Indische Demokratie heute Gleichstellung der Frau in Indien

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Indische Demokratie heute Gleichstellung der Frau in Indien
Heft 1
                                                             Jahrgang 30
                                                            Sommer 2013

Zeitschrift des Deutsch-Indischen Dialogs

Indische Demokratie heute · Gleichstellung der Frau in Indien
Kirchen Deutschlands und Indiens · Indische Literatur in Deutsch-
land · Reiseberichte · Erzählungen · Kolumne · Buchbesprechungen
Indische Demokratie heute Gleichstellung der Frau in Indien
i I n h a lt i

                                                       Editorial........................................................................................................................ 3
Herausgeber
          Diözesan-Caritasverband                      Weckruf für ein Ancien Regime ............................................................................... 4
          für das Erzbistum Köln e.V.                  Pratap Bhanu Mehta
          Abteilung Integration und Migration          Mein junges Leben - hier und dort ........................................................................... 8
          Georgstr. 7, 50676 Köln
                                                       Mohini Gupte
          Tel. 0221/2010-287
          www.caritasnet.de                            Ich bin Oszillant (Interview) ................................................................................... 10
                                                       Dr. Alokeranjan Dasgupta
Vertreter des Herausgebers:
Dipl.-Soz. paed. Heinz Müller, Journalist DJV          Sechs Gedichte........................................................................................................... 13
E-Mail: heinz.mueller@caritasnet.de                    Dr. Alokeranjan Dasgupta
Redaktion:
                                                       Reisfeuer (Erzählung).............................................................................................. 14
Jose Punnamparambil (verantwortlich),
                                                       Elisabeth Günther
Grüner Weg 23, 53572 Unkel-Scheuren,
Tel. 02224 / 7 53 17                                   Gandhi – Folge dem Geist! ...................................................................................... 19
E-Mail: punnam@t-online.de                             Sudhir Kakar
Thomas Chakkiath,
Novalisstr. 45, 51147 Köln,
                                                       Gleichstellung der Frau in Indien (Meinungen).................................................... 22
Tel. 02203 / 2 26 54;                                  Dr. Ujjaini Halim, Devika Jayakumari, Sandhya Rao, Bharat Bhushan Jetly, Gopal Kripalani
E-Mail: tchakkiath@yahoo.de                            Armut ist tägliche Gewalt, nicht weniger zerstörerisch als Krieg ....................... 30
Nisa Punnamparambil,                                   Ela Bhatt
Grüner Weg 23, 53572 Unkel-Scheuren
Tel. 02224/9897690;                                    Gespant auf den neuen Tag (Kolumne) ................................................................. 33
E-Mail: Daniel.Nisa@t-online.de                        Dr. George Arickal

Redaktionelle Mitarbeit:                               Das Jaipur Literatur Festival 2013 ......................................................................... 35
Walter Meister, Öhringen                               Sunil Sethi

Unterstützung und Beratung:                            Mit dem Kulturverein Amikal möchte ich anderen die ....................................... 36
Pater Ignatius Chalissery, Köln; Dr. Urmila Goel,      Anjana Singh
Bonn; Dr. Martin Kämpchen, Santiniketan, Indien;
Dr. Ajit Lokhande, Jülich; Walter Meister, Öhringen;   Wald- und Wiesen-Wissen ....................................................................................... 38
Pfarrer Dariusz Glowacki, Königswinter;                Marlene Giese
Dr. Claudia Warning, Lohmar
                                                       Days of Indien in Germany...................................................................................... 40
Gestaltung und Satz:
                                                       Sterne verbergen sich im Leib (Erzählung)........................................................... 42
Alexander Schmid
                                                       Bava Chelladurai
Layout:
Jose Punnamparambil; Jose Ukken                        Nachhaltige Entiwkclung in Indien ........................................................................ 44
                                                       Otto Ulrich
Herstellung und Vertrieb:
Jose Ukken,                                            Indische Literatur in Deutschland .......................................................................... 46
Im Rheingarten 21, 53639 Königswinter,                 Dr. Martin Kämpchen
Tel. 02223 / 49 49;
E-Mail: joseukken@googlemail.com
                                                       Christian Weiß und der Draupapdi Verlag............................................................. 49
                                                       Dr. Georg Lechner
Druck:
Siebengebirgs-Druck,                                   Die Landtagswahlen im indischen Bundesstaat Karnataka ................................ 53
Karlstraße 30, 53604 Bad Honnef                        Dr. Felix Schmidt
Erscheinungsweise: dreimal jährlich                    Die Kirchen Deutschlands und Indiens (Teil II) .................................................. 55
Eine Spende von mindest. 13 Euro wird von              Prof. Dr. Hans-Jürgen Findeis
den Lesern erwartet.
Konto-Nr.: 106 3205,                                   Thomaschristen Südindiens...................................................................................... 63
Bank für Sozialwirtschaft (BLZ 370 205 00),            Klemens Ludwig
Diözesan-Caritasverband, Köln
                                                       Deutsch-indische Kulturbeziehungen wohin? ...................................................... 65
                                                       Dr. Martin Kämpchen

                                                       Dialog zwischen Ost und West ................................................................................ 68
Titelbild
                                                       Prof. Dr. Josef Freise
Kamadhenu and many cows
von Gogi Saroj Pal, Mumbai (siehe S. 74)               Rezensionen............................................................................................................... 71
                                                       Guenther/JP, Indu Prakash Pandey, Asit Data
Rückseite
Derwisch von Walter Meister                            Haben Sie die Eidechse gesehen? (Dokumentarfilm) ......................................... 75

2   meine welt 1/2013
Indische Demokratie heute Gleichstellung der Frau in Indien
i e di t o ri a l I

Indische Frau und Geschlechtergerechtigkeit
Nach der brutalen Gruppenvergewal-        die mentale Veränderung in Richtung      Es gibt auch viele andere interessante
tigung einer jungen Frau in Neu Delhi     einer Geschlechtergerechtigkeit not-     Beiträge im vorliegenden Heft und
und ihrem Tod in einem Krankenhaus        wendige Bewusstsein zu schaffen. Wir     wir wünschen Ihnen eine vergnügliche
in Singapur, wird das Thema „ Stel-       drucken in dieser Ausgabe einige Mei-    Lesepause!
lung der Frau in der indischen Gesell-    nungen zu diesen Fragen aus Indien
schaft“ sowohl in Indien wie auch im      und Deutschland ab. Wir werden uns       Herzlichst
Ausland heiß diskutiert. Sind die indi-   weiterhin bemühen, Diskussionsbeiträ-    Jose Punnamparambil
schen Frauen 67 Jahren nach Erlan-        ge zu diesen Fragen zu sammeln und
gung der Unabhängigkeit immer noch        in „Meine Welt“ abzudrucken.
Bürger zweiter Klasse? Hat sich das
Rollenverständnis der indischen Frau      Über die Beziehung zwischen den
als Hüterin der Familie, Mutter der       deutschen und indischen Kirchen ha-
                                                                                   Meine Welt
Kinder und Verwalterin des Haushalts      ben wir einen Beitrag von Prof. Hans
                                                                                   Die Zeitschrift „Meine Welt” er­scheint drei Mal
wesentlich verändert trotz ihrer höhe-    Jürgen Findeis in der letzten Ausgabe    im Jahr. Eine Spen­de von mindestens 13,00
ren Alphabetisierung und Bildung und      abgedruckt. Wir bitten um Ihre Auf-      Euro wird von den Lesern erwartet. Alle Rechte
obwohl viele einen Beruf ausüben und      merksamkeit für den zweiten Teil sei-    bleiben dem Herausgeber vorbehal­ten. Für
progressive Gesetze zur Gleichstellung    nes Beitrags in dieser Ausgabe.          unverlangt eingesandte Manuskripte über-
der Frau beschlossen worden sind? Ist                                              nimmt die Redakti­on keine Haftung. Die in den
                                                                                   Beiträgen vertretenen An­sichten decken sich
die Tendenz in der indischen Gesell-      Einen hochinteressanten Beitrag über
                                                                                   nicht immer mit der Auffassung der Redaktion.
schaft immer noch stark, die Frauen       Indien, den wir besonders empfehlen      Die Redaktion behält sich redaktionelle Ände-
aktiv zu vernachlässigen, ihre Leistun-   möchten, ist die brillante Zustandsbe-   rungen vor. Alle Zuschriften sind an die Redak­
gen unterzubewerten und sie als Ob-       schreibung des heutigen Indiens von      tion zu richten.
jekt zur Vermehrung des Glücks von        Pratap Bhanu Mehta „Weckruf für
                                                                                   Das nächste Heft von „Meine Welt” erscheint im
Männern zu sehen? Diese und ähnli-        ein Ancien Regime“.
                                                                                   Herbst/Oktober 2013
che Fragen werden gestellt, um das für

                                                                                                               meine welt 1/2013      3
Indische Demokratie heute Gleichstellung der Frau in Indien
i i n dis c h e d e m o k r a t i e i

Weckruf für ein Ancien Regime
Der tiefgreifende Hunger nach Veränderung in
Indien verlangt nach Konsequenzen durch den
monolithischen Staatsapparat

                                                                                               Pratap Bhanu Mehta ist Präsident des Centre
                                                                                               for Policy Research, Neu Delhi.
P ratap B hanu M ehta

Das Zeitalter, in dem wir leben, ist auf        Machtausübung baut auf sechs überkom-          tiger scheint aber auch eine wachsende
der verzweifelten Suche nach seiner ei-         menen Prinzipien auf. Das erste Prinzip        Kompetenz der Bürgerschaft zu sein, ihre
genen Bedeutung. Der soziale und poli-          ist die vertikale Rechenschaftspflicht.        Vorstellung über das Wohlergehen auf
tische Wandel in Indien vollzieht sich so       Verantwortlichkeit bezog sich auf jene         Quellen zu gründen, die nicht staatlich
rasant und widersprüchlich, dass er sich        gegenüber den Vorgesetzten und nicht           redigiert werden. Noch wenige Jahrzehnte
nur schwer in Worte fassen lässt. Erle-         gegenüber den Bürger(-inne)n oder an-          zuvor war es nicht möglich herauszufinden,
ben wir Indiens Version des arabischen          deren Teilen der Struktur. Solange Vor-        ob Wasser oder Luft vergiftet sind, weil
Frühlings? Dämmert hier das progressive         gesetzte ihre Untergebenen nicht für ihre      die Regierung solche Informationen nicht
Zeitalter Indiens? Solche Analogien ver-        Handlungen belangten oder diese in Frage       preisgab. Heutzutage würde eine Nichtre-
dunkeln mehr als sie erhellen. Indien erlebt    stellten, tat dies auch niemand anderes. Das   gierungsorganisation wie die CSE solche
in diesen Tagen gewiss neue Formen der          ändert sich nun langsam. Es gibt wesentlich    Informationen liefern. Für Eltern war nur
politischen Mobilisierung. Doch anders als      mehr Schauplätze für das Potenzial einer       individuell erfahrbar, wie das öffentliche
auf dem ägyptischen Märtyrerplatz steht         horizontalen Rechenschaftsverpflichtung        Bildungssystem sie im Stich ließ. Heute
hier kein Regimewechsel zur Debatte. Der        auf staatlicher Ebene. Besonders wichtig       kann eine verdiente Organisation wie
Ruf nach einer neuen politischen Vorstel-       dabei ist auch der Ruf nach der Rechen-        Pratham1 mittels der ASER-Berichte2 vom
lungskraft ist vernehmbar. Doch hat sich        schaftspflicht gegenüber der Bürgerschaft,     katastrophalen Ausmaß strukturellen Ver-
diese Fantasie nicht in Formen niederge-        und zwar nicht auf dem diffusen Weg de-        sagens in den Lernergebnissen erzählen.
schlagen, die als fortschrittlich bewertet      mokratischer Wahlen, sondern in der Form       Kurz gesagt erarbeitet die Gesellschaft
werden können. Was wir zur Zeit in Indien       von Diensten und Einrichtungen, die der        eigene Bewertungsmaßstäbe. Und findet
beobachten, ist die Eskalation eines Kräf-      Staat zur Verfügung stellen muss.              dabei heraus, wie empfindlich der Staat
teverhältnisses, das sich bereits seit langem                                                  sie bislang übervorteilt hat.
hochgeschaukelt hat. Es fühlt sich an wie       Das zweite Prinzip war das der Geheim-
die Folgen eines langen stetigen Zerrens an     haltung. Der Staat verfügte auf zwei Arten     Ermessensspielraum
einer alten maroden Struktur. Aber wird         über einen enormen Informationsvor-            Das dritte Prinzip der Staatsmacht war
dieser Prozess im Chaos münden oder in          sprung gegenüber der Bürgerschaft. Die         ein weiter Ermessensspielraum. Bis zu
einer neu kon-stituierten Freiheit? Die         inneren Arbeitsprozesse auf staatlicher        einem bestimmten Grad benötigt jede
Antwort auf diese Frage hängt zum Teil          Ebene unterlagen einer relativen Ge-           Staatsmacht eine gewisse Ermessensfrei-
davon ab, ob wir in der Lage sein werden,       heimhaltung. Und zum anderen war der           heit. Allerdings muss sie diese durch die
die Faktoren unseres Dilemmas adäquat           Staat die Hauptinformationsquelle über         Demonstration einer Vernunft rechtfer-
zu analysieren.                                 den Zustand des Wohlergehens der Be-           tigen, welche die Interessen der beteilig-
                                                völkerung. Diese beiden Voraussetzungen        ten Parteien berücksichtigt. Alle großen
Die Architektur des indischen Staats-           sind nicht mehr gegeben. Es wäre heute für     Entscheidungen, bei denen die Regierung
apparats ist einer ernsthaften Konkur-          jeden Staat töricht, seine Legitimität auf     involviert war, sei es bei der Vergabe von
renz ausgesetzt. Die indische Praxis der        Geheimhaltung zu gründen. Noch wich-           Bandbreiten oder Grundstücken, der Ein-

4   meine welt 1/2013
Indische Demokratie heute Gleichstellung der Frau in Indien
i   i n dis c h e d e m o k r a t i e i

richtung von Sonderwirtschaftszonen oder                                                          die Kreativität der Bürgerinnen und Bür-
der Gestaltung von Wasservorhaben, wur-                                                           ger immer weiter erstickt.
den ohne Berücksichtigung des öffentli-
chen Interesses getroffen. Die Regierung                                                          Identitätsbildung
dachte, sie würde mit lahmen Rechtferti-                                                          Und schließlich hat der indische Staat mit
gungen ihrer Handlungen davon kommen.                                                             der Tyrannei gesetzlich verpflichtender
                                                                                                  Identitätsbildung operiert. Aus diesem
Das vierte Prinzip des Staates war ein ver-                                                       Blickwinkel erscheint Indien als Verbund
hältnismäßiger Zentralismus. Ungeachtet                                                           von Gesellschaften, getrennt nach Kaste,
der unzähligen regionalen Parteien, die                                                           Religion und Ethnizität. Alle BürgerInnen
sich hierzulande die Macht teilen, verblieb                                                       sind mit einem identitären Status markiert,
Indien die zentralistischste staatliche Ad-                                                       dem sie sich in der politischen Realität
ministration der Welt. Diese Form des Zen-                                                        nicht entziehen können. Oberflächlich
tralismus, bei dem eine Planungskommissi-                                                         erschien diese Idee attraktiv, konnte mit
on jede kleinste Auflage vom Zentralorgan                                                         ihr doch die Vielfalt Indiens berücksich-
zu regeln versucht, ist für die komplexe                                                          tigt werden. Zudem wurde der Tatsache
und lebendige Gesellschaft Indiens nicht                                                          Rechnung getragen, dass Menschen mit
tragbar und hat oftmals die Pervertierung                                                         bestimmten identitären Zuschreibungen
dieser Regeln zur Folge. Kommunen gel-                                                            nicht mehr länger außerhalb von Rechts-
ten weder im urbanen noch im ländlichen         Tyraunei der gezwungenen Identität. Bild: Sorit   staatlichkeit standen. Doch diese Kon-
Kontext als Instrumente der Selbstregu-                                                           zeptionierung Indiens hat tiefgreifende
lierung, als Einrichtungen, die in der Lage     dass sie jenes vorauseilende Misstrauen ge-       Mängel. Sie ist daran gescheitert, eine
wären, lokale Konflikte und Probleme zu         genüber der Gesellschaft verinnerlichten          Idee von Indien zu verwirklichen, die an
lösen. Mehr noch werden sie dabei durch         und der Generalverdacht, unter den die            individueller Freiheit interessiert ist. Mit
die Einforderung der vertikalen Rechen-         einzelnen BürgerInnen dadurch gestellt            dem Ziel, Individuen zu ermöglichen, die
schaftspflicht gehemmt, die dabei hinder-       waren, wurde zur elementaren Eigenschaft          selbst ihre Identät gestalten, überarbeiten
lich scheint, die Verantwortung gegenüber       des Nationalstaats. Unter dem Deckman-            und mit Konturen versehen. Diese Identi-
der Bürgerschaft wahrzunehmen. Hinzu            tel, die Gesellschaft zu reformieren, wurde       täten sollten dabei nicht nach Bedingungen
kommt etwas, das wir als eine Art voraus-       sie gewissermaßen entmündigt. So gut wie          von Staatsbürgerlichkeit ersonnen wer-
eilendes Misstrauen bezeichnen können.          jedes unserer Gesetze hat einen gewissen          den oder entlang juristischer Klauseln.
Der indische Staat legitimiert sich als Staat   Unterton. Sie sind nicht gestaltet, um Güte       Stattdessen greift der Staat im Namen
gegen die Gesellschaft. Die amerikanische       zu stiften. Sie sind gemacht, um jede mög-        der Vielfalt auf die Tyrannei administra-
Revolution war zum Teil eine Rebellion          liche Form von Missbrauch auszuschlie-            tiv verbindlicher Indentifizierung zurück.
gegen staatliche Willkür. Die indische          ßen. In einer Gesellschaft der blühenden          Als Ergebnis davon unterliegen Verteidi-
                                                                                                  gungsversuche individueller Freiheit der
                                                                                                  Forderung nach eindeutigen identitären
Indien ist nicht regierbar ohne einen Staat, der über                                             Festschreibungen. Doch steigen die Bläs-
eine horizontale Kontrolle und Transparenz verfügt.                                               chen einer neuen Freiheit von tief unten
                                                                                                  an die Oberfläche.
Der Staat muss in der Lage sein, das Wissen zu
verwerten, das gesellschaftlich generiert wird.                                                   Diese Prinzipien – vertikale Rechen-
                                                                                                  schaftspflicht, Geheimhaltung, Willkür,
                                                                                                  Zentralisierung, vorauseilendes Misstrau-
Unabhängigkeit war nicht bloß eine an-          Landschaften wird auch das eine oder an-          en und identitäre Festschreibung - bildeten
tikolonial erwirkte. Sie sollte auch den        dere Unkraut gedeihen. Doch unser Staat           die bis zum Zerreißen gespannten Kno-
Grundstein für eine Reformgesellschaft          ist so fixiert darauf, das Unkraut zu ver-        tenpunkte eines erstickenden Netzes. Ver-
legen. Der Idee nach sollte der Staat tief      nichten, dass er alle Blumen mit ausreißt         tikale Rechenschaftsflicht und staatliche
in soziale Verhältnisse einwirken, um eine      und eine Einöde dabei hinterlässt. Dieses         Willkür erfordern ein gewisses Maß an
moderne Gesellschaft hervorzubringen.           vorauseilende Misstrauen den BürgerIn-            Geheimhaltung. Vorauseilendes Misstrau-
Diese Vorgehensweisen wurden angesichts         nen gegenüber hält sich hartnäckig und            en und Identitätspolitik erlauben es dem
der großen sozialen Ungerechtigkeiten,          ist bislang von keiner unserer geläufigen         Staat über die Bürgerschaft zu herrschen
denen Indien historisch ausgesetzt war, ge-     Ideologien herausgefordert worden, selbst         und rechtfertigen gleichzeitig die Politik
rechtfertigt. Doch im Laufe der Zeit haben      den liberalen nicht. Dieses vorauseilende         der Herrschaft. Wir sind auf dem Schei-
sich diese auf eine Weise verselbstständigt,    Misstrauen hat ein Klima geschaffen, das          telpunkt der Belastbarkeit dieser Prinzi-

                                                                                                                          meine welt 1/2013   5
Indische Demokratie heute Gleichstellung der Frau in Indien
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pien angelangt. Indien ist nicht regierbar    bei welchem PolitikerInnen sich zuneh-         des Tages wird es nämlich weniger darauf
ohne einen Staat, der über eine horizontale   mend (sowohl im übertragenen Sinne als         ankommen, welches System wir wählen,
Kontrolle und Transparenz verfügt. Der        auch wörtlich) als wirtschaftliche Akteure     sondern dass wir uns für eines entscheiden,
Staat muss in der Lage sein, das Wissen zu    begreifen, während ihre Kernkompetenz          es gründlich erarbeiten und dabei versu-
verwerten, das gesellschaftlich generiert     der Mediation innerhalb einer komplexen        chen, alle Faktoren zu berücksichtigen.
wird. Er muss das öffentliche Interesse       Vielfalt zu verkümmern droht. Parapoliti-      Doch es scheint eher darauf hinaus zu
in Betracht ziehen. Er muss das Volk in       sche Institutionen sind dabei fast zu einer    laufen, dass im Namen des Kompromis-
die Regierungsverantwortung nehmen,           Notwendigkeit geworden.                        ses viele widersprüchliche Lösungswege
indem er sich dezentraler strukturiert.                                                      miteinander vermengt werden und somit
Er muss das entmündigende Misstrauen          Der zweite Faktor liegt in der Beschaffen-     ein politisches Ziel von Anfang an keine
gegenüber der Bürgerschaft verlernen und      heit unserer Zivilgesellschaft. Viele der      Chance bekommt. Wir fordern unabhän-
individuelle Würde und Freiheit in Ehren      Herausforderungen, denen wir uns heute         gige Beobachtung, die dann aber doch
halten. Die alte Ordnung beginnt langsam      stellen müssen, wie Urbanisierung, Krimi-      Gegenstand administrativer Geheimhal-
zu kollabieren. Die Frage ist, ob die neue    nalität oder Gesundheitsfürsorge, werden       tung wird; wir fordern Dezentralisierung,
Ordnung in der Lage sein wird auch neue       von Analytikern als „verhext“ eingestuft.      während die Bürokratie die politischen
Prinzipien zu internalisieren.                Dabei handelt es sich um Probleme, die         Reformbewegungen überstimmt; wir for-
                                                                                             dern das Recht auf Bildung für alle und
                                                                                             gleichzeitig werden Tests verboten, die
Frauen erreichen immer höhere Stufen von Ausbildung                                          den Bildungsstand in der Bevölkerung
und Qualifikation, doch bietet die Infrastruktur unserer                                     überhaupt erst ermitteln könnten; die
                                                                                             Krankenversicherung, die wir gerade ge-
Städte und Jobmärkte nicht die notwendigen Anreize,                                          stalten, widerspricht dem Kardinalprinzip
um diese Arbeitskraft einzuspannen.                                                          einer jeden Versicherung: um das Risiko
                                                                                             zu streuen, müssen möglichst alle Beiträ-
                                                                                             ge zahlen. Unsere Streitkultur vertritt die
Drei Faktoren                                 mehrere unterschiedliche Lösungsvor-           Gewohnheit, bloß die ideologierelevanten
Drei Faktoren erschweren uns den Wech-        schläge hervorrufen. Es besteht auch eine      Kästchen abzuhaken, anstatt die Dynamik
sel in die neue Ordnung auf schmerzliche      allgemeine Verunsicherung darüber, ob          eines Prozesses zu durchdenken.
und verzögernde Weise. Der erste liegt        und wie einer dieser Lösungswege erfolg-
in der Verschlossenheit des politischen       reich beschritten werden kann. Lösungswe-      Das dritte Problem ist Indiens folgen-
Systems. In jeder Demokratie liegt der        ge sind häufig streng richtungsgebunden.       schwerer sozialer Wandel, der sich durch
Kernmechanismus der Gewaltenkontrol-          Wurde ein großes System wie beispiels-         alle Ebenen zieht. Selbst die untersten
le im politischen Wettbewerb. Wir sollten     weise ein öffentliches Gesundheitssystem       Dezimalstellen von Einkommensvertei-
meinen, dass eine Opposition daran inte-      erst einmal auf den Weg gebracht, ist es,      lung und Verbrauchsstrukturen ändern
ressiert wäre, die Arbeit der Regierung       wie eine Titanic, schwer auf einen neuen       sich rapide. Die Korrelation von Kaste
zu kritisieren und Innovationen oder          Kurs zu bringen. Wir versuchen gerade,         und Berufsfeld beginnt zu bröckeln. Die
Alternativen anzubieten. Das letzte Jahr      solche gewaltigen Einrichtungen auf den        Migration nimmt zu. Auch andere spezi-
hat uns das schockierende Ausmaß der          Weg zu bringen, wie das Recht auf Bildung,     fische Veränderungen ereignen sich. Die
Verfilzung des politischen Systems in In-     Umweltschutzregelungen, umfassende Ge-         Spekulationsblase hat in vielen Bundes-
dien offenbart. Die Opposition ist nicht      sundheitsversorgung, die Modernisierung        staaten so manche Kleinbauern in eine
im mindesten interessiert daran, die Re-      des Kapitaltransfers sowie die Reform des      Immobilienwirtschaft katapultiert, wo
gierung bloßzustellen oder Alternativen       Privatsektors und weitere. Die Zivilgesell-    eine Logik nie dagewesener Liquidität
anzubieten. Alle Parteien scheinen in einer   schaft ist, offen gesagt, zutiefst gespalten   und somit auch Waffengewalt vorherrscht.
vorgegebenen Scharade mitzuwirken, die        in den Ansichten darüber, in welchen For-      In anderen Bundesländern verursacht das
offenbar nicht das Ziel verfolgt, an einer    men sich diese Einrichtungen durchsetzen       erschreckende Geschlechterverhältnis tief-
Lösung zu arbeiten. Keine der Parteien        sollten. Und diese Positionen wiederum         greifende soziale Krisen und erschüttert
hat bislang die Notwendigkeit gesehen,        werden eher auf der Grundlage diffuser         traditionelle Familienstrukturen. Im urba-
eine engagierte Anti-Korruptionsagenda        Ängste formuliert und nicht als Produkt        nen Indien schnellen die Scheidungsraten
zu verfolgen. Selbst nach der verheerenden    vernünftiger Argumente. Und schwerer           in die Höhe. Frauen erreichen immer hö-
Massenvergewaltigung in Delhi hatte kei-      wiegt noch, dass die Regierung diese           here Stufen von Ausbildung und Qualifika-
ne der Parteien den Mut, sich in den Staa-    Unterschiede nicht anspricht, in- dem          tion, doch bietet die Infrastruktur unserer
ten, in denen sie Regierungsverantwortung     sie sagt: „Wir nehmen uns eines dieser         Städte und Jobmärkte nicht die notwen-
tragen, eine Polizeireform anzukündigen.      Systeme und versuchen, es gemäß seiner         digen Anreize, um diese Arbeitskraft
Dies wird durch einen Prozess begünstigt,     Logik durchzustrukturieren.“ Am Ende           einzuspannen. Die Individuen wiederum

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Indische Demokratie heute Gleichstellung der Frau in Indien
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werden auf neue Begehrens-, Konsum-            nen das Einkommen nicht weniger als            Ökonomisches Wachstum
und Ehrgeizstrukturen eingeschworen.           achtzig, aber nicht mehr als zweihundert       Im Hintergrund dieser administrativen, po-
Doch auf eine eigenartige Weise scheint        Prozent des mittleren Einkommens be-           litischen und sozialen Wende arbeitet ein
diese Freiheit uns mehr dazu aufzufor-         trägt. Doch Folgendes haben diese beiden       einflussreiches Faktum: die Notwendigkeit
dern, unbedenklicher zu verurteilen und        Mittelschichten gemeinsam: Die indische        ökonomischen Wachstums. Ökonomisches
zu diskriminieren als zu der Zeit, als es      Mittelschicht ist zu der privatisiertesten     Wachstum, bei allen Begrenzungen, denen
das repressive System für uns erledigt hat.    Mittelschicht weltweit aufgestiegen. Nahe-     es in Indien unterliegt, ist für die dortige
Und all die Institutionen, die uns durch das   zu achtzig Prozent der Kinder in urbanen       Gesellschaft eine einzigartig zuverlässige
Dickicht der zu treffenden Entscheidungen      Zentren, einige davon auch unterhalb der       begleitende Kraft gewesen. Es eröffnet die
führen könnten – Familie, Religion oder        Armutsgrenze, besuchen Privatschulen.          Möglichkeit, eine neue Form von Staat-
die traditionelle Zivilgesellschaft – sind     Mehr als neunzig Prozent der Gesund-           lichkeit einzurichten. Es gab Indien ein
nicht gerüstet genug, um es mit den mo-        heitskosten werden durch Eigenleistungen       Gefühl des Selbstbewusstseins. Ein stei-
ralischen und existenziellen Ansprüchen        beglichen. Ganze Siedlungen stellen ihr        gendes Pro-Kopf-Einkommen von fünf bis
                                                                                              sechs Prozent im Jahr hat den Horizont
                                                                                              für weitreichende Möglichkeiten eröffnet.
Der größte intellektuelle Fehler der letzten fünf Jahre war                                   Sicher ist dadurch auch mehr Raum für
                                                                                              Finanzspekulation, Ungleichheit und Um-
die mangelnde Bereitschaft, das massive Reformpotenzial                                       weltgefahren gewachsen. Dabei war auch
und die vielfältigen Veränderungen in Betracht zu ziehen,                                     der Staat nicht ganz unbeteiligt. Doch ist
                                                                                              dadurch die Idee von der Möglichkeit einer
die mit dem wirtschaftlichen Wachstum einhergingen.                                           besseren Zukunft untermauert worden.
Sollte dieser ideelle Aufschwung nicht wieder in die                                          Der größte intellektuelle Fehler der letz-
Ökonomie zurückfließen, könnte das Kräftezerren,                                              ten fünf Jahre war die mangelnde Bereit-
                                                                                              schaft, das massive Reformpotential und
welches wir zur Zeit beobachten, in die Erzählung eines                                       die vielfältigen Veränderungen in Betracht
gesellschaftlichen Zusammenbruchs münden.                                                     zu ziehen, die mit dem wirtschaftlichen
                                                                                              Wachstum einhergingen. Sollte dieser
                                                                                              ideelle Aufschwung nicht wieder in die
aufzunehmen, welche durch diese rasanten       eigenes Sicherheitspersonal, unterhalten       Ökonomie zurückfließen, könnte das Kräf-
Veränderungen auf uns einwirken. Die-          Energiekraftwerke,Trinkwasserversorgun-        tezerren, welches wir zur Zeit beobachten,
se Veränderungen bergen gleichwohl ein         gen laufen über Privatunternehmen. Über        in die Erzählung eines gesellschaftlichen
großes freiheitliches Potenzial. Sie werden    die Ursachen dieser Privatisierung der Mit-    Zusammenbruchs münden. Die größte
aber auch von dem Gefühl begleitet, in         telschicht kann lange diskutiert werden.       Gefahr für Indien ist die mögliche Igno-
unbekanntes Territorium vorzudringen.          Doch der Einfluss dieser Privatisierung        ranz seiner politischen Elite gegenüber
Die neuen Formen der sozialen Verortung        begünstigt zwei konkurrierende Dynami-         dem Reformpotential dieser Tage. Sie läuft
des Selbst halten noch nicht recht Schritt     ken. Einerseits handelt es sich dabei um       Gefahr, wie ein marodes Ancien Regime
mit dem Ausmaß des sozialen Wandels.           einen Rückzug vom Staat angesichts des-        an einer Weltordnung festzukleben, deren
                                               sen politischen Scheiterns. Auf der anderen    Zeit schon lange abgelaufen ist. 
Politische Mauscheleien, widersprüchliche      Seite erfordern die dringend benötigten
Argumentationsformen und ein irritiertes       Staatsreformen die Teilhabe der investiti-
soziales Selbstverständnis erschweren die      onskräftigen Parteien. Die erschütternde       Anmerkungen:
institutionelle Kanalisierung der großen       Erfahrung der Massenvergewaltigung in          1. Pratham ist die größte Nichtregierungsor-
                                                                                                 ganisation Indiens, die sich darum bemüht,
Wende, die wir gerade beobachten. Der          Delhi hat die Erkenntnis geliefert, dass der
                                                                                                 Qualitätsbildung für unterpriviligierte Kinder
Mittelschicht wird eine entscheidende Rol-     Rückzug nicht der Königsweg sein kann.            zu ermöglichen.
le als Mediatorin in diesem Kommunika-         Eine Gesellschaft, in der selbst souveräne     2. „Annual Status of Education Report“ von
tionsprozess zugesprochen. Bis zu einem        Funktionen wie Recht und Gesetz der Will-         Pratham
                                                                                              3. Partha Mukhopadhyay arbeitet als Senior Re-
bestimmten Punkt ist das auch richtig. Wie     kür privater Investition oder sozialer Kon-       search Fellow an Centre for Policy Research,
Partha Mukhopadhyay3 darlegt, gibt es          trolle ausgeliefert werden, hat einen sehr        Neu Delhi.
zwei Mittelschichten in Indien: die globale    prekären Status zu befürchten. Doch wird
                                                                                              Deutsch von Axaram
Mittelschicht, welche die zehn Prozent an      diese unheilvolle Dynamik sich fortsetzen,
der Spitze der Vermögensverteilung aus-        Staatsversagen, das zu mehr Rückzug aus        Quelle: „Tocsin for An Ancien Regime“, Out-
macht. Und das, was wir wohl die „lokale“      dem Staat führt? Oder wird es dem Staat        look, 4.3.2013, übersetzt und abgedruckt mit
                                                                                              freundlicher Genehmigung des Autors.
Mittelschicht nennen werden, die vierzig       gelingen, die Reformstimmung im Land in
bis fünfzig Prozent der Haushalte, in de-      sein Selbstverständnis einfließen zu lassen?

                                                                                                                         meine welt 1/2013    7
Indische Demokratie heute Gleichstellung der Frau in Indien
i h e im a t i

Mein junges Leben –
hier und dort
Alter: 13
Konfession: Bi-kuturell

mOHINI GUPTE
                                                                                               Mohini Gupte

Mohini Gupte besuchte eine Marathi-
sprachige Grundschule in Pune/Indien
und in den Ferien eine deutsche in              Stirn geklebt, einen Sari angezogen und        keine Parallelklassen, also nur eine erste
Dresden. Als 13-Jährige hat sie einen           Ferien am Strand gemacht hätte. Doch           Klasse. Meine Oma also sitzt auf einem
SchülerInnenaustausch zwischen ih-              bei mir lief es anders, dank meiner Eltern.    Stuhl hinter mir. Vor mir um die vierzig
rem deutschen Gymnasium und der                 Manchmal weiß ich aber nicht, ob ich ihnen     Schüler und eine Lehrerin. Ich verstehe
indischen Schule initiiert.                     dafür dankbar sein sollte oder eben nicht.     Bahnhof, aber ich werde in Ruhe gelassen
                                                Bis ich sechs Jahre alt war, lebte ich in      und es passiert nichts weiter, also lasse ich
Meine Eltern haben vor circa achtzehn           Köln. Dann ging ich 2005 zusammen mit          Aaji ruhigen Gewissens nach Hause ge-
Jahren geheiratet. Eine ganz normale            meinem Vater nach Pune, Indien, um             hen. Ein Mädchen verfolgt mich auf Schritt
deutsche Hochzeit, da meine Mutter              dort eingeschult zu werden. Wir lebten         und Tritt, sie führt mich zur Toilette, zeigt
Deutsche ist. Mein Vater ist kein großer        bei meiner Großmutter Aaji und damals          mir alles. Später verstehe ich ihren Namen
Fan von Festen, sonst wäre die Hochzeit         noch mit meinem Großvater Dada. Ich            und kann ihn mir merken: Mukta. Durch
etwas anders abgelaufen. Nämlich drei-          bekam ein eigenes Zimmer. Mein Vater           Mukta lerne ich ihre gesamte Clique ken-
tägig mit riesigem Bankett, aufwendigen         hatte eine Stelle an der Universität Pune      nen, und wir sind bis heute noch sehr gute
und wunderschönen Kleidern, und alle            als Professor, später wurde er Leiter des      Freundinnen. In dieser ersten Zeit verste-
echten und falschen Verwandten wären            Instituts. Er hatte sehr viel zu tun und wir   he ich wirklich gar nichts. Ich bekomme
gekommen. Der Grund: Mein Vater ist             bekamen ihn kaum zu sehen. Das war eine        zwar etwas zusätzlichen Sprachunterricht,
Inder, der, seit er studiert, in Europa lebt.   Zeit für mich, in der ich kein einziges        aber ich bin irgendwie so blockiert, dass
Er selbst würde sich vielleicht schon als       Wort verstand von dem, was Aaji sagte,         er mir nicht wirklich hilft. Ungefähr sechs
Deutscher bezeichnen, doch er tickt noch        da ich ihre Sprache, Marathi, überhaupt        Wochen geht das so; ich sitze einfach im
wie ein Inder. Und darauf bin ich stolz,        nicht verstehen konnte, geschweige denn        Unterricht, sage kein Wort und werde
dass ich zwei so unterschiedliche Kulturen      sprechen. An die Zeit, die danach kam,         nur manchmal angesprochen. Mit Aaji
kennenlernen durfte und immer noch am           erinnere ich mich nur vage. Ich weiß nur       zu Hause rede ich Deutsch und sie mit
Leben bin. Denn das Leben ist nicht leicht,     noch, dass mich meine Eltern in verschie-      mir Marathi. Sie kann zwar selbst nicht
wenn eine Hälfte von sich selbst in einem       dene Schulen schleppten, um dann doch          Deutsch sprechen, aber sie versteht es ein
anderen Land steckt und man maximal             eine andere auszuwählen: Aksharnandan,         bisschen und über einen Deutsch-Englisch-
nur einmal im Jahr diese zweite Hälfte          eine Schule, in der Englisch zweitrangig       Mischmasch verstehen wir uns meistens.
von sich selbst - in Indien - besuchen darf,    ist. Das ist etwas sehr Besonderes. In den
um vollständig zu sein. Doch dann ist die       meisten Schulen in Pune ist Englisch die       Natürlich gab es immer auch Missver-
deutsche Hälfte wieder in Deutschland und       Hauptsprache, Hindi die erste Fremdspra-       ständnisse, aber die waren nicht beson-
man ist wieder unvollkommen. Man sehnt          che und die eigentliche Muttersprache,         ders schlimm. Nach sechs Wochen fing
sich in Deutschland nach Indien und in          Marathi, die dritte Fremdsprache. Nicht        ich auf einmal an, Marathi zu sprechen.
Indien sehnt man sich nach Deutschland.         in dieser Schule; Englisch lernten wir erst    Laut Aaji wurde ich von der stillen Maus
                                                ab der dritten Klasse, Marathi und Hindi       zu einem überlaufenden Wasserfall. Ich
So weit wäre es gar nicht gekommen, wenn        ab der ersten.                                 redete wie ein Weltmeister, meinten alle.
ich, wie meine indisch-österreichische                                                         Ich persönlich kann mich nicht daran
Cousine, nur einmal im Jahr nach Indien         Der erste Tag: Aaji sitzt mit mir zusammen     erinnern. Meine Mutter kam nach drei
gefahren wäre, mir einen Bindi auf die          in der ersten Klasse. Es gibt an der Schule    Monaten aus Deutschland zu uns und ich

8   meine welt 1/2013
Indische Demokratie heute Gleichstellung der Frau in Indien
i h e im a t i

übte mit ihr fleißig Deutsch. Einen Monat        rien mit meinen Eltern für einen Monat         Man spürt das Leben
bevor in Pune die Sommerferien anfingen,         nach Indien gereist und habe bei meiner        Als ich letztes Jahr in Pune war, war ich wie
flog ich zurück nach Deutschland. Dort           Großmutter gewohnt. Sie kam oft auch           verändert. Ich hatte total vergessen, wie
wurde ich im April in die erste Klasse ei-       uns in Deutschland besuchen. Ich habe          es dort ist. Der Lärm, die Märkte, selbst
ner Grundschule mit sprachlichem Profil          zu ihr ein enges Verhältnis, weil wir uns      von dem Gestank konnte ich nicht genug
aufgenommen. Meine Eltern dachten, dass          trotz Missverständnissen und sprachlicher      haben. In Indien weiß man wieder, was es
ich sprachlich begabt sei, weil ich Mara-        Begrenzungen sehr gut verstehen. Sie weiß      heißt, lebendig zu sein. Und manchmal
thi und Deutsch konnte. Ich war ungefähr         bei heiklen Themen immer, was ich mei-         muss man sich auch Krankheiten und Tod
drei Monate in der deutschen Schule, dann        ne, auch wenn ich ihr das nicht so sagen       ansehen, um zu spüren, dass man noch
waren Sommerferien. Ich flog mit meiner          kann. Für mich ist sie mehr als nur ein        lebt. Wenn sonntagmorgens die „Bhaji-
Mutter und meinem Vater nach Indien              Familienmitglied, da sie mir immer bei-        wali“ auf der Straße ihre Ware anpreist
zurück. Von der indischen zweiten Klasse         steht und da sie mit ähnlichen Situationen     und ruft, dann spürt man das Leben. Dafür
verpasste ich etwas, aber das war nicht          Erfahrung hat und mich versteht. Wenn          muss man auch manchmal negative Ge-
weiter schlimm.                                  ich meine deutsche mit meiner indischen        fühle zulassen. Im Gegensatz dazu ist es in
                                                 Oma vergleiche, merke ich, dass ich zu         Deutschland so, dass man nie seine Bahn
Wie eine von ihnen                               Aaji ein innigeres Verhältnis habe. Das        verpasst, immer pünktlich kommt, sich nie
Aus der deutschen Klasse konnte ich              muss nicht heißen, dass ich sie mehr mag       irgendwie verschwitzt oder so fühlt. Alles
mir nicht viele Gesichter merken, aber           als meine deutsche Oma, im Gegenteil.          erscheint irgendwie sauber und perfekt.
in Indien wurde ich wieder ganz normal           Wenn man sich zu gut kennt, geht man           Und dadurch wird alles so langweilig.
aufgenommen und fühlte mich auch wie             sich manchmal gerade auf die Nerven.           Man regt sich über Dinge auf, die total
eine von ihnen, was ich in Deutschland
nicht so empfand. Ich war nie so richtig
eine von ihnen, wir blieben uns fremd.           Ich bin so glücklich, seitdem ich weiß, dass ich dem
Das ging so bis zur dritten Klasse. Drei
Monate Deutschland, der Rest Indien. Nur
                                                 deutschen Alltag für zwei Monate entfliehen und als
in der dritten, letzten Klasse war ich von       Austauschschülerin nach Indien gehen kann.
Anfang bis Ende in Pune und wir machten
dann verlängerte Ferien in Australien, wo
wir deutsche Freunde besuchten. Dieser           Ich glaube, die Nähe zu Aaji hat etwas         unwichtig sind. Natürlich ist es auch sehr
Aufenthalt war sehr wichtig für mich, um         damit zu tun, dass man in Indien immer         gut, pünktlich zu sein. Das „schlimmste“
mich an all die seelischen und sprachlichen      kleine oder größere „Prüfungen“ bestehen       Mal, dass ich zu spät kam, handelte es sich
Veränderungen, die mit unserer Rückkehr          muss. Da muss man sich zusammentun             nur um 13(!) Minuten. In Indien zerfällt der
auf mich zukamen, zu gewöhnen. Beson-            und gemeinsam nach Lösungen suchen.            Tag nicht in Minuten. Meine Verspätung
ders in Sachen Deutsch hatte ich sehr viel       Das schweißt die Familie zusammen. In          wäre eine Lappalie, zu belanglos, um über-
nachzuholen; ich hatte kein Gefühl dafür,        Deutschland dagegen läuft alles so rei-        haupt erwähnt zu werden. Ganz am Anfang
ob es der oder die Tisch heißt.                  bungslos und ohne Probleme, dass man           schrieb ich, dass es nicht so leicht sei, als
Eine Beobachtung beschäftigt mich sehr.          sich erstens langweilt und zweitens nicht      Mischling am Leben zu bleiben. Okay, das
Es war in der dritten Klasse in Pune. Eine       so viel zusammen macht, dass man sich          ist vielleicht ein bisschen überzogen, aber
deutsche „Freundin“ kam mich für zwei            gegenseitig braucht.                           es gibt drei triftige Gründe dafür:
Wochen besuchen. Sie war typisch deutsch:        Ich bin so glücklich, seitdem ich weiß, dass   1. Man fliegt so oft zwischen zwei Welten,
blonde Haare, blaue Augen und an Kom-            ich dem deutschen Alltag für zwei Mona-             was die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass
fort gewöhnt. Im Nachhinein würde ich            te entfliehen und als Austauschschülerin            einem irgendwann einmal ein Unglück
sagen, sie und auch ihre Mutter, die mit-        nach Indien gehen kann. Ich werde bei               zustößt.
reiste, waren völlig überfordert mit der         Aaji wohnen und wie ein gewöhnliches           2. In Deutschland passiert es nicht sel-
Lebenssituation in Indien. Sie wussten           indisches Mädchen zur Schule gehen. Und             ten, dass Ausländer von Neonazis
nicht, wie sie sich verhalten sollten. Aber      da es ja ein Austausch ist, wird auch eine          angemacht oder verprügelt werden;
nach dem Aufenthalt dachten beide, sie           Freundin von mir für einen Monat nach               genauso wie in Pune plötzlich die
würden Indien verstehen und wüssten, was         Dresden kommen. Ich freue mich sehr                 „German Bakery“ hoch gehen kann.
da vor sich geht. Sie irren sich. Nicht einmal   auf die Zeit, wenn der laaaaangweilige         3. Man ist oft in sehr emotionalen Situa-
ich kann behaupten, ich kenne Indien gut.        Unterricht eines laaaaangweiligen Gym-              tionen, in denen man sich mal schnell
                                                 nasiums aufgemischt wird. Ich denke zwar,           eben über eine Brücke stürzen könnte.
Nun ja, ich habe es ins Gymnasium ge-            dass sie sehr schüchtern sein wird, aber ein   Insofern weiß ich manchmal nicht, ob es ein
schafft und bin jetzt in der achten Klasse.      bisschen indisches Feeling kommt sicher        schlechtes oder gutes Schicksal ist. Him-
Ich bin fast jedes Jahr in den Sommerfe-         doch durch.                                    melhochjauchzend und zu Tode betrübt. j

                                                                                                                         meine welt 1/2013   9
Indische Demokratie heute Gleichstellung der Frau in Indien
i i n t e rvi e w a k t u e l l i

Ich bin Oszillant
Ein Interview mit Alokeranjan Dasgupta

j ü rgen sander

Der Lyriker Alokeranjan Dasgupta wurde 1933 in Kalkutta geboren, besuchte die
berühmte Tagore-Schule Shantiniketan und studierte danach an der Universität
Kalkutta. 1971 kam er im Rahmen eines Humboldtstipendiums nach Deutschland.
Heute ist er nach Jahren der Lehrtätigkeit am Südasieninstitut in Heidelberg eme-
ritiert. Er veröffentlicht jedes Jahr mindestens einen neuen Gedichtband mit ben-
galischer Lyrik. In Indien und insbesondere in Kalkutta gehört er zu den bedeu-
tendsten zeitgenössischen Dichtern. Im Interview spricht er über seine Dichtung
und sein Leben zwischen Indien und Deutschland.
Die Fragen stellte Jürgen Sander.
                                                                                               Alokeranjan Dasgupta

Einschätzung                                    die Schule, die Rabindranath Tagore ge-        Rede vor etwa 2000 Leuten gehalten. Ich
Wo ich auch hingehe,                            gründet hatte. Die 4 oder 5 Jahre, die ich     habe den Kontakt mit den Zuhörern un-
überall in der Welt                             dort verbrachte, waren sehr wichtig für        mittelbar gespürt, und das war ein großes
habe ich meine eigene Bleibe.                   mich. Dort habe ich begonnen, universell       Erlebnis.
Wann immer ich komme und gehe,                  zu denken. Shantiniketan war ein globales
halte ich in meiner Hand                        Dorf im ursprünglichen Sinne des Wortes.       Welche Tendenzen gab und gibt es in dei-
eine dornige Bambusflöte –                      In diesem Dorf trafen sich Menschen aus        ner Lyrik?
während ich darauf spiele, verletzt sie         der ganzen Welt, darunter auch wichtige
    meine Lippen,                               Persönlichkeiten aus ganz Indien, wie          Ich habe mich schon in meiner Schulzeit
und mein Taufkleid fängt an zu bluten:          Mahatma Gandhi, Sarojini Naidoo, Nehru         ziemlich enttagorisiert. Das heißt, auf der
Wenn ich dann blutgetränkt bin,                 und viele andere. Ich bildete mir ein, um      einen Seite gab es Tagore und auf der an-
meinen einige, ich sei ein Haushüter,           Goethe zu zitieren, eine Art Weltknabe         deren Karl Marx - zwei Weltbürger - und
die anderen, dass ich ein Eremit sei.           zu sein. Schon damals habe ich Goethe          ich habe dazwischen oszilliert. Das Wer-
                                                und seinen Faust kennen gelernt.               tesystem Tagores war in mir. Alle seine
(Aus dem Bengalischen übersetzt von Elisabeth   Während dieser kurzen Zeit in Shantinike-      2500 Lieder habe ich auswendig gekonnt,
Günther)
                                                tan gab es bei mir bereits eine Innenwende.    auch die Musik, nicht nur den Text. Gleich-
                                                Ich fühlte mich hingezogen zu Karl Marx        zeitig wollte ich etwas im gegenwärtigen
Meine Welt: Wie hat sich dein poetisches        und war in der Politik aktiv, weil das Leben   Indien verändern. Und ich glaube, schon
Konzept im Laufe der Zeit verändert?            in Shantiniketan eintönig war – so viel        damals habe ich gewusst, dass ein gewisser
                                                ungestörte Landschaft, alles wunderbar -,      Alexander Puschkin in seiner Lyrik ver-
Ich habe immer Gedichte geschrieben.            aber ich wollte nicht dort sesshaft werden.    sucht hat, zwei Elemente zu kombinieren:
Angefangen habe ich, als ich vielleicht 6       Es gab zu viel undialektischen Frieden         Volk und Intelligentsia d.h. Intelligentsia
oder 7 Jahre alt war. Das war in Kalkutta,      dort, also habe ich rebelliert. Die indische   i Narod. Das gefiel mir sehr gut, und ich
wo ich geboren bin. Zu Beginn des Zweiten       kommunistische Partei hatte damals ei-         wollte schon als Teenager nicht in einer
Weltkrieges wurden wir in ein idyllisches       nen Flügel, die Studentenförderation, in       l’art-pour-l’art-Isolation steckenbleiben,
Dorf im Bundesstaat Bihar evakuiert. Das        der ich zwar kein Mitglied war, die mich       sondern mit vielen Menschen unterwegs
war eine herrliche Zeit für mich, und dort      aber motivierte, die umliegenden Distrikte     sein. In meinem ersten Lyrikband mün-
habe ich eine erste ethnische Orientierung      kennenzulernen. Ich war oft unterwegs,         deten deshalb verschiedene Strömungen:
gewonnen. Die Menschen, die dort leb-           habe mit den Dörflern gelebt und auf diese     Ethnische Archetypen, Volkslieder, dörf-
ten, waren Ureinwohner namens Santhals,         Weise das bengalische Landleben erlebt.        liche Gemeinschaften, urbanes Kalkutta.
und ich habe deren Sprache gelernt. Kurz        In dieser Zeit habe ich sozusagen, ich war     Als das Buch veröffentlicht wurde, waren
darauf, 1945, ging ich nach Shantiniketan,      kaum 14 Jahre alt, meine erste politische      die Leute fasziniert, aber sie konnten mein

10   meine welt 1/2013
i i n t e rvi e w a k t u e l l i

Kunstwollen nicht entziffern. Ich wollte ja      habe ich propagieren wollen. Natürlich,         Wie hat sich deine Arbeit durch das Pen-
Gedichte schreiben, die man nicht sofort         Vietnamkrieg und Koreakrieg - dazu habe         deln zwischen Indien und Deutschland und
entziffern kann. Das war mein Prinzip,           ich immer unmittelbar Stellung bezogen.         durch die politischen Ereignisse in diesen
denn wenn du ein Gedicht schreibst, das          Darüber schrieb ich auch Tendenzgedich-         Jahren verändert?
sofort auf den ersten Blick zu meistern ist,     te. Vor etwa fünf Jahren gab es in West-
dann wird der Leser nie wieder zu diesem         bengalen eine Bauernrevolution, und ich         Indien ist ungeheuer groß und die Gege-
Gedicht zurückkommen. Im Sanctum mei-            habe Gedichte dazu veröffentlicht. Mit          benheiten, zu modulieren und ein Idiom
ner Aktivität wollte ich immer, dass das         diesen Gedichten sind die Leute auf die         einer neuen Identität zu entwickeln, sind
Gedicht rein bleibt, in dem Sinne, dass man      Straße gegangen, weil ich ihnen ein Man-        äußerst schwierig. Wenn du mich fragst,
das Gedicht aus verschiedenen Perspekti-         tra gegeben hatte. Zur selben Zeit kam          in welchem Indien ich mich heute befin-
ven unterschiedlich interpretieren kann.         ein Gedichtband von mir heraus, in dem          de, dann sage ich, ich bin in einem Indi-
Doch dabei bin ich zwischen die Fronten          steht: „Die Rose ist jetzt politisch.“ Das      en Nascendis von morgen. Man träumt
geraten: Im Gedicht undefinierbar zu blei-       hat Wirkung gezeigt. Ich fühlte, dass ich       dabei, man versucht, als Lehrer diesen
ben und im Leben etwas zu machen, um             das machen musste, aber es war nicht mein       Traum zu realisieren, man will auch Po-
die gegebene Realität zu ändern. Und das         zentrales Anliegen. Heute weiß ich, dass        litiker werden, man will Priester werden
war die Prägung in meiner Lyrik, als ich         man draußen vieles nicht ändern kann,           im profanen Sinne des Worts, so dass du
als Humboldt-Stipendiat nach Deutsch-            aber ein Dichter darf sein Rückgrat, seine      die Kontur deines Kontinents umformen
land kam.                                        Persönlichkeit, seine kämpferische Posi-        kannst. Was man als Dichter tun muss, ist,
                                                 tion niemals über Bord werfen.                  eine Besessenheit beizubehalten, mit der
Wie hast du die Grenzen zum Politischen                                                          man etwas ändern kann.
gezogen?                                         Hattest du nie die Versuchung verspürt,         Außerdem brachte das Pendeln zwischen
                                                 propagandistisch zu arbeiten?                   Indien und Deutschland einen Mangel an
Hier zitiere ich Heidegger: „Die Sprache                                                         „Behaglichkeit“ mit sich. Wenn du nach
ist der Ort des Daseins.“ Die Sprache ist        Nein, das ist die Aufgabe der Prosa. Im         meiner Religion fragst, dann würde ich
das Zuhause des Seins und heute noch bin         Gedicht darfst du nie propagandistisch          sagen, „die Unbehaglichkeit“ ist heute
ich in diesem Punkt loyal geblieben. Nie         arbeiten.                                       mein Amulett. Es ist ungeheuer wichtig,

Alokeranjan Dasgupta wird 80
Unermüdlicher Brückenbauer zwischen Deutschland und Indien

Indien ist seine Heimat, aber Deutsch-           Humboldt Stiftung. Dann lehrte er am Süd-
land auch. Er pendelt geographisch wie           asien Institut der Universität Heidelberg bis
geistig zwischen zwei Welten- West und           zum Ruhestand vor einigen Jahren.
Ost, Deutschland und Indien. Er sucht die        Alokeranjan Dasgupta gilt als einer der
Sprache, um seinen Standort in den beiden        führenden Dichter Bengalens. Neben zahl-
Welten zu deuten, zu interpretieren, zu          reichen Gedichtbänden in Bengali, aber
                                                                                                 Alokeranjan Dasgupta, Elisabeth Günther und
transportieren. Er dichtet, er schreibt analy-   auch in Englisch und Deutsch, veröffent-
                                                                                                 die Studentin Naznea Nargis in Kolkata.
sierende Prosa, er handelt unauffällig, aber     lichte er auch viele wissenschaftliche und
zielbewusst, und dabei entstehen kleine          literaturkritische Werke. Er ist auch bekannt
verbindende Brücken zwischen Menschen            als ein literarischer Übersetzer vom Deut-      Ananda Literatur Preis (Kolkata) und Sa-
seiner zwei Heimaten. Sein Leben ist wie         schen ins Bengali und umgekehrt. Einige         hitya Akademi Preis (Indische Literatur
eine lange Brücke zwischen Heidelberg            der Autoren, die er aus dem Deutschen ins       Akademi, Neu Delhi).
und Kolkata.                                     Bengali übersetzt hat, sind: Hölderlin, Hei-    Zu seinem 80. Geburtstag gratuliert ihm
Geboren 1933 in Kolkata, besuchte Alo-           ne, Brecht, Peter Weiss, Eich und Biermann.     das Redaktionsteam und der Herausgeber
keranjan Dasgupta die Tagore Schule in           Für seine literarische Tätigkeit hat er viele   von Meine Welt herzlich und wünschen
Santiniketan und die Universität Kolkata.        Auszeichnungen/Preise bekommen. Um              ihm gute Gesundheit in den kommenden
Später war er Dozent an der Jadhavpur            einige zu nennen: Goethe Medaille (Mün-         Jahren.
Universität. 1972 kam er nach Deutschland        chen), Rabindra-Nath Tagore Literatur Preis     J ose P unnamparambil ,
mit einem Stipendium der Alexander von           (Deutsch-Indische Gesellschaft, Stuttgart),     Redakteur MEINE WELT

                                                                                                                         meine welt 1/2013   11
i i n t e rvi e w a k t u e l l i

sich ständig zu verändern, kreativen Stress    Er durfte nicht nach Florenz zurück und          ein Luxus! Das wäre bequem, aber dann
zu haben und sich selbst treu zu bleiben.      starb im Exil. Das ist eine Lieblingsposition    wäre ich ein Fossil meiner selbst.
Ich habe immer versucht, Stress zu ha-         von mir. Ich möchte im Exil sterben. Man         Ich arbeite hier an verschiedenen Pro-
ben. Ich habe mich immer eingemischt. Ich      könnte fragen, ob ich Exilant oder Asylant       jekten für Indien, und dazu habe ich ein
habe immer wieder den Tempel der Poesie        bin? Keines von beiden, ich bin Oszillant.       Faxgerät. Jeden Tag muss ich mindestens
verlassen, aber am Abend bin ich zurück-                                                        20 Seiten nach Indien faxen, für journalis-
gekommen und habe ein Gedicht geschrie-        Lyrik ist ein Teil deines Schaffens, der ande-   tische Zwecke, für Stellungnahmen. Heute
ben. Du weißt, während des Vietnamkriegs       re Teil sind Essays, Aufsätze, von denen viele   schreibe ich etwas, was am 8. Mai – anläss-
gab es einen amerikanischen Dichter, Ar-       während deiner Professur in Heidelberg           lich Tagores Geburtstag – veröffentlicht
chibald MacLeish, der gesagt hat: „Ein         entstanden sind. Aber in Kalkutta bist du als    werden soll. Ich stehe also in ständigem
Gedicht soll nicht meinen, sondern sein.“      Lyriker viel präsenter als in Deutschland.       Kontakt mit Indien.
Dieses Motto habe ich oft beherzigt. Das                                                        Ich will weiterhin subtil und qualitativ
Gedicht verlangt, dass der Dichtende das       Mein Ziel war, eine gewisse unverletzbare        arbeiten. Eines Tages, wenn ich ablebe,
menschliche Potential ausschöpft und dass      Anonymität hier in Deutschland zu haben.         habe ich versucht, genau das zu machen.
er für die Menschen arbeitet, aber wenn        Ich wollte eine Werkstatt haben, in der ich      Aufrunden ist nicht meine Sache.
er an seinem Schreibtisch zurück ist, dann     indische Literatur schreibe.
schreibt er über eine Dimension für die        Wenn ich heute indische Literatur kreiere,       Zum 150. Geburtstag von Rabindranath
Zukunft, die er anvisiert.                     dann habe ich, aus einer gewissen topogra-       Tagore bist du mit deinem Buch Mein Ta-
Die zweite große Hebung in meinem Le-          phischen Entfernung, die indische und die        gore in Deutschland unterwegs gewesen.
ben ist: Ich bin sehr, sehr unruhig gewor-     europäische Realität zur Verfügung. Hier         Wie wurde dieses Buch aufgenommen?
den. Viele Leute sagen, wo ist die Tranqui-    habe ich die schöpferische Ruhe gefunden,
lität der ersten Phase, in der das Göttliche   wo ich eine immerwährende formative Zeit         Es war sehr wichtig, wie wir Tagore ge-
eine Kategorie war? Das Göttliche war          gefunden habe. Das ist eine sonderbare           feiert haben. Wir sind von Ort zu Ort ge-
damals ein Konstrukt von mir, ein wenig        Nische, die mir Spaß macht.                      fahren und hatten etliche Lesungen mit
wie bei Angelus Silesius ... Das heißt, ich    In Indien dagegen, besonders in Bengalen,        meiner Collage „Mein Tagore“. In dieser
weiß nicht, ob es einen Gott gibt, aber er     bin ich eine alltägliche Entität. Ich war        Anthologie waren spätere Gedichte von
kann ohne mich nicht existieren. Und ich       vor kurzem in Indien. Glaub mir, ich habe        Tagore. Die sind wunderbar profan. Es
habe Adorno sehr geschätzt, der die Frage      todesnah gearbeitet. Jeden Tag vier bis fünf     ist ja leider so, dass sich Tagore in einer
aufwarf: „Kann man Lyrik schreiben nach        Veranstaltungen, jeden Tag hunderte von          Art Museum befindet und man sich Se-
Auschwitz?“.                                   Besuchern, das war so anstrengend, dass          genswünsche von ihm holen will. Ihn von
Während der Golfkriegszeit war ich der         ich krank wurde. Befreundete Ärzte sind in       dieser Musealität zu trennen und ihn in
einzige in Indien, der teilweise kritische     der Nacht gekommen, um den Blutdruck             unserer Zeit zu präsentieren, das war nicht
Gedichte dazu veröffentlicht hat. Wenn         zu messen.                                       leicht. In Berlin, Hannover, München und
man antiamerikanisch oder gegen das            Ich habe jeden Tag höchsten 3 Stunden            vielen anderen Orten haben wir uns nicht
Establishment ist, dann ist es wichtig, in     geschlafen, und die Ärzte haben gesagt,          ausgeruht und Tagore sensiblen Menschen
einigen Gedichten die Elemente der Iro-        wenn ich so weiter mache, werde ich hier         näher gebracht.
nie zu betonen. Aber daneben schrieb ich       sterben.                                         Dadurch hat ein Paradigmenwechsel
immer wieder Gedichte mit rätselhaften                                                          stattgefunden. Tagore wird nicht mehr als
Elementen, die etwas Geheimnisvolles           Ist es nicht auch angenehm, in Kalkutta so       Weltguru oder Messias wahrgenommen,
haben. Das bedeutet, spielerisch mit sich      verehrt zu werden?                               sondern als Dichter, der in der heutigen
selbst umzugehen. Es geht nicht darum,                                                          Zeit viel anzubieten hat.
mit erhobenem Zeigefinger eine aggressive      Es wäre leicht für mich, dort unter einem        Doch dazu brauchte ich Ruhe und Zeit -
Zivilisation zu kritisieren, sondern es geht   Banyanbaum Wurzeln zu schlagen und               anonyme Zeit, in der ich keine sozialen
um die Frage: Warst du – Alokeranjan –         mich wie ein Guru zu benehmen. Diese             Verpflichtungen hatte. Das ist das Wich-
heute up to your standard?“ In deinem          Lizenz würde ich jederzeit leicht bekom-         tigste. Aber es war schön. Das ist auch ein
Benehmen, in deiner Aktion und in deinem       men. Man hat auch dieses Mal versucht,           Verdienst von Christian Weiss und seinem
Schreiben? „Die Literatur ist der Spiegel      mich zu bestechen, darunter waren große          Draupadi-Verlag und all den Menschen,
des Lebens.“ Das ist die Position der indi-    Ashrams, Universitäten etc. –                    die ihn auf die eine oder andere Art un-
schen klassischen Poetik. Kann der Dichter     Wenn du heute ein Guru in Indien bist,           terstützen.
als Spiegel nur Beobachter bleiben oder        hast du automatisch zwei, drei Autos, du         Darauf ich bin stolz, weil dieser Kreis ein
muss er sich bewegen?                          hast deine Anhänger, die alles für dich          Stück Heimat für mich geworden ist. j
Dante war die Hälfte seines Lebens im          machen. Selbst musst du gar nichts mehr
Exil, und sein Liebesgedicht „Divina           machen. Wie Molière mal geschrieben hat:
Commedia“ war ein politisches Gedicht.         „Die Diener sollen mein Leben leben.“ So

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