MEINE WELT Zeitschrift des Deutsch-Indischen Dialogs - Diözesan ...

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MEINE WELT Zeitschrift des Deutsch-Indischen Dialogs - Diözesan ...
MEINE WELT
Zeitschrift des Deutsch-Indischen Dialogs

                             60 Jahre unabhängiges Indien

                       Dietmar Rothermund                   Albrecht Frenz

                       P. Chidambaram                      Gopal Kripalani

                       Hans-Georg Wieck         Monika Kirloskar-Steinbach

                       Devinder Sharma                     George Arickal

                       Josef Winkler                   Hans-Jürgen Findeis

                       Sunita Narain                          Gail Omvedt

                       Annakutty V.K. Findeis            Tatiana Oranskaia

Heft 2 / Jahrgang 24      Sonderausgabe                 September 2007
MEINE WELT Zeitschrift des Deutsch-Indischen Dialogs - Diözesan ...
Pratibha Patil
                                           Eine Frau ist Indiens neue Präsidentin

Indien ist immer gut für eine Überra-                                                                            Armutsgrenze zu ermöglichen. Sie for-
schung. Nachdem die Dalit-Frau Maya-                                                                             dert eine praxisorientierte Anwendung
wati Ministerpräsidentin des bevölke-                                                                            von Wissenschaft und Technologie,
rungsreichsten Bundeslandes Uttar Pra-                                                                           „empowerment“ von Frauen sowie die
desh wurde, ist nun eine andere Frau,                                                                            Wichtigkeit ländlicher Entwicklung.
nämlich Pratibha Patil, als Staatsober-                                                                          Nur wenn die sozialen Übel wie die Ab-
haupt Indiens gewählt worden. Das offi-                                                                          treibung weiblicher Föten und Kinder-
zielle Wahlergebnis lautet: Mit 638.116                                                                          heirat beseitigt seien, könne wirkliche
Stimmen des Wahlkollegiums, das sich                                                                             Frauenemanzipation beginnen, meinte
aus den Abgeordneten beider Häuser des                                                                           sie in einem Interview mit der nationa-
indischen Parlaments sowie Abgeordne-                                                                            len Zeitung, „The Hindustan Times“
ten aller Parlamente der Unionsstaaten                                                                           (16.6.2007).
zusammensetzte, besiegte sie ihren Her-
ausforderer, den bisherigen Vize-Präsi-                                                                          So haben wir heute 3 Frauen an der Spit-
denten Bhaira Schekhawat, mit einem                                                                              ze der Macht in Indien: Sonia Gandhi als
deutlichen Vorsprung von 306.810 Stim-                                                                           Vorsitzende der regierenden Congress
men im Rennen um das höchste Staats-                     Pratibha Patil für zwei Jahre stellvertre-              Partei, Mayawati als Ministerpräsidentin
amt.                                                     tende Vorsitzende des indischen Ober-                   des Unionsstaats Uttar Pradesh und nun
                                                         hauses (Rajya Sabha). 2004 wurde sie                    Pratibha Patil als Präsidentin der Repu-
Pratibha Patil ist langjährige Congress-                 als Gouverneurin von Rajasthan er-                      blik Indiens. Der seit Indiens Unabhän-
Politikerin und gilt als loyale Person an                nannt. Und dann kam ihre Wahl zum                       gigkeit begonnene demokratische Pro-
der Spitze. Die 73-jährige Anwaltstoch-                  Amt der Präsidentin am 19.07.07.                        zess hat den Frauen wahrlich eine Chan-
ter begann bereits 1962 ihre politische                                                                          ce gegeben, sich in Politik und Gesell-
Karriere in Congress in Maharashtra und                  Pratibha Patil ist bekannt als eine Politi-             schaft sichtlich mehr Einfluss zu ver-
bekleidete während einer Spanne von                      kerin aus Stahl, aber auch als Befürwor-                schaffen!
20 Jahren verschiedene Ministerämter                     terin von praktischen Lösungen in der                                  - Jose Punnamparambil
– u.a. Gesundheit und städtische Ent-                    Politik. Sie betont den notwendigen
wicklung – in den Congress- Landesre-                    Kampf gegen die Armut, um möglichst                     (Basiert auf Informationen von Klaus Julian Voll,
gierungen. Ende der 80-er Jahre wurde                    allen InderInnen ein Leben oberhalb der                 Neu Delhi)

 MEINE WELT                                                                            Redaktionelle Mitarbeit:
 Zeitschrift des Deutsch-Indischen Dialogs                                             Dr. Elisabeth Lauschmann
 Heft 2 / Jahrgang 24 / September 2007
                                                                                       Unterstützung und Beratung:
                                                                                       Pater Ignatius Chalissery; Köln; Dr. Urmila Goel, Bonn; Hans Gerd Gre-
                                                                                       velding, Köln; Dr. Martin Kämpchen, Santiniketan, Indien; Dr. Ajit Lok-
                                           Herausgeber:                                hande, Jülich; Walter Meister, Öhringen; Heinz Müller (Vertreter des Her-
                                           Diözesan-Caritasverband,                    ausgebers), Köln; Pfarrer Ulrich Oligschläger, Königswinter; Dr. Claudia
                                           Abteilung „Migration“,                      Warning, Lohmar
                                           Georgstr. 7, 50676 Köln,
                                           Tel.0221 / 20 10 287                        Gestaltung und Layout:
                                                                                       Jose Punnamparambil; Jose Ukken
 Redaktion:                                                                            Herstellung und Vertrieb:
 Jose Punnamparambil (verantwortlich), Grüner Weg 23,
                                                                                       Jose Ukken, Im Rheingarten 21, 53639 Königswinter,
 53572 Unkel-Scheuren, Tel. 02224 / 7 53 17
                                                                                       Tel. 02223 / 49 49; e-Mail: joseukken@googlemail.com
 e-Mail: punnam@t-online.de

 Dr. Sushila Gosalia, Franconvillestr. 9, 68519 Viernheim,                             Druck: Siebengebirgs-Druck, Karlstraße 30, 53604 Bad Honnef
 Tel. 06204 / 7 88 01; e-Mail: sula.gosalia@worldonline.de
                                                                                       Erscheinungsweise: zwei- bis dreimal jährlich
 Thomas Chakkiath, Novalisstr. 45, 51147 Köln,                                         Eine Spende von mindest. 13 Euro wird von den Lesern erwartet.
 Tel. 02203 / 2 26 54; e-Mail: Chakkiath@aol.com
                                                                                       Konto-Nr.: 106 3205, Bank für Sozialwirtschaft
 Nisa Punnamparambil, Grüner Weg 23, 53572 Unkel-Scheuren
                                                                                       (BLZ 370 205 00), Diözesan-Caritasverband, Köln
 Tel. 02224/9897690; e-Mail: Daniel.Nisa@t-online.de

Titelbild: (Quelle: Perspektiven Indien, Januar 2000 und „The Economic Times“ Special, August 1997)
Rückseite: „Parvati und Ganesh“ – Volkskunst (Quelle: Perspektiven Indien, August 1994)

                                                                                   2
Editorial

                                 60 Jahre Unabhängigkeit Indiens
                                    Eigenlob..... Ernüchterung..... Nachdenken!
 Indien erstrahlt im hellen Glanz seines Fortschritts, doch es gibt auch dunkle Wolken, die seinen Himmel trüben.

Gewiss, in den vergangenen 60 Jahren hat             70 Prozent der Bevölkerung leben, bleibt                    Gerechtigkeit für alle Schichten der Gesell-
das Land ordentliche Leistungen erbracht:            auf der Strecke. Ein höheres Wirtschafts-                   schaft garantiert, den großen Umwelt- und
Beim Aufbau seiner Demokratie, im Bil-               wachstum gibt keine Verteilungsgerechtig-                   Klimakatastrophen vorbeugt und Rücksicht
dungs- und Gesundheitswesen, vor allem in            keit her. Die Reichen werden reicher, die                   auf die Begrenztheit der Ressourcen nimmt?
der Wirtschaft. Indiens führende Stellung in         Armen ärmer. Soziale Spannungen wachsen.
Wissenschaft und Technologie ist heute               Regionalismus, Kommunalismus, religiöser                    Diese und ähnliche Fragen müssen gestellt
unangefochten. Das Land hat in den letzten           Fundamentalismus und Gewaltbereitschaft                     werden, auch wenn Menschen, seien sie
Jahren traumhafte Wachstumsraten von 8 bis           unter den Marginalisierten kennzeichnen                     indisch oder nicht, sich positiv auf erreichte
9 Prozent erzielt. Indien gewinnt ständig an         auch das Bild eines Indiens im Aufbruch zu                  Fortschritte beziehen möchten bzw. diese zu
politischem Gewicht als führendes Schwel-            seiner modernen Identität.                                  Recht feiern wollen.
lenland in der internationalen Arena.
                                                     Wird Indien in der Lage sein, die extreme                   60 Jahre Unabhängigkeit Indiens – das ist
Aber es gibt auch eine Kehrseite, die nicht so       Armut im Lande bis zum Jahr 2020 zu besei-                  das Schwerpunktthema dieses Heftes. Wir
glänzt. Mindestens 250 Millionen InderInnen          tigen, wie es sich der ehemalige Präsident                  freuen uns sehr, dass es uns gelungen ist, ein
leben heute von weniger als einem halben             Abdul Kalam zum Ziel gesetzt hat? Wird es                   breites Spektrum von Meinungen und Ein-
Dollar pro Tag, d.h. in absoluter Armut.             der politischen Führung im Lande gelingen,                  schätzungen zu diesem Thema von namhaf-
Noch können 350 Millionen InderInnen nicht           die 150 Millionen Muslime wirtschaftspoli-                  ten Indien-Kennern und Fachleuten zu ver-
lesen und schreiben. Die Infrastruktur des           tisch und soziokulturell zu integrieren? Ist                sammeln und hier abzudrucken. Wir von der
Landes bleibt weiterhin unterentwickelt, lei-        das Land in der Lage, ein alternatives Ent-                 Redaktion hoffen, dass Ihnen die Lektüre
det sehr unter dem Mangel an notwendigen             wicklungsmodell zu entwerfen und zu reali-                  Spaß macht. Herzlichst Ihr
Investitionen. Die Landwirtschaft, von der           sieren, das ein Mindestmaß an sozialer                      Jose Punnamparambil

                                                                   Meine Welt
                                                       Zeitschrift des Deutsch-Indischen Dialogs
  Heft 2 / Jahrgang 24                                                                                                                         September 2007

                                                                    Inhalt
 Editorial                                                              3       Die Zukunft Indiens ....                                                   34
 Tagore, Gandhi und ein wenig ..... (Geschichte)                        4        - Prof. Dr. Annakutty V.K. Findeis
 - Theodor Ebert                                                                 Willkommen im glänzenden Indien (Gesellschaft)                            36
 Ausschreitungen in Mügeln (Gesellshcaft)                               6        - Gail Omvedt
 - Lutz Rathenow                                                                 Als Indologin beklage ich die ....                                        37
 Das multi-literarische Szenarium .... (Literatur)                      8        - Prof. Dr. Tatiana Oranskaia
 - Prof. Dr. AnnakuttyValiamangalam Kurien Findeis                               Die herzlichsten Glückwünsche, Indien!                                    38
 Erwachendes Interesse an indischer .... (Interview Aktuel)            13        - Gopal Kripalani
 - Prof. Dr. Brigitte Brenzing                                                   Gesetze und Umweltbewegungen in Indien (Umwelt)                           41
 Eine Unberührbare ist Ministerpräsidentin ... (Politik)               16        - Sunitha Narain
 - Thomas Chakkiath
                                                                                 60 Jahre Indien - Nachdenken über ....                                    42
 Ein Brief von Sitakant Mahapatra (Literatur)                          19        - Prof. Dr. Hans-Jürgen Findeis
 Die indischen Katholiken sind ..... (Interview Aktuell)               20        Zwei Drittel der Inder überleben mit ....                                 44
 - Weihbischof Dr. Heiner Koch                                                   - Devinder Sharma
 Müllsammler in Pune, Indien (Mensch und Umwelt)                       21        Die Bedeutung von Gandhis .... (Alternative Ansätze)                      46
 - Rainer Hörig
                                                                                 - Dr. Sushila Gosalia
 60 Jahre unabhängiges Indien                                          23        Eine Utopie für Indien                                                    49
  Die Mittelklasse steht ... (Interview Aktuell)                       23        - Jose Punnamparambil
  - Prof. Dr. Dietmar Rothermund
                                                                                Die letzte Rupie (Kurzgeschichte)                                          50
  Der Weg der Reformen geht weiter (Wirtschaft)                        25       - Anandibai Kirloskar
  - P. Chidambaram, Finanzminister Indiens
                                                                                Zwei Gedichte                                                              53
  Die größte Leistung Indiens besteht ... (Meinung)                    27
  - Dr. Albrecht Frenz                                                          Lautes Querdenken über die Welt ..... (Philosophie)                        54
                                                                                - Gopal Kripalani
  Beide Nationen bereichern sich gegenseitig                           29
  - Josef Winkler                                                               Nisten (Kurzgeschichte)                                                    56
                                                                                - E. Santhoshkumar
  Quo Vadis Indien?                                                    30
  - Dr. George Arickal                                                          OM-Brahma Vision (Meditation)                                              59
                                                                                - Dr. med. Deba Brata Roy
  Indien 1947 - 2007 (Interview Aktuell)                               32
  - Dr. Hans-Georg Wieck                                                        Buchbesprechungen                                                          60

                                                                            3
Geschichte

           Tagore, Gandhi und ein wenig bekanntes
                Gedicht aus dem Jahre 1940
                                                       Theodor Ebert

Verkürzte Fassung eines Vortrages, den Prof. Dr. Theodor Ebert am 7.5.2007 in der indischen Botschaft in Berlin anlässlich
des 146. Geburtstags Rabindranath Tagores gehalten hat.
                                                                                                          - Die Redaktion

Wie war das mit dem Verhältnis Tagores     Zusammenarbeit mit der englischen          in Rom als dem Antichristen – und Lucas
zu Gandhi? Wenn man es unverblümt          Kolonialmacht mit dem Ziel der natio-      Cranach hat dies mit einer kontrapunk-
formuliert, dann kann man sagen: Die       nalen Unabhängigkeit war Tagore zu         tischen Holzschnittserie noch befördert –
beiden schätzten einander, aber sie        wenig. Seine Idealvorstellung des künf-    der Boden bereitet für die Religionskrie-
waren sich in wichtigen strategischen      tigen Indien war eine umfassendere. In     ge. Und auf den Scheiterhaufen brann-
Fragen nicht einig. Und es ist schwer zu   seiner Vision sollte Indien den Aus-       ten dann später katholischer- und evan-
entscheiden, wer von den beiden Recht      gangspunkt einer kulturellen Weltge-       gelischerseits die Ketzer und die Hexen.
hatte, zumal dieser Diskurs Lerneffekte    meinschaft bilden, die durch Koopera-      Da wusste Tagore besser Bescheid als
hatte.                                     tion und nicht durch nationale Abgren-     Gandhi. Er fühlte sich dem europäischen
                                           zung zustande kommen würde.                Geist der Aufklärung verbunden und
Gandhi war aus Südafrika nach Indien                                                  er hat auch sehr kritisch reagiert, als
zurückgekehrt und war innerhalb kurzer     Dass die indischen Schüler und Studen-     Gandhi im Zusammenhang mit seinem
Zeit zum anerkannten Führer der indi-      ten nun die englischen Schulen und Uni-    Kampf gegen die Diskriminierung der
schen Unabhängigkeitsbewegung ge-          versitäten boykottieren sollten, empfand   Unberührbaren ein schweres Erdbeben,
worden. Er setzte ausschließlich auf die   er als zu negativ, weil und solange die    das viele Tausende tötete, als Strafe
in Südafrika bewährten gewaltfreien        Unabhängigkeitsbewegung keine eigen-       Gottes für die Sünde der Unberührbar-
Methoden, die er unter dem Stichwort       ständigen Alternativen anbieten konnte.    keit interpretierte.
„Satyagraha“ zusammenfasste, worunter      Auch der Boykott englischer Tuche
er nun doch mehr als „passiven Wider-      leuchtete ihm nicht ein, weil er einen     Gandhi war am Anfang seiner gewalt-
stand“ verstand. Und hierin bestand        Zusammenhang zwischen ökonomi-             losen Kampagnen in Indien sehr zuver-
wohl schon die erste Verständigungs-       scher und kultureller Zusammenarbeit       sichtlich. Er bildete sich wohl ein, er
schwierigkeit zwischen Gandhi und          sah. Gandhis Kritik der Mechanisierung     könne den Tiger reiten. Tagore hatte
Tagore, der vorläufig bei dem engli-       der Arbeit empfand er als Maschinen-       meines Erachtens das bessere Gespür als
schen Terminus „passive resistance“        stürmerei.                                 Gandhi für die Massenpsychosen, die
blieb, der dann im europäischen Kontext                                               sich mit dem Anstecken von Scheiter-
beim sogenannten „Passiven Wider-          Als Gandhi dann auch das Verbrennen        haufen entflammen. Er hatte geahnt,
stand“ im Ruhrkampf im Jahre 1923          englischer Kleidung auf Scheiterhaufen     dass es 1920 noch nicht möglich sein
auch der zentrale Begriff war für die      befürwortete, lehnte Tagore dies klar      würde, eine disziplinierte, ganz Indien
Nichtzusammenarbeit von Deutschen          und deutlich ab, weil er mit diesem Ver-   überziehende, wirklich gewaltfreie Be-
und Franzosen.                             brennen von Produkten der westlichen       wegung auszulösen. Tagore misstraute
                                           Kultur zu viele negative Emotionen ver-    den Massen und er sah vorher, was dann
„Noncooperation“                           bunden sah. Vielleicht hätte Gandhi sei-   auch Gandhi nach dem Verbrennen und
Der zentrale Begriff für Gandhis Unab-     nen weltläufigen, hoch gebildeten          Erschlagen von Polizisten in der Wache
hängigkeitskampagne – er sprach von        Landsmann besser verstanden, wenn er       von Chauri Chaura als seinen „himalaja-
„Swaraj“ – war „noncooperation“, also      geahnt hätte, dass die Nazis nach der      großen Irrtum“ bezeichnen und mit dem
Nichtzusammenarbeit. Gandhi progno-        Machtergreifung Bücher verbrennen          Abbruch der Kampagne und mit einem
stizierte: Unabhängigkeit innerhalb ei-    würden. Wer Scheiterhaufen ansteckt,       Sühnefasten beantworten musste.
nes Jahres, wenn diese Strategie der       muss – und dies ist eine Lehre der
Nichtzusammenarbeit mit den eng-           Geschichte – damit rechnen, dass darauf    Konstruktive Aktionen
lischen kolonialen Institutionen konse-    eines Tages auch Menschen verbrannt        Gandhi hat dazugelernt. Er achtete in
quent eingehalten wird.                    werden. Doch wir Europäer haben hier       Zukunft noch mehr auf Disziplin, ver-
                                           auch noch nicht genügend gelernt aus       traute nur noch auf eine geprüfte, trai-
Tagore, obwohl selbst früher ein Befür-    unserer Geschichte. Der deutsche Prote-    nierte Gruppe von Satyagrahis und teste-
worter von „Swadeshi“, also der natio-     stantismus hat immer ein ganz naiv glo-    te seine Methoden künftig zunächst in
nalen Selbständigkeit Indiens, war die-    rifizierendes Verhältnis zu Luthers Hel-   begrenzten, überschaubaren Bezirken.
ses Mal nicht entzückt. Ihn störte die     dentat, die päpstliche Bannbulle vor den   Und noch etwas hat er vielleicht von
negative Konnotation bei dem Begriff       Toren Wittenbergs zu verbrennen. Dabei     Tagore gelernt: Er betonte künftig neben
der noncooperation. Verneinung der         wurde mit der Verteufelung des Papstes     den Verweigerungshandlungen ganz

                                                              4
besonders auch die konstruktiven Aktio-      Doch als Mann des Theaters hatte Tago-     Mohandas Friedefürst Gandhi
nen, ja er sagte zugespitzt: Ziviler Unge-   re sehr viel Sinn für Gandhis Fähigkeit,   Um die Stirn der Schar dieses Fürsten
horsam ohne konstruktive Aktion ist          gewaltfreie Aktionen zu inszenieren.       schlingt sich ein einigend Band:
bloßes Abenteurertum und schlimmer           Aus solchen Szenen ist auch das Gedicht    Erpresse nichts von den Armen
als nutzlos.                                 aufgebaut, das Tagore anlässlich von       und knie’ vor den Reichen nie!
                                             Gandhis Besuch in Santiniketan schrieb
Doch er verteidigte auch das Programm        und das exemplarisch Gandhis Strategie     Und wenn sie uns drohen
der Noncooperation, und zwar mit dem         in poetische Bilder fasst. Er gab dem      und ihre Fäuste und Keulen
Argument, dass es in Indien nicht um die     Gedicht den Titel „Gandhi Maharaj“.        und ihr stierender Hass uns trifft,
harmonische Zusammenarbeit zwischen                                                     so bewahren wir uns ein Lächeln
den Kulturen gehe, jedenfalls noch           Ich wüsste nicht, dass es eine bengali-    und fragen zurück:
nicht, sondern um das Aufkündigen            sche Fassung gibt. Eine solche hätte       Wen wollt ihr schrecken,
einer „freiwilligen Knechtschaft“.           auch Gandhi nicht verstehen können.        wem wollt ihr drohn?
Gandhi nahm damit die heute in der           Tagore hat das Gedicht wahrscheinlich      Wir sind nicht furchtsame Kinder!
Soziologie gängige Unterscheidung            auf Englisch geschrieben. Es hat propa-
zwischen symmetrischen und asymme-           gandistischen Charakter und es ist von     Wir wollen das Ja,
trischen Konflikten vorweg.                  eingängiger Simplizität, aber dies war     wir wollen das Nein
                                             auch ein Kennzeichen von Gandhis im        und nicht diplomatische Ränke.
Symmetrische Konflikte sind solche, in       besten Sinne des Wortes populistischer     Die Botschaft ist einfach,
denen gleichartige Gegner aufeinander        Strategie. Tagore hat die strategischen    die Mittel sind klar:
treffen. Das klassische Duell mit Pisto-     Prinzipien Gandhis sehr gut verstanden.    Wir pilgern direkt ins Gefängnis.
len oder Degen ist ein symmetrischer         Bei meiner Übertragung des englischen
Konflikt. Zwei ähnlich ausgebildete          Textes habe ich einige Anleihen bei        Und wenn der Zug sich am Tore drängt,
Kontrahenten begegnen sich mit glei-         Luthers Sprache der Bibelübersetzung       wenn die Gefängnisse füllen die Massen,
chen Waffen. Selbst den Ost-West-Kon-        gemacht.                                   dann fallen von uns die Ketten:
flikt zwischen dem Warschauer Pakt und                                                  Die Schmach von alters vergeht,
der NATO konnte man als symmetri-                                                       und von den Stirnen leuchtet
schen Konflikt begreifen. Doch der                                                      sein Segen.                          !
Konflikt zwischen der englischen Kolo-
nialmacht und den Indern war ein asym-
metrischer Konflikt. Auf der einen Seite                     Einmal Ayurveda und zurück
stand die Kolonialmacht mit ihrer Büro-
kratie und ihrer Armee und auf der ande-      Öl, überall Öl. Die Haut, die Haare,      ten Vatas, die erdenschweren Kaphas
ren Seite standen die ausgebeuteten und       der Tisch, alles voll Öl. Splitternackt   und die feurigen Pittas. Wenn diese
dazu hin noch ziemlich unterwürfigen          und ungelenk liege ich auf der Bank       drei Doshas außer Balance geraten, ist
Massen der Inder.                             aus hartem Holz. Liegen? Glitschen        eine Behandlung angebracht – beste-
                                              trifft es besser. Ohne Hilfe könnte ich   hend aus gesunder Ernährung, Bewe-
Nach Gandhis Auffassung ging es zu-           gar nicht mehr aufstehen. Die beiden      gung und Entgiftung, zu der auch das
nächst einmal darum, die Unterwürfig-         indischen Therapeutinnen gießen im-       Ölbad beiträgt.
keit und die Anpassung an die englische       mer neues Sesamöl über Rücken und
Kolonialmacht zu überwinden. Das hat          Bauch. Es riecht erdig-würzig. Sechs      Elegant wie eine Artistin hängt Deepa
der Schöngeist Tagore, der im Westen          Liter werden es am Ende sein. „Das        an einem Seil an der Decke. Mit dem
hofiert wurde, nur mit Einschränkung          Ölbad ist sehr gut für die Haut“, sagt    rechten Fuß fährt sie auf meinem
kapiert. Die Aufkündigung der „freiwil-       Deepa sanft. Das Stillliegen in Öl ist    Bauch Schlittschuh. Von der ausge-
ligen Knechtschaft“, die Rudyard              der Höhepunkt der Ayurveda-Behand-        streckten Hand über den Arm, die
Kipling euphemistisch als „the white          lung. Zuvor hat Deepa jeden Finger-       Brust bis zum Bauchnabel. „High or
men’s burden“ bezeichnete, konnte man         knöchel, jede Zehe jeden Wirbel ange-     low pressure?“, stärker oder lieber ein
der Kolonialmacht am besten unter die         fasst. Ihre Handgriffe waren mal flüch-   wenig schwächer? Mit den Füßen
Nase reiben, und auch das indische            tig wie der Flügelschlag eines Schmet-    massiert zu werden ist gewöhnungsbe-
Selbstbewusstsein konnte man am be-           terlings, mal erinnerten sie an das       dürftig – in Indien normal. Wer will,
sten wecken und stabilisieren durch Pro-      Klopfen einer Kokosnuss.                  kann sich auch einen Stirnguss verab-
testaktionen – und, wie Gandhi zu beto-                                                 reichen lassen. Heißes Kräuteröl fließt
nen lernte, durch konstruktive Aktionen       Massage der Artistin                      über den Kopf und nimmt alles mit:
bzw. durch die Überwindung eigener            Die junge Frau arbeitet normalerwei-      Stress, Unruhe, Zeitgefühl. Im Garten
Missstände, zu denen er vor allem die         se im Panchakarma-Institut von Dr.        wartet ein beeindruckender Holzbot-
Diskriminierung der Unberührbaren             Franklin in Kerala, im südwestlichen      tich mit 36 Grad warmem, sprudeln-
rechnete. In letzterer Hinsicht stimmte       Zipfel Indiens, der Heimat von Ayurve-    dem Wasser.
Tagore Gandhi durchaus zu, aber er            da. Ayurveda ist Sanskrit und bedeutet                           - Petra Kistler
legte darauf nicht so viel Gewicht.           Wissen vom Leben. Die traditionelle
Gandhi war nun mal näher dran an den          indische Medizin teilt die Menschheit     (Aus: „Ayurveda in Südbaden“, Das Parlament-
                                                                                        11.06.07)
indischen Massen als Tagore.                  in drei Gruppen ein: Es gibt die leich-

                                                                5
Gesellschaft

                             Ausschreitungen in Mügeln
          In Mügeln wurden am 19.8.2007 acht Inder durch die Stadt gejagt.
                Dazu Meinungen, Presseerklärung, Pressestimmen.

                            Der lästige Osten                                                    tischen Leben garniert – auf der einen
                                                                                                 Seite. Und die mehr oder weniger nett
                          Mügeln und die Jugend                                                  herausgeputzte Trostlosigkeit kleiner
                                  Lutz Rathenow                                                  Städte, großer Dörfer in endindustriali-
                                                                                                 sierter Landschaft auf der anderen Seite.
                                                                                                 Das letzte Kino schloss, Gaststätten sind
In der Juni-Ausgabe 2007 veröffentlichte die Redaktion den kurzen Beitrag „Deut-                 zu teuer, die engagierten jungen Frauen
sche Zustände“ – Hälfte der BürgerInnen fremdenfeindlich. Bereits vor Druckfrei-                 gingen weg, für Sex gegen Geld fehlt es
gabe führte der Vertreter des Herausgebers eine inhaltliche Diskussion mit dem                   an Geld in einem Leben zwischen Ar-
Schriftleiter darüber, ob es journalistisch Sinn macht, eine solche kurze Meldung                beitslosigkeit, 1-Euro-Jobs oder doch
(übernommen aus „Frau und Mutter“ 02.2007) unkommentiert abzudrucken.                            nur noch Sozialhilfe, weil man den
                                                                                                 pünktlichen Gang zum Amt nicht mehr
Wir waren uns schnell einig darin, dass die Bewertung des Begriffs „Fremden-                     auf die Reihe bringt. Teile dieser Gene-
feindlichkeit“ grundsätzlich eher einer differenzierten Auseinandersetzung bedarf.               ration leben von den Ersparnissen und
Der Abdruck erfolgte dennoch einvernehmlich, da es der Anspruch der Redaktion                    Renten der Eltern, die Situation wird
war, damit nach Möglichkeit eine Diskussion unter den LeserInnen zu ermöglichen                  sich also weiter zuspitzen.
und anzufachen.
                                                                                                 Männerbünde sind die Familienersatz-
Im Zusammenhang mit den durch nichts zu entschuldigenden Ausschreitungen                         perspektive, der Stehtisch vor der Imbiss-
gegen indische Mitbürger in Mügeln brachte das „Deutschlandradio Kultur“ am                      bude ein Lebensmittelpunkt. Die soziale
24. August ein „Politisches Feulliton“ des in Jena geborenen Lutz Rathenow. Die-                 Komponente wird ergänzt durch eine
ser Beitrag beschreibt treffend wie differenziert mit dem pauschalierenden Begriff               mentale. Dieses Stadt-Land-Gefälle
„rechtsradikal“ und daraus abgeleitet „Fremdenfeindlichkeit“ umgegangen wer-                     kannte ich schon in meiner Jugend. Den
den sollte. Er gibt einen deutlichen Fingerzeig auf soziale Probleme im „deutschen               Dorftanz einiger Ortschaften galt es für
Osten“ und eignet sich gewiss die kurze Meldung „Deutsche Zustände“ zu ergän-                    Auswärtige zu meiden. „Unsere Hühner
zen. Rathenow kommt zu dem Schluss, dass die sozialen Probleme vielen Jugend-                    bumsen wir selber!“ ein Spruch, der
lichen im Osten etliche Gruppen zum Feind mache, aber „den Inder garantiert                      Minderwertigkeitskomplexe verriet. Zu
nicht.“                                                                                          ausländerfeindlichen Auseinanderset-
                                                                   - Heinz Müller,               zungen kam es damals nicht in Erman-
                                                                    Vertreter des Herausgebers   gelung dieser. Auch heute wachsen
                                                                                                 Jugendliche heran, die einfach zu wenig
Der Stumpfsinn hat viele Namen und           kann, wie es dazu kommen konnte. Aus                Fremdes sehen und erleben - im realen
Gesichter. In den seltensten Fällen ist er   einem friedlichen Neben- oder Mitein-               Leben, während sie medial mit dem Gla-
rechtsradikal organisiert. Der geschulte     ander heraus entstehen blitzschnell                 mour einer Erlebniswelt gefüttert wer-
und strategisch agierende Rechtsradika-      Gruppenidentitäten. Sie bauen auf dem               den, die nach Mügeln, Wustrow oder
le ist international um Vernetzung be-       auf, was unterschwellig vorhanden ist.              Wurzen nicht kommt. Die Spannung
müht – wie beim immer wieder versuch-        Ja, der Osten ist fremdenfeindlicher als            zwischen Stadt und Land ist in der glo-
ten und zum Glück gescheiterten „Fest        der Westen grundiert. Er kann sich das              balisierten Welt im Osten so groß wie
der Völker“ in Jena. Er hat den Asylbe-      allerdings abgewöhnen, wenn es etwas                nie. Einen Abend auf dem Kölner
werber zum Feind, den Schwarzen, die         bringt. Die Touristen und Westdeutschen             Hauptbahnhof verbringen, heißt mehr
Juden – den Inder garantiert nicht.          in den Spitzenorten an der Ostseeküste              interessante, fremd aussehende Men-
                                             werden bestens umsorgt. Da gibt es                  schen zu treffen als ein Wustrower sie in
Für die besonders im Osten drohende          kaum Zwischenfälle, man sieht und hört              seinem ganzen Leben zu Hause sieht.
Gewaltbereitschaft braucht es nur die        viele Briten, Skandinavier, Russen,
ganz normale männliche, jugendliche          Franzosen – und kaum Schwarze, Ara-                 Die klassische westdeutsch eintrainierte
abgestumpfte Mitte der Gesellschaft, für     ber oder Türken.                                    Anti-Rechts-Radikalismus-Arbeit prallt
die Kampftrinken einen Höhepunkt an                                                              vor diesem Hintergrund wirkungslos ab.
Lebensqualität darstellt. Der Stumpfsinn     Der Osten zerfällt daneben in Zonen                 Die für eine Demo einreisende Antifa
bedient sich aber dann rassistischer An-     unterschiedlicher Verhaltensmuster. Vi-             wirkt dann in Mügeln noch fremder auf
leihen, wenn er wieder einmal ins Ag-        tale Städte mit vielfältigen Betätigungs-           die Leute als die Inder, gegen die sie ja
gressive umkippt, weil er am eigenen         möglichkeiten und kulturellen Angebo-               an sich nichts haben. Nur manchmal lau-
Gelangweiltsein verzweifelt. Da passiert     ten – wie Halle, Rostock, Jena oder                 fen sie Gefahr, zum Blitzableiter für un-
dann, was sich danach keiner vorstellen      Dresden oft mit einem regen studen-                 endlich viel Frust zu werden. Und ob der

                                                                6
„Ausländer raus !“-Schreiende bewusst        meintlicher Chancenlosigkeit. Mit dem        einer ganzen Gemeinde durch ungeprüf-
rechtsradikal beeinflussen will oder ob      Strafgesetzbuch allein macht man aus         te Meldungen in Misskredit gebracht
er instinktiv zum tabuisiertesten aller      Menschenfeinden keine Menschen-              werden kann, davon kann eine andere
Sprüche greift, das ist gar nicht so ein-    freunde und aus einer schweigenden           sächsische Stadt ein Lied singen: Seb-
fach zu klären. Denn die mediale Reak-       Mehrheit keine Zivilgesellschaft. Die        nitz.
tion gibt ihm ja recht. Soviel Furcht und    benötigt eine gute öffentliche Infrastruk-
Angst wie mit den dümmsten rechtsradi-       tur, aufgeklärte, sozial und wirtschaft-     Lausitzer Rundschau
kalen Losungen kann er mit nichts ande-      lich integrierte Menschen, um zu wach-       Schon die derzeit bekannten Fakten be-
rem schüren. Für einen Moment fürchtet       sen. Dies zu gestalten, ist der weit         legen, dass am Samstag in Mügeln
sich die ganze Welt vor diesen Typen in      schwierigere Teil.                           rechtsextreme Einstellungen, womög-
Mügeln und meditiert über die neue                                                        lich unter massivem Alkoholeinfluss,
braune Gefahr. Und die Eltern verstehen      Rheinische Post                              Anlass und Gelegenheit fanden, sich
ihre gewaltbereiten Kids viel zu gut, sie    Man ist gut beraten, die Ermittlungen in     auszuleben – und das in übelster Weise
klagen, dass diese keinen Job haben.         Mügeln abzuwarten, bevor man                 auch taten. Deshalb ist der Versuch, den
Eine DDR-geprägte Staatsregulierungs-        „Typisch, neue Länder!“ und „Neonazi-        Vorfall als Volksfest-Schlägerei abzutun,
sucht tritt da hervor, die Arbeitszwang      Überfall“ ruft.                              zum Scheitern verurteilt. Wer in diese
mehrheitlich wünschen würde.                                                              Richtung argumentiert, muss sich über
                                             Frankfurter Allgemeine                       den Vorwurf nicht wundern, hier solle
Die beliebte Forderung nach mehr Ge-         Dass die Angreifer aus Mügeln kamen,         ein unangenehmes Phänomen einfach
rechtigkeit in der Gesellschaft forciert     dort aber nicht bekannt sein sollen, ist     totgeschwiegen werden.
die Sehnsucht nach den militärisch dis-      schwer vorstellbar. Wie schnell der Ruf
ziplinierten Regeln. Gewalt ist als staat-
liche Verfügungsgewalt eine zu selbst-
verständliche Größe in der DDR gewe-
sen. Sie funktionierte zu oft, um etwas
zu erreichen. Wie ist das eigentlich mit
den Generationen der gedienten Grenz-
soldaten in der DDR, die das Leben in
eintrainierter Tötungsbereitschaft auch
heute meist als normal zu rechtfertigen
suchen, wenn sie überhaupt davon
reden. Wie soll ein Ex-Grenzsoldat sei-
nen Sohn ernsthaft von den Normen
einer zivilen Bürgergesellschaft über-
zeugen?

Was tun? Jugendarbeit finanziell mehr
fördern – ja, das auch. Auf jeden Fall
politische Bildungsarbeit schon in der
Schule – und da sehr früh, damit nicht
das Gequatsche von der DDR, in der
jeder seine Arbeit hatte und Ausländer
nach strikter Nützlichkeit ins Land
gelassen worden, die Gedanken verne-
belt und blockiert.

Und natürlich wären Arbeitsangebote
gut und wichtig, aber die wird es kaum
geben in diesen Orten, in die kaum einer
freiwillig umsiedeln wird.            !

                  """

Gesammelte Pressestimmen
 aus Hohenloher Zeitung
      vom 22.08.07

Mannheimer Morgen
Hass und Vorurteile gedeihen auf dem
Nährboden von tatsächlicher oder ver-

                                                                 7
Nürnberger Nachrichten                              Literatur
Gilt es in manchen Regionen als gar
nicht so schlimm, Ausländer zu attackie-
ren? Dass die Festgäste den Pöbeleien
und dann den Attacken auf die Inder
                                                                      Das multi-literarische
tatenlos zusahen, deutet in diese Rich-
tung. Zivilcourage lässt sich leicht ein-
                                                                      Szenarium in Indien
fordern – aber wenn es brenzlig wird,
fehlt den meisten eben dieser Mut,                                           Annakutty Valiamangalam Kurien Findeis
gegenzuhalten. Nächte wie die von
Mügeln zeigen: Der Kampf gegen den
alltäglichen Rassismus samt seiner                  Gibt es die eine indische Identität? Die                ausbringt. Es gibt Anthologien der in-
Exzesse – er gehört in Deutschland zur              eine Identität wird charakterisiert von                 dischen Literaturen (z. B. von K.M.
leider notwendigen Daueraufgabe.                    einer Vielzahl von Identitäten, die auf                 George), ebenso Lexika zu den in-
                                                    Klasse, Kaste, Region, Religion und                     dischen Literaturen, auch ein spezielles
Mitteldeutsche Zeitung                              Sprache beruhen. Die wohl einzigartige                  Komparatives Literaturlexikon und eine
Nun aber kommt nicht die Stunde der                 Besonderheit Indiens besteht darin, dass                gesamtindische         Literaturgeschichte
Aufklärung, sondern die der ratlos rotie-           man grundsätzlich nur im Plural über                    (Sisir Kumar Das). Unter den zahlrei-
renden Reflexe. Die Polizei sieht keine             Indien sprechen kann. Indien ist ein plu-               chen Literaturzeitschriften möchte ich
Anhaltspunkte für einen rechtsradikalen             ralistischer Staat. Seine Pluralität ergibt             hier besonders das Journal „Indian Lite-
Hintergrund, der Bürgermeister ist be-              sich aus seiner geographischen Situa-                   rature“ der Sahitya Akademi nennen,
troffen und beteuert, dass es keine Neo-            tion, reflektiert sich in seiner Geschichte             das über die aktuellen Trends der ver-
naziszene in seinem Ort gibt. Und man-              und ist bestätigt von seiner Geschichte                 schiedenen indischen Literaturen be-
cher wird deshalb sein Bild vom Osten               und auch bestärkt von seiner Ethnogra-                  richtet. Es stellt indische Autorinnen und
als Hort rechter Gewalt einmal mehr be-             phie und sozialen Schichtung. Die Kom-                  Autoren vor, befasst sich mit Fragen der
stätigt sehen. Viel interessanter wäre zu           position und Komplexität der eigenarti-                 Übersetzung, bietet Beispiele von Tex-
diskutieren, wie selbstverständlich die             gen indischen Pluralität zeichnen sich                  ten, besonders auch der oralen Literatur.
neuen Braunen schon in der Mitte der                aus durch diachrone und synchrone                       Dazu werden regelmäßig Übersichten
Gesellschaft siedeln.                  !            Dimensionen sowie stabilisierende und                   über die Entwicklungen in Dichtung,
                                                    dynamisierende Entwicklungsfaktoren.                    Erzählungen, Dramen, Autobiographie,
                                                                                                            Essays und Folkliteratur zur Orientie-
                                                    Man kann Tharoor nur zustimmen, wenn                    rung veröffentlicht. Auf diese Weise ver-
                                                    er feststellt: „Die einzig mögliche Idee                mittelt das Journal einen aktuellen Zu-
                                                    von Indien ist die, dass die Nation                     gang zu Tendenzen in Bereichen der ein-
                                                    größer ist als die Summe ihrer Bestand-                 zelnen Sprachen und zu wechselseitigen
                                                    teile“. Und er fährt im Sinne unseres                   Einflüssen und Rezeptionen. In den
                                                    Themas fort: „Das indische Abenteuer                    Literaturkritiken und Essays stellt sich
                                                    ist das von Menschen verschiedener                      zudem die theoretische Auseinanderset-
   Ubuntu-Theologie –                               Ethnizitäten und Religionen, Kleidun-                   zung dar, wobei Trends in den Litera-
                                                    gen und Bräuche, Küchen und Farben,                     turszenen außerhalb Indiens ebenfalls
      Was ist das?                                  Sprachen und Akzente, die unter dem                     berücksichtigt werden.
 „Dass du in Isolation nie ein                      gleichen Dach zusammenarbeiten.“
 Mensch, nie wirklich menschlich sein                                                                       Literaturen und Autoren beweisen, dass
 kannst. Du brauchst andere, um                     Auch im Falle der Literatur fällt auf,                  linguistische Uniformität nie das Prinzip
 menschlich zu sein. Wir werden nie,                dass mehrere Epochen und Stadien der                    der Einheit Indiens gewesen ist. Das
 nie den Krieg gegen den Terror                     Entwicklung miteinander und nebenein-                   klassische Prinzip moderner Staatenbil-
 gewinnen, solange Menschen in Tei-                 ander gleichzeitig in Indiens kulturellem               dung „eine Nation – eine Sprache“ ist
 len der Welt unter Umständen leiden,               Kosmos von Sprachen und Literaturen                     nicht der Fall im Kontext Indiens, mag
 die sie verzweifeln lassen. Ubuntu                 existieren. Deswegen ist es problema-                   dieses vielleicht noch in der Verfassung
 heißt: Wir sind im Netzwerk wechsel-               tisch, ja wohl nicht möglich, von einer                 durch die Hervorhebung des Hindi nach-
 seitiger Abhängigkeit gefangen. Wir                indischen Literatur und einer indischen                 klingen. Doch da erscheint gleich auch
 können nur gemeinsam frei sein. Wir                Literaturgeschichte zu sprechen.                        Englisch, und es werden die vielen Spra-
 können nur gemeinsam sicher sein.                                                                          chen Indiens genannt. Entsprechend ent-
 Wir können nur gemeinsam wohlha-                   Dem wird z.B. dadurch Rechnung getra-                   grenzen sich die indischen Literaturen
 bend sein. Wir können nur gemein-                  gen, dass die zentrale Sahitya Akademi                  und treten in Beziehung. Nach Aijaz
 sam menschlich sein.“                              (Literaturakademie) in New Delhi zu je-                 Ahmed (Theory: Classes, Nations, Lite-
                     - Desmond Tutu,                der anerkannten Literatursprache einen                  ratures, 1993) gehört Multilingualismus
             früherer Erzbischof von Kapstadt und   Band der Geschichte der Literatur her-                  zum Wesen der indischen nationalen
                         Fiedensnobelpreisträger.                                                           Einheit. Ebenso ist die polyglotte Exi-
                                                    _____________________________________________
                                                    Prof. Dr. Annakutty V. K. Findeis ist Germanistin und   stenz ein Kennzeichen indischer Litera-
 (Quelle: Chrismon, 07.2007)                        emeritierte Professorin an der Universität Mumbai,      turkultur. Viele Dichter zwischen dem
                                                    Indien.
                                                                                                            10. und 19. Jh. n. Chr. haben oft mindes-

                                                                             8
tens in drei Sprachen gedichtet. Auch         dien mehr als die Summe aller Pluralis-      schmerzhaft an die arrogante und provo-
etliche zeitgenössische Dichter schrei-       men und auch all seiner Widersprüche...      kative Äußerung Salman Rushdies:
ben in mehr als einer Sprache: z.B. R.        Schon hat unser Abenteuer begonnen.          „¸Indo-Anglican’ literature represents
Parthasarathy in Tamil und Englisch,                                                       perhaps the most valuable contribution
A.K.Ramanujan in Kannada und Eng-             Indien redet in mehreren Zungen – und        India has yet made to the world of
lisch, Kamala Das in Malayalam und            all seine Stimmen verdienen Gehör. Es        books.“ (India’s National Magazine,
Englisch, Nagarkar in Marathi und Eng-        ist höchste Zeit, dass (das ganze) Indien    from the publishers of The Hindu,
lisch, um nur einige zu erwähnen. Wir         in seiner Polyphonie, besonders in sei-      vol.14, No.16: Aug. 9-22, 1997). Darü-
können vielleicht sagen, dass eher Ideen      ner Polyphonie der Literaturen wahrge-       ber hat sich nicht nur der renommierte
und Symbole und nicht „eine Sprache“          nommen wird. Die beiden Frankfurter          Autor Ananthamurthy, der in der dravi-
die Einheit Indiens bilden.                   Buchmessen, die Indien als Schwer-           dischen Sprache Kannada schreibt, geär-
                                              punkt hatten, haben etwas zur Wahrneh-       gert. (In Indien erinnert man sich noch
Interlingualismus                             mung der indischen Literaturvielfalt bei-    gut der Kolonialhybris des 19. Jahrhun-
Die Sprachen im indischen Kontext dür-        getragen. Indische Verlage repräsentier-     derts, die die Auffassung vertrat, dass es
fen nicht nur isoliert voneinander be-        ten die linguistische und thematische        die ganze klassische indische Literatur
trachtet werden. In vielerlei Hinsicht        Vielfalt, beeindruckten durch ihren Pro-     einschließlich der des Persischen nicht
schließt der Multilingualismus einen          duktionsstandard, wiesen auf die Kreati-     mit einem Werk des zivilisierten Europa
Interlingualismus ein. Das gilt nicht nur     vität der Autoren und die indische Lese-     aufnehmen könne!)
für die Sprachgrenzen überschreitende,        kultur in den vielen Sprachen hin. Den-
nicht selten synchron verlaufende mehr-       noch dominierten eher die englischspra-      Translating Cultures
sprachige Kommunikation, sondern              chigen Autoren, Werke und Übersetzun-        Ein praktisches und aktuelles Beispiel
auch für die interaktive und adaptive Be-     gen besonders in den Medien und Pres-        für die Vielfalt der Sprachen, der unter-
ziehung der Sprachen und Literaturen.         seorganen. Das ist die moderne Form          schiedlichen Tendenzen und für den
Dabei ergibt sich ein vielschichtiger lin-    der früheren Einseitigkeit einiger klassi-   kreativen Dialog der Literaten bietet das
guistischer Prozess. Dieser kann unter        schen indologischen Darstellungen der        „Multilingual Poet’s Forum“ in Mum-
Umständen auch zu einer Art Sprachen-         „Geschichte der indischen Literatur“,        bai. (Dieses trifft sich regelmäßig und
Patriotismus und zur Abwehr hegemo-           die die umfangreiche Literatur der ver-      veranstaltet Lesungen in verschiedenen
nialer Tendenzen führen, aber auch zur        schiedenen „modernen indischen Volks-        indischen Sprachen einschließlich des
Modernisierung und zur Ausweitung des         sprachen“ nur als Anhang oder als Aus-       Englischen.) In Verbindung damit wurde
Kommunikationsraums und der Aus-              blick auf die „neuindischen“ Sprachen        am Department of German der Univer-
drucksfähigkeit einzelner Sprachen.           und Literaturen zusammenfassten. An-         sität Mumbai ein Übersetzungsprojekt
Sprachen lassen sich nicht durch politi-      dererseits ist der gegenwärtige Trend in     initiiert. Das Ziel ist eine Anthologie
sche Grenzen einschließen oder aus-           der Literaturvermarktung auch ein Zei-       von literarischen Werken mehrerer indi-
grenzen. In diesem Vorgang spielen            chen dafür, dass die englischsprachige       schen Sprachen auf Deutsch zu erstellen
heute neben der Verbreitung von Presse        Ausdrucksform indischer Literatur ei-        und zu publizieren. Dieser Orientierung
und Literatur besonders Fernsehen             nen eigenen, anerkannten Status inner-       entsprechend haben wir im Februar
(Kabel- und Satelliten-Fernsehen), Film,      halb der vielen postkolonialen englisch-     2007 eine internationale Konferenz über
Rundfunk und mit zunehmender Bedeu-           sprachigen Literaturen und ihrer interna-    das Thema „Translating Cultures“ auf
tung das Internet, aber auch Reisen und       tionalen Förderungsstruktur gewonnen         dem Universitätscampus durchgeführt.
Migration regional, national und welt-        hat und auf dem globalen Markt des Li-       Die kulturelle und linguistische Plura-
weit eine Rolle. In der Bedeutung für die     teraturkonsums profitabel eingesetzt         lität Indiens und Mumbais spiegelt sich
Literatursprache nicht genügend beach-        werden kann. Dabei wird die Rolle der        auch in den Dichtern und Schriftstellern,
tet worden ist die Interaktion zwischen       anglo-indischen Literatur im Konzert         die mit der Faculty of Arts der Mumbai-
Schriftsprachen und oralen Sprachen,          der innerindischen Literaturen oft ein-      er Universität verbunden waren und
während immer wieder der Einfluss des         seitig von außen gewichtet. Die Überbe-      sind. Das muttersprachlich basierte
Sanskrit und seiner Literatur in der          tonung der technischen Fächer gegen-         Konzept der Übersetzungen möchte
Geschichte der Sprachen und Literatu-         über den humanistischen in der auf die       einen eigenen Beitrag leisten zu den an-
ren herausgestellt worden ist.                Karriere ausgerichteten Ausbildung be-       erkennenswerten Bemühungen in
                                              droht die muttersprachliche Kompetenz        Deutschland seit den 60er und besonders
Indien bedeutet heute: 22 Hauptspra-          und beeinträchtigt die Zukunft der litera-   80er Jahren, durch Anthologien die viel-
chen bzw. 24 Literatursprachen (nach          rischen Kreativität und Rezeption in den     sprachigen Literaturen Indiens (vor
der Sahitya Academi), Tausende von            indischen Sprachen. Angesichts der glo-      allem moderner Lyrik und Erzählungen)
Dialekten, Sprachen mit und ohne              balen Expansion des Englischen, die          deutschsprachigen Interessierten zu ver-
Schrift, mehr als eine Milliarde Men-         sich auch in Indien bis in die schulische    mitteln. Dabei haben sich besonders
schen, dazu das Ursprungs- und Zuwan-         Ausbildung auswirkt, können die in-          kleine Verlage (Draupadi u.a.) für die
derungsland mehrerer Religionen, ein          dischen Muttersprachen zu Fremdspra-         Übersetzung und Verbreitung indischer
gutes Duzend Traditionen klassischer          chen werden.                                 Literaturwerke eingesetzt.
Tänze und einer Vielzahl von Volkstän-
zen, circa 85 politische Parteien, zahllose   Die zeitgenössische Rezeptionsweise          Um die Problematik der hegemonialen
kulinarische Raffinessen, so z.B. etwa        mit dem eingeschränkten Blick auf die        Stellung vor allem der brahmanisch
300 Methoden Kartoffeln zu kochen,            englischsprachig verfasste und verfüg-       sanskritischen Sprache (neben anderen
wie Experten sagen ... Und doch ist In-       bare indische Literatur erinnert einen       klassischen indischen Sprachen) im

                                                                  9
Kontext des Sprachenpluralismus und               Konzept des Sanskrit als Ursprache          Völker und Kulturen des Subkontinents,
der Sprachenunterschiede bewusst zu               Indiens geleitet ist. Dann umfasst das      der Vielfalt der Sprachenfamilien (und
machen, sei hier ein Gedicht des Dalit-           Altindische das Vedische und das klassi-    der historischen Bedeutung des Dravidi-
Schriftstellers Arun Kamble aus Mum-              sche Sanskrit, darauf folgt das Mittelin-   schen) und der linguistischen Interaktion
bai erwähnt. In seinen Worten klingt das          disch (mit Prakrit und Pali), woran das     nicht gerecht.
Anliegen der Dalit-Bewegung unserer               sog. Neu- oder moderne Indisch (insbe-
Zeit an.                                          sondere mit Blick auf die „neuin-           Ohne alle Einzelsprachen und linguisti-
                                                  dischen“ Sprachen des nördlichen und        schen Beurteilungen (z.B. der Mon-
SPRACHE                                           zentralen Indien) anschließt. Diese         Khmer-Gruppe, der andamanischen und
mein knochenkauender Großvater                    Betrachtungsweise wird dem Sachver-         anderer Sprachen bzw. Dialekte, Misch-
am Verbrennungsghat                               halt der vor-sanskritischen und außer-      oder Übergangssprachen) zu nennen,
der ständige Bewohner meines Körpers,             sanskritischen Sprachgeschichte der         lässt diese Aufstellung den Reichtum an
der Haushalt der Tradition aufgehäuft
          auf seinem
Rücken,                                            Seminarbericht
bläfft mich an:
„Sprich, wie wir sprechen,
sprich, sage ich dir!“
                                                            „Tagores Enkel“ - Indische Literatur
                                                                unter Globalisierungsdruck
Im Buch herumblätternd,
einfach die Veden wiederholend,                    Das im letzten Jahr neu gegründete         -Jedes Jahr ein Literatur-Seminar
den Haarzopf eingefettet mit Butter-               Literatur Forum Indien e.V. führte von     durchführen
         schmalz,                                  1.06. bis 3.06.2007 ein Wochenendse-       - Einen Online-Newsletter über Ent-
sagt mir mein Brahmanenlehrer:                     minar in der Evangelischen Akademie        wicklungen in der Literatur-Szene
„Du Hurensohn, benutze die reine                   Iserlohn durch. Das Thema des Semi-        Indiens herausgeben
                  Sprache!“                        nars war „Indische Literatur unter         - Verstärkt Lesungen aus indischer
                                                   Globalisierungsdruck“. Es nahmen ca.       Regionalliteraturen anbieten
Nun frage ich Euch,                                25 Literaturinteressierte an dem Semi-     - Die professionellen Übersetzer, die
welche Sprache soll ich sprechen?                  nar teil. Darunter waren Professoren,      sich auf indische Literatur spezialisie-
                                                   Dozenten und Studenten aus den Uni-        ren, besser vernetzen
(Übersetzt aus dem Marathi von Annakutty V.K.F.    versitäten Köln, Bonn, Heidelberg und      - Stärker auf Übersetzung und Veröf-
im Gespräch mit dem Dichter)
                                                   Göttingen.                                 fentlichung von Romanen konzentrie-
                                                                                              ren, da es keinen großen Markt für
Multikulturalität, Sprachenpluralis-               Die Vorträge und die Diskussions-          Kurzgeschichten gibt.
mus und literarisches Szenarium                    beiträge haben sowohl im Plenum wie
Zur Verdeutlichung der Vielfalt und                auch in den Arbeitsgruppen die Aus-        Jose Punnamparambil, der 2.Vorsit-
Vielschichtigkeit einige Hinweise zu               wirkungen der Globalisierung auf           zende des Literatur Forum Indien, gab
den indischen Sprachen und Kulturen.               Menschen in Indien, wie dies in indi-      bekannt, dass er die Deutsch-Indische
Die Sprachen Indiens gehören im                    scher Literatur wiedergegeben wer-         Gesellschaft dazu angeregt hat, eine
Wesentlichen vier linguistischen Famili-           den, thematisiert. Die raschen Verän-      Bibliothek-Reihe indischer Gegen-
en an, deren Benennungen und Klassifi-             derungen, die unter dem Druck der          wartsliteratur aus 10 Landessprachen
zierungen zum Teil variieren können:               Globalisierung stattfinden, erschüttern    innerhalb der kommender 5 Jahre auf
1. Die indo-arische Gruppe (auch:                  das soziale Gefüge des Landes. Alte        Deutsch herauszugeben. Das Projekt
    indoeuropäische bzw. indo-irani-               Werte und Normen verlieren ihre Gül-       wird innerhalb der Gesellschaft ernst-
    sche) umfasst u.a. Sanskrit, Hindi,            tigkeit. Die Schwachen und die             haft diskutiert.
    Bengali, Marathi.                              Benachteiligten werden in die Ecke
2. Zur „dravidischen Gruppe“, die                  gedrängt. Die Fragen der Teilnehmer        Insgesamt leistete das Seminar einen
    kennzeichnend für Südindien ist,               an die Referenten waren: Wie reagie-       Beitrag dazu, die TeilnehmerInnen
    gehören u.a. Tamil, Malayalam,                 ren die Schriftsteller auf diese Verän-    über die neusten Entwicklungen in der
    Kannada, Telugu, auch Tulu, Toda               derungen? Auf welche Weise und mit         landesprachlichen Gegenwartslitera-
    an.                                            welchen Mitteln bringen sie heute ihre     tur Indiens zu informieren, sie für die
3. Der „austrischen bzw. austroasia-               Erfahrungen und Erkenntnisse zu            dort behandelten Themen zu sensibili-
    tische Gruppe“ sind z.B. die Munda-            literarischem Ausdruck? Welche Mög-        sieren und ihre Unterstützung für die
    Sprachen (bes. Santali) zugeordnet.            lichkeiten gibt es und was muss noch       Arbeit des Literatur Forum Indien
4. Zur „tibeto-burmesischen“ oder                  unternommen werden, um diese Lite-         anzufordern. Es war eine große Ge-
    „sino-tibetische Gruppe“ zählen                ratur der Gegenwart Indiens den deut-      nugtuung für die Veranstalter, dass
    Sprachen im Grenzbereich Indiens               schen Lesern zugänglich zu machen?         viele Teilnehmer sofort Mitglied des
    von Tibet bis Myanmar.                                                                    Forums wurden.
                                                   Es kamen auch viele interessante Vor-                   - Dr. Nirmal Sarkar und
Eine andere Gliederung der Sprachen                schläge von Seiten der TeilnehmerIn-                     - Jose Punnamparambil
versucht diese sprachgeschichtlich zu              nen. Einige davon:
ordnen, wobei die Leitperspektive vom

                                                                    10
Sprachen und deren Verschiedenheit ah-       historischer Roman, wissenschaftliche       Aufgabe, den innerindischen Austausch
nen, die eine gegenwärtig lebendige          Untersuchungen und Forschung, Ästhe-        zwischen den Sprachen und Literaturen
Sprachen-, Literatur- und Kulturge-          tik ausgezeichnet worden sind. In Assa-     zu unterstützen, ist in den letzten 10 bis
schichte auf dem indischen Subkonti-         mesisch wurden seit 1960 insgesamt 41       15 Jahren immer stärker herausgestellt
nent auszeichnet.                            Sahitya Akademi Awards vergeben. Den        worden. Dabei wendet man sich zuneh-
                                             Hauptanteil haben Werke im Bereich          mend auch den unterrepräsentierten oder
Die indische Verfassung akzeptiert 22        Romane, Dichtung und Kurzgeschich-          unbeachteten, zum Teil schon im Aus-
Sprachen (einschließlich Englisch, das       ten. Seit 1955 bis 2006 wurden in           sterben begriffenen Sprachen der Adiva-
als Adoptivsprache aus der Kolonialzeit      Malayalam insgesamt 48 Werke ausge-         si und gesellschaftlichen Klein- und
nun zu den indischen Sprachen gehört).       zeichnet, unter ihnen 15 Gedichte, 14       Untergruppen und der unzähligen Dia-
Welche sind die 22 Sprachen? Zu nen-         Romane, 5 Kurzgeschichten, aber auch        lekte und ihrer linguistischen und litera-
nen sind: Sanskrit, Hindi, Punjabi, Urdu,    Literaturkritik und literaturtheoretische   rischen Bedeutung zu. Vor allem dann,
Kashmiri, Bengali, Assamesisch,              Studien, Autobiographien, Literaturge-      wenn die Sprachen und ihre Literaturen
Manipuri, Oriya, Dogri, Nepali, Maithi-      schichte und Essays. Vergleichbare Sta-     nur in oraler Form bewahrt worden sind.
li, Rajasthani, Marathi, Gujarati, Konka-    tistiken finden sich zu allen Literatur-    In diesem Bereich ist noch viel zu tun,
ni, Sindhi, Tamil, Telugu, Malayalam,        sprachen und Literaturgattungen, die        vor allem in der Ethnolinguistik und
Kannada und Englisch. Tamil hat nun          Auskunft geben über die Gewichtungen        Ethnoliteratur. In einem anderen Be-
auch einen besonderen Status. Es wird        von Literaturgattungen, der Qualität des    reich, nämlich der alten und mittelalter-
wie Sanskrit zur klassischen Sprache         literarischen Schaffens, über Tendenzen     lichen Sprachen, ist es in den letzten 15
Indiens gezählt. Wir dürfen nicht verges-    in der indischen Literaturszene und         bis 20 Jahren wenigstens zum Teil zu
sen, dass sich die Vielzahl der Sprachen     schließlich über die Wertschätzung der      einer Wiederbelebung des Interesses ge-
in den Schriften widerspiegelt; manche       Autoren auf der Ebene der Literaturkri-     kommen, wovon aber das Persische
Sprachen haben sogar mehr als eine           tik.                                        noch nicht so sehr profitiert hat. Studien
Schrift, manche existieren nur oral. Es                                                  in Sanskrit, Prakrit und Pali sind durch
darf nicht unerwähnt bleiben, dass es        Besonders erwähnenswert scheint mir in      die Erforschung der brahmanischen, jai-
einige indische Sprachen gibt, die (auch)    unserem Rahmen die Förderung von            nistischen und buddhistischen Literatu-
die persisch-arabische Schrift verwen-       Übersetzungen als Beitrag zur inter-lin-    ren (z.T. mit politischer Unterstützung
den. Die Schriftengeschichte der in-         gualen Literaturkommunikation und zur       und Förderung vom Ausland) erneuert
dischen Sprachen ist dementsprechend         Verbreitung literarischer Werke unter       worden und haben so zur Entwicklung
komplex und viel diskutiert.                 Lesern eines derartig diversifizierten      der indigenen Indologie und der popula-
                                             Literaturmarktes in Indien. Erlaubt sei     risierenden Literatur beigetragen. Auch
Die nationale Sahitya Akademi fördert        ein Blick auf die ausgezeichneten Über-     diese Segmente gehören zur multi-lin-
alle Gattungen der 24 Literatursprachen      setzungen ins Malayalam (Mutterspra-        gualen Literaturszene Indiens, wie die
durch fast jährlich vergebene Auszeich-      che von circa 34 Mill. Indern). Von         Kataloge der Verlage ausweisen.
nungen. Seit 1986 unterstützt die Akade-     1989-2005 wurden 17 Übersetzungen
mie auch Übersetzungen in diesen Spra-       ausgezeichnet. Was wurde ausgezeich-        Einheit und Vielfalt
chen. Dazu wird erklärt: „The awards         net, und aus welcher Sprache waren die      Dies alles bestätigt und bekräftigt unse-
are meant to recognise and promote           Werke übersetzt? Unter den ausgezeich-      re These von der Multikulturalität bzw.
excellence in Indian writing and expan-      neten Titeln finden sich 10 Romane, 3       Pluralität: Die indische Kultur ist ein
ding the very definition of Indian litera-   Gedichtsammlungen, biographische            Kompositum – die Sprachen und Litera-
ture by acknowledging new trends and         Werke (2) und ein Kommentar. Ein            turen sind geprägt von diesen Interaktio-
movements. They are a reflection of cur-     Werk ist nicht kategorisiert. Die Über-     nen und der Interkulturalität. Also ein
rent tastes and contribute to the formati-   setzung erfolgte aus folgenden Original-    Turm von Babel? Ein Haus der Spra-
on of an Indian sensibility.“ Es gibt auch   sprachen: Tamil (4mal), Bengali (3mal),     chen, Kulturen und Literaturen!
fördernde Auszeichnungen für Literatu-       Marathi (4mal), Hindi (3mal), Englisch      Hinzuweisen ist hier auf das, was über
ren in nicht formell von der Sahitya         (1mal), Punjabi (1mal), Urdu (1mal).        die Einheit und Vielfalt der indischen
Akademi anerkannten Sprachen sowie           Die übersetzten Gedichtsammlungen,          Literaturen von Jawaharlal Nehru, dem
für Beiträge zu den klassischen und mit-     die eine Auszeichnung erhalten haben,       Gründungsmitglied der Sahitya Akade-
telalterlichen Literaturen. Die Arbeit der   stammen ausschließlich aus dem Tamil        mi, gesagt wurde: „It may, therefore be
nationalen Institution wie deren Wirken      (also aus dem Nachbarland und aus           said that each of these great languages is
auf der Ebene der einzelnen Staaten bie-     einer verwandten dravidischen Spra-         not merely the language of a part of
ten ein gutes Beispiel für die Vielfältig-   che).                                       India, but is essentially a language of
keit und die Wertschätzung des litera-                                                   India, representing the thought and cul-
rischen multi-lingualen Schaffens in         Solche Statistiken geben zumindest          ture (ich würde sagen: cultures) and
Indien.                                      einen Hinweis, dass von der staatlichen     development of this country in its mani-
                                             Ebene das literarische Schaffen in seiner   fold forms.“
Auszeichnungen                               Bedeutung für die indische Kultur und
Schauen wir in Auswahl auf die Aus-          Gesellschaft anerkannt und unterstützt      Es entwickelt sich eine einzigartige
zeichnungen, fällt z.B. auf, dass seit       wird. Die Auszeichnungen finden auch        Kommunikationsfähigkeit, und diese
1956 bis 2005 bereits 38 Sanskrit-Werke      in der Öffentlichkeit Beachtung und len-    braucht man wiederum, um in Indien
in den Kategorien Epos, Fiction, Lyrik,      ken jährlich die Aufmerksamkeit auf die     kommunikativ zu existieren. Man lernt
Essays, Mahakavyam, Kurzgeschichten,         komplexe Literaturszene Indiens. Die        in der Schule in einer Sprache, zu Hause

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spricht man eine andere bzw. die Mut-
tersprache, im Zug oder unterwegs oder
auf dem Markt spricht man wiederum
eine andere Sprache. Auf der Universität
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studiert man in Englisch oder in einer                                     Jiddu Krishnamurti
anderen Sprache. Eine Art polyglotte
Existenz. Man wohnt in einem Haus mit       Furcht, Freude und Leid, Denken und         selbst blockiert. Aber wenn Sie meinen,
vielen Sprachfenstern. In den Dörfern       Gewalttätigkeit haben einen inneren         dass es möglich sein mag, auf eine ande-
und unter Adivasi ist es nicht unbedingt    Zusammenhang. Die meisten Menschen          re Art zu leben, dann werden wir in der
so.                                         finden Gefallen daran, heftig und ge-       Lage sein, uns miteinander zu verständi-
                                            walttätig zu sein, andere Menschen nicht    gen.
Die Vielsprachigkeit auf dem indischen      zu mögen, eine besondere Rasse oder
Subkontinent hat sich schon sehr früh in    Gruppe von Menschen zu hassen oder zu       So lassen sie uns zusammen mit denen,
der klassischen Literatur niedergeschla-    verabscheuen, feindselige Gefühle           die verständigungsbereit sind, überle-
gen. Beispielhaft dafür ist Kalidasas       gegen andere zu hegen. Aber ein             gen, ob es überhaupt möglich ist, jeder
bekanntes Drama Abhijnanasakuntalam,        Mensch, in dem alle Gewaltsamkeit auf-      Art von Gewalttätigkeit in uns ganz und
wo die Charaktere dem sozialen Status       gehört hat, ist von einer Freude erfüllt,   gar ein Ende zu bereiten und dennoch in
entsprechend unterschiedliche Sprachen      die sich sehr von der Lust an der Ge-       dieser monströs-brutalen Welt weiter zu
im Dialog verwenden. Oder das patrioti-     walttätigkeit mit ihren Konflikten, ihren   leben. Ich halte es für möglich. Ich wün-
sche Lied „Vande Mataram“ von Bank-         Feindseligkeiten und ihren Ängsten          sche nicht, auch nur einen hauch von
im Chandra Chatterjee ist 1876 (veröf-      unterscheidet.                              hass, Eifersucht, Unruhe oder Furcht in
fentlicht 1882) in zwei Sprachen verfas-                                                mir zu haben. Ich möchte vollkommen
st worden: Sanskrit und Bengali. Es         Können wir bis zur Wurzel der Gewalt        in Frieden leben. Das bedeutet nicht,
wird von allen Bürgern Indiens heute        vordringen und von ihr frei sein? Sonst     dass ich sterben möchte; ich möchte auf
noch auswendig gelernt und inbrünstig       werden wir ewig im Streit miteinander       dieser prachtvollen Erde, die so weit, so
gesungen. Ebenso Janaganamana, von          leben. Wenn sie es vorziehen, in dieser     reich, so schön ist, leben. Ich möchte auf
Rabindranath Tagore 1911 in Bengali         art zu leben – und anscheinend ist das      die Bäume, Blumen, Flüsse, Wiesen,
verfasst, die Nationalhymne Indiens         bei vielen Menschen der Fall –, dann        Frauen, Knaben und Mädchen schauen
(1950), wird von allen Enkeln und           mögen sie es so weiter treiben. Wenn Sie    und zugleich im völligen Frieden mit
Enkelinnen bzw. von allen Bürgern ver-      sagen: „Es ist zwar bedauerlich, aber die   mir selbst und mit der Welt leben Was
innerlicht. In den Schulen wird sie         Gewalt wird niemals enden“, dann            kann ich (…)                            !
andächtig jeden Tag vor Schulbeginn         haben Sie und ich keine Möglichkeit der
rezitiert!                                  Verständigung, dann haben Sie sich          Quelle: Die Zeit 31.05.07

60 Jahre unabhängiges Indien sind auch
60 fruchtbare Jahre für die Sprachen und                            Jiddu Krishnamurti
Literaturen Indiens gewesen. Die Spra-
chenvielfalt ist nicht durch eine Sprache    War Philosoph und Psychologe. Er           beeinflusst, sein Credo war aber, dass
ersetzt worden. Sie ist vielmehr aner-       wurde 1895 in Madanapalle, Indien,         jeder Mensch abseits bestehender
kannt und kreativ wirksam geblieben.         als achtes Kind einer orthodoxen           Methoden, Ideologien und Religionen
Der Kommunikationsbereich hat sich           Brahmanenfamilie geboren und starb         seine eigene Lebenswahrheit finden
zudem global erweitert. Dabei gewann         1986 in Ojai, Kalifornien. Als 13-         solle. Dies solle ohne Angst, auf fried-
Englisch international an Bedeutung;         Jähriger wurde er von der Theosophin       liche und uneigennützige Weise ge-
davon haben auch einige indische Lite-       Annie Besant adoptiert, welche ihn als     schehen, denn nur so könne der Ein-
raten ihren Vorteil gehabt. Englisch hat     den wiedergeborenen Messias und            zelne in die Obhut jener universellen
sich vor allem wirtschaftlich, wissen-       künftigen „Weltlehrer“ ansah und in        Liebe gelangen, welche alle Menschen
schaftlich und technologisch für Indien      England erziehen ließ. Als 34-Jähriger     vereine. Jiddu Krishnamurti reiste in
als nützlich erwiesen. Doch die indi-        warf Krishnamurti die Bürde dieser         den siebziger und achtziger Jahren des
schen Sprachen und Literaturen haben         gewaltigen, auf ihn projizierten Heils-    vergangenen Jahrhunderts als Lehrer
auch einen inner-asiatischen linguisti-      erwartung ab und entwickelte seine         und Redner um die ganze Welt und
schen und kulturellen Kontext, der seit      Philosophie der völligen geistigen         gründete Schulen in Indien, Großbri-
etwa 20 Jahren wirtschaftlich und poli-      Freiheit. Sie basiert auf der Formel       tannien und den USA. Zu seinen
tisch immer stärker wird. In den kom-        „Truth is a pathless land“ (die Wahr-      Freunden und Weggefährten zählten
menden Jahrzehnten wird das multi-lin-       heit ist ein Land ohne vorgebahnte         George Bernard Shaw, Aldous Huxley,
guale und -literarische Szenarium In-        Wege). Krishnamurti war wohl vom           Indira und Rajiv Gandhi.
diens durch diese Entwicklung mit ge-        Taoismus und vom Zen-Buddhismus
prägt werden. Die Pluralität der Spra-
chen, Literaturen und Kulturen wird für
die Interaktion Indiens mit den Entwick-    nologisch wichtig gewordene Sprache         (Vortrag gehalten an dem Seminar „Tagores
                                                                                        Enkel“ - Indische Literatur unter Globalisierungs-
lungszentren der Welt ein Kompetenz-        „Englisch“ diese Pluralität verdrängt       druck vom 1. bis 3. Juni 2007 in der Ev. Akademie,
und Kommunikationsvorteil sein, wenn        durch eine subtile Diktatur des Sprach-     Iserlohn)
nicht die global, ökonomisch und tech-      und Technokolonialismus.             !

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