Ifo STUDIE Analyse der Firmeninsolvenzen infolge der Corona-Pandemie und Wirkungsabschätzung finanzpolitischer Maßnahmen
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ifo STUDIE Analyse der Firmeninsolvenzen infolge der Corona-Pandemie und Wirkungsabschätzung finanzpolitischer Maßnahmen Studie im Auftrag des Bundesministeriums der Finanzen im Rahmen des Forschungsauftrags fe 3/19: Rahmenvertrag Wissenschaftliche (Kurz-) Expertisen zu Grundsatzfragen der Finanz-, Steuer- und Wirtschaftspolitik vorgelegt von: ifo Zentrum für Makroökonomik und Befragungen Autoren: Dr. Sc. Anna Pauliina Sandqvist – Tel.: 089/9224-1239 – E-Mail: sandqvist@ifo.de Prof. Dr. Timo Wollmershäuser – Tel.: 089/9224-1406 – E-Mail: wollmershaeuser@ifo.de München, den 27.07.2021
Inhalt 1. Einleitung 2 2. Vorgehensweise 3 2.1. Prognose des Insolvenzgeschehens 3 2.2. Evaluation der Politikmaßnahmen 5 2.3. Ökonometrische Methode 8 2.4. Literaturüberblick 8 3. Ergebnisse 9 3.1. Analyse des Insolvenzgeschehens 9 3.2. Prognose des Insolvenzgeschehens 14 3.3. Evaluation der Politikmaßnahmen 20 I. Empfangene sonstige Subventionen 22 II. Geleistete Arbeitnehmerentgelte 24 III. Gewinnsteuern 28 4. Zusammenfassung 30 5. Literatur 35 6. Anhang: Zusammenhänge aus der Einkommensentstehungsrechnung 36 1
1. Einleitung Die Corona-Pandemie und die gesundheitspolitisch begründeten Eindämmungsmaßnahmen haben zu einem erheblichen Rückgang der Wirtschaftsleistung insgesamt und teils drastischen Einbrüchen der Umsätze in kontaktintensiven Wirtschaftsbereichen geführt. Hierbei spielten sowohl angebotsseitige Effekte (u.a. Schließung von Geschäftsräumen und Ladenlokalen, unterbrochene Lieferketten) als auch nachfrageseitige Effekte (wie Verhaltensänderungen der Unternehmen und privaten Haushalte) eine Rolle. Ähnlich wie in früheren Konjunkturkrisen dürfte diese Situation für sich genommen zu einem starken Anstieg des Insolvenzrisikos von Unternehmen geführt haben, da den Umsatzeinbrüchen keine Rückgänge finanzieller Verpflichtungen in gleicher Größenordnung gegenüberstanden. Dauer und Ausmaß der Krise hätten eine Insolvenzwelle mit massiven wirtschaftlichen Schäden, steigender Arbeitslosigkeit und zunehmenden Kreditausfällen zur Folge haben können. Tatsächlich jedoch ist das Insolvenzgeschehen bislang unauffällig. Zwar stiegen nach Daten des Statistischen Bundesamts die voraussichtlichen Forderungen aus beantragten Insolvenzverfahren (gegen alle Schuldner ohne Verbraucher) im vergangenen Jahr auf 47,8 Mrd. Euro von 34,1 Mrd. im Jahr 2019. Allerdings spiegeln sich hierin vor allem die Insolvenzanträge einiger Großunternehmen wider. So dürfte allein die Insolvenz der Wirecard AG mit etwa 12,5 Mrd. Euro kräftig zu Buche geschlagen haben (vgl. Bayerisches Staatsministerium der Justiz 2020). Die Anzahl der angezeigten Unternehmensinsolvenzen sank hingegen im vergangenen Jahr deutlich um etwa 2 900 im Vergleich zum Vorjahr. Die niedrigen Insolvenzzahlen sind jedoch schwer zu interpretieren, da neben dem eingeschränkten Betrieb der Insolvenzgerichte während der ersten Welle der Corona- Pandemie die seit 1. März 2020 geltende Aussetzung der Insolvenzantragspflicht einen Anstieg verhindert haben dürfte (vgl. Statistisches Bundesamt 2020). Von dieser Maßnahme der Bundesregierung konnten bis Ende September 2020 alle Unternehmen Gebrauch machen, die infolge der Corona-Pandemie überschuldet oder zahlungsunfähig wurden. Letztlich wurde die Aussetzung bis April 2021 verlängert, wobei sie zuletzt auf Unternehmen beschränkt war, die finanzielle Unterstützung im Rahmen der staatlichen 2
Hilfsprogramme zu erwarten hatten. Die grundlegenden ökonomischen Ursachen für eine Insolvenz dürften alleine durch das Aussetzen der Antragspflicht nicht entfallen sein. Daher gehen die meisten Prognosen von einem Anstieg der Insolvenzen in diesem und im kommenden Jahr aus (vgl. Deutsche Bundesbank, 2020b, Euler Hermes, 2021, Holtemöller, 2021, Röhl, 2021). Allerdings bleibt bei diesen Prognosen unberücksichtigt, dass auch die zahlreichen anderen staatlichen Hilfsmaßnahmen, die zur Stabilisierung der Wirtschaft und insbesondere auch zur Sicherung der Liquidität und Solvenz von Unternehmen ergriffen wurden, einen Einfluss auf das tatsächliche bzw. das zu erwartende Insolvenzgeschehen haben dürften. Zu diesen Maßnahmen zählen die Zahlung von Unternehmenshilfen (Sofort- und Überbrückungshilfen sowie außerordentliche Wirtschaftshilfen), steuerliche Erleichterungen sowie der erleichterte Zugang zum bzw. die Ausweitung des Kurzarbeitergeldes. Die vorliegende Kurzexpertise versucht diese Lücke zu schließen und die Auswirkung dieser Maßnahmen auf das Insolvenzgeschehen zu untersuchen. 2. Vorgehensweise Ziel dieser Kurzexpertise ist, wesentliche Einflussfaktoren auf das Insolvenzgeschehen zu identifizieren und zu quantifizieren sowie Rückschlüsse auf die Größenordnung des Insolvenzrisikos und damit der zu erwartenden Insolvenzen zu ziehen. Zu diesem Zweck soll mithilfe vektorautoregressiver (VAR) Zeitreihenmodelle untersucht werden, welches Insolvenzgeschehen als Folge der Coronakrise auf der Basis von Zusammenhängen der Vergangenheit zu erwarten gewesen wäre und welcher Beitrag von den staatlichen Hilfsmaßnahmen auf dieses Insolvenzrisiko ausgegangen sein könnte. 2.1.Prognose des Insolvenzgeschehens Ausgehend von einer Modellschätzung, die auf Daten bis zum vierten Quartal 2019 basiert und damit nur den Vorkrisenzeitraum umfasst, werden Prognosen für das Insolvenzgeschehen vom zweiten Quartal 2020 bis zum vierten Quartal 2021 erstellt. Das Insolvenzgeschehen im ersten Quartal 2020 wird noch mit den tatsächlichen Werten des Statistischen Bundesamtes gemessen und damit als frei von Einflüssen der Coronakrise und etwaiger Politikmaßnahmen betrachtet. Zur Messung des Insolvenzgeschehens werden folgende Variablen in Betracht gezogen, die aus der GENESIS-Online Datenbank des Statistischen Bundesamtes entnommen wurden (Datenstand vom 24.02.2021): 3
• Anzahl der beantragten Unternehmensinsolvenzen • Höhe der voraussichtlichen Forderungen aus beantragten Insolvenzverfahren. Zusätzlich wird bei der Analyse des Insolvenzgeschehens auch der Zusammenhang dieser beiden Insolvenzmaße mit den Gewerbeabmeldungen untersucht. Hier liegt die Vermutung nahe, dass Geschäftsaufgaben ähnlich wie Insolvenzen in wirtschaftlich schwierigen Zeiten zunehmen sollten, auch wenn es für Geschäftsaufgaben neben einer (drohenden) Insolvenz noch andere Gründe geben kann. Da die Gewerbeabmeldungen im Unterschied zur Anzahl der beantragten Unternehmensinsolvenzen und der Höhe der voraussichtlichen Forderungen aus beantragten Insolvenzverfahren ein ausgeprägtes saisonales Muster aufweisen, wurde die monatlichen Daten mit dem X-13-ARIMA-SEATS Programm des US Census Bureau um saisonale Einflüsse bereinigt. 1 Bei den Prognosen handelt es sich um bedingte Prognose, die bis zum vierten Quartal 2020 vom tatsächlichen und ab dem ersten Quartal 2021 von dem in der Gemeinschaftsdiagnose vom Frühjahr 2021 unterstellten Verlauf der Konjunktur abhängen. Die Messung und Prognose der konjunkturellen Entwicklung erfolgt anhand der folgenden Variablen: • preis-, saison- und kalenderbereinigtes Bruttoinlandsprodukt bis zum vierten Quartal 2020 (Datenquelle ist die Fachserie 18 Reihe 1.3 des Statistischen Bundesamtes mit Datenstand vom 24.02.2021) • preis-, saison- und kalenderbereinigte Bruttowertschöpfung nach Wirtschaftsbereichen bis zum vierten Quartal 2020 (Datenquelle ist die Fachserie 18 Reihe 1.3 des Statistischen Bundesamtes mit Datenstand vom 24.02.2021) • Projektionen des weiteren Verlaufs des Bruttoinlandsprodukts und der Bruttowertschöpfung ab dem ersten Quartal 2021 gemäß der Gemeinschaftsdiagnose vom Frühjahr 2021. Die Ergebnisse dieser bedingten Prognosen werden auf ihre Robustheit im Hinblick auf alternative Modellspezifikationen überprüft. Bei der Interpretation der Ergebnisse muss berücksichtigt werden, dass Schätzungen auf der Basis historischer Zusammenhänge eine Zunahme des Insolvenzgeschehens mit nur 1 Die Saisonbereinigung wurde mit der Applikation der Datenplattform Macrobond durchgeführt. Dabei wurden die Grundeinstellungen des Bereinigungsverfahrens gewählt und auf die gesamte Länge der Zeitreihe angewendet. 4
geringer zeitlicher Verzögerung auf den konjunkturellen Einbruch hätten erwarten lassen. Da die Veränderung der Insolvenzregeln, allen voran die Aussetzung der Insolvenzantragspflicht, diesen Anstieg verhindert hat, dürfen diese Ergebnisse allenfalls als Abschätzung der Größenordnung des zugrundeliegenden Insolvenzrisikos interpretiert werden. In welchem Umfang sich das in den vergangenen Quartalen kumulierte Insolvenzrisiko nach Wiedereinführung der Insolvenzantragsplicht in ein tatsächliches Insolvenzgeschehen umwandelt, kann auf Basis der hier verwendeten Zeitreihenmodelle nicht beantwortet werden. Zudem muss berücksichtigt werden, dass der Einfluss der anderen staatlichen Hilfsmaßnahmen auf das Insolvenzgeschehen in den Prognosen auf Basis historischer Zusammenhänge nicht abgebildet werden dürfte, da der Umfang und die Ausgestaltung dieser Maßnahmen so in der Vergangenheit bislang nicht beobachtet werden konnten. Diesem Umstand wird im zweiten Analyseschritt Rechnung getragen. 2.2.Evaluation der Politikmaßnahmen Für die Evaluation der Politikmaßnahmen wird im Rahmen des VAR-Ansatzes auf ein Verfahren zurückgegriffen, das das Insolvenzrisiko zweier Szenarien miteinander vergleicht. Dabei wird in jedem Szenario das Insolvenzrisiko als bedingte Modellprognose geschätzt. Im „Politikszenario“ wird der bis zum vierten Quartal 2020 tatsächlich beobachtete Verlauf der von der Politikmaßnahme beeinflussten Variable in der Modellprognose des Insolvenzrisikos berücksichtigt. Im „Basisszenario“ hingegen wird ein hypothetischer Verlauf dieser Variable unterstellt, der sich ohne Politikmaßnahme ergeben hätte. Eine etwaige Differenz zwischen den prognostizierten Insolvenzverläufen der beiden Szenarien kann als Hinweis auf den Einfluss der Politikmaßnahme auf das Insolvenzgeschehen interpretiert werden. Das Insolvenzrisiko wird in diesem Teil der Analyse mit der Höhe der voraussichtlichen Forderungen aus beantragten Insolvenzverfahren gemessen. Aus gesamtwirtschaftlicher Perspektive sollte diese Größe repräsentativer für das Insolvenzgeschehen sein als die Anzahl der Unternehmensinsolvenzen, da letztere durch eine Häufung von Insolvenzen bei sehr großen oder sehr kleinen Unternehmen ein verzerrtes Bild wiedergeben können. Die konjunkturelle Entwicklung wird mit dem preis-, saison- und kalenderbereinigten Bruttoinlandsprodukt beschrieben. Zusätzlich fließen in das Modell ein Maß für die Unternehmensgewinne ein, die die Entwicklung der Zahlungsfähigkeit der Unternehmen 5
abbilden sollen, sowie Variablen, deren Verlauf während der Coronakrise mutmaßlich durch die staatlichen Hilfsmaßnahmen beeinflusst worden sind. Zur Schätzung des Modells werden vierteljährliche Zeitreihen verwendet, die ab dem Jahr 2003 zur Verfügung stehen. Die Gewinne der Unternehmen, die bei der Politikevaluation in jedem Modell enthalten sind, werden im Falle der nichtfinanziellen Kapitalgesellschaften anhand der Betriebsüberschüsse gemessen, die in den Sektorkonten der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen (VGR) verbucht werden. Für die zu den privaten Haushalten zählenden Selbstständigen werden die Gewinne anhand der Selbstständigeneinkommen gemessen. Da die Gewinne auf vierteljährlicher Basis nicht für die einzelnen Wirtschaftsbereiche zur Verfügung stehen, werden die Politikmaßnahmen nur gesamtwirtschaftlich evaluiert. Zu den Variablen, deren Verlauf von Politikmaßnahmen beeinflusst wurden, zählen: • die von den Unternehmen empfangenen sonstigen Subventionen, die u.a. die staatlichen Hilfszahlungen umfassen • die von den Unternehmen geleisteten Arbeitnehmerentgelte, welche u.a. durch den Einsatz von Kurzarbeit reduziert wurden • die von den Unternehmen geleisteten Gewinnsteuern, in denen sich u.a. die steuerlichen Liquiditätshilfen bemerkbar machen dürften. Mit Ausnahme der Gewinnsteuern wurden alle zusätzlichen Variablen aus den VGR des Statistischen Bundesamtes entnommen (Datenstand vom 24.02.2021) und lagen bis zum vierten Quartal 2020 vor (vgl. den Anhang in Abschnitt 6 für weitere Details zu den Zusammenhängen in der Einkommensentstehungsrechnung). Die Gewinnsteuern stammen aus der Finanzstatistik des Bundesministeriums der Finanzen (Datenstand vom 24.02.2021). Falls von der Datenquelle keine saisonbereinigten Reihen zur Verfügung gestellt wurden, wurden die Ursprungsreihen eigenständig mit dem X-13-ARIMA-SEATS Programm des US Census Bureau um saisonale Einflüsse bereinigt. 2 2 Die Saisonbereinigung wurde mit der Applikation der Datenplattform Macrobond durchgeführt. Dabei wurden für alle Reihen die Grundeinstellungen des Bereinigungsverfahrens gewählt und auf die gesamte Länge der Zeitreihen angewendet. 6
Der hypothetische Verlauf der von der Politikmaßnahme beeinflussten Variable kann zum einen ausgehend von Informationen über die zeitliche Struktur der Politikmaßnahme unmittelbar abgeleitet werden. So wurde in Wollmershäuser (2021) angenommen, dass im Basisszenario der Gewinn der Unternehmen im Verlauf des Jahres 2020 um den Betrag der staatlichen Hilfszahlungen stärker eingebrochen wäre als im Politikszenario. Da sich der geringere Gewinnrückgang bei ansonsten unveränderter Konjunktur in einem schwächeren zu erwartenden Anstieg des Insolvenzgeschehens niederschlägt, wurde diese Differenz zum Politikszenario als Wirkung der Politik interpretiert. Zum anderen kann im Basisszenario der hypothetische Verlauf der Variable, die von der Politikmaßnahme beeinflusst wird, der bedingten Prognose dieser Variable aus dem empirischen Modell für den Zeitraum ab dem ersten Quartal 2020 entsprechen. So sollen der Einfluss der Kurzarbeit und der steuerlichen Liquiditätshilfen auf das Insolvenzgeschehen untersucht werden. Da die bedingte Prognose des Basisszenarios die Politik fortschreibt, die im Schätzzeitraum vor Ausbruch der Coronakrise galt, wird damit unterstellt, dass etwaige Unterschiede zwischen den Verläufen der von der Politikmaßnahme beeinflussten Variablen allein auf Politikänderungen im Zuge der Coronakrise zurückzuführen sind. Diese Form der Identifikation der Wirkungszusammenhänge zwischen Politikmaßnahmen und Insolvenzgeschehen ist natürlich mit einer Reihe von Einschränkungen verbunden, die bei darauf aufbauenden Schlussfolgerungen berücksichtigt werden müssen. Erstens ist der Verlauf des Bruttoinlandsprodukts in beiden Szenarien immer identisch und damit unabhängig von der Politikmaßnahme. So ist es durchaus vorstellbar, dass in der Basisvariante infolge des Ausbleibens der stabilisierungspolitischen Maßnahme der konjunkturelle Verlauf weniger günstig gewesen wäre und dass damit das Insolvenzrisiko unterschätzt wird. Zweitens werden alle Unterschiede zwischen den beiden Szenarien auf die Politikmaßnahme zurückgeführt und nicht auf etwaige andere Ursachen. So ist es durchaus vorstellbar, dass die der Coronakrise zugrundeliegenden Konjunkturschocks selbst bei vorgegebenem konjunkturellen Verlauf auch ohne unvorhergesehene Politikänderung ein anderes Insolvenzgeschehen und einen anderen Verlauf der von der Politikmaßnahme beeinflussten Variable hervorgerufen hätte, so dass die Schlussfolgerungen im Hinblick auf die Effekte der Politik nicht zulässig sind. Im Rahmen 7
einer Kurzexpertise ist allerdings eine tiefergehende, strukturelle Identifikation der wirtschaftspolitischen Wirkungszusammenhänge nicht möglich. 2.3.Ökonometrische Methode Um den Zusammenhang zwischen wirtschaftlicher Aktivität und dem Insolvenzgeschehen zu untersuchen, greifen wir auf (nicht-strukturelle) VAR-Modelle zurück, die ex-ante kaum Annahmen über die Struktur der Zusammenhänge zwischen den Variablen erfordern. Diese Modelle liefern somit keine Aussagen über die zugrundeliegenden kausalen Zusammenhänge, und die Prognosen dieser Modelle basieren einzig auf historischen Korrelationen. Mit Hilfe von bedingten Prognosen können Aussagen über den zukünftigen Verlauf einer oder mehrerer Variablen gemacht werden, unter der Annahme, dass eine oder mehrere andere Variablen des Modells einem vorgegebenen Verlauf folgen. Dabei wird auf eine Methode zur Berechnung der bedingten Prognosen zurückgegriffen, die von Bańbura et al (2015) vorgeschlagen wurde. Dieser rekursive Ansatz basiert auf einem Kalman-Filter und reduziert somit den Rechenaufwand im Vergleich zu der ursprünglich von Waggoner und Zha (1999) vorgeschlagenen Methode. 2.4.Literaturüberblick Die bisherigen Studien zum Insolvenzgeschehen in Deutschland während der Coronakrise konzentrieren sich auf die Prognose der Anzahl der Unternehmensinsolvenzen (Euler Hermes, 2021, Holtemöller, 2021, sowie Röhl et al., 2020). Holtemöller (2021) geht dabei ähnlich wie in der vorliegenden Studie vor und erstellt bedingte Prognosen mit einen VAR-Modell, in dem die Anzahl der Unternehmensinsolvenzen und der Verlauf der Bruttowertschöpfung als Variablen eingehen. Die Prognosen von Röhl et al. (2020) werden aus einer Einzelgleichung abgeleitet, in der die Veränderungsrate der Unternehmensinsolvenzen durch das Wachstum des BIP und einem Bilanzqualitätsindex erklärt werden. Die Methode, auf der die Prognose von Euler Hermes (2021) beruht, wird nicht offengelegt. Zudem gibt es einige Analysen zu den Auswirkungen (einzelner) Politikmaßnahmen auf das Insolvenzrisiko (gemessen an der Anzahl der Unternehmensinsolvenzen) mit Hilfe von Mikrodaten (Dörr et al., 2021, sowie Ebeke et al., 2021). Dörr et al. (2021) verwenden Unternehmensdaten des Mannheimer Unternehmenspanels und schätzen mit Hilfe eines 8
Matchingverfahrens (dem sog. „Nearest neighbor matching“) den Rückstau an Insolvenzen nach Unternehmensgröße und Wirtschaftsbereichen. Ebeke at al. (2021) nutzen europäische Unternehmensdaten aus der Orbis-Datenbank, um durch (mehrstufige) Simulationen der Unternehmensbilanzen den Einfluss von Politikmaßnahmen in verschiedenen europäischen Ländern auf die Liquidität der Unternehmen sowie auf die Beschäftigung und die Produktion zu untersuchen. Eine Analyse und modellbasierte Prognose der Höhe der voraussichtlichen Forderungen aus beantragten Insolvenzverfahren sowie eine Untersuchung der Auswirkungen der Politikmaßnahmen auf dieses Insolvenzmaß wurde unseres Wissens nach bisher nur in Wollmershäuser (2021) durchgeführt. 3. Ergebnisse 3.1.Analyse des Insolvenzgeschehens Das Insolvenzgeschehen kann mit der Anzahl der beantragten Unternehmensinsolvenzen und der Höhe voraussichtlichen Forderungen aus den beantragten Insolvenzverfahren gemessen werden. Bei den Forderungen wird auf zwei unterschiedliche Definitionen zurückgegriffen: Höhe der Forderungen gegenüber Unternehmen (die auch für einzelne Wirtschaftsbereiche verfügbar sind) und Höhe der Forderungen gegenüber allen Schuldnern ohne Verbraucher (d.h. Unternehmen plus übrige Schuldner ohne Verbraucher). Die erste Definition wird zur Analyse der Entwicklung in den verschiedenen Wirtschaftsbereichen verwendet, die zweite Größe dürfte für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung aussagekräftiger sein. Betrachtet man die Anzahl der Insolvenzen im Jahr 2020, überrascht der deutliche Rückgang bei einem derart starken Einbruch der Wirtschaftsleistung. Dies dürfte zum einen mit den umfangreichen staatlichen Maßnahmen und zum anderem mit der Aussetzung der Insolvenzantragspflicht zusammenhängen. Die Interpretation der Entwicklung der Anzahl der beantragten Insolvenzen wird zudem durch den seit etwa 2010 anhaltenden Abwärtstrend erschwert (vgl. Abbildung 1), der auch in den einzelnen Wirtschaftsbereichen beobachtbar ist. Im Gegensatz dazu verzeichnen die voraussichtlichen Forderungen aus Insolvenzverfahren keinen Trend (vgl. Abbildung 2). Im vergangenen Jahr sind sie in mehreren Wirtschaftsbereichen sowie 9
gesamtwirtschaftlich sogar gestiegen, obwohl die Anzahl der Insolvenzanmeldungen rückläufig war. Der Grund dafür waren mehrere Großinsolvenzen, wie z.B. die der Wirecard AG, von Galeria Karstadt Kaufhof, der Klier Hair Group, von ESPRIT, der SINN GmbH, der BONITA GmbH oder der Hallhuber GmbH. Abbildung 1: Anzahl der Insolvenzen nach Wirtschaftsbereichen Bezeichnungen der Wirtschaftsbereiche: A: Land- und Forstwirtschaft, Fischerei, C: Verarbeitendes Gewerbe, F: Baugewerbe, G: Handel, H: Verkehr und Lagerei, I: Gastgewerbe, J: Information und Kommunikation, K: Finanz- und Versicherungsdienstleister, L: Grundstücks- und Wohnungswesen, MN: Unternehmensdienstleister, A-T: alle Wirtschaftsbereiche. Der Zusammenhang zwischen den verschiedenen Insolvenzmaßen wird anhand von Kreuzkorrelationen, also Korrelationen bei unterschiedlichen Zeitverschiebungen zwischen den beiden Variablen, für die Vorquartalsveränderungsraten im Zeitraum von 2008 bis 2019 untersucht. In Tabelle 1 deutet der positive Korrelationskoeffizient in der Zeile „A-T“ in der Spalte -1 an, dass die Anzahl der beantragten Unternehmensinsolvenzen der Höhe der voraussichtlichen Forderungen aus beantragten Insolvenzverfahren auf gesamtwirtschaftlicher Ebene um ein Quartal vorausläuft. In den einzelnen Wirtschaftsbereichen ist der Zusammenhang unterschiedlich stark, und häufiger gleich- als vorlaufend. Dort haben auch Ausreißer tendenziell einen größeren 10
Einfluss als in den gesamtwirtschaftlichen Daten (vgl. Abbildung 2) und können somit die Ergebnisse verzerren. Abbildung 2: Höhe der voraussichtlichen Forderungen aus beantragten Insolvenzverfahren nach Wirtschaftsbereichen a) Mit voraussichtlichen Forderungen insgesamt ohne Verbraucher. Bezeichnungen der Wirtschaftsbereiche: A: Land- und Forstwirtschaft, Fischerei, C: Verarbeitendes Gewerbe, F: Baugewerbe, G: Handel, H: Verkehr und Lagerei, I: Gastgewerbe, J: Information und Kommunikation, K: Finanz- und Versicherungsdienstleister, L: Grundstücks- und Wohnungswesen, MN: Unternehmensdienstleister, A-T: alle Wirtschaftsbereiche. Der Zusammenhang dieser beiden Insolvenzmaße mit den Gewerbeabmeldungen ist schwach. Da für die Gewerbeabmeldungen Daten für die einzelnen Wirtschaftsbereiche erst ab 2011 verfügbar sind, werden nur gesamtwirtschaftliche Korrelationskoeffizienten berechnet. Die Anzahl der beantragten Unternehmensinsolvenzen weisen bei einem Vorlauf von zwei Quartalen mit einem Koeffizienten in Höhe von 0,18 eine vergleichsweise niedrige Korrelation zu den Gewerbeabmeldungen auf. Noch schwächer ist der Zusammenhang mit den voraussichtlichen Forderungen aus beantragten Insolvenzverfahren; die höchste Korrelation in Höhe von 0,08 ergibt sich bei einem Vorauf der voraussichtlichen Forderungen von einem Quartal. 11
Tabelle 1: Kreuzkorrelationen zwischen der Anzahl der Insolvenzen und der Höhe der voraussichtlichen Forderungen aus beantragten Insolvenzverfahren WZ -3 -2 -1 0 1 2 3 A -0,06 0,10 -0,19 0,10 0,02 -0,01 -0,14 C -0,24 -0,01 0,09 0,23 0,24 -0,28 0,06 F 0,05 -0,06 -0,08 0,16 -0,03 0,00 -0,02 G 0,07 0,01 0,26 -0,13 0,09 -0,31 0,39 H 0,04 0,03 -0,28 0,34 0,06 0,04 -0,14 I -0,15 0,12 -0,29 0,49 -0,19 -0,12 0,15 J -0,01 -0,16 0,13 0,09 0,04 -0,05 -0,23 K 0,03 0,07 -0,01 0,15 -0,28 0,00 0,04 L 0,04 0,05 -0,28 0,17 0,26 -0,23 -0,03 MN -0,20 0,12 0,42 0,17 0,05 -0,15 0,15 A-T -0,13 0,05 0,37 0,03 -0,03 -0,12 0,17 a) A-T -0,12 0,04 0,35 0,05 -0,04 -0,09 0,14 a) Mit voraussichtlichen Forderungen insgesamt ohne Verbraucher. Bezeichnungen der Wirtschaftsbereiche: A: Land- und Forstwirtschaft, Fischerei, C: Verarbeitendes Gewerbe, F: Baugewerbe, G: Handel, H: Verkehr und Lagerei, I: Gastgewerbe, J: Information und Kommunikation, K: Finanz- und Versicherungsdienstleister, L: Grundstücks- und Wohnungswesen, MN: Unternehmensdienstleister, A-T: alle Wirtschaftsbereiche. Um den Zusammenhang zwischen der konjunkturellen Entwicklung und dem Insolvenzgeschehen zu untersuchen, wird in einem nächsten Schritt die Kreuzkorrelationen zwischen der preis-, saison- und kalenderbereinigten Bruttowertschöpfung und der Anzahl der Insolvenzen berechnet. Tabelle 2 zeigt, dass auf gesamtwirtschaftlicher Ebene die Bruttowertschöpfung und die Zahl der Insolvenzen negativ miteinander korreliert sind, und dass die Korrelation mit -0,40 betragsmäßig am höchsten bei einem Vorlauf der Bruttowertschöpfung von einem Quartal ist (Reihe A-T, Spalte „-1“). In den ausgewählten Wirtschaftsbereichen ist das Bild uneinheitlich. Während der Zusammenhang in den Wirtschaftsbereichen C (Verarbeitendes Gewerbe) und MN (Unternehmensdienstleister) besonders stark und in I (Gastgewerbe) und J (Information und Kommunikation) kaum vorhanden ist, kann in den restlichen Wirtschaftsbereichen ein moderater Zusammenhang beobachtet werden. 12
Tabelle 2: Kreuzkorrelationen zwischen der Bruttowertschöpfung und der Anzahl der Insolvenzen WZ -3 -2 -1 0 1 2 3 A -0,01 -0,28 -0,02 0,07 0,00 0,02 0,28 C -0,11 -0,31 -0,64 -0,23 -0,09 0,04 0,11 F -0,04 -0,10 -0,01 0,16 -0,05 -0,17 0,12 G 0,01 0,02 -0,23 -0,05 0,03 -0,01 -0,10 H 0,13 -0,15 -0,34 0,06 0,11 -0,17 -0,21 I 0,07 -0,06 -0,03 0,05 0,00 -0,16 0,08 J 0,02 -0,07 -0,09 0,06 0,04 -0,28 0,07 K 0,10 -0,18 0,10 -0,01 0,07 -0,23 0,02 L 0,19 -0,22 -0,02 0,11 -0,13 0,13 0,09 MN -0,09 -0,26 -0,42 -0,19 -0,05 0,01 0,09 A-T -0,01 -0,20 -0,40 -0,14 0,00 -0,11 -0,06 BIP 0,03 -0,21 -0,40 -0,15 0,07 -0,15 -0,08 Bezeichnungen der Wirtschaftsbereiche: A: Land- und Forstwirtschaft, Fischerei, C: Verarbeitendes Gewerbe, F: Baugewerbe, G: Handel, H: Verkehr und Lagerei, I: Gastgewerbe, J: Information und Kommunikation, K: Finanz- und Versicherungsdienstleister, L: Grundstücks- und Wohnungswesen, MN: Unternehmensdienstleister, A-T: alle Wirtschaftsbereiche. Ein ähnliches Bild ergibt sich für den Zusammenhang zwischen der Bruttowertschöpfung und den voraussichtlichen Forderungen aus beantragten Insolvenzverfahren (vgl. Tabelle 3). Hier läuft die Bruttowertschöpfung den Forderungen zwei Quartale voraus, und der Zusammenhang ist tendenziell stärker (die Korrelationskoeffizient beträgt -0,62). Für die einzelnen Wirtschaftsbereiche sind die Ergebnisse uneinheitlich. Am stärksten scheint die Korrelation in den Bereichen MN (Unternehmensdienstleister) und K (Finanz- und Versicherungsdienstleister) zu sein, während für A (Land- und Forstwirtschaft, Fischerei) und I (Finanz- und Versicherungsdienstleister) kein Zusammenhang erkennbar ist. Für die restlichen Wirtschaftsbereiche ist der Zusammenhang mäßig ausgeprägt. Für die Gewerbeabmeldungen wird auf der gesamtwirtschaftlichen Ebene kein Zusammenhang mit der Wirtschaftsleistung gefunden, daher wird diese Variable für die nachfolgenden Analysen nicht weiterverwendet. Vermutlich werden Gewerbeabmeldungen, die auch freiwillige Marktaustritte erfassen, vorwiegend durch nicht konjunkturelle (z.B. steuerrechtliche oder regulatorische) Faktoren getrieben. 13
Tabelle 3: Kreuzkorrelationen zwischen der Bruttowertschöpfung und der Höhe der voraussichtlichen Forderungen aus beantragten Insolvenzverfahren WZ -3 -2 -1 0 1 2 3 A 0,06 0,05 0,07 -0,04 0,03 -0,16 0,17 C -0,01 -0,04 -0,24 -0,06 0,01 -0,05 0,04 F -0,16 -0,14 0,24 -0,06 0,11 -0,06 -0,02 G 0,08 -0,34 0,17 -0,10 0,01 -0,38 -0,04 H 0,18 -0,16 -0,04 0,07 0,27 -0,14 -0,09 I 0,03 -0,06 -0,07 0,16 -0,09 0,03 0,05 J 0,00 -0,12 0,19 -0,04 0,06 -0,19 -0,10 K 0,14 -0,61 0,25 -0,07 0,01 0,02 0,15 L 0,02 -0,04 -0,18 -0,11 0,03 -0,07 0,46 MN 0,04 -0,79 -0,19 -0,07 -0,01 0,18 0,12 A-T -0,09 -0,60 -0,05 0,03 -0,11 0,00 0,13 BIP -0,07 -0,59 -0,07 0,03 -0,10 -0,05 0,17 A-Ta) -0,08 -0,62 -0,07 0,03 -0,12 0,01 0,14 a) BIP -0,06 -0,62 -0,09 0,03 -0,11 -0,05 0,17 a) Mit voraussichtlichen Forderungen insgesamt ohne Verbraucher. Bezeichnungen der Wirtschaftsbereiche: A: Land- und Forstwirtschaft, Fischerei, C: Verarbeitendes Gewerbe, F: Baugewerbe, G: Handel, H: Verkehr und Lagerei, I: Gastgewerbe, J: Information und Kommunikation, K: Finanz- und Versicherungsdienstleister, L: Grundstücks- und Wohnungswesen, MN: Unternehmensdienstleister, A-T: alle Wirtschaftsbereiche. 3.2.Prognose des Insolvenzgeschehens Zunächst werden bivariate VAR-Modelle (in Niveaus, mit 4 Verzögerungen) mit der preis-, saison- und kalenderbereinigten Bruttowertschöpfung bzw. dem preis-, saison- und kalenderbereinigten Bruttoinlandsprodukt und der Anzahl der Insolvenzen bzw. den voraussichtlichen Forderungen mit vierteljährlichen Daten vom ersten Quartal 2008 3 bis zum ersten Quartal 2020 geschätzt. Anhand dieser Schätzungen werden Prognosen für das Insolvenzgeschehen vom zweiten Quartal 2020 bis zum vierten Quartal 2021 erstellt. Bis zum vierten Quartal 2020 sind diese Prognosen bedingt auf den tatsächlichen Verlauf der Bruttowertschöpfung bzw. des Bruttoinlandsprodukts und ab dem ersten Quartal 2021 auf den in der Gemeinschaftsdiagose prognostizierten Verlauf. Diese Modelle werden für das Bruttoinlandsprodukt, für die gesamtwirtschaftliche 3 Die voraussichtlichen Forderungen nach Wirtschaftszweigen sind erst ab Januar 2008 verfügbar. Die gesamtwirtschaftlichen Schätzungen können zudem für einen Zeitraum ab dem Jahr 2003 durchgeführt werden. 14
Bruttowertschöpfung und für die Bruttowertschöpfung in einzelnen Wirtschaftsbereichen geschätzt. Die Ergebnisse für das Modell mit der Anzahl der Insolvenzen sind in Tabelle 4 zusammengefasst. Hier deuten die Prognosen sowohl für die Gesamtwirtschaft als auch für die einzelnen Wirtschaftsbereiche (mit Ausnahme von K, Finanz- und Versicherungsdienstleister) darauf hin, dass das tatsächliche Insolvenzgeschehen deutlich niedriger ausfiel, als man aufgrund historischer Zusammenhänge bei einem derart kräftigen Konjunktureinbruch hätte erwarten können. Über alle Wirtschaftsbereiche hinweg liegt die Prognose für das Jahr 2020 mit gut 20 000 Insolvenzen um knapp 5 000 über dem tatsächlichen Wert. Insbesondere in den Tabelle 4: VAR-Modelle mit der Anzahl der Insolvenzen 2008-2019 2019 2020 2021 WZ Mittelwert Ist Prognose Ist Prognose A 144 125 118 102 116 C 2020 1488 1946 1381 1697 F 4203 3044 2841 2499 2614 G 4802 3166 3106 2466 2943 H 1785 1358 1553 1100 1462 I 2696 2156 2477 1774 3165 J 780 623 606 502 574 K 714 400 344 371 316 L 867 504 515 451 504 MN 4952 3859 4312 3473 4465 A-T 25435 18749 20286 15840 19746 BIP 25435 18749 20393 15840 19463 A-Ta) 25435 18749 20298 15840 19928 BIPa) 25435 18749 20481 15840 19642 a) Schätzung ab 2003. Bezeichnungen der Wirtschaftsbereiche: A: Land- und Forstwirtschaft, Fischerei, C: Verarbeitendes Gewerbe, F: Baugewerbe, G: Handel, H: Verkehr und Lagerei, I: Gastgewerbe, J: Information und Kommunikation, K: Finanz- und Versicherungsdienstleister, L: Grundstücks- und Wohnungswesen, MN: Unternehmensdienstleister, A-T: alle Wirtschaftsbereiche. Anmerkung: Da die Prognosen für die einzelnen Wirtschaftsbereiche durch voneinander unabhängige Modelle erstellt wurden, stimmt die Summe der Prognosewerte über alle Wirtschaftsbereiche nicht mit der Prognose des Modells überein, die auf Basis gesamtwirtschaftlicher Variablen (WZ A-T bzw. BIP) erstellt wurde. 15
Bereichen C (Verarbeitendes Gewerbe), H (Verkehr und Lagerei), und I (Gastgewerbe) liegen die Prognosen knapp 30% höher als die tatsächlichen Zahlen. Für das Jahr 2021 gehen die Prognosen von einem leichten Rückgang im Vergleich zum Prognosewert des Jahres 2020 auf etwas weniger als 20 000 Insolvenzen aus. Bei der Interpretation dieser Prognosen muss berücksichtigt werden, dass sie weder die Auswirkung der Aussetzung der Insolvenzantragspflicht noch den Einfluss der anderen staatlichen Hilfsmaßnahmen auf das Insolvenzrisiko beinhalten. Demnach spiegelt der Rückgang der Prognosewerte für Jahr 2021 gegenüber den Prognosewerten für das Jahr 2020 lediglich die unterstellte allmähliche konjunkturelle Erholung wider, nicht aber etwaige Nachholeffekte, die sich nach der Wiedereinführung der Insolvenzantragsplicht materialisieren könnten. Durch die Verlängerung des Schätzzeitraums um die Jahre 2003 bis 2007 fallen die gesamtwirtschaftlichen Prognosen für die Anzahl der Insolvenzen in den Jahren 2020 und 2021 nur geringfügig höher aus. Insgesamt reihen sich die hier vorgelegten Modellprognosen für das Jahr 2020 im Mittelfeld anderer Studien ein. Während Holtemöller (2021) nur etwa 19 000 Insolvenzen erwartete, rechnete Röhl (2020) mit gut 21 500 Insolvenzen. Für das Jahr 2021 gibt Holtemöller (2021) keine Prognose ab. Röhl (2020) hingegen nimmt an, dass die Differenz zwischen der Modellprognose und der tatsächlichen Anzahl der Insolvenzen im Jahr 2020, die er zum Zeitpunkt der Erstellung der Studie auf gut 17 000 schätzt, dann im Jahr 2021 „nachgeholt“ wird. Damit erhöht sich die eigentliche Modellprognose für das Jahr 2021 von knapp 19 000 Insolvenzen – was weitgehend im Einklang mit der hier vorgelegten Modellprognose ist – auf reichlich 23 000 Insolvenzen . Ein Bericht von Euler Hermes (2021) schließlich erwartet ausgehend von den tatsächlich stattgefundenen Insolvenzen im Jahr 2020 nur eine Zunahme auf knapp 17 000 im Jahr 2021 und einen deutlich verzögerten kräftigen Anstieg auf 19 500 im Jahr 2022. Die Ergebnisse für das Modell mit den voraussichtlichen Forderungen aus beantragten Insolvenzverfahren sind in Tabelle 5 zusammengefasst und jeweils auf das Gesamtjahr hochgerechnet. Gesamtwirtschaftlich wäre ein Anstieg der voraussichtlichen Forderungen im Jahr 2020 auf etwa 47 bis 49 Mrd. Euro bzw. 59 bis 61 Mrd. Euro in der erweiterten Abgrenzung der Forderungen (von etwa 26 bzw. 34 Mrd. Euro im Jahr 2019) zu erwarten gewesen. Dies entspricht einer Steigerung von etwa 80%. Der tatsächliche Anstieg auf knapp 44 bzw. 48 Mrd. Euro fiel geringer aus und lag um 10 bzw. 20% unter 16
dem vom Modell prognostizierten Wert. Hierbei muss allerdings berücksichtigt werden, dass allein die Insolvenz der Wirecard AG, die keine unmittelbare Folge der Coronakrise und des damit einhergehenden Konjunktureinbruchs gewesen sein dürfte, mit etwa 12,5 Mrd. Euro kräftig zu Buche geschlagen hat (vgl. Bayerisches Staatsministerium der Justiz 2020). Rechnet man diesen Sonderfall heraus, hätten die Forderungen im Jahr 2020 bei gerade einmal 31 bzw. 35 Mrd. Euro gelegen und damit 35 bzw. 40% unter dem vom Tabelle 5: VAR-Modelle mit den voraussichtlichen Forderungen aus beantragten Insolvenzverfahren (in Mrd. Euro) 2008-2019 2019 2020 2021 WZ Mittelwert Ist Prognose Ist Prognose A 0,1 0,1 0,1 0,2 0,1 C 4,6 4,5 8,9 8,1 3,2 F 1,5 0,8 0,6 0,8 0,8 G 4,0 2,4 3,0 5,3 1,9 H 2,5 5,5 1,7 0,8 3,6 I 0,5 0,3 0,8 1,5 0,5 J 0,5 0,3 0,3 8,9 0,3 K 3,0 2,9 1,3 6,4 1,6 L 2,9 0,9 1,0 0,4 0,9 MN 8,8 7,9 15,0 10,4 5,3 A-T 29,7 26,3 46,8 43,5 20,5 BIP 29,7 26,3 48,9 43,5 19,0 b) A-T 29,7 26,3 52,2 43,5 21,2 b) BIP 29,7 26,3 55,3 43,5 20,1 a) A-T 33,2 34,1 58,5 47,8 24,7 a) BIP 33,2 34,1 60,7 47,8 23,5 a)b) A-T 33,2 34,1 62,6 47,8 26,2 a)b) BIP 33,2 34,1 66,7 47,8 25,1 a) Mit voraussichtlichen Forderungen insgesamt ohne Verbraucher. b) Schätzung ab 2003. Bezeichnungen der Wirtschaftsbereiche: A: Land- und Forstwirtschaft, Fischerei, C: Verarbeitendes Gewerbe, F: Baugewerbe, G: Handel, H: Verkehr und Lagerei, I: Gastgewerbe, J: Information und Kommunikation, K: Finanz- und Versicherungsdienstleister, L: Grundstücks- und Wohnungswesen, MN: Unternehmensdienstleister, A-T: alle Wirtschaftsbereiche. Anmerkung: Da die Prognosen für die einzelnen Wirtschaftsbereiche durch voneinander unabhängige Modelle erstellt wurden, stimmt die Summe der Prognosewerte über alle Wirtschaftsbereiche nicht mit der Prognose des Modells überein, die auf Basis gesamtwirtschaftlicher Variablen (WZ A-T bzw. BIP) erstellt wurde. 17
Modell prognostizierten Wert. Weitet man den Schätzzeitraum auf die Jahre 2003 bis 2007 aus, nimmt die Höhe der voraussichtlichen Forderungen im Jahr 2020, die auf Grundlage historischer Zusammenhänge bei gegebenem konjunkturellem Verlauf zu erwarten gewesen wäre, auf etwa 52 bis 55 Mrd. Euro bzw. auf 63 bis 67 Mrd. Euro in der erweiterten Abgrenzung der Forderungen zu. Somit fiel das tatsächliche Insolvenzgeschehen vor dem Hintergrund des kräftigen Konjunktureinbruchs deutlich niedriger aus, als man aufgrund historischer Zusammenhänge hätte erwarten können. Dies gilt umso mehr, wenn man die tatsächlichen Forderungen aus beantragten Insolvenzverfahren um die Forderungen aus der Wirecard-Insolvenz bereinigen würde. Nach unseren Recherchen gibt es keine Studien, in denen das Insolvenzgeschehen anhand der voraussichtlichen Forderungen aus beantragten Insolvenzverfahren analysiert und prognostiziert wird. Deshalb können die hier vorgelegten Ergebnisse nicht mit denen anderer Studien verglichen werden. Der Wirecard-Effekt macht sich auch in den Wirtschaftsbereichen J (Information und Kommunikation) und K (Finanz- und Versicherungsdienstleister) bemerkbar, wo die tatsächlichen Forderungen im Jahr 2020 die bedingten Prognosen aus dem VAR-Modell deutlich überstiegen. Kräftiger als vom VAR-Modell angezeigt war auch der Anstieg der Forderungen im Wirtschaftsbereich G (Handel) und im Wirtschaftsbereich I (Gastgewerbe). Hier dürften sich hauptsächlich die zahlreichen Großinsolvenzen der Handels- und Restaurantketten (z.B. Galeria Karstadt Kaufhof bzw. Vapiano) niederschlagen. Es gibt allerdings auch Wirtschaftsbereiche, in denen die Forderungen im Jahr 2020 ungewöhnlich niedrig waren. Im Wirtschaftsbereich H (Verkehr und Lagerei) hätte man anhand des VAR-Modells Forderungen in Höhe von 1,7 Mrd. Euro erwartet, nur gut 0,8 Mrd. Euro wurden tatsächlich erfasst. Für den Wirtschaftsbereich L (Grundstücks- und Wohnungswesen) sind die Ergebnisse sehr ähnlich. Ein deutlich schwächeres Insolvenzgeschehen als projiziert gab es zudem im Wirtschaftsbereich MN (Unternehmensdienstleister). Gemäß der bedingten Prognose hätte man Forderungen in Höhe von 15,0 Mrd. Euro für 2020 erwartet, jedoch fielen die Forderung bisher mit 10,4 Mrd. merklich niedriger aus. Im Jahr 2021 werden die voraussichtlichen Forderungen laut der bedingten Prognosen auf gesamtwirtschaftlichen Ebene bei etwa 20 bzw. 24 Mrd. Euro liegen und somit deutlich niedriger als die tatsächlichen oder projizierten Werte für das Jahr 2020. Es gibt jedoch einzelne Bereiche (insbesondere H, Verkehr und Lagerei), in denen die 18
Forderungen gegenüber den prognostizierten wie auch tatsächlichen Zahlen im Jahr 2020 steigen dürften. Bei der Interpretation dieser Prognosen muss wiederum berücksichtigt werden, dass sie weder die Auswirkung der Aussetzung der Insolvenzantragspflicht noch den Einfluss der anderen staatlichen Hilfsmaßnahmen auf das Insolvenzrisiko beinhalten. Demnach spiegelt der generelle Rückgang der Prognosewerte für Jahr 2021 gegenüber den Prognosewerten für das Jahr 2020 lediglich die unterstellte allmähliche konjunkturelle Erholung wider, wodurch weniger Unternehmen in wirtschaftliche Schieflage geraten sollten. Etwaige Nachholeffekte, die sich nach der Wiedereinführung der Insolvenzantragsplicht materialisieren könnten, sind darin nicht enthalten. Insgesamt fällt somit das tatsächliche Insolvenzgeschehen im Jahr 2020 (gemessen sowohl anhand der Forderungen aus beantragten Insolvenzverfahren als auch anhand der Anzahl der Insolvenzen) niedriger aus als entsprechende Prognosen auf Basis vergangener Zusammenhänge bei gegebenem Konjunktureinbruch nahegelegt hätten. Dies gilt sowohl in gesamtwirtschaftlicher Perspektive als auch für die meisten Wirtschaftsbereiche. Dieser Unterschied könnte maßgeblich auf die Aussetzung der Insolvenzantragspflicht zurückzuführen sein, die das tatsächliche Insolvenzgeschehen zeitlich verschoben haben dürfte. Somit könnte die Differenz zwischen dem prognostizierten und dem tatsächlichen Insolvenzgeschehen als Maß für ein zugrundeliegendes Insolvenzrisiko interpretiert werden. Allerdings dürfte das so gemessene Insolvenzrisiko allenfalls eine Obergrenze darstellen, da die Auswirkungen der staatlichen Stützungsmaßnahmen bislang in der Prognose nicht enthalten sind. Ob und in welchem Ausmaß sich dann nach dem Wiederinkrafttreten der Insolvenzantragspflicht im Mai 2021 das Insolvenzrisiko materialisiert und demnach das Insolvenzgeschehen mit Verzögerung zunimmt, kann auf Basis der vorliegenden Modellprognosen nicht beantwortet werden. Diese gehen davon aus, dass das prognostizierte Insolvenzgeschehen für das Jahr 2021 im Einklang mit der konjunkturellen Erholung geringer ausfällt als das prognostizierte Insolvenzgeschehen für das Jahr 2020. Bei der Entwicklung des Insolvenzgeschehens nach dem Wiederinkrafttreten der Insolvenzantragspflicht dürfte auch die Frage von Bedeutung sein, ob die umfassenden staatlichen Stützungsmaßnahmen Insolvenzen tatsächlich abgewendet oder nur herausgezögert haben. Einige Studien (Dörr et al., 2021, sowie Elsinger et al., 2021) legen nahe, dass die Politikmaßnahmen die Insolvenzen 19
insbesondere der (sehr) kleinen Unternehmen nur kurzfristig verhindert und damit in die Zukunft verschoben haben dürften. Dies würde bedeuten, dass bei einer Materialisierung des Insolvenzrisikos die Anzahl der Unternehmensinsolvenzen im Jahr 2021 stärker steigen dürfte als die voraussichtlichen Forderungen aus beantragten Insolvenzverfahren. 3.3.Evaluation der Politikmaßnahmen In diesem Abschnitt soll der Einfluss der staatlichen Hilfsmaßnahmen, die zur Stabilisierung der Wirtschaft und insbesondere auch zur Sicherung der Liquidität und Solvenz von Unternehmen ergriffen wurden, evaluiert werden. In den Prognosen des vorangegangenen Abschnitts sind diese Maßnahmen bislang unberücksichtigt geblieben, da ihr Umfang und ihre Ausgestaltung so in der Vergangenheit nicht beobachtet werden konnten. Da das tatsächliche Insolvenzgeschehen zudem durch die Aussetzung der Insolvenzantragspflicht verzerrt ist, wird für die Evaluation der Politikmaßnahmen nicht das tatsächliche Insolvenzgeschehen als Referenz herangezogen, sondern das geschätzte Insolvenzrisiko von zwei bedingten Modellprognosen miteinander verglichen. Zu diesem Zweck wurden die VAR-Modelle aus dem vorigen Abschnitt 3.2 um zusätzliche Variablen erweitert. Neben der Höhe der voraussichtlichen Forderungen aus beantragten Insolvenzverfahren und dem preis-, saison- und kalenderbereinigten Bruttoinlandsprodukt fließen in jedes Modell die Unternehmensgewinne sowie eine weitere Variable ein, die Einfluss auf die Unternehmensgewinne hat und deren Verlauf während der Coronakrise mutmaßlich durch die staatlichen Hilfsmaßnahmen beeinflusst worden ist. Dazu zählen die sonstigen empfangenen Subventionen, die geleisteten Arbeitnehmerentgelte (sowie weitere Variablen, die Einfluss auf die geleisteten Arbeitnehmerentgelte haben) und die geleisteten Gewinnsteuern. Im Basisszenario wird unterstellt, dass sich Subventionen, Arbeitnehmerentgelte sowie Gewinnsteuern genauso entwickelt hätten, wie es auf Basis der geschätzten Zusammenhänge aus der Vergangenheit und der gegebenen Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts zu erwarten gewesen wäre. Im Politikszenario wird dagegen der Einfluss von wirtschaftspolitischen Maßnahmen auf diese Variablen berücksichtigt, indem der tatsächliche Verlauf der Politikvariablen in die Modellprognose einfließen. Die Differenz aus den prognostizierten Insolvenzforderungen aus beiden Modellen kann dann als Einfluss der Politikmaßnahmen interpretiert werden. 20
In Tabelle 6 sind zunächst die Ausgangsspezifikation (0.) aus dem vorigen Abschnitt 3.2 und die erweiterten Spezifikationen (I. bis III.) der VAR-Modelle sowie die damit einhergehenden Prognosen der voraussichtlichen Forderungen aus beantragten Insolvenzverfahren zusammengefasst. Um den Einfluss etwaiger Politikänderungen auszuschließen, werden zunächst nur die bedingten Prognosen des Basisszenarios betrachtet. Damit wird implizit eine Prognosesituation unterstellt, wie man sie Anfang des Jahres 2020 vor Ausbruch der Coronakrise vorgefunden hatte. Dabei fällt auf, dass die Prognosen für die Insolvenzforderungen für das Jahr 2020 mit den erweiterten Spezifikationen deutlich höher (zwischen zusätzlich 16 bis 34 Mrd. Euro) ausfallen als in dem VAR-Modell, in dem nur das Bruttoinlandsprodukt und die voraussichtlichen Forderungen als Variablen enthalten sind. Dies kann als Hinweis darauf gedeutet werden, dass die zusätzlichen Variablen (insbesondere der Unternehmensgewinn) eine wichtige Rolle für die Entwicklung des Insolvenzgeschehens spielen. Dies wird auch dadurch bestätigt, dass in-sample Gütemaße (wie zum Beispiel das Bestimmtheitsmaß) für die Gleichung im VAR-Modell, die die Dynamik der Unternehmensinsolvenzen beschreibt, durch die Aufnahme der Unternehmensgewinne steigen. Daraus kann allerdings nicht geschlussfolgert werden, dass die Prognosen im Rahmen einer erweiterten Modellspezifikation tatsächlich treffsicherer und damit besser sind als die der Ausgangsspezifikation. Die Güte der Prognose müsste im Rahmen einer out-of-sample- Tabelle 6: Prognose der voraussichtlichen Forderungen aus beantragten Insolvenzverfahren gemäß Basisszenario bei unterschiedlichen Modellspezifikationen (in Mrd. Euro) VAR-Modell 2019 2020 2021 1. & 2. Variable 3. Variable 4. Variable Ist Prognose Ist Prognose 0. BIP & Forderungen 34,1 66,7 47,8 25,1 I. BIP & Forderungen Gewinn 34,1 88,1 47,8 25,0 II. BIP & Forderungen Gewinn AN-Entgelte 34,1 88,4 47,8 25,6 BIP & Forderungen Gewinn Stunden/AN 34,1 85,7 47,8 26,4 BIP & Forderungen Gewinn Kurzarbeiter 34,1 100,7 47,8 31,8 BIP & Forderungen Gewinn KuG 34,1 91,6 47,8 26,3 BIP & Forderungen Gewinn AN-Entg./AN 34,1 82,4 47,8 23,3 III. BIP & Forderungen Gewinn nSt 34,1 93,5 47,8 26,3 Schätzzeitraum: Q1 2003 bis Q1 2020; AN: Arbeitnehmer, KuG: Kurzarbeitergeld, nSt: nach Steuern (also um Gewinnsteuern reduzierte Unternehmensgewinne). 21
Analyse untersucht werden, in der historische Prognosefehler zweier Modellspezifikationen miteinander verglichen werden. Im Gegensatz zu einer in-sample- Analyse würden die Modelle allerdings jeweils nur bis zum Zeitpunkt der Prognose geschätzt und Prognosen damit nur auf Basis der zu diesem Zeitpunkt verfügbaren Informationen erstellt. Im Rahmen der Kurzexpertise wurde eine solche out-of-sample- Analyse nicht durchgeführt. Für die Interpretation der nachfolgenden Ergebnisse ist wichtig, dass die einzelnen Gleichungen eines VAR-Modells keine strukturellen Verhaltensgleichungen sind, bei denen man durch gewisse Parametersetzungen die Übertragungskanäle einzelner oder mehrerer wirtschaftspolitischer Maßnahmen verändern oder ausschalten könnte. Vielmehr beschreiben die Gleichungen die Dynamik und das Zusammenspiel der betrachteten Variablen im Rahmen eines multivariaten Prozesses in reduzierter Form. Demnach sind in den betrachteten Modellspezifikationen, in denen das Insolvenzrisiko in Abhängigkeit der tatsächlichen Entwicklung aller anderen Modellvariablen geschätzt und prognostiziert wird, implizit alle wirtschaftspolitischen Maßnahmen berücksichtigt, sofern sie direkt oder auch indirekt Einfluss auf den tatsächlichen Verlauf der anderen Variablen des Modells genommen haben. Die Veränderung der Modellspezifikationen durch die Aufnahme zusätzlicher Variablen oder den Austausch einzelner Variablen gibt damit nur einen Hinweis darauf, ob die jeweilige Veränderung Einfluss auf die Schätzung und Prognose hat. Es handelt sich keineswegs um eine eindeutige und präzise Quantifizierung der Effekte einer einzelnen wirtschaftspolitischen Maßnahme. Entsprechend sind die in den folgenden Abschnitten im Rahmen der einzelnen Modellspezifikationen geschätzten Veränderungen des Insolvenzrisikos auch keine voneinander unabhängigen Partialeffekte und deshalb nicht additiv zu verstehen. I. Empfangene sonstige Subventionen Die staatlichen Zuschüsse für Unternehmen im Rahmen der Coronahilfen (wie z.B. Soforthilfen, Überbrückungshilfen I-III, Neustarthilfe, November- und Dezemberhilfe) werden unter den sonstigen empfangenen Subventionen verbucht. Im Jahr 2020 lagen sie um 43 Mrd. Euro höher als im Durchschnitt der Jahre 2018 und 2019; ein Großteil der staatlichen Zuschüsse für Unternehmen wurde im zweiten Quartal ausbezahlt, aber auch im dritten und vierten Quartal flossen noch Zahlungen (vgl. Abbildung 3). 22
Für die Evaluation der Auswirkungen der staatlichen Zuschüsse wurden die zwei bedingten Modellprognosen des Politikszenarios und des Basisszenarios miteinander verglichen. Im Politikszenario wird der bis zum vierten Quartal 2020 tatsächlich beobachtete Verlauf der Gewinnentwicklung in der Modellprognose des Insolvenzrisikos berücksichtigt („IST“ bzw. „Politik“ in Abbildung 3). Im Basisszenario hingegen wird ein hypothetischer Verlauf dieser Variable unterstellt, der sich ohne Politikmaßnahme ergeben hätte. Zum einen entspricht der hypothetische Gewinnverlauf der auf die konjunkturelle Entwicklung bedingten Prognose des Gewinns aus dem empirischen Modell für den Zeitraum ab dem ersten Quartal 2020 („Basis I“ in Abbildung 3). Zum anderen wurde ein Basisszenario simuliert, in dem bei der Berechnung des hypothetischen Gewinnverlaufs der tatsächliche Gewinn der Unternehmen um die staatlichen Hilfszahlungen gekürzt wurde („Basis II“ in Abbildung 3). Da der geringere Gewinnrückgang sich bei ansonsten unveränderter Konjunktur in einem schwächeren Anstieg des Insolvenzgeschehens niederschlägt, kann diese Differenz zum Politikszenario als Wirkung der Politik interpretiert werden. Abbildung 3 Sonstige empfangene Gewinne Insolvenzen Subventionen (in Mrd. Euro) (in Mrd. Euro) (in Mrd. Euro) Die Modellsimulationen zeigen, dass der tatsächliche Unternehmensgewinn (der sich also ergeben hat, nachdem die Politikmaßnahme gewirkt hat) im Jahr 2020 um 33 Mrd. Euro höher ausfiel als der Gewinn, der nach der ersten Basisprognose („Basis I“) zu erwarten gewesen wäre. Dadurch konnte das Insolvenzrisiko um 24 Prozent (21 Mrd. Euro) reduziert werden; dies ergibt sich aus der Differenz zwischen der Prognose des Insolvenzgeschehens des Politikszenarios und des ersten Basisszenarios. Im zweiten Basisszenario („Basis II“) verläuft der Gewinn ganz ähnlich wie im ersten Basisszenario. Die direkt um die staatlichen Hilfszahlungen gekürzten Gewinne liegen dabei etwa 9 Mrd. Euro niedriger als der hypothetische Gewinnverlauf, der im ersten Basisszenario 23
ausgehend von historischen Zusammenhängen bei gegebenem Konjunkturverlauf geschätzt wurde. Bei diesem Gewinneinbruch wäre das Insolvenzrisiko im Vergleich zur ersten Basisprognose noch einmal um 24 Mrd. Euro höher gewesen. Dieser Unterschied verdeutlicht, welchen Einfluss die Gewinnentwicklung auf das Insolvenzgeschehen hat und wie wichtig deshalb diese Variable für die Analyse ist. Ein Vergleich der Prognose des zweiten Basisszenarios mit dem Politikszenario schließlich zeigt, dass der durch die Coronahilfen um 43 Mrd. Euro reduzierte Gewinneinbruch im Jahr 2020 das Insolvenzrisiko um 40 Prozent (45 Mrd. Euro) verringert hat. II. Geleistete Arbeitnehmerentgelte Neben der Wertschöpfung und den staatlichen Zuschüssen spielen die geleisteten Arbeitnehmerentgelte eine maßgebliche Rolle für die Gewinnentwicklung der Unternehmen. Sie sind mit dem Ausbruch der Coronakrise kräftig gesunken und haben damit einen Teil der Umsatzausfälle ausgleichen können. Allerdings war der Rückgang deutlich stärker als eine Prognose basierend auf historischen Zusammenhänge bei gleichem Einbruch des Bruttoinlandsprodukts hätte erwarten lassen (vgl. Abbildung 4). Auf das Jahr 2020 gerechnet wären nach der Basisprognose die geleisteten Arbeitnehmerentgelte um 23 Mrd. Euro höher gewesen. Dies dürfte ein weiterer wesentlicher Grund für die vergleichsweise günstige Entwicklung der Unternehmensgewinne gewesen sein, die in diesem Modell nach der Basisprognose im Jahr 2020 um 38 Mrd. Euro niedriger ausgefallen wären. Entsprechend reduzierte sich auch das Insolvenzrisiko im Politikszenario um 18 Prozent (16 Mrd. Euro) auf das Gesamtjahr 2020 gerechnet. 4 Eine Erklärung für den überraschend starken Rückgang der Arbeitnehmerentgelte liefert die Entwicklung der Arbeitsstunden je Arbeitnehmer. Aufs Jahr gerechnet wurde die Arbeitszeit im Vergleich zum Jahr 2019 um 52 Stunden je Arbeitnehmer reduziert und damit um insgesamt 15 Stunden mehr, als die Basisprognose nahegelegt hätte (vgl. 4 Die Ergebnisse bleiben weitgehend unverändert, wenn in der Analyse die gesamtwirtschaftlich geleisteten Arbeitnehmerentgelte durch die geleisteten Arbeitnehmerentgelte der nichtfinanziellen Kapitalgesellschaften und der privaten Haushalte ersetzt werden, wenn also die Entgeltzahlungen der übrigen Sektoren (finanzielle Kapitalgesellschaften, Staates und übrige Welt) unberücksichtigt bleiben. Die gesamtwirtschaftlich Perspektive wurde an dieser Stelle gewählt, da für nächsten Analyseschritte keine sektorspezifischen vierteljährlichen Variablen mehr zur Verfügung stehen. 24
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