If..faktum - Gewalt gegen Frauen - Land Tirol

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If..faktum - Gewalt gegen Frauen - Land Tirol
if..faktum magazin für tirolerInnen

                        .
4_2020 www.tirol.gv.at/frauen

                      if.faktum
                      gleichstellung kompakt

                                                                      © Shutetrstock

                                      Gewalt gegen Frauen
                                      Die alltägliche Menschenrechtsverletzung
If..faktum - Gewalt gegen Frauen - Land Tirol
inhalt                                                                                                          editorial

                                                                                                                                                                    Mag.a Elisabeth Stögerer-Schwarz
                                                                                                                                                                    Abteilung Gesellschaft und Arbeit

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                                                                                                                                                                    Leiterin Bereich Frauen und Gleichstellung

                                                                                                                  © Land Tirol/Berger
                       Gewaltprävention                                                                                                                             e.stoegerer-schwarz@tirol.gv.at
          Eva Pawlata sieht, dass es 2020                                                                                                                           www.tirol.gv.at/frauen
          ein Plus an Betretungsverboten gibt

                                                                   © shutterstock
                                                                                                                 Ein wichtiges Menschenrecht,
                                                                                                                 auf das wir alle schauen wollen

                                                                                                                D     ie Zeit zwischen 25. November und 10. Dezember ist der Aktions-
                                                                                                                      zeitraum „16 Tage gegen Gewalt an Frauen“. Der 25. November
                                                                                                                 wurde von der UNO als internationaler Gedenktag für die Opfer von
                                                                                                                 Gewalt an Frauen und Mädchen anerkannt und der 10. Dezember ist
                                                                                                                 der internationale Tag der Menschenrechte. In diesen 16 Tagen soll
                                                                                                                 besonders Gewalt gegen Frauen und Mädchen thematisiert werden,

04     16 Tage gegen Gewalt
Gewalt gegen Frauen hat viele Facetten
                                                                                                                 diese schwere Form der Verletzung von Menschenrechten in all
                                                                                                                 ­ihren Ausprägungen in unser Bewusstsein gerückt werden.

         08
                                                                                                                 Wir haben die aktuelle Ausgabe des if:faktum dem Thema Gewalt
                       Bekenntnisse                                                                              gegen Frauen gewidmet. Wie sieht die Gewaltschutz­gesetzgebung
          UN-Frauenrechtskonvention und Istanbul-Konvention                                                      in Österreich aus? Wo können Frauen Hilfe und Schutz finden? An

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                                                                                                                 dieser Stelle sei auf die Webseite www.gewaltfrei-­tirol.at, die alle
                       Schutz vor Gewalt                                                                         Einrichtungen zusammenfasst, ­sowie auf die 24-Stunden-Helpline,
          Gesetze und Schutzzentren                                                                              erreichbar unter 0800/222555, verwiesen.

         10          Gewalt an Frauen mit Behinderungen
          Studien zum Thema
                                                                                                                 In Tirol bieten zahlreiche Einrichtungen Information und Beratung
                                                                                                                 für Betroffene an. Auch Opferschutzeinrichtungen helfen in Akut­

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                                                                                                                 situationen. Aber Gewalt gerade im sozialen Nahraum geht uns alle
                    Gewaltbereite Männer verstehen                                                               an. Und es gilt: hinschauen und nicht wegschauen – unser aller
          Martin Christandl im Interview                                                                         ­Zivilcourage ist gefragt, um Betroffene zu unterstützen. Häusliche

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                                                                                                                  Gewalt ist kein privates Problem – das Gesetz schützt alle
                     Kinder und Gewalt                                                                            ­Gewaltopfer und stellt klar: Jede Form der Gewalt ist strafbar.
          Kinder leiden – und werden oft übersehen

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                                                                                                                 Alle Tiroler Aktionen rund um die 16 Tage gegen Gewalt an Frauen
                     Behutsame Begleitung                                                                        ­finden Sie auf unserer Homepage www.tirol.gv.at/frauen bzw. auf
          Das Frauenhaus Tirol wird 2021 vierzig Jahre alt                                                       Facebook.

         16          Kontakte in Tirol
          Wohin können sich betroffene Frauen wenden?
                                                                                                                 Der Wunsch der Abteilung Gesellschaft und Arbeit geht an alle
                                                                                                                 ­Leserinnen und Leser: Verlieren wir gemeinsam dieses wichtige
                                                                                                                  ­Thema nicht aus dem Blick.

                                                                                                                 Bleiben Sie gesund und holen Sie sich Hilfe, wo Sie diese brauchen.

          impressum
          if:faktum gleichstellung kompakt. Aktuelle Information zu Frauen- und Gleichstellungsthemen für Multiplikatorinnen und Multiplikatoren sowie interessierte Frauen und Männer.
          Medieninhaber und Herausgeberin: Land Tirol www.tirol.gv.at/frauen if:faktum ist ein gemeinsames Projekt der Bundesländer Vorarlberg, Tirol, Salzburg und Burgenland
          und erscheint in vier Regionalausgaben. Redaktion: Ursel Nendzig Tirol-Redaktion: Elisabeth Stögerer-Schwarz, Birgitt Drewes Artdirektion, Layout, Grafik und Bildbearbeitung: Martin Renner, rennergraphicdesign Druck: Samson Druck
          Auflage: Tirol 4.200, Gesamt­auflage 16.300 Beratung, Konzept, Koordination der Produktion: „Welt der Frauen“ Corporate Print für die Abteilung Gesellschaft und Arbeit – Frauen und Gleichstellung. www.welt-der-frauen.at
          Einwilligung zur Datenverarbeitung und Information nach Art. 13 DSGVO: Ich erteile dem Land Tirol/der Tiroler Landesregierung (Eduard-Wallnöfer-Platz 3, 6020 Innsbruck – Datenschutzbeauftragter: Dr. Norbert Habel, E-Mail: datenschutz-
          beauftragter@tirol.gv.at, Tel.: +43 512 508 1870) die ausdrückliche Einwilligung, meine personenbezogenen Daten zum Zweck des Versands des if:faktum ­Gleichstellung kompakt zu verarbeiten. Diese Daten werden nicht an Dritte weiter-
          gegeben. Diese Einwilligung kann jederzeit widerrufen werden. Senden Sie uns eine E-Mail an ga.frauen@tirol.gv.at. Mit der Kündigung Ihres Abonnements werden Ihre Daten unverzüglich gelöscht. Die bis zum Zeitpunkt des Widerrufs
          erfolgte Datenverarbeitung wird durch den Widerruf nicht berührt. Darüber hinaus besteht ein Beschwerderecht an die Datenschutzbehörde.

  2 if..faktum 4_2020
If..faktum - Gewalt gegen Frauen - Land Tirol
© Florian Lechner
                                                                                                                                                                   standpunkt

                                            3 kurze Fragen an                                                   Gewalt geht uns alle an
                                            Eva Pawlata
                                                                                                                Liebe Leserin, lieber Leser!
2020 hat Frauen vor extreme Herausforderungen ge-
stellt. Wie erlebten Sie das im Gewaltschutzzentrum?                                                            Opfer von Gewalt brauchen Schutz, vor allem
Während des Lockdowns bekamen wir weniger neue                                                                  wenn die Misshandlungen im unmittelbaren
­Klientinnen, auch weniger Betretungsverbote wurden                                                             ­sozialen Umfeld geschehen. Häusliche Gewalt darf
 ­ausgesprochen. Danach aber steigerte sich das rasch, die                                                       kein Tabuthema mehr sein! Uns allen muss klar
  Aggressionen und die ­Betretungsverbote nahmen rasant                                                          sein, dass bei Gewalt die gesamte Gesellschaft
  zu. Frauen fanden sich in vielen traditionellen Rollen                                                         ­gefordert ist, hinzuschauen und zu handeln.
  ­wieder: Kinder, Schule, Haushalt … Die häusliche Gewalt                                                        In Tirol wurde daher ein Gewaltschutzplan er­
   war ­österreichweit bis zu dreimal so intensiv.                                                                arbeitet, der die landesweiten Strukturen der
                                                                                                                  ­Gewaltprävention und des Opferschutzes im
                                                                                                                   ­sozialen Nahraum behandelt. Dieser gibt einen
Wo sind aktuell die Barrieren und Fallen für Frauen?
                                                                                                                    Überblick über die im Gewalt- und Opferschutz
Der Hauptfaktor ist immer noch die Abhängigkeit von
                                                                                                                    sowie in der Gewaltprävention tätigen Akteurin-
Frauen – finanziell und emotional. Es fehlt massiv an
                                                                                                                    nen und Akteure. Der Plan umfasst sowohl die
­umfassender ­Gleichberechtigung für Frauen.
                                                                                                                    rechtlichen ­Rahmenbedingungen als auch die
                                                                                                                    ­spezifischen Präventionsangebote für Frauen,
Was wünschen Sie sich konkret von der Tiroler
                                                                                                                     Mädchen, Kinder und Jugendliche, aber auch
Gesellschaft?                                                                                                        Täterinnen und Täter. Im Gewaltschutzplan werden
Anerkennung für die Arbeit und die Rollen der Frauen.                                                                Empfehlungen zum weiteren effektiven Ausbau
Wir sind weit weg von Gleichberechtigung. Außerdem                                                                   des Gewalt- und Opferschutzes aufgezeigt.
braucht es Offenheit für Maßnahmen, die zu dieser                                                                    Diese bieten eine gute Basis, die ­unsere bereits in
Gleichberechtigung führen.                                                                                           ­Umsetzung befindlichen Schritte untermauert.

Eva Pawlata
Geschäftsführerin Gewaltschutzzentrum Tirol,
                                                                                          © Land Tirol/Berger

www.gewaltschutzzentrum.at

                                                                                                                                       DIin Gabriele Fischer
                                                                                                                                       Landesrätin für Frauen
                                                                                                                                       und Gleichstellung

   Auf Punkt und Komma

      14                                                 2020 mehr Betretungsverbote als zuvor
                                                         Im Fünfjahreszeitraum 2014 bis 2018 ist die Zahl der in Tirol durch die Polizei
                                                         ­verhängten Betretungsverbote annähernd stabil geblieben (2018: 435), mit
                                                          ­einem positiven Ausreißer 2017, als um zwanzig Prozent mehr Schutzmaßnahmen
                                                           gesetzt wurden (549). Trotzdem war Tirol sowohl 2017 als auch 2018 das
                                                           ­Bundesland mit der geringsten Zahl an Betretungsverboten je 10.000 Einwohne-
                                                            rinnen und Einwohner mit 7 bzw. 5,9 Interventionen. 2019 erfolgten 516 Betre-
 14 Einrichtungen im Frauen- und
                                                            tungsverbote, also wiederum ein Plus von fast zwanzig Prozent. Österreichweit
 Mädchenbereich bieten Maß­                                 waren es in beiden Jahren 9,1 Betretungsverbote pro 10.000 Einwohnerinnen
 nahmen der Primärprävention an,                            und Einwohner. Auf Bezirksebene ­erfolgte der stärkste Rückgang von 2017 auf
 mit Schwerpunkten auf Information                          2018 im Bezirk Reutte (um 82 Prozent), in Landeck blieb die Anzahl gleich,
 und Aufklärung, aber auch auf der                          ­nirgendwo gab es ein Plus. Im Jahr 2020 wurden nach dem Lockdown
 Weitervermittlung von Klientinnen                           ­österreichweit bis zu dreimal so viele Betretungsverbote ausgesprochen.
 an spezifischere Stellen.                               Quelle: Gewaltschutzplan Tirol 2020

                                                                                                                                                         if..faktum 4_2020 3
If..faktum - Gewalt gegen Frauen - Land Tirol
cover

      Gewalt gegen Frauen hat viele grausame Gesichter.
      Sie geschieht weltweit, in jeder einzelnen Sekunde.
      Die Aktion „16 Tage ­gegen Gewalt“ richtet den Blick
      auf diese häufigste Menschenrechtsverletzung.

    16 Tage
        gegen
    Gewalt

                                 Zahlen in Österreich
                                 In Österreich ist jede fünfte Frau seit ihrem 15. Lebensjahr körperlicher
                                 und/oder sexualisierter Gewalt ausgesetzt.

                                 Jede dritte Frau hat eine Form sexueller Belästigung erfahren.
                                 Jede siebte Frau ist von Stalking betroffen.

                                 2019 haben 26 Frauenhäuser insgesamt 3.310 Personen betreut
                                 (1.673 Frauen, 1.637 Kinder).

                                 2019 wurden von der Polizei 8.748 Betretungsverbote ausgesprochen.
                                 Die Zahl steigt jährlich leicht an, 2012 waren es 8.063.

                                 2019 erhielt die Frauenhelpline gegen Gewalt (0800/222555) insgesamt 8.730 Anrufe,
                                 davon 6.901 von Frauen oder Mädchen.

                                 6,4 Prozent der von sexualisierter Gewalt betroffenen Frauen bringen die Tat zur Anzeige.
                                 Die Verurteilungsquote bei Vergewaltigung lag im Jahr 2018 bei 13,1 Prozent.

                                 Im Jahr 2015 gab es in Österreich 17 Femizide (Morde an Frauen, die aufgrund ihres
                                 ­ eschlechts getötet wurden), 2016 waren es 28. 2017 waren 36 Frauen Opfer von
                                 G
                                 Mord, 2018 stieg die Zahl auf 41 und 2019 waren es 39. Im laufenden Jahr 2020
                                 (Stand: September) gab es bisher 17 Frauenmorde.

4 if..faktum 4_2020
If..faktum - Gewalt gegen Frauen - Land Tirol
ie kommenden 15 Minuten seien „nichts         1991 rief das amerikanische Center for Women’s
                                                für schwache Nerven“: So kündigten ver-        ­Global Leadership die „16 Days of Activism Against
                                               gangenen Mai die beiden Fernsehstars Klaas       Gender Violence“ aus, eine Aktion, an der sich heute
                                            Heufer-Umlauf und Joko Winterscheidt eine           über 6.000 Organisationen aus der ganzen Welt
                                       Sendung an, deren Zeit sie von ihrem Heimat­             ­beteiligen. In diesem Jahr stehen die Aktionstage unter
                                   sender, dem deutschen Privatsender ProSieben, im              dem Motto „#ratifyILO190“ – also im Zeichen des
                                   Rahmen einer Gameshow gewonnen hatten. Eine                   „Übereinkommens 190“, das die Allgemeine Konferenz
                                   Viertelstunde, in der die beiden ihre Bühne nicht             der Internationalen Arbeitsorganisation erließ: ein
                                   ­ihrem üblichen Klamauk, sondern dem Thema Gewalt             Übereinkommen über die Beseitigung von Gewalt und
                                    gegen Frauen überließen. Zu sehen war, am besten             Belästigung in der Arbeitswelt.
                                    und teuersten Sendeplatz zu Beginn des Hauptabend-
                                   programmes, die fingierte Ausstellung „Männerwelten“.       Formen und Folgen
                                   Sophie Passmann (Moderatorin, Feministin und Auto-          Gewalt in der Arbeitswelt ist eine von vielen Facetten
                                   rin des Buches „Alte weiße Männer“) führte durch die        von Gewalt gegen Frauen. Sie alle stellen, laut
                                   Ausstellung, bei der ­sie sowohl per SMS verschickte        UNICEF, die häufigsten Verletzungen von Menschen-
                                   „Dick Pics“ zeigte als auch Outfits, die Vergewalti-        rechten weltweit dar. Gewalt gegen Frauen geschieht
                                   gungsopfer trugen, als diese überfallen wurden.             auf emotionaler, psychischer und physischer Ebene.
                                   15 Minuten, die viele verschiedene Facetten eines           Dazu gehören die verschiedenen Formen der häusli-
                                   Themas zeigten, das schon uralt ist – und nie an            chen Gewalt, die weltweit am häufigsten auftretende
                                    ­Aktualität verloren hat.                                  Form und zugleich die grausamste, befindet sich das
                                                                                               Opfer doch in einer engen (familiären) Beziehung
                                     Gewalt gegen Mädchen und Frauen ist immer, ist            zum Täter: Schläge, Verbrühungen, Einsperren oder
                                   überall und hat viele Gesichter. Um für diesen trauri-      Essensentzug, Beleidigungen, Erniedrigungen,
                                   gen Umstand Bewusstsein zu schaffen, wurden die             ­Erpressungen, Gewaltandrohung. Frauen und
                                   „16 Tage gegen Gewalt“ ausgerufen. Ein Aktions­              ­Mädchen sind außerdem besonders häufig von
                                     zeitraum, der die Tage zwischen dem 25. November –          ­sexueller Gewalt betroffen. Auch hier kommen die
                                   dem internationalen Gedenktag für alle Frauen und              Täter sehr oft aus dem nahen sozialen Umfeld. Auch
                                   Mädchen, die Opfer von Gewalt wurden – und                     Stalking und Gewalt im Netz (siehe Kasten) sind
                                   dem 10. Dezember umfasst. Das Datum ist nicht­                 ­Formen von Gewalt, die häufig Frauen betreffen.
                                   zufällig gewählt. Der Gedenktag am 25. November
                                   geht auf die Ermordung dreier Schwestern zurück,            Die Folgen aller Formen von Gewalt sind komplex
                                     ­Patria, ­Minerva und María Teresa Mirabal, Regime­       und weitreichend. Sind die körperlichen Folgen wie
                                      gegnerinnen, die 1960 in der Dominikanischen             Blutergüsse, Prellungen, Abschürfungen, Knochen­
                                      ­Republik von Schergen des Diktators Trujillo brutal     brüche, Verletzungen an inneren und äußeren
                                   e­ rmordet wurden.                                          ­Organen, Stichwunden, Schussverletzungen und

                 Gewalt im Netz
                 Sie wächst rasant und trifft besonders Frauen           Eilverfahren sollen ermöglicht, die Ausforschung
                  und Mädchen: die sogenannte Cybergewalt.               von Tätern erleichtert werden. Plattformen
                 Dazu gehören Beleidigungen, Bloßstellungen,             ­haben die Pflicht, Postings, die ­eindeutig unter
                 Verbreitung von Falschinformationen, Hetze,               den Tatbestand der Nötigung, gefährlichen Dro-
                 Hasskommentare oder sogar Vergewaltigungs-              hung, Beleidigung, Erpressung oder Verhetzung
                 und Morddrohungen im digitalen Raum. Nicht                fallen, innerhalb von 24 Stunden zu löschen.
                 selten hängt sie mit Gewalt im ­realen Leben             Auch das so­genannte Upskirting (unerlaubtes
                 ­zusammen.                                                Fotografieren des Intimbereiches, der mit Klei-
                                                                           dung b­ edeckt ist, also etwa unter den Rock) fällt
                 Dem soll das Gesetzespaket „Hass im Netz“                unter die Löschpflicht. Opfer von Cybergewalt
                 ­entgegenwirken. Das Kommunikationsplattfor-              müssen allerdings selbst Anzeige erstatten und
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                  men-Gesetz soll Social-Media-Plattformen in die          die Kosten für den Prozess tragen, falls sie
                  Pflicht nehmen, der Opferschutz und gericht­liche       ­diesen verlieren.

                                                                                                                                       if..faktum 4_2020 5
If..faktum - Gewalt gegen Frauen - Land Tirol
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                                             Verbrennungen heilbar, bleiben die     auch ihre Wohnung, verzichten auf gemeinsames oder
                                             unsichtbaren s­ eelischen Verletzun-   sogar eigenes Eigentum und auf Unterhalts- oder
                                             gen mit langwierigen und schwer-       ­Schadenersatzzahlungen. Frauen, die Opfer von ­Gewalt
                                             wiegenden Folgen. Überlebende           werden, fehlen häufiger am Arbeitsplatz, sind weniger
                                             häuslicher Gewalt bleiben traumati-     belastbar und gefährdet, ihren Job zu v­ erlieren. Sind die
                                             siert. Sie leiden unter Angstzustän-   psychischen Folgen der Misshandlung gravierend, kann
                                             den, Schlafstörungen, Depressionen,     es sein, dass Frauen gar nicht mehr erwerbsfähig sind.
                                             Scham- und Schuld­gefühlen. Sie
                                             fühlen sich schmutzig und stigmati-    Corona und Gewalt
                                             siert, haben ein niedriges Selbst-     Der Zustand der Isolation infolge der Corona-­Pandemie
                         wertgefühl, sind verzweifelt, verletzen sich selbst oder   intensiviert die räumliche Nähe zwischen Tätern und
                         haben Todessehnsucht. H  ­ äufig treten Essstörungen und   Opfern – und minimiert die Möglich­keiten, dieser zu
                      Abhängigkeiten auf. Dauert eine Misshandlung über             entfliehen. Eine deutsche Studie zeigt, dass während
                      ­einen langen Zeitraum an, verlieren Betroffene ihr           der Quarantänezeit knapp 7,5 Prozent der Frauen und
                       ­Sicherheitsgefühl, ziehen sich zurück und entwickeln        10,5 Prozent der Kinder Opfer häuslicher Gewalt wurden.
                      Wahrnehmungs­störungen oder sogar schwere                     Für Österreich f­ ehlen die Zahlen, doch auch die Bera-
                        ­psychische Störungen.                                      tungshotline „Rat auf Draht“ verzeichnete in diesem
                                                                                    ­Zeitraum einen Anstieg von Anfragen um 30 Prozent.
                      Häufig wird eine weitere Folge häuslicher Gewalt über­         Zudem darf nicht ver­gessen werden, dass die Dunkel­
                      sehen: die ökonomischen Schäden. Verlassen Frauen              ziffer hoch sein dürfte: Schulen, K ­ indergärten und
                      aus Angst ihr gewaltvolles Umfeld, verlassen sie damit         ­Arbeitskollegen fehlen als s­ oziale Kontrollorgane.

      Aktionen gegen Gewalt
      Orange The World                                               16 Tage gegen Gewalt
      2015 wurde diese Kampagne von den Vereinten                    Zwischen 25. November und 10. Dezember
      ­Nationen, genauer der UN Women, ins Leben gerufen.            wird dieser Aktionszeitraum weltweit ge-
       Aus Solidarität mit Opfern geschlechtsspezifischer            nutzt, um das Ausmaß und die Ausprägun-
       ­Gewalt werden dabei ­Gebäude orangefarben ange-              gen von Gewalt gegen Frauen zum Thema zu
        strahlt, um ein sichtbares Zeichen zu setzen.                machen und B ­ ewusstsein dafür zu schaffen, dass
        2017 nahm e­ rstmals das österreichische Nationalkomitee     Gewalt ­gegen Frauen als Menschenrechtsverletzung
        teil – und so erstrahlten 2018 in ganz Österreich rund       auch negative Folgen für die gesamte ­Gesellschaft hat.
        70 Gebäude orangefarben.                                     www.16dayscampaign.org
        www.unwomen.at/unserearbeit/
        kampagnen/orange-the-world/
                                                                     Fahnenaktion
                                                                     Die gemeinnützige Menschenrechtsorganisation Terre des
      GewaltFrei Leben                                               Femmes kämpft seit knapp 40 Jahren für die Rechte von
      Im Rahmen dieser österreichischen Kampagne werden              Frauen und Mädchen. Inhalte ihrer Arbeit sind neben
      ganz unterschiedliche Maßnahmen ­gegen Gewalt an               häuslicher und sexualisierter Gewalt auch weibliche
      Frauen gesetzt. 2014/2015 vom Frauenministerium, dem           ­Genitalverstümmelung, Frauenhandel, Gewalt im Namen
      Verein Autonome Österreichische Frauenhäuser, der               der Ehre und vieles mehr. Dazu hat die Organisation Ak-
      Bundes­jugendvertretung und der Interventionsstelle             tionen ins Leben gerufen, darunter die F­ ahnenaktion am
      Wien ins Leben gerufen, wird seither die F­ rauenhelpline       25. November: Unter dem heurigen Motto „#meinherz-
      gegen Gewalt (0800/222555) bekannt gemacht, Pro­                gehörtmir – gegen Zwangsverheiratung und Frühehen“
      jekte, Unternehmen und Personen unterstützt und                 werden an diesem Tag Fahnen geschwenkt.
      ­umfangreiches ­Infomaterial erstellt.                          www.frauenrechte.de/unsere-arbeit/
       www.gewaltfreileben.at                                         aktionen/fahnenaktion

6 if..faktum 4_2020
If..faktum - Gewalt gegen Frauen - Land Tirol
„Gewalt gegen Frauen kommt überall vor“
Birgitt Haller forscht seit 23 Jahren zum Thema Gewalt. Seit 2012 ist sie wissenschaftliche Leiterin
des Instituts für Konfliktforschung in Wien. Im Interview berichtet sie über die aktuelle Situation
in Österreich, die Auswirkungen von Corona und davon, welche Veränderungen es braucht.

  Wie sieht die Situation für Frauen in Österreich aus?                      und die man leichter verdrängen kann. Frauen sind von
  Haller Grundsätzlich gut. Das Gewaltschutzgesetz war ein                   Männergewalt in der Privatheit betroffen. Das bedeutet: Sie
  großer Wurf und wurde von anderen Ländern teilweise                        leben in der Gewaltbeziehung. Diese Frauen haben keinen
  übernommen. Die Novelle, die dazu Anfang des Jahres in                     Rückzugsort mehr. Häusliche Gewalt ist also nicht nur wegen
  Kraft getreten ist, sehe ich nicht unbedingt als Verbesserung.             der Häufigkeit schlimmer, sie hat auch mehr Gewicht.
  Bei Vergewaltigung gibt es jetzt etwa eine An-
  zeigepflicht – durch Ärztinnen und Ärzte bei-                                             Gibt es den typischen Täter?
  spielsweise. Wir haben es hier aber mit aller-                                            Das ist eine gefährliche Frage. Es ist ganz
  heikelsten und belastenden Themen zu tun,                                                 wichtig, zu betonen, dass es keinen typischen
  die großes Vertrauen voraussetzen, und wenn                                                Täter gibt. Gewalt gegen Frauen kommt über-
  eine Frau nicht anzeigen will, muss das res-                                               all vor. In jedem Milieu, weltweit. Das Bild
                                                        © Helga Amesberger

  pektiert werden. Die Ausweitung des Annähe-                                                vom gewaltbereiten, arbeitslosen, ausländi-
  rungsverbotes (siehe Seite 9, Anm.) ist eine                                               schen Mann ist ein großer Irrtum. Auch gut
  gute Neuerung, die den Schutz für Frauen                                                  ­situierte Akademiker sind Täter.
  ­erhöht. So weit die gesetzliche Situation. Was
   die Realität betrifft, ist zu beobachten, dass in den letzten             Wie hat sich der Coronavirus-bedingte Lockdown nieder-
   Jahren die Anzahl der Femizide stark gestiegen ist. Dafür                 geschlagen?
   habe ich keine fundierte Erklärung.                                       Was auffällt: Während des Lockdowns hat es fast keine Mor-
                                                                             de an Frauen gegeben. Andere Indikatoren wurden in Öster-
  Sie benutzen meist nur die männliche Form, „Täter“.                        reich nicht erhoben und ausgewertet. Ich denke, dass sich
  Sollte man hier nicht auch genderneutral formulieren?                      deutlich nachweisen ließe, dass sich die Gewaltbetroffenheit
  Mir ist gendergerechte Sprache sehr wichtig. In diesem Zu-                 von Frauen verschlechtert hat. Zu einer massiven Gewalt­
  sammenhang benutze ich aber ganz bewusst die männliche                     beziehung zählt, wenn man Kontrolle über die Partnerin
  Form „Täter“, weil hier die gleichwertige Nennung von Frau-                ­ausübt. Sind beide zu Hause und können womöglich über
  en und Männern zu einer Verzerrung führen würde: 85 Pro-                    Wochen nicht hinaus, ist das eine Grundlage für Ausweitung
  zent aller Klientinnen und Klienten der Interventionsstellen                der Gewalt. Besser kann es ein Täter eigentlich nicht treffen.
  sind Frauen, nur 15 Prozent Männer.                                         Die Anrufe bei der Helpline sind jedenfalls mehr geworden,
                                                                              was vermutlich nicht nur mit einer Zunahme von Gewalt­
  Welcher Art von Gewalt sind Frauen hauptsächlich                            vorfällen zu tun hat, sondern auch damit, dass einige Nach-
  ­ausgesetzt?                                                                barinnen und Nachbarn angerufen haben, weil sie vermehrt
   In unseren Untersuchungen haben wir festgestellt, dass                     zu Hause waren und dadurch stärker mitbekommen haben,
   Frauen vor allem psychischer Gewalt ausgesetzt sind –                     was nebenan passiert. Das ist ja unser größtes Problem:
   ­Demütigungen, Abwertungen. Von körperlicher Gewalt im                    Häusliche Gewalt ist tabuisiert, und die meisten Menschen
    strafrechtlichen Sinne sprechen wir erst, wenn es Verletzun-             hören und schauen gerne weg.
    gen gibt. Die Ohrfeige ohne Verletzung ist nach dieser Defi-
    nition noch keine Gewalt. Sexuelle Gewalt ist seltener, hier             Was braucht es, um Gewalt gegen Frauen erfolgreich zu
    haben wir aber festgestellt, dass auch ältere Frauen ­sexueller          bekämpfen?
  Gewalt, oft über die gesamte Beziehungsdauer hinweg,                       Besonders wichtig für eine nachhaltige Veränderung ist, dass
    ­ausgesetzt sind.                                                        ein gesellschaftlicher Wandel passiert. Frauen müssen ge-
                                                                             genüber Männern endlich gleichwertig behandelt werden.
  Wo sind Frauen besonders gefährdet?                                        Das geht nur, wenn man mit Buben- und Mädchenarbeit
  Es gab vor einiger Zeit eine Plakatinitiative, da hieß es: „Der            ­anfängt, neue Geschlechterrollen vermittelt werden. Buben
  gefährlichste Ort ist das Schlafzimmer.“ Das stimmt leider.                 dürfen weinen, Mädchen dürfen laut sein. Beide sind gleich
  Häusliche Gewalt ist die häufigste Form. Wobei auch der                     viel wert. Denn auch das haben wir während des Lockdowns
  ­öffentliche Raum ein Schauplatz ist. Wenn wir uns hier einen               deutlich gesehen: Das Missverhältnis fängt damit an, wer die
   Geschlechtervergleich anschauen, sehen wir, dass Männer                    Hausarbeit macht. 
   mehr von Männergewalt in öffentlichem Raum betroffen
   sind – meist in einer Begegnung, die nur einmalig vorkommt                Institut für Konfliktforschung: www.ikf.ac.at

                                                                                                                               if..faktum 4_2020 7
If..faktum - Gewalt gegen Frauen - Land Tirol
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     Bekenntnisse
      Vor knapp 40 Jahren bekannte sich Österreich zur UN-Frauen­
      rechtskonvention und verpflichtete sich damit, die Diskriminierung
      von Frauen in sämtlichen Lebensbereichen zu bekämpfen.

                               A    rbeits- und Sozialleben, Partnerschaft, Familie,
                                    Bildung, politisches und öffentliches Leben,
                               Schutz vor Gewalt: die Konvention zur Beseitigung
                                                                                       Elimination of All Forms of Discrimination against
                                                                                       Women), kurz Frauenrechtskonvention, wurde im
                                                                                       ­Dezember 1979 von der Generalversammlung der
                               jeder Form der Diskriminierung von Frauen umfasst        Vereinten Nationen verabschiedet. Im Jahr 1980 un-
                               alle Lebensbereiche. Die CEDAW (Convention on the        terzeichnete Österreich das Dokument, 1982 wurde
                                                                                        es hier schließlich in Kraft gesetzt.

      Istanbul-Konvention                                                              Seit dem Jahr 2000 verpflichtete sich Österreich
      Gewalt gegen Frauen                                                              ­außerdem dazu, alle vier Jahre schriftlich über die
                                                                                        Fortschritte der Umsetzung zu berichten, zuletzt 2019.
      „Übereinkommen des Europarates zur Verhütung und Be-                              Für diese Berichte werden vom Bundeskanzleramt
      kämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt“                           Fragen der Vereinten Nationen beantwortet – so auch
      heißt das Dokument, das als Istanbul-Konvention bekannt ist.                      jene nach der Bekämpfung von Gewalt an Frauen.
      Am 11. Mai 2011 wurde es von 13 Staaten, darunter auch                            In der Antwort auf diese Frage werden Maßnahmen
      ­Österreich, in Istanbul unterzeichnet. Die Staaten sind damit                    angeführt, wie einzelne Projekte (zum Beispiel
       verpflichtet, die Konvention rechtlich verbindlich umzusetzen,                   Perspektive:Arbeit), Förderungen (wie jene der
       dazu gehören weitreichende Verpflichtungen zur Prävention,                       ­Bundesarbeitsgemeinschaft Opferschutzorientierte
       zum Schutz von Opfern und zur wirksamen Strafverfolgung.                          ­Täterarbeit), die Erfolge der Frauenhäuser und vieles
       Dabei umfassen die Regelungen alle Formen geschlechtsspezi-                        mehr. Auch die Umsetzung der Istanbul-Konvention
       fischer Gewalt gegen Frauen: körperliche, psychische und se-                       ist im jüngsten Bericht an die CEDAW ein Thema.
       xuelle ­Gewalt, häusliche Gewalt, Stalking, Zwangsverheiratung                     ­„Österreich wurde (…) ein sehr positives Zeugnis im
       und weibliche Genitalverstümmelung. Voraussetzung für den                           Hinblick auf die legistische Umsetzung der Istanbul-
       ­effektiven Schutz vor individueller Gewalt ist dabei, so die                       Konvention (siehe Kasten, Anm.) ausgestellt“, heißt es,
        ­Konvention, faktische Gleichstellung von Frauen in der Gesell-                    „und hier kaum Verbesserungsbedarf aufgezeigt.“
         schaft, da dahinter die ungleichen gesellschaftlichen Macht­-
         v­erhältnisse der Geschlechter stecken. Ein Komitee von inter­                Das CEDAW-Komitee spricht wiederum Empfehlungen
         nationalen Expertinnen und Experten, kurz GREVIO (Group of                    an Österreich, wie an alle geprüften Länder, aus.
         Experts on Action against Violence against Women and                          „Das Komitee begrüßt die Verabschiedung des Ge-
         ­Domestic Violence), überprüft die Einhaltung der Ver­                        waltschutzgesetztes“, heißt es darin, sowie „die Ein-
          pflichtungen und spricht Schlussfolgerungen aus.                             richtung der interministeriellen Arbeitsgruppe Schutz
                                                                                       von Frauen vor Gewalt“. Aber auch Bedenken bringt
                                                                                       das Komitee zum Ausdruck. So etwa die hohe Zahl an
                                                                                       Femiziden in Österreich, die geringe Anzeigehäufigkeit
                                                                                       von häuslicher Gewalt gegen Frauen und die niedrige
                                                                                       Zahl strafrechtlicher Verfolgungen von Tätern.
                                                                                       Auch Vorfälle von Hassverbrechen und Angriffe auf
         unterzeichnet und ratifiziert
                                                                                       geflüchtete Frauen und Mädchen werden darin
         unterzeichnet
                                                                                       ­kritisiert. Genau wie die unzureichende Finanzierung
         nicht unterzeichnet
                                                                                        von zivilgesellschaftlichen Organisationen, die Frauen,
                                                                                        die Opfer von geschlechterbasierter Gewalt wurden,
      Quelle: Europarat                                                                 unterstützen. 

8 if..faktum 4_2020
If..faktum - Gewalt gegen Frauen - Land Tirol
Schutz vor Gewalt
Die positive Nachricht: In Österreich sind Opfer von Gewalt gut geschützt.
Zum einen durch Gesetze, zum anderen durch konkrete Hilfe:
von Gewaltschutzzentren, Polizei, Jugendamt – und Zivilcourage.

       S    eit Mai 1997 ist in Österreich das Gewaltschutzgesetz in
            Kraft. Ein Gesetz, das die Situation für von Gewalt betroffene
        oder bedrohte Menschen erheblich verbesserte. So ermöglicht
                                                                             wenn Kinder von Gewalt betroffen sind. Nur so war es mög-
                                                                             lich, Kinder, die bis dahin nur sehr unzulänglich bedacht
                                                                             ­waren, vor häuslicher Gewalt zu schützen.
        es, dass Opfer von häuslicher Gewalt in ihrem Zuhause bleiben
        können, während Täter und Täterinnen – etwa Ehepartner,              In allen Bundesländern gibt es außerdem zum Schutz der
       ­Lebensgefährten, Verwandte oder Mitbewohnerinnen und Mit-            Opfer Gewaltschutzzentren und in Wien Interventions­
        bewohner – dieses verlassen müssen. Auch das zweiwöchige             stellen. Sie bieten nicht nur Information und Beratung für
        Betretungsverbot, das die Polizei dem Täter oder der Täterin         betroffene Personen an, sondern begleiten diese
        auferlegen kann, ist ein großer Schritt für Opfer von Gewalt.        auch auf dem oft schwierigen Weg zu Polizei,
                                                                             Gericht und Be­hörden. Spricht die Polizei ein Be-
       2013 wurde das Betretungsverbot auch auf von Gewalt be-               tretungsverbot aus, verständigt sie unmittelbar
       troffene Kinder ausgeweitet und auf Schulen bzw. Kinder­              danach das Gewaltschutzzentrum des jeweiligen
       betreuungseinrichtungen erweitert. Außerdem wurde es mit              Bundeslandes, das dann das Opfer kontaktiert
       dieser Erweiterung Pflicht, das Jugendamt zu informieren,             und Hilfe anbietet. 

Gewaltschutzgesetz:
Das ist neu                                          Was tun?
Mit 1. 1. 2020 trat eine weitreichende               · Zeigen Sie Zivilcourage. Ignorieren und wegschauen hilft den
Novelle des Gewaltschutzgesetzes in                     ­Opfern nicht – reagieren und sich einmischen hilft.

                                                                                                                                 © shutterstock
Kraft. Darin sind unter anderem folgende
Punkte enthalten:                                    · Gibt es einen konkreten Fall in Ihrem Umfeld? Sie können bei der
• Zusammen mit dem Betretungsverbot                   Frauenhelpline (0800/222555) gezielt Informationen einholen.
   gibt es ein Annäherungsverbot, das
  dem oder der Gefährdenden untersagt,               · Haben Sie Gewalt beobachtet? Hilfeschreie gehört?
  sich dem Opfer auf weniger als                       Dann muss schnell gehandelt werden.
  100 Meter zu ­nähern. Das Opfer ist                  -> Läuten Sie an und fragen Sie nach einer Kleinigkeit (einer Zwiebel, ­einem
   ­damit überall ­geschützt, nicht mehr               ­Ladegerät …) – dadurch wird die Gewalt erst einmal unterbrochen und signalisiert,
    nur in der ­eigenen Wohnung.                       dass jemand mithört.
• „Cybermobbing“ ist nun ausdrücklich                 -> Die Gewaltausübung beenden, möglichst mit der Unterstützung ­anderer
    im Gesetz erfasst. So kann dem Täter               ­Menschen.
  oder der Täterin verboten werden, von                -> Wenn das zu gefährlich ist: Polizeinotruf 133 wählen.
  der gefährdeten Person Bild- oder                    Wichtig: Es kann sein, dass sich das Opfer (aufgrund der Abhängigkeit vom Täter)
    ­Ton­aufnahmen zu machen. Dies gilt                abweisend zeigt. Das ist eine normale Reaktion.
  auch für Minderjährige.                              -> Sind Kinder involviert? In dem Fall sollten Sie umgehend die Polizei ­rufen und/
• Im Bereich des Strafrechtes wurden                  oder das Jugendamt informieren.
    Ver­schärfungen der Strafen verankert.
  Bei Stalking wurde der Strafrahmen                 · Bieten Sie Hilfe an, indem Sie die von Gewalt betroffene Person zu einem g­ ünstigen
    auf drei Jahre angehoben.                           ­Zeitpunkt ansprechen.
• Bei Vernehmung des Opfers ist eine                    -> „Ich möchte helfen, verstehe aber, dass Sie nicht darüber sprechen können.
    ­Dolmetscherin bzw. ein Dolmetscher                  Was kann ich für Sie tun?“
     des g­ leichen Geschlechts möglich.                 -> „Sie können immer zu mir kommen, ich werde es niemandem sagen.“
• Gewaltopfer können kostenlos ihre                     -> „Hier ist meine Nummer. Rufen Sie jederzeit an. Wir machen uns ein Zeichen
     ­Namen und die Sozialversicherungs­                 aus für den Fall, dass Sie Hilfe brauchen.“
     nummer ändern.
• Ab 1. 1. 2021 wird es eine verpflichten-          · Generell: Bieten Sie Hilfe an, setzen Sie die betroffene Person aber nicht unter
     de ­Gewaltpräventionsberatung nach                 Druck. Respektieren Sie die Entscheidung, wenn die angebotene ­Hilfe nicht
     ­Anordnung eines Betretungs- und                   angenommen wird.
     ­An­näherungsverbotes geben.
                                                                                                                          if..faktum 4_2020 9
If..faktum - Gewalt gegen Frauen - Land Tirol
Gewalt an Frauen mit Behinderungen
       Ein Großteil der Frauen mit Behinderungen erlebt im Lauf des ­Lebens
       Gewalt – von Diskriminierung bis zu jahrelangem sexuellem Missbrauch.
       Dies bestätigen Studien in der EU und in Österreich.

                       E  s ist ein Tabu: Gewalt an Frauen und Mädchen
                          mit Behinderung. Zudem ist es ein komplexes
                       und vielschichtiges Thema, da Betroffene häufig von
                                                                                    Für Österreich wurde das Thema 2019 auch erstmals
                                                                                    Teil einer repräsentativen Studie. Unter der Leitung
                                                                                    von Hemma Mayrhofer vom Institut für Rechts- und
                       anderen Menschen abhängig sind. Besonders ge­                Kriminalsoziologie wurden in Summe 376 Erwachse-
                       fährdet sind Frauen mit Kommunikationsbeein­                 ne – Frauen und Männer – mit Behinderungen oder
                       trächtigungen, Lernschwierigkeiten, Mehrfachbehin-           psychischer Erkrankung befragt, die in Wohnheimen,
                       derungen sowie Frauen mit Behinderungen und                  betreuten Wohngemeinschaften, Tagesstruktureinrich-
                       Migrationshintergrund.                                       tungen oder unter ähnlichen Gegebenheiten leben.

                       Im Jahr 2014 wurde im Rahmen des EU-Daphne-­                 Frauen häufiger betroffen
                       Projekts „Zugang von Frauen mit Behinderung zu               Die Studie lieferte erschütternde Zahlen: Mehr als
                       ­Opferschutz- und Unterstützungseinrichtungen bei            80 Prozent der Menschen mit Behinderung oder psy-
                        Gewalterfahrungen“ ein Bericht veröffentlicht, in dem       chischer Erkrankung haben in ihrem Leben bereits psy-
                        deutlich wird, dass Frauen mit Behinderungen Gewalt         chische Gewalt erfahren. Die Hälfte aller Befragten gab
                        nicht nur als vielfältig, sondern auch als allgegenwärtig   an, bereits von sexueller Gewalt betroffen gewesen zu
                       erleben. Laut Auskunft der befragten Frauen gebe es          sein – sexuelle Belästigung oder schwerere Formen. Ein
                       keinen Ort, an dem Gewalt gegen sie nicht ausgeübt           Drittel berichtete von schweren Formen sexueller Ge-
                       werden könne – im eigenen Haushalt, in Ausbildungs-          walt mit direktem Körperkontakt. Frauen waren dabei
                       zentren, am Arbeitsplatz, in unterschiedlichen Institu-      wesentlich öfter von sexueller Gewalt betroffen als
                       tionen der Behindertenhilfe, im Gesundheitssystem            Männer (allerdings sind Männer mit Behinderungen
                       und in Alltag und Freizeit. Sie berichten von Fremd­         ­erheblich öfter betroffen als jene ohne Behinderung).
                        bestimmung, Diskriminierung, Geringschätzung,
                        ­Drohungen, Unterdrückungen und Missachtung der             Im Rahmen der Studie ermittelten die Forscherinnen,
                         Privatsphäre.                                              dass das Risiko von Gewalterfahrungen für Menschen
                                                                                                  mit Behinderungen signifikant höher ist.
                                                                                           © shutterstock

                                                                                                  Dabei gibt es Risikofaktoren, die dies
                                                                                                    ­begünstigen, etwa in einem lieblosen
                                                                                                     oder von Gewalt geprägten Umfeld
                                                                                                     ­aufgewachsen zu sein. Außerdem wurde
                                                                                                      in der Analyse deutlich, dass in Einrich-
                                                                                                  tungen mit schwächerer Personalstruktur
                                                                                                  die Befragten deutlich öfter Gewalt
                                                                                                  e­ rleben mussten.

                                                                                                            Die Studie hält aber auch Lösungsansät-
                                                                                                            ze bereit: neben ausreichend Betreu-
                                                                                                            ungspersonal etwa, dem Aufwachsen in
                                                                                                            einem von Gewalt und Lieblosigkeit
                                                                                                            ­geprägten Umfeld entgegenzuarbeiten.
                                                                                                             Zudem müssen Information und Unter­
                                                                                                             stützung gegen Gewalt einfach und der
                                                                                                             Lebenswelt angepasst verfügbar sein.
                                                                                                             Und: Soziale Kontakte und Vertrauens-
                                                                                                            personen innerhalb und außerhalb der
                                                                                                            Einrichtungen wurden als wichtiger
                                                                                                            Schutz gegen Gewalt identifiziert. 

10 if..faktum 4_2020
© christandl
Gewaltbereite Männer verstehen
Täter einzusperren allein hilft nichts. Gewalt muss viel früher verhindert
 werden – das ist der Ansatz der Gewaltarbeit. Psychotherapeut Martin Christandl
ist seit 25 Jahren Leiter der Männerberatungsstelle „Mannsbilder“ und
­beobachtet Entwicklungen in der Gesellschaft und die Diskussion von Gewalt.

                    Ihre Beratungsstelle heißt „Mannsbilder“.                  Hauptsache, sie kommen! Allein das Vereinbaren eines
                    Unter welchem Bild leiden denn gewaltbereite               Termins zeigt schon eine gewisse Motivation.
                    Männer oder Täter?
                    Christandl Der Plural ist hier wichtig, denn es gibt       Ist es möglich, Täter zu verstehen?
                    nicht das eine, sondern viele Männerbilder. Daraus         Ja. Ich denke, es gibt niemanden, der Gewaltbereitschaft
                    entsteht eine große Verunsicherung, jeder Mann muss        nicht kennt. Jemand zu verletzten, wenn man verletzt
                    sich ein Stück weit finden, das Anlehnen an das tradi-     ist, ist zutiefst menschlich und wird eigentlich schon im
                    tionelle Bild ist schwieriger geworden. Wir dürfen nicht   Kindergarten gelernt. Gewalt ist alltäglich, sie ist weder
                    vergessen: Noch vor 100 Jahren gab es das traditionel-     Bagatelle noch Skandal, sondern unser Alltag. Es hilft
                    le Bild des starken Mannes, auch das Gewaltverbot ist      nichts, wenn wir uns empören, vielmehr müssen wir
                    relativ neu. Die erste Generation Männer sammelt ge-       schon unseren Kindern beibringen, ihre Emotionen zu
                    rade Erfahrung in diesem Setting und scheitert an den      regulieren, eine Möglichkeit zu finden, mit dem Druck
                    Erwartungen, auch an den eigenen. In der Männer­           umzugehen, ohne andere zu verletzen. Dazu kommt:
                    beratung geht es darum, zu sagen: Es gibt kein Patent-     Kleine Buben haben oft schon keinen Glanz in den Au-
                    rezept, nur Leitplanken, die sagen: keine Gewalt, keine    gen, wenn man sie fragt, ob sie sich freuen, einmal ein
                    Herabwürdigung, Fairness, Respekt.                         Mann zu sein. Mannsein ist verbunden mit Arbeit, Druck,
                                                                               mit Funktionierenmüssen, ein Männerbild, das bitter ist.
                    Wie hilft Männerberatung gewaltbereiten
                    bzw. gewalttätigen Männern?                                Hat sich Gewalt in den letzten Jahren verändert?
                    Unsere Intention ist: Hilfestellung für Männer. Es ist     Wir stellen fest, dass die sexualisierte Gewalt auch bei
                    keine Krankheit, sondern ein Verbrechen. Diese Klar-       jungen Männern zugenommen hat, zuerst in der
                    heit macht es erst möglich, dass wir mit diesen Män-       ­Sprache und dann auch in sexualisierten Übergriffen.
                    nern arbeiten können. Ich bin froh, dass wir in Öster-      Zudem gibt es eine Verschärfung der Gewalt – dass
                    reich ein klares Gewaltschutzgesetz haben – nicht so        zum Beispiel Jugendliche nicht mehr aufhören, auf am
                    gut hat sich der Strafvollzug entwickelt, wo starke         Boden Liegende so lange eintreten, bis sie bewusstlos
                    Überbelegung herrscht. Der Großteil der Männer              sind. Das war früher ein Tabu. Auch Männer be­richten,
                    kommt freiwillig zur Beratung, nur zehn bis 17 Prozent      dass sie erschrecken über das, was sie getan haben.
                    haben eine gerichtliche Auflage. In beiden Fällen gilt:
                                                                               Woran liegt das?
                                                                               Männer stehen unter Druck, beruflich, wirtschaftlich,
                                                                               finanziell. Dieser hat deutlich zugenommen, setzt sich
                                                                               in der Familie fort und fördert die Gewalt.
  OTA: opferschutzorientierte Täterarbeit
                                                                               Und wie könnte man dem entgegenwirken?
  Seit 2012 gibt es die BAG-OTA (Bundesarbeitsgemeinschaft                       Gute Sozialpolitik wäre die beste Gewaltprävention.
  ­opferschutzorientierte Täterarbeit), bestehend aus Ein­richtungen,            Familien finanziell zu entlasten, da müsste man
  die Antigewaltprogramme zur Täterarbeit durchführen (wie z. B.               ­ansetzen. Da sind wir in Österreich nicht wirklich gut.
   Männerberatungsstellen), sowie ­Opfer­schutzein­richtungen                   Väter sollten bei vollen Bezügen in Karenz ­gehen
   (wie etwa Frauenhäuser oder ­Gewaltschutzzentren). Die BAG-OTA              können, ohne finanziellen Druck. Junge V     ­ äter sollten
   orientiert sich an der ­Istanbul-Konvention, die erforderliche                keine Überstunden machen, sondern heim zu ihren
   ­gesetzliche Maß­nahmen zur Vorbeugung von Gewalt einfordert:                 Familien geschickt werden. Diese Haltung würde
    Programme, die Täter und Täterinnen häuslicher Gewalt gewalt-               ­Gewalt schon viel früher a­ bwenden – bei den jungen
    freies V
           ­ erhalten lehren und Sexualstraftäter und -täterinnen                Männern und bei den K  ­ indern, die mit einem anderen,
    ­davon abhalten, erneute Straftaten zu begehen.                              entspannteren Männerbild aufwachsen.

                                                                                                                                     if..faktum 4_2020 11
kinder
                                                                und
               In den meisten Fällen von Gewalt ­gegen ­Frauen sind ­Kinder betroffen.
            Sie leiden darunter genau wie ihre ­Eltern. Die Folgen sind ein Leben lang

                                                             gewalt
           zu spüren – und werden sogar an die nächste Generation weitergegeben.

                                                                     H
                                                                              errscht Gewalt in der Beziehung der Eltern,
                                                                              ­betrifft das so gut wie immer auch Kinder:
                                                                               Rund die Hälfte aller Frauen, die häusliche
                                                                      ­Gewalt e­ rfahren müssen, sind Mütter. Die Kinder sind
                                                                      der Gewalt zwischen ihren Eltern hilflos ausgeliefert,
                                                                      werden nicht ausreichend unterstützt oder ganz
                                                                       ­übersehen – mit weitreichenden Folgen.

                                                                        Die deutsche Forscherin Corinna Seith belegt das mit
                                                                        erschreckenden Zahlen: 92 Prozent der Kinder, die sie
                                                                        im Rahmen ihrer Studie befragte, waren bei den ge-
                                                                        walttätigen Handlungen direkt anwesend, weitere vier
                                                                        Prozent haben die Tat mitangehört. 38 Prozent der
                                                                        Kinder waren beim Einschreiten der Polizei zugegen
                                                                        und 43 Prozent flohen mit ihren Müttern in ein Frauen-
                                                                        haus. 77 Prozent der Kinder gaben an, selbst körperlich
                                                                        von der Gewalt betroffen worden zu sein, als sie sich
                                                                        schützend vor die Mütter stellten. Andere Studien
                                                                      ­kamen zu dem Ergebnis, dass eine Überschneidung
                                                                        von häuslicher Gewalt und Kindesmisshandlung in
                                                                       ­einem Ausmaß von bis zu 60 Prozent besteht. Daraus
                                                                        wird deutlich: Mütter, die der Gewalt durch den Part-
                                                                        ner ausgesetzt sind, sind in der überwiegenden Mehr-
                                                                        heit der Fälle nicht in der Lage, die Kinder zu schützen.
                                                                        Damit sind diese genauso hilflos ausgeliefert.

                                                                       Das Miterleben oder sogar Eingreifen ist für Kinder
                                                                      e­ xtremer Stress – und dabei aber häufig unbeachtet,
                                                                       weil die Eltern als Täter und Opfer im Fokus stehen.
                                                                       Bei Kindern erreicht auch der vorbildliche österreichi-
                                                                       sche Gewaltschutz sein Limit. Es fehlen kinderspezifi-
                                                                       sche Angebote, damit es nicht dem Zufall überlassen
                                                                       wird, ob ein betroffenes Kind mit dem Erlebten allein
                                                                       gelassen wird oder Hilfe bekommt.

                                                                      Späte Folgen
                                                                        Die Auswirkungen auf die Kinder zeigen sich oft erst
                                                                        Monate später – vielleicht sogar erst, wenn die
                                                                                                                                    © Shutterstock (2)

                                                                      ­Probleme der Eltern nicht mehr akut sind – und
                                                                       sind vielfältiger Natur. So kann die kognitive
                                                                       ­Entwicklung beeinträchtigt werden, das Risiko für

12 if..faktum 4_2020
Sprachentwicklungsstörungen, Lern- und Leistungs-         ­ efährdet, als Frauen Gewalt eher zu tolerieren und
                                                          g
störungen erhöht, Entwicklungen starrer Vorstellun-       Misshandlungen sogar zu decken.
gen über Gut und Böse und ein gestörtes Körper­
schema eine Folgeerscheinung der miterlebten Gewalt       Wie schützen?
sein. Auch zeigen Kinder, die Gewalt in der Familie       Wie können Kinder vor Gewalt geschützt werden? Der
­erleben, häufig auffälliges Verhalten. Dazu gehören      erste, wichtigste und zugleich schwierigste Schritt ist es,
 krankhaftes Lügen, selbstzerstörerische Tendenzen        das oder die (es sind meist alle Geschwister betroffen)
 oder Überangepasstheit (übertriebene Sauberkeit,         Opfer zu schützen, also: die Wohnung verlassen und ein
 Ordnungsliebe oder überbordende Freundlichkeit).         Betretungsverbot veranlassen. Kommt es in weiterer
 Selten äußern diese Kinder eigene Wünsche und hal-       Folge zur Anzeige und zu einem Strafverfahren, haben
 ten Distanz in Beziehungen, haben Schwierigkeiten        Kinder das Recht auf eine psychosoziale und juristische
 damit, eine Vertrauensbeziehung aufzubauen.              Begleitung während des gesamten Prozesses. Opfer
                                                          müssen in dieser Phase gestärkt und stabilisiert wer-
Kinder geben sich selbst häufig die Schuld für die        den. Ob Kinder in der Lage dazu sind, vor Gericht
­Gewaltausbrüche, schützen damit das heile Bild der       ­auszusagen, wird von Sachverständigen geklärt.
 guten Eltern – dabei sinkt der Selbstwert immer weiter
 ab. Aggressivität und Ängste sind eine Folge davon.      Während eines Verfahrens sollte, wenn möglich, kein
 Und: Dies setzt sich oftmals über Generationen hin-      Kontakt zwischen Kind und mutmaßlichem Täter
 weg fort. Erwachsene, die als Kind Gewalt erlebt ha-     ­bestehen – um Beeinflussung und Einschüchterung zu
 ben, sind eher gefährdet, selbst Gewalt auszuüben.        vermeiden. Nach einem Prozess geht es meist um das
 Studien legen nahe, dass rund 30 Prozent ehemals          Kontaktrecht. Dieses muss über das Familiengericht
 misshandelter Eltern selbst ihre Kinder misshandeln.      geregelt werden – immer mit Blick auf das Wohl des
 Das betrifft hauptsächlich Buben bzw. Männer.             Kindes, das über jeden Konflikt zwischen Erwachsenen
 ­Mädchen mit Gewalterfahrung sind wiederum stärker        erhaben sein sollte.

            Werkzeugkoffer für den Opferschutz
            Eine „Onlinetoolbox“ erleichtert das Gründen und Führen von Opferschutzgruppen an Krankenanstalten.

            Schon seit 2004 sind Kinderschutz-        für Gewaltopfer. Opferschutzgrup-          den Aufbau und Betrieb von OSG
            gruppen in Krankenanstalten               pen leisten so einen wichtigen Bei-        verantwortlich sind. Die Toolbox
            ­verpflichtend, interdisziplinär zu-      trag zur frühen Identifizierung und        bietet standardisierte, praxiser-
             sammengesetzte Gruppen aus               sorgen dafür, dass Opfer möglichst         probte Instrumente und Tipps zur
             ­Medizinerinnen und Medizinern,          rasch an Gewaltschutzeinrichtun-           patientenzentrierten Gesprächsfüh-
             Psychologinnen und Psychologen,          gen weitergeleitet werden.                 rung, benennt mögliche regionale
             Sozialarbeiterinnen und -arbeitern,      Der Aufbau und die Führung dieser          Kooperationspartner und informiert
             die bei Verdacht von Misshandlung,       OSG ist nicht einfach; vielfältige         über regionale themenspezifische
             Gewalt oder Vernachlässigung ko-         Anforderungen werden an die Mit-           Veranstaltungen.
             ordiniert vorgehen. Aufbauend auf        glieder gestellt: Die Unterschiede
             diese Gruppen sind seit 2011 auch        der Verletzungen, die individuelle         www.toolbox-opferschutz.at
             Opferschutzgruppen für volljährige       Situation jedes einzelnen Opfers,
             Betroffene häuslicher Gewalt, OSG,       Perspektiven und Wünsche müssen
             gesetzlich verpflichtend. Das gilt für   bedacht werden. Um diese Arbeit
             alle österreichischen Krankenan-         zu erleichtern, wurde die „Toolbox
             stalten, die Aufgaben dieser Grup-       Opferschutz“ in Kooperation mit
             pen bestehen in der Früh­erkennung       der Gesundheit Österreich GmbH
             häuslicher Gewalt sowie in der Sen-      und dem Bundesministerium für
             sibilisierung von medizinischem          Soziales, Gesundheit, Pflege und
             und pflegerischem Personal, denn         Konsumentenschutz erstellt. Sie
             häufig sind diese die einzigen An-       richtet sich speziell an jene Perso-
             sprechpartnerinnen und -partenr          nen, die in Krankenanstalten für

                                                                                                                        if..faktum 4_2020 13
16 Tage gegen Gewalt
   Viele Aktionen sind in Planung – auch
   wenn sich durch die Corona-bedingten
   Maßnahmen noch einiges ändern ­könnte.                 Das Haus, das Schutz
                                                        und Begleitung schenkt
   Alle Aktionen sind aktualisiert u
                                   ­ nter
   www.tirol.gv.at/frauen abrufbar.

   Ein Auszug aus den Veranstaltungen:                           Seit 40 Jahren bietet das Frauenhaus Tirol Schutz
                                                                  bei Gewalterlebnissen. Die Schwerpunkte haben
   Kostenloser Selbstverteidigungskurs für
   Mädchen* von zehn bis 19 Jahren bei
                                                              sich in vier Jahrzehnten um vieles erweitert, erzählt
   ­ARANEA – Verein zur Förderung feministischer                     Geschäftsführerin Gabi Plattner im Interview.
    und transkultureller Mädchenarbeit: Fr., 27. No-
    vember, von 16 bis 20 Uhr und Sa., 28. Novem-
    ber, von 12 bis 16 Uhr; ­Stadtteilzentrum Wilten,   E  s sei ein Krisentag, ruft die Ge-
                                                           schäftsführerin kurzfristig an. Des-
                                                        halb soll der Treffpunkt im Frauen-
                                                                                                   wie möglich sein, einerseits mit Bera-
                                                                                                   tung und Begleitung, aber anderer-
                                                                                                   seits auch, dass wir unterschiedliche
    ­Leopoldstraße 33 a; Anmeldung unter
     info@aranea.or.at oder 0677/63004454.              haus sein. Seit fast eineinhalb Jahren     Schwerpunkte haben. Das Schutz-
                                                        steht das neue Haus, das jetzt 32 hilfe-   haus, das sich Frauenhaus nennt,
   Basis – Frauenservice und Familien­                  suchenden Menschen Platz bietet –          auch die Nachbetreuung, wie das
   beratungsstelle im Außerfern; in ­einigen            Tag und Nacht, das ganze Jahr über.        ­betreute Wohnen in den sieben
   Gemeinden wird die Flagge „Frei leben                                                           Übergangswohnungen. Wichtig ist
   ohne Gewalt“ gehisst.                                Was heißt es, einen Krisentag zu           uns daneben die Präventions- und
                                                        haben?                                     Öffentlichkeitsarbeit, um gesell-
   Bierdeckelaktion in Gasthöfen, Cafés                 Plattner: Es heißt, dass es einer Frau     schaftspolitisch arbeiten zu können.
   etc. in Wörgl und Kufstein, aufgelegt im             emotional sehr schlecht geht, ausge-
   16-­Tage-Zeitraum: Evita (Frauen- und                löst durch einen Vorfall mit dem Ex-       Dafür braucht es ein vielfältiges
   ­Mädchenberatungsstelle), Fahnehissen ­              partner. Im Grunde die Verlängerung        Team. Wie sieht dieses aus?
    gegen Gewalt am Oberen Stadtplatz                   der jahrzehntelangen Gewalt, die sie       Wir konnten unser Team auf 21 Leu-
    zum 29. November.                                   erlebt hat. Das heißt für uns, sowohl      te aufstocken, das sind statt bisher
                                                        die Frau psychisch aufzufangen und         9,5 jetzt im größeren Haus zwölf
   Onlineinformationskampagne auf Facebook
                                                        zu stabilisieren als auch ihre Kinder.     Vollzeitstellen. Wir haben einen
   von Frauen im Brennpunkt: Während der
                                                        Gleichzeitig gilt es, die anderen Be-      Rund-um-die-Uhr-Betrieb, auch mit
   16 Tage gegen Gewalt wird jeweils eine Form
                                                        wohnerinnen zu begleiten und zu            einem ­eigenen Nachtdienstteam.
   von Gewalt an Frauen einfach und verständ-
                                                        beruhigen. Alle Frauen, die hier sind,     Alle Sozialarbeiterinnen, Psycho­
   lich erklärt.
                                                        haben unterschiedliche Geschichten,        loginnen, Pädagoginnen und Thera-
                                                        die sich dennoch an manchen Punk-          peutinnen arbeiten in Teilzeit, weil
   Fahnenhissen: Frauenzentrum Osttirol;
                                                        ten verknüpfen. Wenn eine Frau             die Aufgaben doch fordernd sind.
   es ist geplant, gemeinsam mit den Soroptimis-
   tinnen am 25. November die Fahnen „Frei              ­außer Haus etwas Schlimmes erlebt,        Außerdem bieten Anwältinnen kos-
   ­leben ohne Gewalt“ und „Orange the World“            hat dies Auswirkungen auf die ande-       tenlos Rechtsberatung an. Das Thema
    am Johannesplatz zu hissen und dazu die              ren Bewohnerinnen. Dann wird vom          Existenzsicherung decken bei uns
    ­Presse einzuladen.                                  Team viel Krisenbewältigung und           vorwiegend die Sozialarbeiterinnen
                                                         Stabilisierung angeboten. Ziel ist,       ab. Dazu gehört Wohnungs- sowie
                                                         dass sich alle wieder so weit beruhi-     Arbeitssuche. Existenzsicherung ist
                                                         gen können, dass sie die nächsten         zentral für die Unabhängigkeit.
                                                         Schritte selbst entscheiden.
   Praktische Hilfe
                                                                                                   Das Team bietet auch Beratung in
                                                        Dies umschreibt doch das breite            der Adamgasse an?
   In der Broschüre „Sicherheitstipps für
   Frauen und Mädchen zum Schutz vor                    Spektrum der Arbeit im Frauen-             Genau, als Anlaufstelle für alle, die
   ­sexualisierter Gewalt“ finden sich Tipps            haus Tirol?                                nicht ins Frauenhaus wollen, wo es
    zum Thema ­Sicherheit und konkrete                  Im Grunde schon, weil es die ganze         aber trotzdem wichtig ist, sich zu
    ­Hilfestellungen.                                   Komplexität zeigt, die das Thema           ­informieren und zu wissen, welche
                                                        ­Gewalt in der Familie mit sich bringt.     Schritte man im Fall von Gewalt un-
   Die Broschüre kann k­ ostenlos bestellt werden:       Es zeigt auch, wie wichtig es ist, dass   ternehmen kann. Die Beratungsstelle
   Abteilung ­Gesellschaft und Arbeit, ga.frauen@        man auf unterschiedlichen Ebenen          ist auch zentrales Angebot für alle,
   tirol.gv.at, Tel. 0512/508-7803; Download:            darauf reagiert. Unsere Unterstüt-        die Zivilcourage zeigen. Man muss
   www.tirol.gv.at/frauen/publikationen                  zungsangebote müssen so vielfältig        nicht immer sofort wissen, was man

14 if..faktum 4_2020
Lernen können,
                                                                                                                            über Gewalt zu sprechen
                                                                                                                            Frauen mit Behinderung sind Gewalt noch
                                                                                                                            schutzloser ausgesetzt. Petra Flieger, freie
                                                                                                                            ­Sozialwissenschaftlerin, im Interview.

                                                                                                                            Wie geht es Frauen mit Behinderungen in Tirol,

                                                                                  © JMonika K. Zanolin
                                                                                                                            wenn wir von Gewalt an Frauen sprechen?
                                                                                                                            Es gibt keine Untersuchungen darüber, wie es Frauen
                                                                                                                            mit Behinderungen in Tirol geht oder welche Gewalt sie
Seit 15 Jahren führt Gabi Plattner das Frauenhaus Tirol.                                                                    erleben. Eine österreichweite Studie ergab aber, dass
                                                                                                                            Frauen mit Behinderungen deutlich häufiger von Gewalt
                                                                                                                            betroffen sind als nichtbehinderte Frauen. Dies gilt
alles tun kann, aber unsere Berate-        Das Frauenhaus hat sich um                                                       ­besonders für Frauen mit hohem Unterstützungsbedarf.
rinnen können Wege aufzeigen und           viele Angebote erweitert, wie etwa                                                Außerdem zeigte sich, dass sehr viele Frauen keine
unterstützen. Die Beratungen sind          für Frauen mit Behinderungen                                                      ­sexuelle Aufklärung erhalten haben.
auch telefonisch möglich, bleiben auf      oder mit Migrationshintergrund.
Wunsch anonym und sind kostenlos.           Welche Entwicklung beobachten                                                   Was kann dagegen unternommen werden?
                                           Sie ganz besonders?                                                              Mädchen und Frauen mit Behinderungen müssen gute
Seit fast eineinhalb Jahren sind Sie       Durch das Gewaltschutzgesetz 1997                                                Aufklärung erhalten, über Sexualität und über alle For-
im neuen Haus. Wie geht es Ihnen?          können Frauen, die Gewalt erfahren,                                              men von Gewalt. Sie müssen lernen können, über Gewalt
Es hat sich gezeigt, dass wir von Be-      nun auch andere Wege finden, sich                                                zu sprechen, ihre Mitmenschen dürfen das Thema nicht
ginn an voll waren. Von vorher Platz       zu schützen, wie etwa die Weg­                                                   ­tabuisieren. Frauen mit Behinderungen sollten Bescheid
für acht Frauen und zehn Kinder            weisung oder das Betretungsverbot.                                                wissen, wo es Frauenberatungsstellen gibt. Diese sollten
konnten wir uns fast verdoppeln für         Daher sind die Frauen, die zu uns                                                barrierefrei zugänglich sein.
jetzt 32 Menschen im Frauenhaus.            kommen, deutlich mehr hoch ge-
Der Bedarf für doppelt so viele Plätze      fährdet. Frauenhäuser sind speziali-                                            Wie wichtig ist das Sichtbarmachen von Gewalt gegen
hat sich bestätigt. Die meisten Frau-       sierte Einrichtungen geworden für                                               Frauen mit Behinderungen?
en kommen aus dem Zentralraum,              Frauen mit Vielfachgefährdungen:                                                Gewaltprävention für Mädchen und Frauen mit Be­
aber wir haben durchaus Frauen aus          wenig Ressourcen, hohes Risiko,                                                 hinderungen muss konsequent Eingang finden in
allen Bezirken Tirols bei uns.              schwer verletzt oder getötet zu wer-                                                                   ­Sonderschulen, Werkstätten und
                                            den. In den meisten Fällen erfahren                                                                     Wohneinrichtungen. Alle Ein­
                                                                                                         © Petra Flieger

Wie war 2020 für das Frauen-                die Frauen psychische, physische                                                                        richtungen sollten verpflichtend
haus Tirol?                                 und auch sexualisierte Gewalt.                                                                          Schutzkonzepte umsetzen und
Es gibt sehr wohl einen Anstieg an         ­Wobei das Reden über Gewalt                                                                             vor allem eng mit Gewaltschutz­
Wegweisungen und Betretungsverbo-           schwierig ist und seine Zeit braucht.                                                                   einrichtungen für Mädchen und
ten. Corona hat zu einem Anstieg an         Das heißt, dass auch die Arbeit im                                                                      Frauen zusammenarbeiten.
polizeilichen Einsätzen geführt. Was        Frauenhaus deutlich anspruchs­
bei uns definitiv zugenommen hat,           voller geworden ist.
                                                                                                         © Die Fotografen

sind telefonische Beratungen, die eine
Spitze erreicht haben. Da waren etwa          Welche Vision haben Sie für die                                                                         Neue Stelle
Anrufe von Frauen, die hinterfragten,      ­Zukunft?                                                                                                  führt zusammen
ob die Wegweisung gilt, wenn der            Mein Wunsch wäre, dass es kein                                                                            In der Abteilung Gesellschaft und
Mann in Quarantäne ist? Es zeigte sich      ­Frauenhaus mehr braucht, weil es                                                                         Arbeit wird eine Gewaltpräven­
auch, dass es in der Zeit schwierig war,     ­keine Gewalt mehr gibt. Aber konkret:                                                                   tionsstelle neu eingerichtet.
sich Hilfe zu holen. Wenn alle in einem    Ich wünsche mir, dass es ein Frauen-
                                                                                                                            Ines Bürgler,
Raum sind, ist es schwierig, s­ icher zu   haus im Tiroler Oberland geben wird,                                             Vorständin der Abt.
                                                                                                                                                    Gewaltprävention ist eine Quer-
telefonieren, bzw. ist es schwierig für    was nicht mehr so weit entfernt ist.                                             Gesellschaft und Arbeit schnittsaufgabe, die unterschied­
Außenstehende, etwas zu beobach-           Es ist bewilligt, derzeit sind wir dabei,                                                                liche Lebensbereiche und Ziel-
ten oder Hilfe anzubieten. Wir haben       den passenden Standort zu finden.                                                gruppen betrifft. Es gibt ein komplexes System an
viel Unsicherheit gespürt und konnten      Nach Orten für Frauen im Zentral-                                                Zuständigkeiten. Mit der Gewaltpräventionsstelle des
bei telefonischen Beratungen gut           raum und im Unterland ist das der                                                Landes wird eine zentrale Ansprechstelle nach außen für
­weiterhelfen. Auch im Haus spürten        wichtige nächste Schritt.                                                        Maßnahmen des Landes Tirol zu Gewaltprävention und
 wir einen Anstieg. Gemeinsam mit                                                                                           Gewaltschutz geschaffen. Kooperiert wird mit internen
 Landesrätin Fischer haben wir einen       Kontaktdaten zum Frauenhaus                                                      und externen Einrichtungen, um noch bessere Informa­
 Notfallplan entwickelt.                   finden Sie auf Seite 16.                                                        tion, Vernetzung und Abstimmung zu bestehenden und
                                                                                                                            geplanten Maßnahmen zu erzielen und Angebote
                                                                                                                            ­bedarfsgerecht weiterzuentwickeln.

                                                                                                                                                               if..faktum 4_2020 15
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