Hilfe ohne Wenn und Aber - Soziales Engagement - Medizin Hilft eV
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Fotos: axentis.de/Georg J. Lopata Soziales Engagement Hilfe ohne Wenn und Aber Versicherungsstatus? Zählt hier nicht. Über den Berliner Verein „Medizin Hilft“ bekommt jeder Patient eine Behandlung, der eine Behandlung braucht. Ärzte geben Herz und Zeit. Unentgeltlich. W as Dr. med. Burkhard gen. Abhören klappt. In Ohren, Na- gut“, erläutert der Arzt der Famili- Schütte da gerade macht, se und Rachen gucken auch. Selbst enhelferin, als alle nach der nerven- Nicht jeder Patient gefällt Yousef gar nicht. das Wiegen irgendwann. Nur beim aufreibenden Untersuchung wieder lässt sich ohne Mit Händen und Füßen wehrt sich Messen streikt der Kleine. Da zieht am großen weißen Schreibtisch am Gegenwehr von der Dreijährige gegen die Untersu- er partout nicht mit. Schütte nimmts Kopf des großen Behandlungszim- Burkhard Schütte chung. Weder seine Mutter noch die gelassen. „Dann halt nicht.“ mers Platz nehmen. Die Familien- behandeln. Familienhelferin, die zu dem Ter- helferin übersetzt diese Einschät- min als Übersetzerin mitgekommen Die Familienhelferin übersetzt zung für die aus Tunesien stammen- ist, können den Jungen beruhigen. Yousefs Mutter, die ohne Papiere in de Mutter sogleich ins Arabische. Es fließen Krokodilstränen, das Ge- Deutschland lebt, ist mit ihrem Der erfahrene Mediziner glaubt schrei ist groß. Pfleger Jens-Peter Sohn zur Kindersprechstunde in die grundsätzlich nicht, dass dem Jun- Boeck-Schmidt fährt sein ganzes Praxisräume von Medizin Hilft ge- gen wirklich etwas fehlt, der in sei- Repertoire auf: Macht Faxen. Zieht kommen, weil er sich auffällig ver- nen bunten Gummistiefeln fröhlich Grimassen. Lenkt Yousef ab. Auch hält. Das glauben zumindest die Er- und neugierig den Behandlungs- der pensionierte Kinderarzt selbst zieherinnen im Kindergarten. Der raum erkundet, während die Er- muss seine ganze Erfahrung aus- Kleine ist dort weitestgehend iso- wachsenen sprechen. „Der Junge spielen. „Komm, Mama nimmt liert. Schreit und kratzt, befolgt kei- hat nichts Schlimmes“, sagt Schütte. Dich auf den Schoß“, sagt er und ne Anweisungen. Entwicklungsver- „Auf ihn prasseln einfach zu viele geht geduldig auf das unruhige zögerung, Autismus. So lauten die Dinge ein.“ Kind ein. „Super machst Du das“, Laieneinschätzungen, die im Raum Aus dem ausführlichen Anamne- muntert er auf. Und dann kehrt stehen. Oder Schwerhörigkeit. Mor- segespräch weiß der Kinderarzt: doch noch Ruhe ein: Gemeinsam gen geht es noch zum Hörtest. Yousef lebt mit seiner Mutter und gelingt es den Erwachsenen, den Schütte glaubt nicht, dass dabei seinem kaum anwesenden Vater in Jungen zum Mitmachen zu bewe- etwas rauskommt. „Der Junge hört Berlin in einer Einzimmerwoh- A 2408 Deutsches Ärzteblatt | Jg. 115 | Heft 51–52 | 24. Dezember 2018
THEMEN DER ZEIT nung. Die Tunesierin, die vor drei weite Wege in Kauf, kommen aus Jahren als Flüchtling über Italien entfernten Stadtteilen. Darüber bin nach Deutschland gekommen ist, ich immer wieder erstaunt.“ spricht mit ihm vier Sprachen. Viele der Kinder, die Schütte in Französisch. Englisch. Italienisch. der Sprechstunde behandelt, sind Und Arabisch, ihre Muttersprache. nicht versichert, weil die Berliner Im Kindergarten soll der Junge, der Bürokratie langsam mahlt und es in Deutschland geboren ist, Monate dauert, bis die Kleinen ins Deutsch sprechen – was er aber deutsche Gesundheitssystem kom- kaum beherrscht. Noch dazu haben men. Andere Fälle sind Eltern, die die Eltern keine klare Linie in der ohne Papiere teils bereits seit vielen Erziehung. Die Mutter, übersetzt Jahren in Deutschland leben, und die Familienhelferin, versuche Re- deshalb den Gang zur Behörde geln aufzustellen und konsequent scheuen. Behandlungen im System zu sein, der Vater, sofern er denn der Regelversorgung können sie aus mal anwesend sei, lasse dem Kind eigener Tasche aber meist nicht be- alles durchgehen. „Tja, da kann ich zahlen – selbst für ihre Kinder nicht. wenig machen“, sagt der Arzt zur Übersetzerin gewandt. „Aber ich Ein eigenes Ultraschallgerät sage Ihnen deutlich: Der Junge Die Tür geht auf. Studentin Alexan- braucht eine konsequente Anspra- dra Kimel, die in dieser besonderen che und klare Regeln.“ Praxis ein Praktikum macht, bringt eine Frau herein, die einen Säugling Kinder mit normalen Problemen auf dem Arm trägt. Es ist Dustin, Schütte, blaue Jeans, blauer Pullo- drei Monate alt. Das Gesundheits- ver, weißes Hemd, schüttelt den amt hat seine aus Nordafrika stam- Kopf als das Trio den Behandlungs- mende Mutter mit ihm zu open.med raum verlässt. „Dieser Sprachen- für die U3 geschickt, weil die Pra- mix ist natürlich schwierig für das xis – anders als das Gesundheitsamt Kind.“ Ansonsten aber, betont er, – über ein eigenes Ultraschallgerät kämpfe der Junge mit den gleichen verfügt. Darüber sind hier alle sehr Problemen wie andere Kinder in stolz. Denn es ist noch dazu ein sehr seinem Alter. „Die Kinder, die ich gutes. Eine Firmenspende. hier behandele, unterscheiden sich Auch Dustin lässt die Untersu- in keiner Weise von denen, die ich chungsprozedur nicht ohne Abwehr aus meiner Praxis kenne. Weder in über sich ergehen. Doch er reagiert ihrer Entwicklung, noch bei den seinem Alter angemessen: Beim medizinischen Problemen, die ich Messen pinkelt er Schütte auf die sehe“, sagt der Pensionär, der seit Hose. Bei der Ultraschalluntersu- anderthalb Jahren jeden Dienstag chung weint er. Bei der Impfung um 13 Uhr für zwei Stunden in die brüllt er wie am Spieß. Doch das Praxis von Medizin Hilft im West- Summen und Liebkosen seiner berliner Stadtteil Zehlendorf Mutter, das Kitzeln der Haare ihres kommt, um Kinder wie Yousef zu rot geflochtenen Rastakopfes und betreuen. Schütte, der mit geübten Handgrif- Der Mediziner hat seine eigene fen das Kind untersucht, beruhigen Praxis im Jahr 2012 geschlossen den Säugling schnell. und zog im Ruhestand gemeinsam „Good boy“, lobt der Kinderarzt, mit seiner Frau aus dem beschauli- bleiben und helfen kann. Der Kon- Drei von 17 Medi- der in der Lage ist, Englisch oder chen Südbaden nach Berlin. Als er takt zu Eltern und Kindern ist mir zinern, die zum Französisch mit den Besuchern der über einen privaten Kontakt im sehr wichtig.“ ärztlichen Stamm- Sprechstunde zu reden, aber mitt- personal gehören: Tennisverein auf Medizin Hilft und Dass es in Berlin so viele Men- lerweile auch gewöhnt ist, in ein Medizin-Hilft- deren Praxisräume open.med auf- schen gebe, die außerhalb des Ver- fremdes Handy zu sprechen, um et- Gründerin merksam gemacht wurde, hat er sorgungsnetzes lebten, selbst Kin- Pia Skarabis-Querfeld, wa von einem Farsi-Übersetzer nicht lange gezögert und zugesagt. der, sei ihm vor Beginn seines Eh- Burkhard Schütte und Antworten auf seine Fragen zu be- „Jeden Tag müsste ich nicht renamtes nicht bewusst gewesen – Marieluise Linderer kommen. mehr praktizieren“, sagt der Arzt. und es habe ihn schockiert. Wie nö- (von oben) Medizin Hilft ist gut organisiert – „Aber einmal in der Woche ist die tig viele die unbürokratische Hilfe nicht nur bei Übersetzungsproble- Belastung überschaubar und ich bin hätten, erfährt Schütte jede Woche men. Dass hier Arbeit mit Köpfchen froh, dass ich in meinem Metier aufs Neue. „Die Eltern nehmen sehr gemacht wird, ist für jeden ersicht- A 2410 Deutsches Ärzteblatt | Jg. 115 | Heft 51–52 | 24. Dezember 2018
THEMEN DER ZEIT lich, der die open.med-Praxisräume bunt gemischt. Das ist nicht immer senschaftsstudentin Kimmel, unter- betritt, die der Verein Medizin Hilft so. „Viele Patienten, die ich sehe, stützt von Luzie Bremer, die in der in Kooperation mit der Organisation kommen aus Vietnam“, sagt er. Wa- Praxis einen Bundesfreiwilligen- Ärzte der Welt seit 2016 betreibt. rum? Das wisse er selbst nicht. dienst absolviert. Das Regiment im Über eine Seitentreppe eines alten Kurz nach 16 Uhr. Bis auf den Behandlungszimmer hat nun nicht Gebäudes gelangen die Besucher letzten Kinderwagen ist der helle mehr Kinderarzt Schütte, sondern nach wenigen Metern durch einen et- Wartebereich nun nur noch in Er- die Allgemeinmedizinerin Dr. med. was abgeranzten Flur in die freundli- wachsenenhand. Hinter dem Thre- Marieluise Linderer. Dazu ist noch chen Kellerräume der Praxis. Linker sen wuselt weiter emsig Sozialwis- Medizinstudent Marcel Heinrich Hand erstreckt sich eine helle, offene gekommen, der heute die Doku- Küchenzeile, rechts ein großer Emp- mentation übernimmt. Boeck- fangsthresen, dahinter, abgegrenzt Schmidt ist geblieben. Er ist bei durch Regale, befindet sich der ein- Vom Flüchtlingsprojekt zum open.med der Herr über die Medi- fach bestuhlte Wartebereich. breiten sozialen Auffangnetz kamente und bei nahezu allen Patienten, die zum ersten Mal Sprechstunden an der Seite der Ärz- hier sind, verschwinden zunächst in te. Wie das gesamte medizinische der Tür, die rechts vom Kopf des Team arbeitet auch der frühverren- Zimmers abgeht. Hier findet eine tete Krankenpfleger ehrenamtlich. ausführliche Sozialanamnese und Beratung statt, außerdem werden Stammkunde Holger anonymisiert die Daten der Patien- Einer der ersten Patienten des Nach- ten erhoben. Die Tür links führt mittages ist Holger. Er gehört zu der zum Behandlungsraum. Von dort Gruppe, von der die wenigsten wis- geht noch einmal eine Bürotür ab, Weihnachten 2014 fuhr Dr. med. Pia Skarabis-Querfeld sen, dass sie in Deutschland durch im Raum dahinter tippt Geschäfts- in eine Turnhalle, in der Flüchtlinge untergebracht waren, das soziale Raster fallen. Holger, 49 führerin Dorothea Herlemann in die um eine Kleiderspende abzugeben. Dabei fiel ihr auf, Jahre, war einmal selbständig. Er Tasten; die einzige feste Vollzeit- dass viele der Kinder, die dort schliefen, krank waren. hatte einen Werkzeuggroßhandel. kraft im Haus. Die Ärztin erfuhr, dass eine schnelle medizinische Be- Einst privatversichert gelinge es ihm handlung aus rechtlichen Gründen nicht so einfach war – nun nicht, in die gesetzliche Kran- Patientenzahlen steigen stetig und wurde aktiv. Gemeinsam mit ihrem Mann, einem kenversicherung zu kommen – trotz Die Vollzeitstelle ist nötig gewor- Kliniker, verbrachte sie an den Weihnachtstagen viele anerkanntem ALG-II-Status, erzählt den. Denn es hat sich in Berlin in- Stunden mit medizinischer Erstversorgung. Der Grund- er. „Die private Krankenversiche- zwischen herumgesprochen, dass in stein für das medizinische Hilfsprojekt war gelegt. rung möchte, dass ich 13 500 Euro Zehlendorf Menschen, die keinen In den kommenden Monaten und Jahren organsierte nachzahle, die gesetzliche nimmt oder nur einen erschwerten Zugang ein stetig wachsendes Team rund um Skarabis-Querfeld mich nicht auf, weil ich einst privat zum Gesundheitssystem haben, ge- ehrenamtliche Sprechstunden in verschiedenen Berliner versichert war“, so schildert es Hol- holfen wird. Die Zahl der Bedürfti- Notunterkünften, führte Impfaktionen durch, schuf eine ger. Ein Dilemma. gen ist groß. 60 000 Menschen ohne mehrsprachige medizinische Anlaufstelle im Internet und Holger kommt regelmäßig in die volle Krankenversicherung sollen in begann, Obdachlose zu versorgen. 2016 wurde der ge- Sprechstunden der open.med-Pra- der Hauptstadt leben, deutschland- meinnützige Verein Medizin Hilft offiziell gegründet und xis. Mit Boeck-Schmidt ist er per weit sollen es mehrere Hunderttau- die feste Anlaufstelle open.med eröffnet. Du. Aktuell plagt den Mann ein dia- send sein. Die Patientenzahlen in der Heute bietet Medizin Hilft in der open.med-Praxis in betischer Fuß. Holger durchquert open.med-Praxis steigen nach Anga- Berlin-Zehlendorf zweimal in der Woche eine Erwachse- humpelnd den Raum und steuert die ben von Medizin Hilft stetig. Es nensprechstunde und einmal wöchentlich eine Kinder- blaue Untersuchungsliege an. Ver- kommen längst nicht nur Flüchtlin- sprechstunde an. Regelmäßig sind außerdem ein Psychia- bandswechsel. Routiniert schneidet ge, sondern auch Menschen, die be- ter und ein Zahnarzt für kostenfreie Behandlungen vor Ort. Linderer, 70, den Verband vom reits seit vielen Jahren ohne Papiere Das Team führte jüngst pro Quartal 55 Sprechstunden, Fuß, Boeck-Schmidt assistiert. Me- – und ohne Krankenversicherung – 325 persönliche Konsultationen und 100 telefonische Be- dizinstudent Heinrich tippt derweil in Deutschland leben. Auch unversi- ratungen durch. Tendenz steigend. hinterm Schreibtisch relevante An- cherte Selbstständige gehören zur Im vergangenen Jahr kamen acht Prozent der behan- gaben wie Diagnose und Medikati- Klientel. Ebenso Obdachlose. Und delten Menschen aus Deutschland. Knapp zwanzig Pro- on in die Datenbank. Der 21-Jähri- eben viele Kinder. zent stammten aus anderen EU-Ländern – vor allem ge hilft einmal im Monat in der Pra- Die Bilanz der Kindersprechstun- Bulgarien, Rumänien und Polen -, die überwiegende xis, weil er hier „die andere Seite de heute: Das Duo Schütte/Boeck- Mehrheit der Patienten war aus Nicht-EU-Staaten. der Medizin“ sieht. „Sowas be- Schmidt hat die Anlaufstelle an die- Die Patienten sind Asylsuchende, die vorübergehend kommt man im Studium nicht mit. sem kalten Novembertag drei statt von Gesundheitsleistungen ausgeschlossen sind, oder Ich kann hier wirklich helfen und zwei Stunden offen gehalten. Eher Menschen ohne Papiere. Viele wohnungslose Patienten mich noch dazu weiterbilden.“ die Regel als die Ausnahme. Tune- sind darunter und Menschen, die einer Krankenkasse Bei- Heinrich, der sich wie eigentlich sien, Nordafrika, Afghanistan, Ser- träge schulden wie Selbstständige und auch Studierende. alle hier nicht zum ersten Mal eh- bien. Die Hintergründe waren heute renamtlich engagiert, ist immer Deutsches Ärzteblatt | Jg. 115 | Heft 51–52 | 24. Dezember 2018 A 2411
THEMEN DER ZEIT die keinen oder kaum Zugang zum deutschen Gesundheitswesen haben (siehe Kasten). Manchmal, so sagt sie selbst, könne sie es kaum fassen, welche Dynamik das Hilfsprojekt in kurzer Zeit entwickelt habe. Dies liegt ohne Zweifel auch an ihr selbst: Vom ersten Tag an hat sich Skarabis-Querfeld voll reinge- schmissen in das „Baby“ Medizin Hilft: Kollegen angesprochen, für eine gute Logistik gesorgt, Koope- rationen ans Laufen gebracht, Gel- der reingeholt, Gespräche mit der Politik geführt – und sie tut dies bis heute unermüdlich. Für die 51-Jährige stand und steht dabei eins im Vordergrund: der bedürftige Patient. „Ob Flücht- ling, Obdachloser oder Selbststän- diger, das ist mit egal. Deutschland ist so ein wohlhabendes Land, da sollte jeder, der hier lebt, eine Ba- sisversorgung erhalten können“, sagt sie. Und genau nach dieser Philosophie arbeitet Medizin Hilft. Eine Gefahr des Ausnutzens? Sieht die Medizinerin, die trotz eigener Praxis und neben der vielen organi- satorischen Arbeit selbst noch re- gelmäßig die Erwachsenensprech- stunde betreut, nicht. Ausnahmen von ihrer Einstellung macht sie le- diglich hier: bei Medizintourismus. Ansonsten heißt die Devise: Behan- wieder von der tiefen Dankbarkeit Auf das eigene hestand – und schon fast genauso dele die Patienten mit Wertschät- der Patienten berührt. „Die Men- Ultraschallgerät lange für Medizin Hilft im Einsatz. zung. Nimm ihnen die Scham. Lass schen gehen hier mit einem Lächeln ist man in der Praxis Wie auch Kinderarzt Schütte, ist sie ihnen ihre Würde. Und vor allem: stolz. Es war eine raus und sind sehr dankbar für die „froh“, dass sie ihr medizinisches Hilf ihnen. Und das mit der best- Firmenspende. Behandlung.“ Wissen weitergeben und helfen möglichen medizinischen Qualität, In der Tat. Danke. Merci. Thank kann. „Wo sollen die Leute denn die ein Land wie Deutschland zu you. Es sind viel gebrauchte Wörter hin?“, wirft sie eine eher rhetori- bieten hat. an diesem Nachmittag. Dazu gesel- sche Frage in den Raum. „Wir le- Skarabis-Querfeld wird dabei len sich eindeutige Gesten. Eine ben in einem Land, das unheimlich nicht allein vom Gedanken des Hel- französisch sprechende Frau ohne viel zu bieten hat. Hier zu helfen fens geleitet. Sie sieht auch das Papiere, die nicht richtig sehen bedeutet für mich, etwas zurückge- ökonomische Problem des löchri- kann und von Linderer ein Rezept ben zu können.“ In Deutschland sei gen Versorgungsnetzes. „Patienten, für eine kostenfreie Brille erhält, ein Loch in der Versorgung entstan- die Krankheiten verschleppen, sind faltet beim Hinausgehen die Hände den, das es zu schließen gelte. am Ende viel teurer. Es kostet das vor dem Körper zusammen und System weitaus weniger, einen zu verbeugt vor der Ärztin den Kopf. Stabile Finanzierung notwendig hohen Blutdruck früh zu behandeln, Eine ältere Dame, in typisch afrika- Eine Aussage, die Dr. med. Pia Ska- als in der Notversorgung einen nisch-buntem Gewand, von Ner- rabis-Querfeld nur unterschreiben Schlaganfall zu versorgen.“ Und: venschmerzen im Oberkörper sicht- kann. Die Sportmedizinerin ist die Sie geht mit der Arbeit von Medizin lich geplagt, murmelt „Merci, mer- Vorsitzende von Medizin Hilft und Hilft eben noch einen Schritt weiter ci, merci“ im Hinausgehen, nach- das Gesicht des Vereins. Sie hat En- als „nur“ zu versorgen. „Wir wollen dem Linderer sie untersucht und ihr de 2014 alles ins Rollen gebracht – die Menschen zurück in die Regel- Schmerzmittel gegeben hat. und sieht nun, wie aus einem Hilfs- versorgung bringen“, sagt sie. Des- Allgemeinmedizinerin Linderer projekt für Flüchtlinge eine Anlauf- halb setzt der Verein – mithilfe der ist seit zweieinhalb Jahren im Ru- stelle für Menschen geworden ist, Ressourcen von Ärzte der Welt – A 2414 Deutsches Ärzteblatt | Jg. 115 | Heft 51–52 | 24. Dezember 2018
THEMEN DER ZEIT eben einen großen Teil seiner Ar- 70 000 Euro im Jahr. Allein mit Handeln außerhalb der open.med- beit für die Sozialanamnese und Kleinspenden ist dies schwierig Praxis erforderlich ist, durchlebt Beratung ein; die Lücken sollen reinzuholen. „Die größte Heraus- das Team regelmäßig. Doch Skara- sichtbar werden. forderung für mich ist es, das Pro- bis-Querfeld, die viel Positives er- Es sind nicht nur die Ärzte der jekt, nun da es einmal laufen ge- lebt hat, seit ihr Engagement vor Welt, die Hilfe möglich machen. Die lernt hat, am Laufen zu halten“, vier Jahren begonnen hat, hat in- Liste der Partner ist lang: ein Labor, sagt Skarabis-Querfeld. Sie lächelt zwischen auch dies erfahren: „Viele das kostenfrei untersucht. Firmen, die dabei, wie sie es häufig tut, doch waren bereit, Flüchtlingen zu hel- große und kleine Hilfsmittel stellen. räumt sie ein, dass diese Verant- fen. Aber nicht anderen.“ Berliner Fachärzte, die unbürokra- wortung manchmal eine Last ist. Ein verantwortungsvolles Eh- tisch helfen. Kliniken, die – durch renamt, eigene Praxis, dazu noch viel Zureden – zum Selbstkostenpreis 17 Mediziner als fester Stamm Mutter von zwei Kindern. Wie behandeln. Apotheken, die Medika- Auch hier ist Bedarf: Es werden schafft sie das? Eine besondere mente spenden. Die evangelische Kir- Menschen gesucht, die das Team Energiequelle sei der Spaß an der che, von denen die Räumlichkeiten zu um Skarabis-Querfeld unterstützen Arbeit im Team und das kollegiale, sehr günstigen Konditionen gemietet möchten. Denn: Der Verein arbeitet inzwischen freundschaftliche Mit- werden konnten. Und so weiter und zwar mit mehr als 100 Ehrenamtli- einander bei Medizin Hilft, sagt so weiter. Der größte Förderer ist das chen zusammen, aber die Anzahl Skarabis-Querfeld. „Das kenne ich Rotary-Netzwerk, in dem Skarabis- der aktiven Köpfe im Kernteam ist aus meiner ärztlichen Tätigkeit so Querfeld selbst seit Jahren Mitglied überschaubar. Zum festen Stamm nicht. Es herrschte immer viel ist. Elf Rotary Clubs aus vier Ländern der Ärzte, die für den Verein in der Konkurrenz und Druck. Das ist gaben in einer Gemeinschaftsspende Praxis im Einsatz sind, gehören 17 hier ganz anders.“ 150 000 Euro. Das Geld wurde vor al- Mediziner. Fast alle davon sind im Wer für den Verein Medizin Hilft lem verwendet, um die Praxisräume Ruhestand. „Wir könnten hier noch arbeitet, hat schon viel gesehen: auszustatten. gut einige Ärzte gebrauchen. Be- Kinder mit blutig gelaufenen Fü- Klingt ziemlich gut? Ist es sonders schön wäre es, wenn junge ßen. Erwachsene, die vor lauter auch. Doch um das Überleben des Kliniker den Weg zu uns nach Zeh- Scham einen Arzt erst aufsuchen, Vereins Medizin Hilft und den lendorf finden würden“, sagt Skara- wenn es fast zu spät ist. Patienten, Fortbestand des zentralen Projek- bis-Querfeld. Gesucht werden auch die so krank sind, dass nur ein Not- tes open.med sicherstellen zu weitere Fachärzte, die sich bereit eingriff sie retten kann. Frauen, die können, muss jedes Jahr neu ge- erklären, in Einzelfällen Unversi- wochenlang Schmerzen leiden rechnet werden – und es müssen cherte zur kostenfreien Untersu- müssen, weil sie kein Geld für Me- Mittel akquiriert werden. Und chung in ihrer Praxis aufzunehmen. dikamente haben. zwar keine geringen. Der Verein Der Bedarf ist da. Gesundheitlich Auch das ist Deutschland. hat laufende Kosten von circa brenzlige Situationen, bei denen ein Nora Schmitt-Sausen Warum Ärztinnen und Ärzte sich engagieren „Ich empfinde es als sehr befriedigend, niedrigschwellig Menschen denn je, durch solche Arbeit seine Einstellung zu zeigen. Es ist ein zu helfen, die das wirklich brauchen. Auch unser tolles Team ist eine Versuch, unsere Gesellschaft etwas menschlicher zu machen.“ starke Motivation. Viele Probleme werden bei uns im Team diskutiert Hartmut Wollmann, Kinderarzt im Ruhestand und schwierige Entscheidungen gemeinsam getroffen.“ Barbara Grube, niedergelassene Allgemeinmedizinerin „Wir leben in einem reichen Land mit einem hoch angesiedelten Sozi- alsystem. Dennoch gibt es viele Menschen, die keinen Zugang zu „Während meiner Tätigkeit als niedergelassener Allgemeinmediziner unserem Gesundheitswesen haben, ob nun verschuldet oder nicht, habe ich immer wieder ehrenamtlich ärztliche Projekte aktiv unter- spielt für mich keine Rolle. Ich finde es unerträglich und unverantwort- stützt. Nun setze ich mich weiterhin mit großer Freude für Menschen lich, diesen Menschen, woher auch immer sie kommen, den Zugang ein, die keinen Zugang zum gesetzlichen Gesundheitssystem haben.“ zu einer ordentlichen Gesundheitsversorgung zu verschließen. Des- Ekkehard Rähmer, Allgemeinmediziner im Ruhestand halb stelle ich meine Kenntnis und meine jahrelange berufliche Erfah- rung diesen Benachteiligten zur Verfügung.“ „Vor allem die Dankbarkeit der Patienten und das Gefühl einen wichti- Brigitte Kodsi, Anästhesistin im Ruhestand gen Beitrag zur Verbesserung der Lebensqualität dieser Menschen leisten zu können, motiviert mich, mich ehrenamtlich im Projekt open. „Ich halte es für sehr bedauerlich, dass man – auch als Bürger unse- med zu engagieren.“ res Landes – relativ schnell an den Punkt kommen kann, an dem man Barbara Schöneich, Ärztin in Weiterbildung zum Facharzt für Allgemeinmedizin durch Schulden, Alter, Vorerkrankungen oder Armut in keine Kranken- versicherung aufgenommen wird. Um dieser Schieflage entgegenzu- „Mir macht diese Arbeit in einem Team, in dem sich auch sehr viele wirken, bin ich Ärztin bei open.med.“ junge Menschen einbringen, Freude. Ich halte es heute für wichtiger Patricia Hübner-Gierlichs, Dermatologin, praktizierend Deutsches Ärzteblatt | Jg. 115 | Heft 51–52 | 24. Dezember 2018 A 2415
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