Ifo STUDIE Analyse der Firmeninsolvenzen infolge der Corona-Pandemie und Wirkungsabschätzung finanzpolitischer Maßnahmen

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Ifo STUDIE Analyse der Firmeninsolvenzen infolge der Corona-Pandemie und Wirkungsabschätzung finanzpolitischer Maßnahmen
ifo
STUDIE
Analyse der Firmeninsolvenzen infolge der
Corona-Pandemie und Wirkungsabschätzung
finanzpolitischer Maßnahmen
Studie im Auftrag des Bundesministeriums der Finanzen
im Rahmen des Forschungsauftrags fe 3/19: Rahmenvertrag Wissenschaftliche (Kurz-)
Expertisen zu Grundsatzfragen der Finanz-, Steuer- und Wirtschaftspolitik

vorgelegt von:

ifo Zentrum für Makroökonomik und Befragungen

Autoren:

Dr. Sc. Anna Pauliina Sandqvist – Tel.: 089/9224-1239 – E-Mail: sandqvist@ifo.de
Prof. Dr. Timo Wollmershäuser – Tel.: 089/9224-1406 – E-Mail: wollmershaeuser@ifo.de

München, den 27.07.2021
Ifo STUDIE Analyse der Firmeninsolvenzen infolge der Corona-Pandemie und Wirkungsabschätzung finanzpolitischer Maßnahmen
Inhalt
1.     Einleitung                                                    2
2.     Vorgehensweise                                                3
     2.1. Prognose des Insolvenzgeschehens                           3
     2.2. Evaluation der Politikmaßnahmen                            5
     2.3. Ökonometrische Methode                                     8
     2.4. Literaturüberblick                                         8
3.     Ergebnisse                                                    9
     3.1. Analyse des Insolvenzgeschehens                            9
     3.2. Prognose des Insolvenzgeschehens                           14
     3.3. Evaluation der Politikmaßnahmen                            20
       I.     Empfangene sonstige Subventionen                       22
       II.     Geleistete Arbeitnehmerentgelte                       24
       III.    Gewinnsteuern                                         28
4.     Zusammenfassung                                               30
5.     Literatur                                                     35
6.     Anhang: Zusammenhänge aus der Einkommensentstehungsrechnung   36

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Ifo STUDIE Analyse der Firmeninsolvenzen infolge der Corona-Pandemie und Wirkungsabschätzung finanzpolitischer Maßnahmen
1. Einleitung
Die     Corona-Pandemie        und       die       gesundheitspolitisch         begründeten
Eindämmungsmaßnahmen          haben     zu       einem      erheblichen     Rückgang     der
Wirtschaftsleistung insgesamt und teils drastischen Einbrüchen der Umsätze in
kontaktintensiven Wirtschaftsbereichen geführt. Hierbei spielten sowohl angebotsseitige
Effekte (u.a. Schließung von Geschäftsräumen und Ladenlokalen, unterbrochene
Lieferketten) als auch nachfrageseitige Effekte (wie Verhaltensänderungen der
Unternehmen und privaten Haushalte) eine Rolle.

Ähnlich wie in früheren Konjunkturkrisen dürfte diese Situation für sich genommen zu
einem starken Anstieg des Insolvenzrisikos von Unternehmen geführt haben, da den
Umsatzeinbrüchen     keine   Rückgänge       finanzieller   Verpflichtungen     in   gleicher
Größenordnung gegenüberstanden. Dauer und Ausmaß der Krise hätten eine
Insolvenzwelle mit massiven wirtschaftlichen Schäden, steigender Arbeitslosigkeit und
zunehmenden Kreditausfällen zur Folge haben können.

Tatsächlich jedoch ist das Insolvenzgeschehen bislang unauffällig. Zwar stiegen nach
Daten des Statistischen Bundesamts die voraussichtlichen Forderungen aus beantragten
Insolvenzverfahren (gegen alle Schuldner ohne Verbraucher) im vergangenen Jahr auf
47,8 Mrd. Euro von 34,1 Mrd. im Jahr 2019. Allerdings spiegeln sich hierin vor allem die
Insolvenzanträge einiger Großunternehmen wider. So dürfte allein die Insolvenz der
Wirecard AG mit etwa 12,5 Mrd. Euro kräftig zu Buche geschlagen haben (vgl. Bayerisches
Staatsministerium     der     Justiz    2020).      Die      Anzahl       der   angezeigten
Unternehmensinsolvenzen sank hingegen im vergangenen Jahr deutlich um etwa 2 900
im Vergleich zum Vorjahr.

Die niedrigen Insolvenzzahlen sind jedoch schwer zu interpretieren, da neben dem
eingeschränkten Betrieb der Insolvenzgerichte während der ersten Welle der Corona-
Pandemie die seit 1. März 2020 geltende Aussetzung der Insolvenzantragspflicht einen
Anstieg verhindert haben dürfte (vgl. Statistisches Bundesamt 2020). Von dieser
Maßnahme der Bundesregierung konnten bis Ende September 2020 alle Unternehmen
Gebrauch machen, die infolge der Corona-Pandemie überschuldet oder zahlungsunfähig
wurden. Letztlich wurde die Aussetzung bis April 2021 verlängert, wobei sie zuletzt auf
Unternehmen beschränkt war, die finanzielle Unterstützung im Rahmen der staatlichen

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Hilfsprogramme zu erwarten hatten. Die grundlegenden ökonomischen Ursachen für
eine Insolvenz dürften alleine durch das Aussetzen der Antragspflicht nicht entfallen sein.
Daher gehen die meisten Prognosen von einem Anstieg der Insolvenzen in diesem und im
kommenden Jahr aus (vgl. Deutsche Bundesbank, 2020b, Euler Hermes, 2021,
Holtemöller, 2021, Röhl, 2021).

Allerdings bleibt bei diesen Prognosen unberücksichtigt, dass auch die zahlreichen
anderen staatlichen Hilfsmaßnahmen, die zur Stabilisierung der Wirtschaft und
insbesondere auch zur Sicherung der Liquidität und Solvenz von Unternehmen ergriffen
wurden, einen Einfluss auf das tatsächliche bzw. das zu erwartende Insolvenzgeschehen
haben dürften. Zu diesen Maßnahmen zählen die Zahlung von Unternehmenshilfen
(Sofort- und Überbrückungshilfen sowie außerordentliche Wirtschaftshilfen), steuerliche
Erleichterungen sowie der erleichterte Zugang zum bzw. die Ausweitung des
Kurzarbeitergeldes. Die vorliegende Kurzexpertise versucht diese Lücke zu schließen und
die Auswirkung dieser Maßnahmen auf das Insolvenzgeschehen zu untersuchen.

2. Vorgehensweise
Ziel dieser Kurzexpertise ist, wesentliche Einflussfaktoren auf das Insolvenzgeschehen zu
identifizieren und zu quantifizieren sowie Rückschlüsse auf die Größenordnung des
Insolvenzrisikos und damit der zu erwartenden Insolvenzen zu ziehen. Zu diesem Zweck
soll mithilfe vektorautoregressiver (VAR) Zeitreihenmodelle untersucht werden, welches
Insolvenzgeschehen als Folge der Coronakrise auf der Basis von Zusammenhängen der
Vergangenheit zu erwarten gewesen wäre und welcher Beitrag von den staatlichen
Hilfsmaßnahmen auf dieses Insolvenzrisiko ausgegangen sein könnte.

2.1.Prognose des Insolvenzgeschehens
Ausgehend von einer Modellschätzung, die auf Daten bis zum vierten Quartal 2019 basiert
und damit nur den Vorkrisenzeitraum umfasst, werden Prognosen für das
Insolvenzgeschehen vom zweiten Quartal 2020 bis zum vierten Quartal 2021 erstellt. Das
Insolvenzgeschehen im ersten Quartal 2020 wird noch mit den tatsächlichen Werten des
Statistischen Bundesamtes gemessen und damit als frei von Einflüssen der Coronakrise
und etwaiger Politikmaßnahmen betrachtet. Zur Messung des Insolvenzgeschehens
werden folgende Variablen in Betracht gezogen, die aus der GENESIS-Online Datenbank
des Statistischen Bundesamtes entnommen wurden (Datenstand vom 24.02.2021):

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•   Anzahl der beantragten Unternehmensinsolvenzen
      •   Höhe der voraussichtlichen Forderungen aus beantragten Insolvenzverfahren.
Zusätzlich wird bei der Analyse des Insolvenzgeschehens auch der Zusammenhang dieser
beiden Insolvenzmaße mit den Gewerbeabmeldungen untersucht. Hier liegt die
Vermutung nahe, dass Geschäftsaufgaben ähnlich wie Insolvenzen in wirtschaftlich
schwierigen Zeiten zunehmen sollten, auch wenn es für Geschäftsaufgaben neben einer
(drohenden) Insolvenz noch andere Gründe geben kann. Da die Gewerbeabmeldungen
im Unterschied zur Anzahl der beantragten Unternehmensinsolvenzen und der Höhe der
voraussichtlichen Forderungen aus beantragten Insolvenzverfahren ein ausgeprägtes
saisonales Muster aufweisen, wurde die monatlichen Daten mit dem X-13-ARIMA-SEATS
Programm des US Census Bureau um saisonale Einflüsse bereinigt. 1

Bei den Prognosen handelt es sich um bedingte Prognose, die bis zum vierten Quartal
2020 vom tatsächlichen und ab dem ersten Quartal 2021 von dem in der
Gemeinschaftsdiagnose vom Frühjahr 2021 unterstellten Verlauf der Konjunktur
abhängen. Die Messung und Prognose der konjunkturellen Entwicklung erfolgt anhand
der folgenden Variablen:
      •   preis-, saison- und kalenderbereinigtes Bruttoinlandsprodukt bis zum vierten
          Quartal 2020 (Datenquelle ist die Fachserie 18 Reihe 1.3 des Statistischen
          Bundesamtes mit Datenstand vom 24.02.2021)
      •   preis-, saison- und kalenderbereinigte Bruttowertschöpfung nach
          Wirtschaftsbereichen bis zum vierten Quartal 2020 (Datenquelle ist die Fachserie
          18 Reihe 1.3 des Statistischen Bundesamtes mit Datenstand vom 24.02.2021)
      •   Projektionen des weiteren Verlaufs des Bruttoinlandsprodukts und der
          Bruttowertschöpfung ab dem ersten Quartal 2021 gemäß der
          Gemeinschaftsdiagnose vom Frühjahr 2021.
Die Ergebnisse dieser bedingten Prognosen werden auf ihre Robustheit im Hinblick auf
alternative Modellspezifikationen überprüft.

Bei der Interpretation der Ergebnisse muss berücksichtigt werden, dass Schätzungen auf
der Basis historischer Zusammenhänge eine Zunahme des Insolvenzgeschehens mit nur

1
    Die Saisonbereinigung wurde mit der Applikation der Datenplattform Macrobond durchgeführt. Dabei
     wurden die Grundeinstellungen des Bereinigungsverfahrens gewählt und auf die gesamte Länge der
     Zeitreihe angewendet.

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geringer zeitlicher Verzögerung auf den konjunkturellen Einbruch hätten erwarten
lassen. Da die Veränderung der Insolvenzregeln, allen voran die Aussetzung der
Insolvenzantragspflicht, diesen Anstieg verhindert hat, dürfen diese Ergebnisse allenfalls
als Abschätzung der Größenordnung des zugrundeliegenden Insolvenzrisikos
interpretiert werden. In welchem Umfang sich das in den vergangenen Quartalen
kumulierte Insolvenzrisiko nach Wiedereinführung der Insolvenzantragsplicht in ein
tatsächliches Insolvenzgeschehen umwandelt, kann auf Basis der hier verwendeten
Zeitreihenmodelle nicht beantwortet werden. Zudem muss berücksichtigt werden, dass
der Einfluss der anderen staatlichen Hilfsmaßnahmen auf das Insolvenzgeschehen in den
Prognosen auf Basis historischer Zusammenhänge nicht abgebildet werden dürfte, da
der Umfang und die Ausgestaltung dieser Maßnahmen so in der Vergangenheit bislang
nicht beobachtet werden konnten. Diesem Umstand wird im zweiten Analyseschritt
Rechnung getragen.

2.2.Evaluation der Politikmaßnahmen
Für die Evaluation der Politikmaßnahmen wird im Rahmen des VAR-Ansatzes auf ein
Verfahren zurückgegriffen, das das Insolvenzrisiko zweier Szenarien miteinander
vergleicht. Dabei wird in jedem Szenario das Insolvenzrisiko als bedingte Modellprognose
geschätzt. Im „Politikszenario“ wird der bis zum vierten Quartal 2020 tatsächlich
beobachtete Verlauf der von der Politikmaßnahme beeinflussten Variable in der
Modellprognose des Insolvenzrisikos berücksichtigt. Im „Basisszenario“ hingegen wird
ein hypothetischer Verlauf dieser Variable unterstellt, der sich ohne Politikmaßnahme
ergeben hätte. Eine etwaige Differenz zwischen den prognostizierten Insolvenzverläufen
der beiden Szenarien kann als Hinweis auf den Einfluss der Politikmaßnahme auf das
Insolvenzgeschehen interpretiert werden.

Das Insolvenzrisiko wird in diesem Teil der Analyse mit der Höhe der voraussichtlichen
Forderungen aus beantragten Insolvenzverfahren gemessen. Aus gesamtwirtschaftlicher
Perspektive sollte diese Größe repräsentativer für das Insolvenzgeschehen sein als die
Anzahl der Unternehmensinsolvenzen, da letztere durch eine Häufung von Insolvenzen
bei sehr großen oder sehr kleinen Unternehmen ein verzerrtes Bild wiedergeben können.
Die konjunkturelle Entwicklung wird mit dem preis-, saison- und kalenderbereinigten
Bruttoinlandsprodukt beschrieben. Zusätzlich fließen in das Modell ein Maß für die
Unternehmensgewinne ein, die die Entwicklung der Zahlungsfähigkeit der Unternehmen

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abbilden sollen, sowie Variablen, deren Verlauf während der Coronakrise mutmaßlich
durch die staatlichen Hilfsmaßnahmen beeinflusst worden sind. Zur Schätzung des
Modells werden vierteljährliche Zeitreihen verwendet, die ab dem Jahr 2003 zur
Verfügung stehen.

Die Gewinne der Unternehmen, die bei der Politikevaluation in jedem Modell enthalten
sind, werden im Falle der nichtfinanziellen Kapitalgesellschaften anhand der
Betriebsüberschüsse gemessen, die in den Sektorkonten der Volkswirtschaftlichen
Gesamtrechnungen (VGR) verbucht werden. Für die zu den privaten Haushalten
zählenden Selbstständigen werden die Gewinne anhand der Selbstständigeneinkommen
gemessen. Da die Gewinne auf vierteljährlicher Basis nicht für die einzelnen
Wirtschaftsbereiche zur Verfügung stehen, werden die Politikmaßnahmen nur
gesamtwirtschaftlich evaluiert.

Zu den Variablen, deren Verlauf von Politikmaßnahmen beeinflusst wurden, zählen:
      •   die von den Unternehmen empfangenen sonstigen Subventionen, die u.a. die
          staatlichen Hilfszahlungen umfassen
      •   die von den Unternehmen geleisteten Arbeitnehmerentgelte, welche u.a. durch
          den Einsatz von Kurzarbeit reduziert wurden
      •   die von den Unternehmen geleisteten Gewinnsteuern, in denen sich u.a. die
          steuerlichen Liquiditätshilfen bemerkbar machen dürften.

Mit Ausnahme der Gewinnsteuern wurden alle zusätzlichen Variablen aus den VGR des
Statistischen Bundesamtes entnommen (Datenstand vom 24.02.2021) und lagen bis zum
vierten Quartal 2020 vor (vgl. den Anhang in Abschnitt 6 für weitere Details zu den
Zusammenhängen in der Einkommensentstehungsrechnung). Die Gewinnsteuern
stammen aus der Finanzstatistik des Bundesministeriums der Finanzen (Datenstand vom
24.02.2021). Falls von der Datenquelle keine saisonbereinigten Reihen zur Verfügung
gestellt wurden, wurden die Ursprungsreihen eigenständig mit dem X-13-ARIMA-SEATS
Programm des US Census Bureau um saisonale Einflüsse bereinigt. 2

2
    Die Saisonbereinigung wurde mit der Applikation der Datenplattform Macrobond durchgeführt. Dabei
     wurden für alle Reihen die Grundeinstellungen des Bereinigungsverfahrens gewählt und auf die gesamte
     Länge der Zeitreihen angewendet.

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Der hypothetische Verlauf der von der Politikmaßnahme beeinflussten Variable kann zum
einen ausgehend von Informationen über die zeitliche Struktur der Politikmaßnahme
unmittelbar abgeleitet werden. So wurde in Wollmershäuser (2021) angenommen, dass
im Basisszenario der Gewinn der Unternehmen im Verlauf des Jahres 2020 um den Betrag
der staatlichen Hilfszahlungen stärker eingebrochen wäre als im Politikszenario. Da sich
der geringere Gewinnrückgang bei ansonsten unveränderter Konjunktur in einem
schwächeren zu erwartenden Anstieg des Insolvenzgeschehens niederschlägt, wurde
diese Differenz zum Politikszenario als Wirkung der Politik interpretiert.

Zum anderen kann im Basisszenario der hypothetische Verlauf der Variable, die von der
Politikmaßnahme beeinflusst wird, der bedingten Prognose dieser Variable aus dem
empirischen Modell für den Zeitraum ab dem ersten Quartal 2020 entsprechen. So sollen
der Einfluss der Kurzarbeit und der steuerlichen Liquiditätshilfen auf das
Insolvenzgeschehen untersucht werden. Da die bedingte Prognose des Basisszenarios
die Politik fortschreibt, die im Schätzzeitraum vor Ausbruch der Coronakrise galt, wird
damit unterstellt, dass etwaige Unterschiede zwischen den Verläufen der von der
Politikmaßnahme beeinflussten Variablen allein auf Politikänderungen im Zuge der
Coronakrise zurückzuführen sind.

Diese    Form       der   Identifikation   der    Wirkungszusammenhänge             zwischen
Politikmaßnahmen und Insolvenzgeschehen ist natürlich mit einer Reihe von
Einschränkungen verbunden, die bei darauf aufbauenden Schlussfolgerungen
berücksichtigt werden müssen. Erstens ist der Verlauf des Bruttoinlandsprodukts in
beiden Szenarien immer identisch und damit unabhängig von der Politikmaßnahme. So
ist es durchaus vorstellbar, dass in der Basisvariante infolge des Ausbleibens der
stabilisierungspolitischen Maßnahme der konjunkturelle Verlauf weniger günstig
gewesen wäre und dass damit das Insolvenzrisiko unterschätzt wird. Zweitens werden
alle Unterschiede zwischen den beiden Szenarien auf die Politikmaßnahme
zurückgeführt und nicht auf etwaige andere Ursachen. So ist es durchaus vorstellbar,
dass    die   der   Coronakrise   zugrundeliegenden      Konjunkturschocks        selbst   bei
vorgegebenem konjunkturellen Verlauf auch ohne unvorhergesehene Politikänderung
ein anderes Insolvenzgeschehen und einen anderen Verlauf der von der
Politikmaßnahme       beeinflussten   Variable   hervorgerufen    hätte,     so    dass    die
Schlussfolgerungen im Hinblick auf die Effekte der Politik nicht zulässig sind. Im Rahmen

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einer Kurzexpertise ist allerdings eine tiefergehende, strukturelle Identifikation der
wirtschaftspolitischen Wirkungszusammenhänge nicht möglich.

2.3.Ökonometrische Methode
Um    den     Zusammenhang        zwischen     wirtschaftlicher   Aktivität    und     dem
Insolvenzgeschehen zu untersuchen, greifen wir auf (nicht-strukturelle) VAR-Modelle
zurück, die ex-ante kaum Annahmen über die Struktur der Zusammenhänge zwischen
den Variablen erfordern. Diese Modelle liefern somit keine Aussagen über die
zugrundeliegenden kausalen Zusammenhänge, und die Prognosen dieser Modelle
basieren einzig auf historischen Korrelationen. Mit Hilfe von bedingten Prognosen
können Aussagen über den zukünftigen Verlauf einer oder mehrerer Variablen gemacht
werden, unter der Annahme, dass eine oder mehrere andere Variablen des Modells einem
vorgegebenen Verlauf folgen. Dabei wird auf eine Methode zur Berechnung der bedingten
Prognosen zurückgegriffen, die von Bańbura et al (2015) vorgeschlagen wurde. Dieser
rekursive Ansatz basiert auf einem Kalman-Filter und reduziert somit den
Rechenaufwand im Vergleich zu der ursprünglich von Waggoner und Zha (1999)
vorgeschlagenen Methode.

2.4.Literaturüberblick
Die bisherigen Studien zum Insolvenzgeschehen in Deutschland während der
Coronakrise     konzentrieren     sich   auf    die    Prognose     der       Anzahl   der
Unternehmensinsolvenzen (Euler Hermes, 2021, Holtemöller, 2021, sowie Röhl et al.,
2020). Holtemöller (2021) geht dabei ähnlich wie in der vorliegenden Studie vor und
erstellt bedingte Prognosen mit einen VAR-Modell, in dem die Anzahl der
Unternehmensinsolvenzen und der Verlauf der Bruttowertschöpfung als Variablen
eingehen. Die Prognosen von Röhl et al. (2020) werden aus einer Einzelgleichung
abgeleitet, in der die Veränderungsrate der Unternehmensinsolvenzen durch das
Wachstum des BIP und einem Bilanzqualitätsindex erklärt werden. Die Methode, auf der
die Prognose von Euler Hermes (2021) beruht, wird nicht offengelegt.

Zudem gibt es einige Analysen zu den Auswirkungen (einzelner) Politikmaßnahmen auf
das Insolvenzrisiko (gemessen an der Anzahl der Unternehmensinsolvenzen) mit Hilfe
von Mikrodaten (Dörr et al., 2021, sowie Ebeke et al., 2021). Dörr et al. (2021) verwenden
Unternehmensdaten des Mannheimer Unternehmenspanels und schätzen mit Hilfe eines

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Matchingverfahrens (dem sog. „Nearest neighbor matching“) den Rückstau an
Insolvenzen nach Unternehmensgröße und Wirtschaftsbereichen. Ebeke at al. (2021)
nutzen europäische Unternehmensdaten aus der Orbis-Datenbank, um durch
(mehrstufige)   Simulationen       der     Unternehmensbilanzen      den     Einfluss    von
Politikmaßnahmen in verschiedenen europäischen Ländern auf die Liquidität der
Unternehmen sowie auf die Beschäftigung und die Produktion zu untersuchen.

Eine Analyse und modellbasierte Prognose der Höhe der voraussichtlichen Forderungen
aus beantragten Insolvenzverfahren sowie eine Untersuchung der Auswirkungen der
Politikmaßnahmen auf dieses Insolvenzmaß wurde unseres Wissens nach bisher nur in
Wollmershäuser (2021) durchgeführt.

3. Ergebnisse

3.1.Analyse des Insolvenzgeschehens
Das Insolvenzgeschehen kann mit der Anzahl der beantragten Unternehmensinsolvenzen
und der Höhe voraussichtlichen Forderungen aus den beantragten Insolvenzverfahren
gemessen werden. Bei den Forderungen wird auf zwei unterschiedliche Definitionen
zurückgegriffen: Höhe der Forderungen gegenüber Unternehmen (die auch für einzelne
Wirtschaftsbereiche verfügbar sind) und Höhe der Forderungen gegenüber allen
Schuldnern ohne Verbraucher (d.h. Unternehmen plus übrige Schuldner ohne
Verbraucher). Die erste Definition wird zur Analyse der Entwicklung in den verschiedenen
Wirtschaftsbereichen verwendet, die zweite Größe dürfte für die gesamtwirtschaftliche
Entwicklung aussagekräftiger sein.

Betrachtet man die Anzahl der Insolvenzen im Jahr 2020, überrascht der deutliche
Rückgang bei einem derart starken Einbruch der Wirtschaftsleistung. Dies dürfte zum
einen mit den umfangreichen staatlichen Maßnahmen und zum anderem mit der
Aussetzung der Insolvenzantragspflicht zusammenhängen. Die Interpretation der
Entwicklung der Anzahl der beantragten Insolvenzen wird zudem durch den seit etwa
2010 anhaltenden Abwärtstrend erschwert (vgl. Abbildung 1), der auch in den einzelnen
Wirtschaftsbereichen   beobachtbar         ist.   Im   Gegensatz   dazu    verzeichnen    die
voraussichtlichen Forderungen aus Insolvenzverfahren keinen Trend (vgl. Abbildung 2).
Im   vergangenen     Jahr   sind     sie     in   mehreren    Wirtschaftsbereichen      sowie

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gesamtwirtschaftlich sogar gestiegen, obwohl die Anzahl der Insolvenzanmeldungen
rückläufig war. Der Grund dafür waren mehrere Großinsolvenzen, wie z.B. die der
Wirecard AG, von Galeria Karstadt Kaufhof, der Klier Hair Group, von ESPRIT, der SINN
GmbH, der BONITA GmbH oder der Hallhuber GmbH.

Abbildung 1: Anzahl der Insolvenzen nach Wirtschaftsbereichen

Bezeichnungen der Wirtschaftsbereiche: A: Land- und Forstwirtschaft, Fischerei, C: Verarbeitendes
Gewerbe, F: Baugewerbe, G: Handel, H: Verkehr und Lagerei, I: Gastgewerbe, J: Information und
Kommunikation, K: Finanz- und Versicherungsdienstleister, L: Grundstücks- und Wohnungswesen,
MN: Unternehmensdienstleister, A-T: alle Wirtschaftsbereiche.

Der Zusammenhang zwischen den verschiedenen Insolvenzmaßen wird anhand von
Kreuzkorrelationen, also Korrelationen bei unterschiedlichen Zeitverschiebungen
zwischen den beiden Variablen, für die Vorquartalsveränderungsraten im Zeitraum von
2008 bis 2019 untersucht. In Tabelle 1 deutet der positive Korrelationskoeffizient in der
Zeile   „A-T“    in   der    Spalte    -1   an,    dass    die    Anzahl    der    beantragten
Unternehmensinsolvenzen der Höhe der voraussichtlichen Forderungen aus beantragten
Insolvenzverfahren auf gesamtwirtschaftlicher Ebene um ein Quartal vorausläuft. In den
einzelnen Wirtschaftsbereichen ist der Zusammenhang unterschiedlich stark, und
häufiger gleich- als vorlaufend. Dort haben auch Ausreißer tendenziell einen größeren

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Einfluss als in den gesamtwirtschaftlichen Daten (vgl. Abbildung 2) und können somit die
Ergebnisse verzerren.

Abbildung 2: Höhe der voraussichtlichen Forderungen aus beantragten
Insolvenzverfahren nach Wirtschaftsbereichen

a)
     Mit voraussichtlichen Forderungen insgesamt ohne Verbraucher.
Bezeichnungen der Wirtschaftsbereiche: A: Land- und Forstwirtschaft, Fischerei, C: Verarbeitendes
Gewerbe, F: Baugewerbe, G: Handel, H: Verkehr und Lagerei, I: Gastgewerbe, J: Information und
Kommunikation, K: Finanz- und Versicherungsdienstleister, L: Grundstücks- und Wohnungswesen,
MN: Unternehmensdienstleister, A-T: alle Wirtschaftsbereiche.

Der Zusammenhang dieser beiden Insolvenzmaße mit den Gewerbeabmeldungen ist
schwach. Da für die Gewerbeabmeldungen Daten für die einzelnen Wirtschaftsbereiche
erst ab 2011 verfügbar sind, werden nur gesamtwirtschaftliche Korrelationskoeffizienten
berechnet. Die Anzahl der beantragten Unternehmensinsolvenzen weisen bei einem
Vorlauf von zwei Quartalen mit einem Koeffizienten in Höhe von 0,18 eine vergleichsweise
niedrige Korrelation zu den Gewerbeabmeldungen auf. Noch schwächer ist der
Zusammenhang             mit    den     voraussichtlichen      Forderungen   aus   beantragten
Insolvenzverfahren; die höchste Korrelation in Höhe von 0,08 ergibt sich bei einem Vorauf
der voraussichtlichen Forderungen von einem Quartal.

                                                                                              11
Tabelle 1: Kreuzkorrelationen zwischen der Anzahl der Insolvenzen und der Höhe
der voraussichtlichen Forderungen aus beantragten Insolvenzverfahren

       WZ            -3          -2           -1            0               1           2           3
        A          -0,06        0,10        -0,19          0,10            0,02       -0,01       -0,14
        C          -0,24       -0,01         0,09          0,23            0,24       -0,28        0,06
        F           0,05       -0,06        -0,08          0,16           -0,03        0,00       -0,02
        G           0,07        0,01         0,26         -0,13            0,09       -0,31        0,39
        H           0,04        0,03        -0,28          0,34            0,06        0,04       -0,14
        I          -0,15        0,12        -0,29          0,49           -0,19       -0,12        0,15
        J          -0,01       -0,16         0,13          0,09            0,04       -0,05       -0,23
        K           0,03        0,07        -0,01          0,15           -0,28        0,00        0,04
        L           0,04        0,05        -0,28          0,17            0,26       -0,23       -0,03
       MN          -0,20        0,12         0,42          0,17            0,05       -0,15        0,15
       A-T         -0,13        0,05         0,37          0,03           -0,03       -0,12        0,17
             a)
       A-T         -0,12          0,04      0,35              0,05        -0,04       -0,09       0,14
a)
     Mit voraussichtlichen Forderungen insgesamt ohne Verbraucher.
Bezeichnungen der Wirtschaftsbereiche: A: Land- und Forstwirtschaft, Fischerei, C: Verarbeitendes
Gewerbe, F: Baugewerbe, G: Handel, H: Verkehr und Lagerei, I: Gastgewerbe, J: Information und
Kommunikation, K: Finanz- und Versicherungsdienstleister, L: Grundstücks- und Wohnungswesen,
MN: Unternehmensdienstleister, A-T: alle Wirtschaftsbereiche.

Um den Zusammenhang zwischen der konjunkturellen Entwicklung und dem
Insolvenzgeschehen           zu     untersuchen,      wird       in   einem       nächsten    Schritt     die
Kreuzkorrelationen          zwischen      der       preis-,     saison-     und      kalenderbereinigten
Bruttowertschöpfung und der Anzahl der Insolvenzen berechnet. Tabelle 2 zeigt, dass auf
gesamtwirtschaftlicher Ebene die Bruttowertschöpfung und die Zahl der Insolvenzen
negativ miteinander korreliert sind, und dass die Korrelation mit -0,40 betragsmäßig am
höchsten bei einem Vorlauf der Bruttowertschöpfung von einem Quartal ist (Reihe A-T,
Spalte „-1“). In den ausgewählten Wirtschaftsbereichen ist das Bild uneinheitlich.
Während der Zusammenhang in den Wirtschaftsbereichen C (Verarbeitendes Gewerbe)
und MN (Unternehmensdienstleister) besonders stark und in I (Gastgewerbe) und J
(Information und Kommunikation) kaum vorhanden ist, kann in den restlichen
Wirtschaftsbereichen ein moderater Zusammenhang beobachtet werden.

                                                                                                          12
Tabelle 2: Kreuzkorrelationen zwischen der Bruttowertschöpfung und der Anzahl
der Insolvenzen

    WZ           -3          -2          -1          0           1            2           3
     A         -0,01       -0,28       -0,02        0,07        0,00         0,02        0,28
     C         -0,11       -0,31       -0,64       -0,23       -0,09         0,04        0,11
     F         -0,04       -0,10       -0,01        0,16       -0,05        -0,17        0,12
     G          0,01        0,02       -0,23       -0,05        0,03        -0,01       -0,10
     H          0,13       -0,15       -0,34        0,06        0,11        -0,17       -0,21
     I          0,07       -0,06       -0,03        0,05        0,00        -0,16        0,08
     J          0,02       -0,07       -0,09        0,06        0,04        -0,28        0,07
     K          0,10       -0,18        0,10       -0,01        0,07        -0,23        0,02
     L          0,19       -0,22       -0,02        0,11       -0,13         0,13        0,09
    MN         -0,09       -0,26       -0,42       -0,19       -0,05         0,01        0,09
    A-T        -0,01       -0,20       -0,40       -0,14        0,00        -0,11       -0,06
    BIP         0,03       -0,21       -0,40       -0,15        0,07        -0,15       -0,08
Bezeichnungen der Wirtschaftsbereiche: A: Land- und Forstwirtschaft, Fischerei, C: Verarbeitendes
Gewerbe, F: Baugewerbe, G: Handel, H: Verkehr und Lagerei, I: Gastgewerbe, J: Information und
Kommunikation, K: Finanz- und Versicherungsdienstleister, L: Grundstücks- und Wohnungswesen,
MN: Unternehmensdienstleister, A-T: alle Wirtschaftsbereiche.

Ein ähnliches Bild ergibt sich für den Zusammenhang zwischen der Bruttowertschöpfung
und den voraussichtlichen Forderungen aus beantragten Insolvenzverfahren (vgl. Tabelle
3). Hier läuft die Bruttowertschöpfung den Forderungen zwei Quartale voraus, und der
Zusammenhang ist tendenziell stärker (die Korrelationskoeffizient beträgt -0,62). Für die
einzelnen Wirtschaftsbereiche sind die Ergebnisse uneinheitlich. Am stärksten scheint die
Korrelation in den Bereichen MN (Unternehmensdienstleister) und K (Finanz- und
Versicherungsdienstleister) zu sein, während für A (Land- und Forstwirtschaft, Fischerei)
und I (Finanz- und Versicherungsdienstleister) kein Zusammenhang erkennbar ist. Für die
restlichen Wirtschaftsbereiche ist der Zusammenhang mäßig ausgeprägt.

Für die Gewerbeabmeldungen wird auf der gesamtwirtschaftlichen Ebene kein
Zusammenhang mit der Wirtschaftsleistung gefunden, daher wird diese Variable für die
nachfolgenden          Analysen     nicht      weiterverwendet.        Vermutlich       werden
Gewerbeabmeldungen, die auch freiwillige Marktaustritte erfassen, vorwiegend durch
nicht konjunkturelle (z.B. steuerrechtliche oder regulatorische) Faktoren getrieben.

                                                                                                13
Tabelle 3: Kreuzkorrelationen zwischen der Bruttowertschöpfung und der Höhe der
voraussichtlichen Forderungen aus beantragten Insolvenzverfahren

        WZ            -3          -2          -1           0             1          2         3
         A           0,06        0,05        0,07        -0,04          0,03      -0,16      0,17
         C          -0,01       -0,04       -0,24        -0,06          0,01      -0,05      0,04
         F          -0,16       -0,14        0,24        -0,06          0,11      -0,06     -0,02
         G           0,08       -0,34        0,17        -0,10          0,01      -0,38     -0,04
         H           0,18       -0,16       -0,04         0,07          0,27      -0,14     -0,09
         I           0,03       -0,06       -0,07         0,16         -0,09       0,03      0,05
         J           0,00       -0,12        0,19        -0,04          0,06      -0,19     -0,10
         K           0,14       -0,61        0,25        -0,07          0,01       0,02      0,15
         L           0,02       -0,04       -0,18        -0,11          0,03      -0,07      0,46
        MN           0,04       -0,79       -0,19        -0,07         -0,01       0,18      0,12
        A-T         -0,09       -0,60       -0,05         0,03         -0,11       0,00      0,13
        BIP         -0,07       -0,59       -0,07         0,03         -0,10      -0,05      0,17
       A-Ta)        -0,08       -0,62       -0,07        0,03          -0,12       0,01      0,14
             a)
       BIP          -0,06       -0,62       -0,09        0,03          -0,11      -0,05      0,17
a)
     Mit voraussichtlichen Forderungen insgesamt ohne Verbraucher.
Bezeichnungen der Wirtschaftsbereiche: A: Land- und Forstwirtschaft, Fischerei, C: Verarbeitendes
Gewerbe, F: Baugewerbe, G: Handel, H: Verkehr und Lagerei, I: Gastgewerbe, J: Information und
Kommunikation, K: Finanz- und Versicherungsdienstleister, L: Grundstücks- und Wohnungswesen,
MN: Unternehmensdienstleister, A-T: alle Wirtschaftsbereiche.

3.2.Prognose des Insolvenzgeschehens
Zunächst werden bivariate VAR-Modelle (in Niveaus, mit 4 Verzögerungen) mit der preis-,
saison- und kalenderbereinigten Bruttowertschöpfung bzw. dem preis-, saison- und
kalenderbereinigten Bruttoinlandsprodukt und der Anzahl der Insolvenzen bzw. den
voraussichtlichen Forderungen mit vierteljährlichen Daten vom ersten Quartal 2008 3 bis
zum ersten Quartal 2020 geschätzt. Anhand dieser Schätzungen werden Prognosen für
das Insolvenzgeschehen vom zweiten Quartal 2020 bis zum vierten Quartal 2021 erstellt.
Bis zum vierten Quartal 2020 sind diese Prognosen bedingt auf den tatsächlichen Verlauf
der Bruttowertschöpfung bzw. des Bruttoinlandsprodukts und ab dem ersten Quartal
2021 auf den in der Gemeinschaftsdiagose prognostizierten Verlauf. Diese Modelle
werden            für   das     Bruttoinlandsprodukt,            für   die     gesamtwirtschaftliche

3
     Die voraussichtlichen Forderungen nach Wirtschaftszweigen sind erst ab Januar 2008 verfügbar. Die
      gesamtwirtschaftlichen Schätzungen können zudem für einen Zeitraum ab dem Jahr 2003 durchgeführt
      werden.

                                                                                                    14
Bruttowertschöpfung            und      für     die     Bruttowertschöpfung         in     einzelnen
Wirtschaftsbereichen geschätzt.

Die Ergebnisse für das Modell mit der Anzahl der Insolvenzen sind in Tabelle 4
zusammengefasst. Hier deuten die Prognosen sowohl für die Gesamtwirtschaft als auch
für die einzelnen Wirtschaftsbereiche (mit Ausnahme von K, Finanz- und
Versicherungsdienstleister) darauf hin, dass das tatsächliche Insolvenzgeschehen
deutlich niedriger ausfiel, als man aufgrund historischer Zusammenhänge bei einem
derart         kräftigen   Konjunktureinbruch         hätte   erwarten      können.      Über     alle
Wirtschaftsbereiche hinweg liegt die Prognose für das Jahr 2020 mit gut 20 000
Insolvenzen um knapp 5 000 über dem tatsächlichen Wert. Insbesondere in den

Tabelle 4: VAR-Modelle mit der Anzahl der Insolvenzen

                  2008-2019      2019                 2020               2021
        WZ
                  Mittelwert      Ist         Prognose       Ist       Prognose
         A            144        125             118        102           116
         C           2020       1488            1946       1381          1697
         F           4203       3044            2841       2499          2614
         G           4802       3166            3106       2466          2943
         H           1785       1358            1553       1100          1462
         I           2696       2156            2477       1774          3165
         J            780         623            606        502           574
         K            714         400            344        371           316
         L            867         504            515        451           504
        MN           4952        3859            4312       3473          4465
       A-T          25435       18749           20286      15840         19746
        BIP         25435       18749           20393      15840         19463
       A-Ta)        25435       18749           20298      15840         19928
       BIPa)        25435       18749           20481      15840         19642
a)
     Schätzung ab 2003.
Bezeichnungen der Wirtschaftsbereiche: A: Land- und Forstwirtschaft, Fischerei, C: Verarbeitendes
Gewerbe, F: Baugewerbe, G: Handel, H: Verkehr und Lagerei, I: Gastgewerbe, J: Information und
Kommunikation, K: Finanz- und Versicherungsdienstleister, L: Grundstücks- und Wohnungswesen,
MN: Unternehmensdienstleister, A-T: alle Wirtschaftsbereiche.
Anmerkung: Da die Prognosen für die einzelnen Wirtschaftsbereiche durch voneinander unabhängige
Modelle erstellt wurden, stimmt die Summe der Prognosewerte über alle Wirtschaftsbereiche nicht mit der
Prognose des Modells überein, die auf Basis gesamtwirtschaftlicher Variablen (WZ A-T bzw. BIP) erstellt
wurde.

                                                                                                    15
Bereichen C (Verarbeitendes Gewerbe), H (Verkehr und Lagerei), und I (Gastgewerbe)
liegen die Prognosen knapp 30% höher als die tatsächlichen Zahlen. Für das Jahr 2021
gehen die Prognosen von einem leichten Rückgang im Vergleich zum Prognosewert des
Jahres 2020 auf etwas weniger als 20 000 Insolvenzen aus. Bei der Interpretation dieser
Prognosen muss berücksichtigt werden, dass sie weder die Auswirkung der Aussetzung
der Insolvenzantragspflicht noch den Einfluss der anderen staatlichen Hilfsmaßnahmen
auf das Insolvenzrisiko beinhalten. Demnach spiegelt der Rückgang der Prognosewerte
für Jahr 2021 gegenüber den Prognosewerten für das Jahr 2020 lediglich die unterstellte
allmähliche konjunkturelle Erholung wider, nicht aber etwaige Nachholeffekte, die sich
nach der Wiedereinführung der Insolvenzantragsplicht materialisieren könnten. Durch
die Verlängerung des Schätzzeitraums um die Jahre 2003 bis 2007 fallen die
gesamtwirtschaftlichen Prognosen für die Anzahl der Insolvenzen in den Jahren 2020 und
2021 nur geringfügig höher aus.

Insgesamt reihen sich die hier vorgelegten Modellprognosen für das Jahr 2020 im
Mittelfeld anderer Studien ein. Während Holtemöller (2021) nur etwa 19 000 Insolvenzen
erwartete, rechnete Röhl (2020) mit gut 21 500 Insolvenzen. Für das Jahr 2021 gibt
Holtemöller (2021) keine Prognose ab. Röhl (2020) hingegen nimmt an, dass die Differenz
zwischen der Modellprognose und der tatsächlichen Anzahl der Insolvenzen im Jahr
2020, die er zum Zeitpunkt der Erstellung der Studie auf gut 17 000 schätzt, dann im Jahr
2021 „nachgeholt“ wird. Damit erhöht sich die eigentliche Modellprognose für das Jahr
2021 von knapp 19 000 Insolvenzen – was weitgehend im Einklang mit der hier
vorgelegten Modellprognose ist – auf reichlich 23 000 Insolvenzen . Ein Bericht von Euler
Hermes (2021) schließlich erwartet ausgehend von den tatsächlich stattgefundenen
Insolvenzen im Jahr 2020 nur eine Zunahme auf knapp 17 000 im Jahr 2021 und einen
deutlich verzögerten kräftigen Anstieg auf 19 500 im Jahr 2022.

Die Ergebnisse für das Modell mit den voraussichtlichen Forderungen aus beantragten
Insolvenzverfahren sind in Tabelle 5 zusammengefasst und jeweils auf das Gesamtjahr
hochgerechnet.    Gesamtwirtschaftlich    wäre   ein   Anstieg    der   voraussichtlichen
Forderungen im Jahr 2020 auf etwa 47 bis 49 Mrd. Euro bzw. 59 bis 61 Mrd. Euro in der
erweiterten Abgrenzung der Forderungen (von etwa 26 bzw. 34 Mrd. Euro im Jahr 2019)
zu erwarten gewesen. Dies entspricht einer Steigerung von etwa 80%. Der tatsächliche
Anstieg auf knapp 44 bzw. 48 Mrd. Euro fiel geringer aus und lag um 10 bzw. 20% unter

                                                                                      16
dem vom Modell prognostizierten Wert. Hierbei muss allerdings berücksichtigt werden,
dass allein die Insolvenz der Wirecard AG, die keine unmittelbare Folge der Coronakrise
und des damit einhergehenden Konjunktureinbruchs gewesen sein dürfte, mit etwa 12,5
Mrd. Euro kräftig zu Buche geschlagen hat (vgl. Bayerisches Staatsministerium der Justiz
2020). Rechnet man diesen Sonderfall heraus, hätten die Forderungen im Jahr 2020 bei
gerade einmal 31 bzw. 35 Mrd. Euro gelegen und damit 35 bzw. 40% unter dem vom

Tabelle 5: VAR-Modelle mit den voraussichtlichen Forderungen aus beantragten
Insolvenzverfahren (in Mrd. Euro)

                   2008-2019      2019              2020                  2021
        WZ
                   Mittelwert      Ist       Prognose           Ist     Prognose
         A             0,1         0,1          0,1             0,2        0,1
         C             4,6         4,5          8,9             8,1        3,2
         F             1,5         0,8          0,6             0,8        0,8
         G             4,0         2,4          3,0             5,3        1,9
         H             2,5         5,5          1,7             0,8        3,6
         I             0,5         0,3          0,8             1,5        0,5
         J             0,5         0,3          0,3             8,9        0,3
         K             3,0         2,9          1,3             6,4        1,6
         L             2,9         0,9          1,0             0,4        0,9
        MN             8,8         7,9         15,0            10,4        5,3
       A-T            29,7        26,3         46,8            43,5       20,5
        BIP           29,7        26,3         48,9            43,5       19,0
           b)
       A-T            29,7        26,3         52,2            43,5       21,2
            b)
       BIP            29,7         26,3          55,3          43,5        20,1
             a)
       A-T            33,2         34,1          58,5          47,8        24,7
            a)
       BIP            33,2         34,1          60,7          47,8        23,5
            a)b)
      A-T             33,2         34,1          62,6          47,8        26,2
            a)b)
      BIP             33,2         34,1          66,7          47,8        25,1
a)
     Mit voraussichtlichen Forderungen insgesamt ohne Verbraucher.
b)
     Schätzung ab 2003.
Bezeichnungen der Wirtschaftsbereiche: A: Land- und Forstwirtschaft, Fischerei, C: Verarbeitendes
Gewerbe, F: Baugewerbe, G: Handel, H: Verkehr und Lagerei, I: Gastgewerbe, J: Information und
Kommunikation, K: Finanz- und Versicherungsdienstleister, L: Grundstücks- und Wohnungswesen,
MN: Unternehmensdienstleister, A-T: alle Wirtschaftsbereiche.
Anmerkung: Da die Prognosen für die einzelnen Wirtschaftsbereiche durch voneinander unabhängige
Modelle erstellt wurden, stimmt die Summe der Prognosewerte über alle Wirtschaftsbereiche nicht mit der
Prognose des Modells überein, die auf Basis gesamtwirtschaftlicher Variablen (WZ A-T bzw. BIP) erstellt
wurde.

                                                                                                    17
Modell prognostizierten Wert. Weitet man den Schätzzeitraum auf die Jahre 2003 bis 2007
aus, nimmt die Höhe der voraussichtlichen Forderungen im Jahr 2020, die auf Grundlage
historischer Zusammenhänge bei gegebenem konjunkturellem Verlauf zu erwarten
gewesen wäre, auf etwa 52 bis 55 Mrd. Euro bzw. auf 63 bis 67 Mrd. Euro in der erweiterten
Abgrenzung der Forderungen zu. Somit fiel das tatsächliche Insolvenzgeschehen vor dem
Hintergrund des kräftigen Konjunktureinbruchs deutlich niedriger aus, als man aufgrund
historischer Zusammenhänge hätte erwarten können. Dies gilt umso mehr, wenn man die
tatsächlichen Forderungen aus beantragten Insolvenzverfahren um die Forderungen aus
der Wirecard-Insolvenz bereinigen würde. Nach unseren Recherchen gibt es keine
Studien, in denen das Insolvenzgeschehen anhand der voraussichtlichen Forderungen
aus beantragten Insolvenzverfahren analysiert und prognostiziert wird. Deshalb können
die hier vorgelegten Ergebnisse nicht mit denen anderer Studien verglichen werden.

Der Wirecard-Effekt macht sich auch in den Wirtschaftsbereichen J (Information und
Kommunikation) und K (Finanz- und Versicherungsdienstleister) bemerkbar, wo die
tatsächlichen Forderungen im Jahr 2020 die bedingten Prognosen aus dem VAR-Modell
deutlich überstiegen. Kräftiger als vom VAR-Modell angezeigt war auch der Anstieg der
Forderungen im Wirtschaftsbereich G (Handel) und im Wirtschaftsbereich I
(Gastgewerbe). Hier dürften sich hauptsächlich die zahlreichen Großinsolvenzen der
Handels- und Restaurantketten (z.B. Galeria Karstadt Kaufhof bzw. Vapiano)
niederschlagen. Es gibt allerdings auch Wirtschaftsbereiche, in denen die Forderungen im
Jahr 2020 ungewöhnlich niedrig waren. Im Wirtschaftsbereich H (Verkehr und Lagerei)
hätte man anhand des VAR-Modells Forderungen in Höhe von 1,7 Mrd. Euro erwartet, nur
gut 0,8 Mrd. Euro wurden tatsächlich erfasst. Für den Wirtschaftsbereich L (Grundstücks-
und Wohnungswesen) sind die Ergebnisse sehr ähnlich. Ein deutlich schwächeres
Insolvenzgeschehen als projiziert gab es zudem im Wirtschaftsbereich MN
(Unternehmensdienstleister). Gemäß der bedingten Prognose hätte man Forderungen in
Höhe von 15,0 Mrd. Euro für 2020 erwartet, jedoch fielen die Forderung bisher mit 10,4
Mrd. merklich niedriger aus.

Im Jahr 2021 werden die voraussichtlichen Forderungen laut der bedingten Prognosen
auf gesamtwirtschaftlichen Ebene bei etwa 20 bzw. 24 Mrd. Euro liegen und somit
deutlich niedriger als die tatsächlichen oder projizierten Werte für das Jahr 2020. Es gibt
jedoch einzelne Bereiche (insbesondere H, Verkehr und Lagerei), in denen die

                                                                                        18
Forderungen gegenüber den prognostizierten wie auch tatsächlichen Zahlen im Jahr
2020 steigen dürften. Bei der Interpretation dieser Prognosen muss wiederum
berücksichtigt werden, dass sie weder die Auswirkung der Aussetzung der
Insolvenzantragspflicht noch den Einfluss der anderen staatlichen Hilfsmaßnahmen auf
das Insolvenzrisiko beinhalten. Demnach spiegelt der generelle Rückgang der
Prognosewerte für Jahr 2021 gegenüber den Prognosewerten für das Jahr 2020 lediglich
die unterstellte allmähliche konjunkturelle Erholung wider, wodurch weniger
Unternehmen in wirtschaftliche Schieflage geraten sollten. Etwaige Nachholeffekte, die
sich nach der Wiedereinführung der Insolvenzantragsplicht materialisieren könnten, sind
darin nicht enthalten.

Insgesamt fällt somit das tatsächliche Insolvenzgeschehen im Jahr 2020 (gemessen
sowohl anhand der Forderungen aus beantragten Insolvenzverfahren als auch anhand
der Anzahl der Insolvenzen) niedriger aus als entsprechende Prognosen auf Basis
vergangener Zusammenhänge bei gegebenem Konjunktureinbruch nahegelegt hätten.
Dies gilt sowohl in gesamtwirtschaftlicher Perspektive als auch für die meisten
Wirtschaftsbereiche. Dieser Unterschied könnte maßgeblich auf die Aussetzung der
Insolvenzantragspflicht zurückzuführen sein, die das tatsächliche Insolvenzgeschehen
zeitlich verschoben haben dürfte. Somit könnte die Differenz zwischen dem
prognostizierten und dem tatsächlichen Insolvenzgeschehen als Maß für ein
zugrundeliegendes Insolvenzrisiko interpretiert werden. Allerdings dürfte das so
gemessene Insolvenzrisiko allenfalls eine Obergrenze darstellen, da die Auswirkungen
der staatlichen Stützungsmaßnahmen bislang in der Prognose nicht enthalten sind. Ob
und   in   welchem       Ausmaß   sich   dann   nach   dem   Wiederinkrafttreten   der
Insolvenzantragspflicht im Mai 2021 das Insolvenzrisiko materialisiert und demnach das
Insolvenzgeschehen mit Verzögerung zunimmt, kann auf Basis der vorliegenden
Modellprognosen nicht beantwortet werden. Diese gehen davon aus, dass das
prognostizierte Insolvenzgeschehen für das Jahr 2021 im Einklang mit der
konjunkturellen Erholung geringer ausfällt als das prognostizierte Insolvenzgeschehen
für das Jahr 2020. Bei der Entwicklung des Insolvenzgeschehens nach dem
Wiederinkrafttreten der Insolvenzantragspflicht dürfte auch die Frage von Bedeutung
sein, ob die umfassenden staatlichen Stützungsmaßnahmen Insolvenzen tatsächlich
abgewendet oder nur herausgezögert haben. Einige Studien (Dörr et al., 2021, sowie
Elsinger et al., 2021) legen nahe, dass die Politikmaßnahmen die Insolvenzen

                                                                                    19
insbesondere der (sehr) kleinen Unternehmen nur kurzfristig verhindert und damit in die
Zukunft verschoben haben dürften. Dies würde bedeuten, dass bei einer Materialisierung
des Insolvenzrisikos die Anzahl der Unternehmensinsolvenzen im Jahr 2021 stärker
steigen   dürfte      als     die   voraussichtlichen   Forderungen    aus   beantragten
Insolvenzverfahren.

3.3.Evaluation der Politikmaßnahmen
In diesem Abschnitt soll der Einfluss der staatlichen Hilfsmaßnahmen, die zur
Stabilisierung der Wirtschaft und insbesondere auch zur Sicherung der Liquidität und
Solvenz von Unternehmen ergriffen wurden, evaluiert werden. In den Prognosen des
vorangegangenen Abschnitts sind diese Maßnahmen bislang unberücksichtigt geblieben,
da ihr Umfang und ihre Ausgestaltung so in der Vergangenheit nicht beobachtet werden
konnten. Da das tatsächliche Insolvenzgeschehen zudem durch die Aussetzung der
Insolvenzantragspflicht verzerrt ist, wird für die Evaluation der Politikmaßnahmen nicht
das tatsächliche Insolvenzgeschehen als Referenz herangezogen, sondern das geschätzte
Insolvenzrisiko von zwei bedingten Modellprognosen miteinander verglichen. Zu diesem
Zweck wurden die VAR-Modelle aus dem vorigen Abschnitt 3.2 um zusätzliche Variablen
erweitert. Neben der Höhe der voraussichtlichen Forderungen aus beantragten
Insolvenzverfahren          und     dem   preis-,   saison-   und     kalenderbereinigten
Bruttoinlandsprodukt fließen in jedes Modell die Unternehmensgewinne sowie eine
weitere Variable ein, die Einfluss auf die Unternehmensgewinne hat und deren Verlauf
während der Coronakrise mutmaßlich durch die staatlichen Hilfsmaßnahmen beeinflusst
worden ist. Dazu zählen die sonstigen empfangenen Subventionen, die geleisteten
Arbeitnehmerentgelte (sowie weitere Variablen, die Einfluss auf die geleisteten
Arbeitnehmerentgelte haben) und die geleisteten Gewinnsteuern.

Im Basisszenario wird unterstellt, dass sich Subventionen, Arbeitnehmerentgelte sowie
Gewinnsteuern genauso entwickelt hätten, wie es auf Basis der geschätzten
Zusammenhänge aus der Vergangenheit und der gegebenen Entwicklung des
Bruttoinlandsprodukts zu erwarten gewesen wäre. Im Politikszenario wird dagegen der
Einfluss von wirtschaftspolitischen Maßnahmen auf diese Variablen berücksichtigt,
indem der tatsächliche Verlauf der Politikvariablen in die Modellprognose einfließen. Die
Differenz aus den prognostizierten Insolvenzforderungen aus beiden Modellen kann dann
als Einfluss der Politikmaßnahmen interpretiert werden.

                                                                                      20
In Tabelle 6 sind zunächst die Ausgangsspezifikation (0.) aus dem vorigen Abschnitt 3.2
und die erweiterten Spezifikationen (I. bis III.) der VAR-Modelle sowie die damit
einhergehenden Prognosen der voraussichtlichen Forderungen aus beantragten
Insolvenzverfahren zusammengefasst. Um den Einfluss etwaiger Politikänderungen
auszuschließen, werden zunächst nur die bedingten Prognosen des Basisszenarios
betrachtet. Damit wird implizit eine Prognosesituation unterstellt, wie man sie Anfang
des Jahres 2020 vor Ausbruch der Coronakrise vorgefunden hatte. Dabei fällt auf, dass die
Prognosen für die Insolvenzforderungen für das Jahr 2020 mit den erweiterten
Spezifikationen deutlich höher (zwischen zusätzlich 16 bis 34 Mrd. Euro) ausfallen als in
dem VAR-Modell, in dem nur das Bruttoinlandsprodukt und die voraussichtlichen
Forderungen als Variablen enthalten sind. Dies kann als Hinweis darauf gedeutet werden,
dass die zusätzlichen Variablen (insbesondere der Unternehmensgewinn) eine wichtige
Rolle für die Entwicklung des Insolvenzgeschehens spielen. Dies wird auch dadurch
bestätigt, dass in-sample Gütemaße (wie zum Beispiel das Bestimmtheitsmaß) für die
Gleichung im VAR-Modell, die die Dynamik der Unternehmensinsolvenzen beschreibt,
durch die Aufnahme der Unternehmensgewinne steigen. Daraus kann allerdings nicht
geschlussfolgert werden, dass die Prognosen im Rahmen einer erweiterten
Modellspezifikation tatsächlich treffsicherer und damit besser sind als die der
Ausgangsspezifikation. Die Güte der Prognose müsste im Rahmen einer out-of-sample-

Tabelle 6: Prognose der voraussichtlichen Forderungen aus beantragten
Insolvenzverfahren       gemäß       Basisszenario bei unterschiedlichen
Modellspezifikationen (in Mrd. Euro)

                      VAR-Modell                           2019             2020             2021
     1. & 2. Variable     3. Variable    4. Variable        Ist     Prognose        Ist    Prognose
0. BIP & Forderungen                                       34,1        66,7        47,8       25,1
I. BIP & Forderungen Gewinn                                34,1        88,1        47,8       25,0
II. BIP & Forderungen Gewinn             AN-Entgelte       34,1        88,4        47,8       25,6
     BIP & Forderungen Gewinn            Stunden/AN        34,1        85,7        47,8      26,4
     BIP & Forderungen Gewinn            Kurzarbeiter      34,1       100,7        47,8      31,8
     BIP & Forderungen Gewinn            KuG               34,1        91,6        47,8      26,3
     BIP & Forderungen Gewinn            AN-Entg./AN       34,1        82,4        47,8      23,3
III. BIP & Forderungen Gewinn nSt                          34,1        93,5        47,8      26,3
Schätzzeitraum: Q1 2003 bis Q1 2020; AN: Arbeitnehmer, KuG: Kurzarbeitergeld, nSt: nach Steuern (also um
Gewinnsteuern reduzierte Unternehmensgewinne).

                                                                                                     21
Analyse    untersucht    werden,    in    der   historische    Prognosefehler     zweier
Modellspezifikationen miteinander verglichen werden. Im Gegensatz zu einer in-sample-
Analyse würden die Modelle allerdings jeweils nur bis zum Zeitpunkt der Prognose
geschätzt und Prognosen damit nur auf Basis der zu diesem Zeitpunkt verfügbaren
Informationen erstellt. Im Rahmen der Kurzexpertise wurde eine solche out-of-sample-
Analyse nicht durchgeführt.

Für die Interpretation der nachfolgenden Ergebnisse ist wichtig, dass die einzelnen
Gleichungen eines VAR-Modells keine strukturellen Verhaltensgleichungen sind, bei
denen man durch gewisse Parametersetzungen die Übertragungskanäle einzelner oder
mehrerer wirtschaftspolitischer Maßnahmen verändern oder ausschalten könnte.
Vielmehr beschreiben die Gleichungen die Dynamik und das Zusammenspiel der
betrachteten Variablen im Rahmen eines multivariaten Prozesses in reduzierter Form.
Demnach sind in den betrachteten Modellspezifikationen, in denen das Insolvenzrisiko in
Abhängigkeit der tatsächlichen Entwicklung aller anderen Modellvariablen geschätzt und
prognostiziert wird, implizit alle wirtschaftspolitischen Maßnahmen berücksichtigt,
sofern sie direkt oder auch indirekt Einfluss auf den tatsächlichen Verlauf der anderen
Variablen des Modells genommen haben. Die Veränderung der Modellspezifikationen
durch die Aufnahme zusätzlicher Variablen oder den Austausch einzelner Variablen gibt
damit nur einen Hinweis darauf, ob die jeweilige Veränderung Einfluss auf die Schätzung
und Prognose hat. Es handelt sich keineswegs um eine eindeutige und präzise
Quantifizierung der Effekte einer einzelnen wirtschaftspolitischen Maßnahme.
Entsprechend sind die in den folgenden Abschnitten im Rahmen der einzelnen
Modellspezifikationen geschätzten Veränderungen des Insolvenzrisikos auch keine
voneinander unabhängigen Partialeffekte und deshalb nicht additiv zu verstehen.

I.   Empfangene sonstige Subventionen
Die staatlichen Zuschüsse für Unternehmen im Rahmen der Coronahilfen (wie z.B.
Soforthilfen, Überbrückungshilfen I-III, Neustarthilfe, November- und Dezemberhilfe)
werden unter den sonstigen empfangenen Subventionen verbucht. Im Jahr 2020 lagen
sie um 43 Mrd. Euro höher als im Durchschnitt der Jahre 2018 und 2019; ein Großteil der
staatlichen Zuschüsse für Unternehmen wurde im zweiten Quartal ausbezahlt, aber auch
im dritten und vierten Quartal flossen noch Zahlungen (vgl. Abbildung 3).

                                                                                     22
Für die Evaluation der Auswirkungen der staatlichen Zuschüsse wurden die zwei
bedingten Modellprognosen des Politikszenarios und des Basisszenarios miteinander
verglichen. Im Politikszenario wird der bis zum vierten Quartal 2020 tatsächlich
beobachtete Verlauf der Gewinnentwicklung in der Modellprognose des Insolvenzrisikos
berücksichtigt („IST“ bzw. „Politik“ in Abbildung 3). Im Basisszenario hingegen wird ein
hypothetischer Verlauf dieser Variable unterstellt, der sich ohne Politikmaßnahme
ergeben hätte. Zum einen entspricht der hypothetische Gewinnverlauf der auf die
konjunkturelle Entwicklung bedingten Prognose des Gewinns aus dem empirischen
Modell für den Zeitraum ab dem ersten Quartal 2020 („Basis I“ in Abbildung 3). Zum
anderen wurde ein Basisszenario simuliert, in dem bei der Berechnung des
hypothetischen Gewinnverlaufs der tatsächliche Gewinn der Unternehmen um die
staatlichen Hilfszahlungen gekürzt wurde („Basis II“ in Abbildung 3). Da der geringere
Gewinnrückgang sich bei ansonsten unveränderter Konjunktur in einem schwächeren
Anstieg des Insolvenzgeschehens niederschlägt, kann diese Differenz zum Politikszenario
als Wirkung der Politik interpretiert werden.

Abbildung 3
     Sonstige empfangene                 Gewinne                    Insolvenzen
         Subventionen                    (in Mrd. Euro)              (in Mrd. Euro)

           (in Mrd. Euro)

Die Modellsimulationen zeigen, dass der tatsächliche Unternehmensgewinn (der sich
also ergeben hat, nachdem die Politikmaßnahme gewirkt hat) im Jahr 2020 um 33 Mrd.
Euro höher ausfiel als der Gewinn, der nach der ersten Basisprognose („Basis I“) zu
erwarten gewesen wäre. Dadurch konnte das Insolvenzrisiko um 24 Prozent (21 Mrd.
Euro) reduziert werden; dies ergibt sich aus der Differenz zwischen der Prognose des
Insolvenzgeschehens des Politikszenarios und des ersten Basisszenarios. Im zweiten
Basisszenario („Basis II“) verläuft der Gewinn ganz ähnlich wie im ersten Basisszenario.
Die direkt um die staatlichen Hilfszahlungen gekürzten Gewinne liegen dabei etwa 9 Mrd.
Euro niedriger als der hypothetische Gewinnverlauf, der im ersten Basisszenario

                                                                                      23
ausgehend von historischen Zusammenhängen bei gegebenem Konjunkturverlauf
 geschätzt wurde. Bei diesem Gewinneinbruch wäre das Insolvenzrisiko im Vergleich zur
 ersten Basisprognose noch einmal um 24 Mrd. Euro höher gewesen. Dieser Unterschied
 verdeutlicht, welchen Einfluss die Gewinnentwicklung auf das Insolvenzgeschehen hat
 und wie wichtig deshalb diese Variable für die Analyse ist. Ein Vergleich der Prognose des
 zweiten Basisszenarios mit dem Politikszenario schließlich zeigt, dass der durch die
 Coronahilfen um 43 Mrd. Euro reduzierte Gewinneinbruch im Jahr 2020 das
 Insolvenzrisiko um 40 Prozent (45 Mrd. Euro) verringert hat.

II.       Geleistete Arbeitnehmerentgelte
 Neben der Wertschöpfung und den staatlichen Zuschüssen spielen die geleisteten
 Arbeitnehmerentgelte eine maßgebliche Rolle für die Gewinnentwicklung der
 Unternehmen. Sie sind mit dem Ausbruch der Coronakrise kräftig gesunken und haben
 damit einen Teil der Umsatzausfälle ausgleichen können. Allerdings war der Rückgang
 deutlich stärker als eine Prognose basierend auf historischen Zusammenhänge bei
 gleichem Einbruch des Bruttoinlandsprodukts hätte erwarten lassen (vgl. Abbildung 4).
 Auf das Jahr 2020 gerechnet wären nach der Basisprognose die geleisteten
 Arbeitnehmerentgelte um 23 Mrd. Euro höher gewesen. Dies dürfte ein weiterer
 wesentlicher          Grund      für     die    vergleichsweise        günstige       Entwicklung        der
 Unternehmensgewinne gewesen sein, die in diesem Modell nach der Basisprognose im
 Jahr 2020 um 38 Mrd. Euro niedriger ausgefallen wären. Entsprechend reduzierte sich
 auch das Insolvenzrisiko im Politikszenario um 18 Prozent (16 Mrd. Euro) auf das
 Gesamtjahr 2020 gerechnet. 4

 Eine Erklärung für den überraschend starken Rückgang der Arbeitnehmerentgelte liefert
 die Entwicklung der Arbeitsstunden je Arbeitnehmer. Aufs Jahr gerechnet wurde die
 Arbeitszeit im Vergleich zum Jahr 2019 um 52 Stunden je Arbeitnehmer reduziert und
 damit um insgesamt 15 Stunden mehr, als die Basisprognose nahegelegt hätte (vgl.

 4
     Die Ergebnisse bleiben weitgehend unverändert, wenn in der Analyse die gesamtwirtschaftlich geleisteten
       Arbeitnehmerentgelte durch die geleisteten Arbeitnehmerentgelte der nichtfinanziellen
       Kapitalgesellschaften und der privaten Haushalte ersetzt werden, wenn also die Entgeltzahlungen der
       übrigen Sektoren (finanzielle Kapitalgesellschaften, Staates und übrige Welt) unberücksichtigt bleiben.
       Die gesamtwirtschaftlich Perspektive wurde an dieser Stelle gewählt, da für nächsten Analyseschritte
       keine sektorspezifischen vierteljährlichen Variablen mehr zur Verfügung stehen.

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