind
faltet beim Hinausgehen die Hände                              den, das es zu schließen gelte.           am Ende viel teurer. Es kostet das
vor dem Körper zusammen und                                                                              System weitaus weniger, einen zu
verbeugt vor der Ärztin den Kopf.                              Stabile Finanzierung notwendig            hohen Blutdruck früh zu behandeln,
Eine ältere Dame, in typisch afrika-                           Eine Aussage, die Dr. med. Pia Ska-       als in der Notversorgung einen
nisch-buntem Gewand, von Ner-                                  rabis-Querfeld nur unterschreiben         Schlaganfall zu versorgen.“ Und:
venschmerzen im Oberkörper sicht-                              kann. Die Sportmedizinerin ist die        Sie geht mit der Arbeit von Medizin
lich geplagt, murmelt „Merci, mer-                             Vorsitzende von Medizin Hilft und         Hilft eben noch einen Schritt weiter
ci, merci“ im Hinausgehen, nach-                               das Gesicht des Vereins. Sie hat En-      als „nur“ zu versorgen. „Wir wollen
dem Linderer sie untersucht und ihr                            de 2014 alles ins Rollen gebracht –       die Menschen zurück in die Regel-
Schmerzmittel gegeben hat.                                     und sieht nun, wie aus einem Hilfs-       versorgung bringen“, sagt sie. Des-
   Allgemeinmedizinerin Linderer                               projekt für Flüchtlinge eine Anlauf-      halb setzt der Verein – mithilfe der
ist seit zweieinhalb Jahren im Ru-                             stelle für Menschen geworden ist,         Ressourcen von Ärzte der Welt –

A 2414                                                                                    Deutsches Ärzteblatt | Jg. 115 | Heft 51–52 | 24. Dezember 2018
Hilfe ohne Wenn und Aber - Soziales Engagement - Medizin Hilft eV
THEMEN DER ZEIT

eben einen großen Teil seiner Ar-                   70 000 Euro im Jahr. Allein mit             Handeln außerhalb der open.med-
beit für die Sozialanamnese und                     Kleinspenden ist dies schwierig             Praxis erforderlich ist, durchlebt
Beratung ein; die Lücken sollen                     reinzuholen. „Die größte Heraus-            das Team regelmäßig. Doch Skara-
sichtbar werden.                                    forderung für mich ist es, das Pro-         bis-Querfeld, die viel Positives er-
    Es sind nicht nur die Ärzte der                 jekt, nun da es einmal laufen ge-           lebt hat, seit ihr Engagement vor
Welt, die Hilfe möglich machen. Die                 lernt hat, am Laufen zu halten“,            vier Jahren begonnen hat, hat in-
Liste der Partner ist lang: ein Labor,              sagt Skarabis-Querfeld. Sie lächelt         zwischen auch dies erfahren: „Viele
das kostenfrei untersucht. Firmen, die              dabei, wie sie es häufig tut, doch          waren bereit, Flüchtlingen zu hel-
große und kleine Hilfsmittel stellen.               räumt sie ein, dass diese Verant-           fen. Aber nicht anderen.“
Berliner Fachärzte, die unbürokra-                  wortung manchmal eine Last ist.                Ein verantwortungsvolles Eh-
tisch helfen. Kliniken, die – durch                                                             renamt, eigene Praxis, dazu noch
viel Zureden – zum Selbstkostenpreis                17 Mediziner als fester Stamm               Mutter von zwei Kindern. Wie
behandeln. Apotheken, die Medika-                   Auch hier ist Bedarf: Es werden             schafft sie das? Eine besondere
mente spenden. Die evangelische Kir-                Menschen gesucht, die das Team              Energiequelle sei der Spaß an der
che, von denen die Räumlichkeiten zu                um Skarabis-Querfeld unterstützen           Arbeit im Team und das kollegiale,
sehr günstigen Konditionen gemietet                 möchten. Denn: Der Verein arbeitet          inzwischen freundschaftliche Mit-
werden konnten. Und so weiter und                   zwar mit mehr als 100 Ehrenamtli-           einander bei Medizin Hilft, sagt
so weiter. Der größte Förderer ist das              chen zusammen, aber die Anzahl              Skarabis-Querfeld. „Das kenne ich
Rotary-Netzwerk, in dem Skarabis-                   der aktiven Köpfe im Kernteam ist           aus meiner ärztlichen Tätigkeit so
Querfeld selbst seit Jahren Mitglied                überschaubar. Zum festen Stamm              nicht. Es herrschte immer viel
ist. Elf Rotary Clubs aus vier Ländern              der Ärzte, die für den Verein in der        Konkurrenz und Druck. Das ist
gaben in einer Gemeinschaftsspende                  Praxis im Einsatz sind, gehören 17          hier ganz anders.“
150 000 Euro. Das Geld wurde vor al-                Mediziner. Fast alle davon sind im             Wer für den Verein Medizin Hilft
lem verwendet, um die Praxisräume                   Ruhestand. „Wir könnten hier noch           arbeitet, hat schon viel gesehen:
auszustatten.                                       gut einige Ärzte gebrauchen. Be-            Kinder mit blutig gelaufenen Fü-
    Klingt ziemlich gut? Ist es                     sonders schön wäre es, wenn junge           ßen. Erwachsene, die vor lauter
auch. Doch um das Überleben des                     Kliniker den Weg zu uns nach Zeh-           Scham einen Arzt erst aufsuchen,
Vereins Medizin Hilft und den                       lendorf finden würden“, sagt Skara-         wenn es fast zu spät ist. Patienten,
Fortbestand des zentralen Projek-                   bis-Querfeld. Gesucht werden auch           die so krank sind, dass nur ein Not-
tes open.med sicherstellen zu                       weitere Fachärzte, die sich bereit          eingriff sie retten kann. Frauen, die
können, muss jedes Jahr neu ge-                     erklären, in Einzelfällen Unversi-          wochenlang Schmerzen leiden
rechnet werden – und es müssen                      cherte zur kostenfreien Untersu-            müssen, weil sie kein Geld für Me-
Mittel akquiriert werden. Und                       chung in ihrer Praxis aufzunehmen.          dikamente haben.
zwar keine geringen. Der Verein                     Der Bedarf ist da. Gesundheitlich              Auch das ist Deutschland.
hat laufende Kosten von circa                       brenzlige Situationen, bei denen ein                               Nora Schmitt-Sausen

   Warum Ärztinnen und Ärzte sich engagieren
   „Ich empfinde es als sehr befriedigend, niedrigschwellig Menschen                  denn je, durch solche Arbeit seine Einstellung zu zeigen. Es ist ein
   zu helfen, die das wirklich brauchen. Auch unser tolles Team ist eine              Versuch, unsere Gesellschaft etwas menschlicher zu machen.“
   starke Motivation. Viele Probleme werden bei uns im Team diskutiert                                                 Hartmut Wollmann, Kinderarzt im Ruhestand
   und schwierige Entscheidungen gemeinsam getroffen.“
                               Barbara Grube, niedergelassene Allgemeinmedizinerin    „Wir leben in einem reichen Land mit einem hoch angesiedelten Sozi-
                                                                                      alsystem. Dennoch gibt es viele Menschen, die keinen Zugang zu
   „Während meiner Tätigkeit als niedergelassener Allgemeinmediziner                  unserem Gesundheitswesen haben, ob nun verschuldet oder nicht,
   habe ich immer wieder ehrenamtlich ärztliche Projekte aktiv unter-                 spielt für mich keine Rolle. Ich finde es unerträglich und unverantwort-
   stützt. Nun setze ich mich weiterhin mit großer Freude für Menschen                lich, diesen Menschen, woher auch immer sie kommen, den Zugang
   ein, die keinen Zugang zum gesetzlichen Gesundheitssystem haben.“                  zu einer ordentlichen Gesundheitsversorgung zu verschließen. Des-
                                Ekkehard Rähmer, Allgemeinmediziner im Ruhestand      halb stelle ich meine Kenntnis und meine jahrelange berufliche Erfah-
                                                                                      rung diesen Benachteiligten zur Verfügung.“
   „Vor allem die Dankbarkeit der Patienten und das Gefühl einen wichti-                                                 Brigitte Kodsi, Anästhesistin im Ruhestand
   gen Beitrag zur Verbesserung der Lebensqualität dieser Menschen
   leisten zu können, motiviert mich, mich ehrenamtlich im Projekt open.              „Ich halte es für sehr bedauerlich, dass man – auch als Bürger unse-
   med zu engagieren.“                                                                res Landes – relativ schnell an den Punkt kommen kann, an dem man
       Barbara Schöneich, Ärztin in Weiterbildung zum Facharzt für Allgemeinmedizin   durch Schulden, Alter, Vorerkrankungen oder Armut in keine Kranken-
                                                                                      versicherung aufgenommen wird. Um dieser Schieflage entgegenzu-
   „Mir macht diese Arbeit in einem Team, in dem sich auch sehr viele                 wirken, bin ich Ärztin bei open.med.“
   junge Menschen einbringen, Freude. Ich halte es heute für wichtiger                                        Patricia Hübner-Gierlichs, Dermatologin, praktizierend

Deutsches Ärzteblatt | Jg. 115 | Heft 51–52 | 24. Dezember 2018                                                                                               A 2415
Hilfe ohne Wenn und Aber - Soziales Engagement - Medizin Hilft eV Hilfe ohne Wenn und Aber - Soziales Engagement - Medizin Hilft eV Hilfe ohne Wenn und Aber - Soziales Engagement - Medizin Hilft eV
Sie können auch lesen