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MEINE WELT Zeitschrift des Deutsch-Indischen Dialogs 60 Jahre unabhängiges Indien Dietmar Rothermund Albrecht Frenz P. Chidambaram Gopal Kripalani Hans-Georg Wieck Monika Kirloskar-Steinbach Devinder Sharma George Arickal Josef Winkler Hans-Jürgen Findeis Sunita Narain Gail Omvedt Annakutty V.K. Findeis Tatiana Oranskaia Heft 2 / Jahrgang 24 Sonderausgabe September 2007
Pratibha Patil Eine Frau ist Indiens neue Präsidentin Indien ist immer gut für eine Überra- Armutsgrenze zu ermöglichen. Sie for- schung. Nachdem die Dalit-Frau Maya- dert eine praxisorientierte Anwendung wati Ministerpräsidentin des bevölke- von Wissenschaft und Technologie, rungsreichsten Bundeslandes Uttar Pra- „empowerment“ von Frauen sowie die desh wurde, ist nun eine andere Frau, Wichtigkeit ländlicher Entwicklung. nämlich Pratibha Patil, als Staatsober- Nur wenn die sozialen Übel wie die Ab- haupt Indiens gewählt worden. Das offi- treibung weiblicher Föten und Kinder- zielle Wahlergebnis lautet: Mit 638.116 heirat beseitigt seien, könne wirkliche Stimmen des Wahlkollegiums, das sich Frauenemanzipation beginnen, meinte aus den Abgeordneten beider Häuser des sie in einem Interview mit der nationa- indischen Parlaments sowie Abgeordne- len Zeitung, „The Hindustan Times“ ten aller Parlamente der Unionsstaaten (16.6.2007). zusammensetzte, besiegte sie ihren Her- ausforderer, den bisherigen Vize-Präsi- So haben wir heute 3 Frauen an der Spit- denten Bhaira Schekhawat, mit einem ze der Macht in Indien: Sonia Gandhi als deutlichen Vorsprung von 306.810 Stim- Vorsitzende der regierenden Congress men im Rennen um das höchste Staats- Pratibha Patil für zwei Jahre stellvertre- Partei, Mayawati als Ministerpräsidentin amt. tende Vorsitzende des indischen Ober- des Unionsstaats Uttar Pradesh und nun hauses (Rajya Sabha). 2004 wurde sie Pratibha Patil als Präsidentin der Repu- Pratibha Patil ist langjährige Congress- als Gouverneurin von Rajasthan er- blik Indiens. Der seit Indiens Unabhän- Politikerin und gilt als loyale Person an nannt. Und dann kam ihre Wahl zum gigkeit begonnene demokratische Pro- der Spitze. Die 73-jährige Anwaltstoch- Amt der Präsidentin am 19.07.07. zess hat den Frauen wahrlich eine Chan- ter begann bereits 1962 ihre politische ce gegeben, sich in Politik und Gesell- Karriere in Congress in Maharashtra und Pratibha Patil ist bekannt als eine Politi- schaft sichtlich mehr Einfluss zu ver- bekleidete während einer Spanne von kerin aus Stahl, aber auch als Befürwor- schaffen! 20 Jahren verschiedene Ministerämter terin von praktischen Lösungen in der - Jose Punnamparambil – u.a. Gesundheit und städtische Ent- Politik. Sie betont den notwendigen wicklung – in den Congress- Landesre- Kampf gegen die Armut, um möglichst (Basiert auf Informationen von Klaus Julian Voll, gierungen. Ende der 80-er Jahre wurde allen InderInnen ein Leben oberhalb der Neu Delhi) MEINE WELT Redaktionelle Mitarbeit: Zeitschrift des Deutsch-Indischen Dialogs Dr. Elisabeth Lauschmann Heft 2 / Jahrgang 24 / September 2007 Unterstützung und Beratung: Pater Ignatius Chalissery; Köln; Dr. Urmila Goel, Bonn; Hans Gerd Gre- velding, Köln; Dr. Martin Kämpchen, Santiniketan, Indien; Dr. Ajit Lok- Herausgeber: hande, Jülich; Walter Meister, Öhringen; Heinz Müller (Vertreter des Her- Diözesan-Caritasverband, ausgebers), Köln; Pfarrer Ulrich Oligschläger, Königswinter; Dr. Claudia Abteilung „Migration“, Warning, Lohmar Georgstr. 7, 50676 Köln, Tel.0221 / 20 10 287 Gestaltung und Layout: Jose Punnamparambil; Jose Ukken Redaktion: Herstellung und Vertrieb: Jose Punnamparambil (verantwortlich), Grüner Weg 23, Jose Ukken, Im Rheingarten 21, 53639 Königswinter, 53572 Unkel-Scheuren, Tel. 02224 / 7 53 17 Tel. 02223 / 49 49; e-Mail: joseukken@googlemail.com e-Mail: punnam@t-online.de Dr. Sushila Gosalia, Franconvillestr. 9, 68519 Viernheim, Druck: Siebengebirgs-Druck, Karlstraße 30, 53604 Bad Honnef Tel. 06204 / 7 88 01; e-Mail: sula.gosalia@worldonline.de Erscheinungsweise: zwei- bis dreimal jährlich Thomas Chakkiath, Novalisstr. 45, 51147 Köln, Eine Spende von mindest. 13 Euro wird von den Lesern erwartet. Tel. 02203 / 2 26 54; e-Mail: Chakkiath@aol.com Konto-Nr.: 106 3205, Bank für Sozialwirtschaft Nisa Punnamparambil, Grüner Weg 23, 53572 Unkel-Scheuren (BLZ 370 205 00), Diözesan-Caritasverband, Köln Tel. 02224/9897690; e-Mail: Daniel.Nisa@t-online.de Titelbild: (Quelle: Perspektiven Indien, Januar 2000 und „The Economic Times“ Special, August 1997) Rückseite: „Parvati und Ganesh“ – Volkskunst (Quelle: Perspektiven Indien, August 1994) 2
Editorial 60 Jahre Unabhängigkeit Indiens Eigenlob..... Ernüchterung..... Nachdenken! Indien erstrahlt im hellen Glanz seines Fortschritts, doch es gibt auch dunkle Wolken, die seinen Himmel trüben. Gewiss, in den vergangenen 60 Jahren hat 70 Prozent der Bevölkerung leben, bleibt Gerechtigkeit für alle Schichten der Gesell- das Land ordentliche Leistungen erbracht: auf der Strecke. Ein höheres Wirtschafts- schaft garantiert, den großen Umwelt- und Beim Aufbau seiner Demokratie, im Bil- wachstum gibt keine Verteilungsgerechtig- Klimakatastrophen vorbeugt und Rücksicht dungs- und Gesundheitswesen, vor allem in keit her. Die Reichen werden reicher, die auf die Begrenztheit der Ressourcen nimmt? der Wirtschaft. Indiens führende Stellung in Armen ärmer. Soziale Spannungen wachsen. Wissenschaft und Technologie ist heute Regionalismus, Kommunalismus, religiöser Diese und ähnliche Fragen müssen gestellt unangefochten. Das Land hat in den letzten Fundamentalismus und Gewaltbereitschaft werden, auch wenn Menschen, seien sie Jahren traumhafte Wachstumsraten von 8 bis unter den Marginalisierten kennzeichnen indisch oder nicht, sich positiv auf erreichte 9 Prozent erzielt. Indien gewinnt ständig an auch das Bild eines Indiens im Aufbruch zu Fortschritte beziehen möchten bzw. diese zu politischem Gewicht als führendes Schwel- seiner modernen Identität. Recht feiern wollen. lenland in der internationalen Arena. Wird Indien in der Lage sein, die extreme 60 Jahre Unabhängigkeit Indiens – das ist Aber es gibt auch eine Kehrseite, die nicht so Armut im Lande bis zum Jahr 2020 zu besei- das Schwerpunktthema dieses Heftes. Wir glänzt. Mindestens 250 Millionen InderInnen tigen, wie es sich der ehemalige Präsident freuen uns sehr, dass es uns gelungen ist, ein leben heute von weniger als einem halben Abdul Kalam zum Ziel gesetzt hat? Wird es breites Spektrum von Meinungen und Ein- Dollar pro Tag, d.h. in absoluter Armut. der politischen Führung im Lande gelingen, schätzungen zu diesem Thema von namhaf- Noch können 350 Millionen InderInnen nicht die 150 Millionen Muslime wirtschaftspoli- ten Indien-Kennern und Fachleuten zu ver- lesen und schreiben. Die Infrastruktur des tisch und soziokulturell zu integrieren? Ist sammeln und hier abzudrucken. Wir von der Landes bleibt weiterhin unterentwickelt, lei- das Land in der Lage, ein alternatives Ent- Redaktion hoffen, dass Ihnen die Lektüre det sehr unter dem Mangel an notwendigen wicklungsmodell zu entwerfen und zu reali- Spaß macht. Herzlichst Ihr Investitionen. Die Landwirtschaft, von der sieren, das ein Mindestmaß an sozialer Jose Punnamparambil Meine Welt Zeitschrift des Deutsch-Indischen Dialogs Heft 2 / Jahrgang 24 September 2007 Inhalt Editorial 3 Die Zukunft Indiens .... 34 Tagore, Gandhi und ein wenig ..... (Geschichte) 4 - Prof. Dr. Annakutty V.K. Findeis - Theodor Ebert Willkommen im glänzenden Indien (Gesellschaft) 36 Ausschreitungen in Mügeln (Gesellshcaft) 6 - Gail Omvedt - Lutz Rathenow Als Indologin beklage ich die .... 37 Das multi-literarische Szenarium .... (Literatur) 8 - Prof. Dr. Tatiana Oranskaia - Prof. Dr. AnnakuttyValiamangalam Kurien Findeis Die herzlichsten Glückwünsche, Indien! 38 Erwachendes Interesse an indischer .... (Interview Aktuel) 13 - Gopal Kripalani - Prof. Dr. Brigitte Brenzing Gesetze und Umweltbewegungen in Indien (Umwelt) 41 Eine Unberührbare ist Ministerpräsidentin ... (Politik) 16 - Sunitha Narain - Thomas Chakkiath 60 Jahre Indien - Nachdenken über .... 42 Ein Brief von Sitakant Mahapatra (Literatur) 19 - Prof. Dr. Hans-Jürgen Findeis Die indischen Katholiken sind ..... (Interview Aktuell) 20 Zwei Drittel der Inder überleben mit .... 44 - Weihbischof Dr. Heiner Koch - Devinder Sharma Müllsammler in Pune, Indien (Mensch und Umwelt) 21 Die Bedeutung von Gandhis .... (Alternative Ansätze) 46 - Rainer Hörig - Dr. Sushila Gosalia 60 Jahre unabhängiges Indien 23 Eine Utopie für Indien 49 Die Mittelklasse steht ... (Interview Aktuell) 23 - Jose Punnamparambil - Prof. Dr. Dietmar Rothermund Die letzte Rupie (Kurzgeschichte) 50 Der Weg der Reformen geht weiter (Wirtschaft) 25 - Anandibai Kirloskar - P. Chidambaram, Finanzminister Indiens Zwei Gedichte 53 Die größte Leistung Indiens besteht ... (Meinung) 27 - Dr. Albrecht Frenz Lautes Querdenken über die Welt ..... (Philosophie) 54 - Gopal Kripalani Beide Nationen bereichern sich gegenseitig 29 - Josef Winkler Nisten (Kurzgeschichte) 56 - E. Santhoshkumar Quo Vadis Indien? 30 - Dr. George Arickal OM-Brahma Vision (Meditation) 59 - Dr. med. Deba Brata Roy Indien 1947 - 2007 (Interview Aktuell) 32 - Dr. Hans-Georg Wieck Buchbesprechungen 60 3
Geschichte Tagore, Gandhi und ein wenig bekanntes Gedicht aus dem Jahre 1940 Theodor Ebert Verkürzte Fassung eines Vortrages, den Prof. Dr. Theodor Ebert am 7.5.2007 in der indischen Botschaft in Berlin anlässlich des 146. Geburtstags Rabindranath Tagores gehalten hat. - Die Redaktion Wie war das mit dem Verhältnis Tagores Zusammenarbeit mit der englischen in Rom als dem Antichristen – und Lucas zu Gandhi? Wenn man es unverblümt Kolonialmacht mit dem Ziel der natio- Cranach hat dies mit einer kontrapunk- formuliert, dann kann man sagen: Die nalen Unabhängigkeit war Tagore zu tischen Holzschnittserie noch befördert – beiden schätzten einander, aber sie wenig. Seine Idealvorstellung des künf- der Boden bereitet für die Religionskrie- waren sich in wichtigen strategischen tigen Indien war eine umfassendere. In ge. Und auf den Scheiterhaufen brann- Fragen nicht einig. Und es ist schwer zu seiner Vision sollte Indien den Aus- ten dann später katholischer- und evan- entscheiden, wer von den beiden Recht gangspunkt einer kulturellen Weltge- gelischerseits die Ketzer und die Hexen. hatte, zumal dieser Diskurs Lerneffekte meinschaft bilden, die durch Koopera- Da wusste Tagore besser Bescheid als hatte. tion und nicht durch nationale Abgren- Gandhi. Er fühlte sich dem europäischen zung zustande kommen würde. Geist der Aufklärung verbunden und Gandhi war aus Südafrika nach Indien er hat auch sehr kritisch reagiert, als zurückgekehrt und war innerhalb kurzer Dass die indischen Schüler und Studen- Gandhi im Zusammenhang mit seinem Zeit zum anerkannten Führer der indi- ten nun die englischen Schulen und Uni- Kampf gegen die Diskriminierung der schen Unabhängigkeitsbewegung ge- versitäten boykottieren sollten, empfand Unberührbaren ein schweres Erdbeben, worden. Er setzte ausschließlich auf die er als zu negativ, weil und solange die das viele Tausende tötete, als Strafe in Südafrika bewährten gewaltfreien Unabhängigkeitsbewegung keine eigen- Gottes für die Sünde der Unberührbar- Methoden, die er unter dem Stichwort ständigen Alternativen anbieten konnte. keit interpretierte. „Satyagraha“ zusammenfasste, worunter Auch der Boykott englischer Tuche er nun doch mehr als „passiven Wider- leuchtete ihm nicht ein, weil er einen Gandhi war am Anfang seiner gewalt- stand“ verstand. Und hierin bestand Zusammenhang zwischen ökonomi- losen Kampagnen in Indien sehr zuver- wohl schon die erste Verständigungs- scher und kultureller Zusammenarbeit sichtlich. Er bildete sich wohl ein, er schwierigkeit zwischen Gandhi und sah. Gandhis Kritik der Mechanisierung könne den Tiger reiten. Tagore hatte Tagore, der vorläufig bei dem engli- der Arbeit empfand er als Maschinen- meines Erachtens das bessere Gespür als schen Terminus „passive resistance“ stürmerei. Gandhi für die Massenpsychosen, die blieb, der dann im europäischen Kontext sich mit dem Anstecken von Scheiter- beim sogenannten „Passiven Wider- Als Gandhi dann auch das Verbrennen haufen entflammen. Er hatte geahnt, stand“ im Ruhrkampf im Jahre 1923 englischer Kleidung auf Scheiterhaufen dass es 1920 noch nicht möglich sein auch der zentrale Begriff war für die befürwortete, lehnte Tagore dies klar würde, eine disziplinierte, ganz Indien Nichtzusammenarbeit von Deutschen und deutlich ab, weil er mit diesem Ver- überziehende, wirklich gewaltfreie Be- und Franzosen. brennen von Produkten der westlichen wegung auszulösen. Tagore misstraute Kultur zu viele negative Emotionen ver- den Massen und er sah vorher, was dann „Noncooperation“ bunden sah. Vielleicht hätte Gandhi sei- auch Gandhi nach dem Verbrennen und Der zentrale Begriff für Gandhis Unab- nen weltläufigen, hoch gebildeten Erschlagen von Polizisten in der Wache hängigkeitskampagne – er sprach von Landsmann besser verstanden, wenn er von Chauri Chaura als seinen „himalaja- „Swaraj“ – war „noncooperation“, also geahnt hätte, dass die Nazis nach der großen Irrtum“ bezeichnen und mit dem Nichtzusammenarbeit. Gandhi progno- Machtergreifung Bücher verbrennen Abbruch der Kampagne und mit einem stizierte: Unabhängigkeit innerhalb ei- würden. Wer Scheiterhaufen ansteckt, Sühnefasten beantworten musste. nes Jahres, wenn diese Strategie der muss – und dies ist eine Lehre der Nichtzusammenarbeit mit den eng- Geschichte – damit rechnen, dass darauf Konstruktive Aktionen lischen kolonialen Institutionen konse- eines Tages auch Menschen verbrannt Gandhi hat dazugelernt. Er achtete in quent eingehalten wird. werden. Doch wir Europäer haben hier Zukunft noch mehr auf Disziplin, ver- auch noch nicht genügend gelernt aus traute nur noch auf eine geprüfte, trai- Tagore, obwohl selbst früher ein Befür- unserer Geschichte. Der deutsche Prote- nierte Gruppe von Satyagrahis und teste- worter von „Swadeshi“, also der natio- stantismus hat immer ein ganz naiv glo- te seine Methoden künftig zunächst in nalen Selbständigkeit Indiens, war die- rifizierendes Verhältnis zu Luthers Hel- begrenzten, überschaubaren Bezirken. ses Mal nicht entzückt. Ihn störte die dentat, die päpstliche Bannbulle vor den Und noch etwas hat er vielleicht von negative Konnotation bei dem Begriff Toren Wittenbergs zu verbrennen. Dabei Tagore gelernt: Er betonte künftig neben der noncooperation. Verneinung der wurde mit der Verteufelung des Papstes den Verweigerungshandlungen ganz 4
besonders auch die konstruktiven Aktio- Doch als Mann des Theaters hatte Tago- Mohandas Friedefürst Gandhi nen, ja er sagte zugespitzt: Ziviler Unge- re sehr viel Sinn für Gandhis Fähigkeit, Um die Stirn der Schar dieses Fürsten horsam ohne konstruktive Aktion ist gewaltfreie Aktionen zu inszenieren. schlingt sich ein einigend Band: bloßes Abenteurertum und schlimmer Aus solchen Szenen ist auch das Gedicht Erpresse nichts von den Armen als nutzlos. aufgebaut, das Tagore anlässlich von und knie’ vor den Reichen nie! Gandhis Besuch in Santiniketan schrieb Doch er verteidigte auch das Programm und das exemplarisch Gandhis Strategie Und wenn sie uns drohen der Noncooperation, und zwar mit dem in poetische Bilder fasst. Er gab dem und ihre Fäuste und Keulen Argument, dass es in Indien nicht um die Gedicht den Titel „Gandhi Maharaj“. und ihr stierender Hass uns trifft, harmonische Zusammenarbeit zwischen so bewahren wir uns ein Lächeln den Kulturen gehe, jedenfalls noch Ich wüsste nicht, dass es eine bengali- und fragen zurück: nicht, sondern um das Aufkündigen sche Fassung gibt. Eine solche hätte Wen wollt ihr schrecken, einer „freiwilligen Knechtschaft“. auch Gandhi nicht verstehen können. wem wollt ihr drohn? Gandhi nahm damit die heute in der Tagore hat das Gedicht wahrscheinlich Wir sind nicht furchtsame Kinder! Soziologie gängige Unterscheidung auf Englisch geschrieben. Es hat propa- zwischen symmetrischen und asymme- gandistischen Charakter und es ist von Wir wollen das Ja, trischen Konflikten vorweg. eingängiger Simplizität, aber dies war wir wollen das Nein auch ein Kennzeichen von Gandhis im und nicht diplomatische Ränke. Symmetrische Konflikte sind solche, in besten Sinne des Wortes populistischer Die Botschaft ist einfach, denen gleichartige Gegner aufeinander Strategie. Tagore hat die strategischen die Mittel sind klar: treffen. Das klassische Duell mit Pisto- Prinzipien Gandhis sehr gut verstanden. Wir pilgern direkt ins Gefängnis. len oder Degen ist ein symmetrischer Bei meiner Übertragung des englischen Konflikt. Zwei ähnlich ausgebildete Textes habe ich einige Anleihen bei Und wenn der Zug sich am Tore drängt, Kontrahenten begegnen sich mit glei- Luthers Sprache der Bibelübersetzung wenn die Gefängnisse füllen die Massen, chen Waffen. Selbst den Ost-West-Kon- gemacht. dann fallen von uns die Ketten: flikt zwischen dem Warschauer Pakt und Die Schmach von alters vergeht, der NATO konnte man als symmetri- und von den Stirnen leuchtet schen Konflikt begreifen. Doch der sein Segen. ! Konflikt zwischen der englischen Kolo- nialmacht und den Indern war ein asym- metrischer Konflikt. Auf der einen Seite Einmal Ayurveda und zurück stand die Kolonialmacht mit ihrer Büro- kratie und ihrer Armee und auf der ande- Öl, überall Öl. Die Haut, die Haare, ten Vatas, die erdenschweren Kaphas ren Seite standen die ausgebeuteten und der Tisch, alles voll Öl. Splitternackt und die feurigen Pittas. Wenn diese dazu hin noch ziemlich unterwürfigen und ungelenk liege ich auf der Bank drei Doshas außer Balance geraten, ist Massen der Inder. aus hartem Holz. Liegen? Glitschen eine Behandlung angebracht – beste- trifft es besser. Ohne Hilfe könnte ich hend aus gesunder Ernährung, Bewe- Nach Gandhis Auffassung ging es zu- gar nicht mehr aufstehen. Die beiden gung und Entgiftung, zu der auch das nächst einmal darum, die Unterwürfig- indischen Therapeutinnen gießen im- Ölbad beiträgt. keit und die Anpassung an die englische mer neues Sesamöl über Rücken und Kolonialmacht zu überwinden. Das hat Bauch. Es riecht erdig-würzig. Sechs Elegant wie eine Artistin hängt Deepa der Schöngeist Tagore, der im Westen Liter werden es am Ende sein. „Das an einem Seil an der Decke. Mit dem hofiert wurde, nur mit Einschränkung Ölbad ist sehr gut für die Haut“, sagt rechten Fuß fährt sie auf meinem kapiert. Die Aufkündigung der „freiwil- Deepa sanft. Das Stillliegen in Öl ist Bauch Schlittschuh. Von der ausge- ligen Knechtschaft“, die Rudyard der Höhepunkt der Ayurveda-Behand- streckten Hand über den Arm, die Kipling euphemistisch als „the white lung. Zuvor hat Deepa jeden Finger- Brust bis zum Bauchnabel. „High or men’s burden“ bezeichnete, konnte man knöchel, jede Zehe jeden Wirbel ange- low pressure?“, stärker oder lieber ein der Kolonialmacht am besten unter die fasst. Ihre Handgriffe waren mal flüch- wenig schwächer? Mit den Füßen Nase reiben, und auch das indische tig wie der Flügelschlag eines Schmet- massiert zu werden ist gewöhnungsbe- Selbstbewusstsein konnte man am be- terlings, mal erinnerten sie an das dürftig – in Indien normal. Wer will, sten wecken und stabilisieren durch Pro- Klopfen einer Kokosnuss. kann sich auch einen Stirnguss verab- testaktionen – und, wie Gandhi zu beto- reichen lassen. Heißes Kräuteröl fließt nen lernte, durch konstruktive Aktionen Massage der Artistin über den Kopf und nimmt alles mit: bzw. durch die Überwindung eigener Die junge Frau arbeitet normalerwei- Stress, Unruhe, Zeitgefühl. Im Garten Missstände, zu denen er vor allem die se im Panchakarma-Institut von Dr. wartet ein beeindruckender Holzbot- Diskriminierung der Unberührbaren Franklin in Kerala, im südwestlichen tich mit 36 Grad warmem, sprudeln- rechnete. In letzterer Hinsicht stimmte Zipfel Indiens, der Heimat von Ayurve- dem Wasser. Tagore Gandhi durchaus zu, aber er da. Ayurveda ist Sanskrit und bedeutet - Petra Kistler legte darauf nicht so viel Gewicht. Wissen vom Leben. Die traditionelle Gandhi war nun mal näher dran an den indische Medizin teilt die Menschheit (Aus: „Ayurveda in Südbaden“, Das Parlament- 11.06.07) indischen Massen als Tagore. in drei Gruppen ein: Es gibt die leich- 5
Gesellschaft Ausschreitungen in Mügeln In Mügeln wurden am 19.8.2007 acht Inder durch die Stadt gejagt. Dazu Meinungen, Presseerklärung, Pressestimmen. Der lästige Osten tischen Leben garniert – auf der einen Seite. Und die mehr oder weniger nett Mügeln und die Jugend herausgeputzte Trostlosigkeit kleiner Lutz Rathenow Städte, großer Dörfer in endindustriali- sierter Landschaft auf der anderen Seite. Das letzte Kino schloss, Gaststätten sind In der Juni-Ausgabe 2007 veröffentlichte die Redaktion den kurzen Beitrag „Deut- zu teuer, die engagierten jungen Frauen sche Zustände“ – Hälfte der BürgerInnen fremdenfeindlich. Bereits vor Druckfrei- gingen weg, für Sex gegen Geld fehlt es gabe führte der Vertreter des Herausgebers eine inhaltliche Diskussion mit dem an Geld in einem Leben zwischen Ar- Schriftleiter darüber, ob es journalistisch Sinn macht, eine solche kurze Meldung beitslosigkeit, 1-Euro-Jobs oder doch (übernommen aus „Frau und Mutter“ 02.2007) unkommentiert abzudrucken. nur noch Sozialhilfe, weil man den pünktlichen Gang zum Amt nicht mehr Wir waren uns schnell einig darin, dass die Bewertung des Begriffs „Fremden- auf die Reihe bringt. Teile dieser Gene- feindlichkeit“ grundsätzlich eher einer differenzierten Auseinandersetzung bedarf. ration leben von den Ersparnissen und Der Abdruck erfolgte dennoch einvernehmlich, da es der Anspruch der Redaktion Renten der Eltern, die Situation wird war, damit nach Möglichkeit eine Diskussion unter den LeserInnen zu ermöglichen sich also weiter zuspitzen. und anzufachen. Männerbünde sind die Familienersatz- Im Zusammenhang mit den durch nichts zu entschuldigenden Ausschreitungen perspektive, der Stehtisch vor der Imbiss- gegen indische Mitbürger in Mügeln brachte das „Deutschlandradio Kultur“ am bude ein Lebensmittelpunkt. Die soziale 24. August ein „Politisches Feulliton“ des in Jena geborenen Lutz Rathenow. Die- Komponente wird ergänzt durch eine ser Beitrag beschreibt treffend wie differenziert mit dem pauschalierenden Begriff mentale. Dieses Stadt-Land-Gefälle „rechtsradikal“ und daraus abgeleitet „Fremdenfeindlichkeit“ umgegangen wer- kannte ich schon in meiner Jugend. Den den sollte. Er gibt einen deutlichen Fingerzeig auf soziale Probleme im „deutschen Dorftanz einiger Ortschaften galt es für Osten“ und eignet sich gewiss die kurze Meldung „Deutsche Zustände“ zu ergän- Auswärtige zu meiden. „Unsere Hühner zen. Rathenow kommt zu dem Schluss, dass die sozialen Probleme vielen Jugend- bumsen wir selber!“ ein Spruch, der lichen im Osten etliche Gruppen zum Feind mache, aber „den Inder garantiert Minderwertigkeitskomplexe verriet. Zu nicht.“ ausländerfeindlichen Auseinanderset- - Heinz Müller, zungen kam es damals nicht in Erman- Vertreter des Herausgebers gelung dieser. Auch heute wachsen Jugendliche heran, die einfach zu wenig Der Stumpfsinn hat viele Namen und kann, wie es dazu kommen konnte. Aus Fremdes sehen und erleben - im realen Gesichter. In den seltensten Fällen ist er einem friedlichen Neben- oder Mitein- Leben, während sie medial mit dem Gla- rechtsradikal organisiert. Der geschulte ander heraus entstehen blitzschnell mour einer Erlebniswelt gefüttert wer- und strategisch agierende Rechtsradika- Gruppenidentitäten. Sie bauen auf dem den, die nach Mügeln, Wustrow oder le ist international um Vernetzung be- auf, was unterschwellig vorhanden ist. Wurzen nicht kommt. Die Spannung müht – wie beim immer wieder versuch- Ja, der Osten ist fremdenfeindlicher als zwischen Stadt und Land ist in der glo- ten und zum Glück gescheiterten „Fest der Westen grundiert. Er kann sich das balisierten Welt im Osten so groß wie der Völker“ in Jena. Er hat den Asylbe- allerdings abgewöhnen, wenn es etwas nie. Einen Abend auf dem Kölner werber zum Feind, den Schwarzen, die bringt. Die Touristen und Westdeutschen Hauptbahnhof verbringen, heißt mehr Juden – den Inder garantiert nicht. in den Spitzenorten an der Ostseeküste interessante, fremd aussehende Men- werden bestens umsorgt. Da gibt es schen zu treffen als ein Wustrower sie in Für die besonders im Osten drohende kaum Zwischenfälle, man sieht und hört seinem ganzen Leben zu Hause sieht. Gewaltbereitschaft braucht es nur die viele Briten, Skandinavier, Russen, ganz normale männliche, jugendliche Franzosen – und kaum Schwarze, Ara- Die klassische westdeutsch eintrainierte abgestumpfte Mitte der Gesellschaft, für ber oder Türken. Anti-Rechts-Radikalismus-Arbeit prallt die Kampftrinken einen Höhepunkt an vor diesem Hintergrund wirkungslos ab. Lebensqualität darstellt. Der Stumpfsinn Der Osten zerfällt daneben in Zonen Die für eine Demo einreisende Antifa bedient sich aber dann rassistischer An- unterschiedlicher Verhaltensmuster. Vi- wirkt dann in Mügeln noch fremder auf leihen, wenn er wieder einmal ins Ag- tale Städte mit vielfältigen Betätigungs- die Leute als die Inder, gegen die sie ja gressive umkippt, weil er am eigenen möglichkeiten und kulturellen Angebo- an sich nichts haben. Nur manchmal lau- Gelangweiltsein verzweifelt. Da passiert ten – wie Halle, Rostock, Jena oder fen sie Gefahr, zum Blitzableiter für un- dann, was sich danach keiner vorstellen Dresden oft mit einem regen studen- endlich viel Frust zu werden. Und ob der 6
„Ausländer raus !“-Schreiende bewusst meintlicher Chancenlosigkeit. Mit dem einer ganzen Gemeinde durch ungeprüf- rechtsradikal beeinflussen will oder ob Strafgesetzbuch allein macht man aus te Meldungen in Misskredit gebracht er instinktiv zum tabuisiertesten aller Menschenfeinden keine Menschen- werden kann, davon kann eine andere Sprüche greift, das ist gar nicht so ein- freunde und aus einer schweigenden sächsische Stadt ein Lied singen: Seb- fach zu klären. Denn die mediale Reak- Mehrheit keine Zivilgesellschaft. Die nitz. tion gibt ihm ja recht. Soviel Furcht und benötigt eine gute öffentliche Infrastruk- Angst wie mit den dümmsten rechtsradi- tur, aufgeklärte, sozial und wirtschaft- Lausitzer Rundschau kalen Losungen kann er mit nichts ande- lich integrierte Menschen, um zu wach- Schon die derzeit bekannten Fakten be- rem schüren. Für einen Moment fürchtet sen. Dies zu gestalten, ist der weit legen, dass am Samstag in Mügeln sich die ganze Welt vor diesen Typen in schwierigere Teil. rechtsextreme Einstellungen, womög- Mügeln und meditiert über die neue lich unter massivem Alkoholeinfluss, braune Gefahr. Und die Eltern verstehen Rheinische Post Anlass und Gelegenheit fanden, sich ihre gewaltbereiten Kids viel zu gut, sie Man ist gut beraten, die Ermittlungen in auszuleben – und das in übelster Weise klagen, dass diese keinen Job haben. Mügeln abzuwarten, bevor man auch taten. Deshalb ist der Versuch, den Eine DDR-geprägte Staatsregulierungs- „Typisch, neue Länder!“ und „Neonazi- Vorfall als Volksfest-Schlägerei abzutun, sucht tritt da hervor, die Arbeitszwang Überfall“ ruft. zum Scheitern verurteilt. Wer in diese mehrheitlich wünschen würde. Richtung argumentiert, muss sich über Frankfurter Allgemeine den Vorwurf nicht wundern, hier solle Die beliebte Forderung nach mehr Ge- Dass die Angreifer aus Mügeln kamen, ein unangenehmes Phänomen einfach rechtigkeit in der Gesellschaft forciert dort aber nicht bekannt sein sollen, ist totgeschwiegen werden. die Sehnsucht nach den militärisch dis- schwer vorstellbar. Wie schnell der Ruf ziplinierten Regeln. Gewalt ist als staat- liche Verfügungsgewalt eine zu selbst- verständliche Größe in der DDR gewe- sen. Sie funktionierte zu oft, um etwas zu erreichen. Wie ist das eigentlich mit den Generationen der gedienten Grenz- soldaten in der DDR, die das Leben in eintrainierter Tötungsbereitschaft auch heute meist als normal zu rechtfertigen suchen, wenn sie überhaupt davon reden. Wie soll ein Ex-Grenzsoldat sei- nen Sohn ernsthaft von den Normen einer zivilen Bürgergesellschaft über- zeugen? Was tun? Jugendarbeit finanziell mehr fördern – ja, das auch. Auf jeden Fall politische Bildungsarbeit schon in der Schule – und da sehr früh, damit nicht das Gequatsche von der DDR, in der jeder seine Arbeit hatte und Ausländer nach strikter Nützlichkeit ins Land gelassen worden, die Gedanken verne- belt und blockiert. Und natürlich wären Arbeitsangebote gut und wichtig, aber die wird es kaum geben in diesen Orten, in die kaum einer freiwillig umsiedeln wird. ! """ Gesammelte Pressestimmen aus Hohenloher Zeitung vom 22.08.07 Mannheimer Morgen Hass und Vorurteile gedeihen auf dem Nährboden von tatsächlicher oder ver- 7
Nürnberger Nachrichten Literatur Gilt es in manchen Regionen als gar nicht so schlimm, Ausländer zu attackie- ren? Dass die Festgäste den Pöbeleien und dann den Attacken auf die Inder Das multi-literarische tatenlos zusahen, deutet in diese Rich- tung. Zivilcourage lässt sich leicht ein- Szenarium in Indien fordern – aber wenn es brenzlig wird, fehlt den meisten eben dieser Mut, Annakutty Valiamangalam Kurien Findeis gegenzuhalten. Nächte wie die von Mügeln zeigen: Der Kampf gegen den alltäglichen Rassismus samt seiner Gibt es die eine indische Identität? Die ausbringt. Es gibt Anthologien der in- Exzesse – er gehört in Deutschland zur eine Identität wird charakterisiert von dischen Literaturen (z. B. von K.M. leider notwendigen Daueraufgabe. einer Vielzahl von Identitäten, die auf George), ebenso Lexika zu den in- Klasse, Kaste, Region, Religion und dischen Literaturen, auch ein spezielles Mitteldeutsche Zeitung Sprache beruhen. Die wohl einzigartige Komparatives Literaturlexikon und eine Nun aber kommt nicht die Stunde der Besonderheit Indiens besteht darin, dass gesamtindische Literaturgeschichte Aufklärung, sondern die der ratlos rotie- man grundsätzlich nur im Plural über (Sisir Kumar Das). Unter den zahlrei- renden Reflexe. Die Polizei sieht keine Indien sprechen kann. Indien ist ein plu- chen Literaturzeitschriften möchte ich Anhaltspunkte für einen rechtsradikalen ralistischer Staat. Seine Pluralität ergibt hier besonders das Journal „Indian Lite- Hintergrund, der Bürgermeister ist be- sich aus seiner geographischen Situa- rature“ der Sahitya Akademi nennen, troffen und beteuert, dass es keine Neo- tion, reflektiert sich in seiner Geschichte das über die aktuellen Trends der ver- naziszene in seinem Ort gibt. Und man- und ist bestätigt von seiner Geschichte schiedenen indischen Literaturen be- cher wird deshalb sein Bild vom Osten und auch bestärkt von seiner Ethnogra- richtet. Es stellt indische Autorinnen und als Hort rechter Gewalt einmal mehr be- phie und sozialen Schichtung. Die Kom- Autoren vor, befasst sich mit Fragen der stätigt sehen. Viel interessanter wäre zu position und Komplexität der eigenarti- Übersetzung, bietet Beispiele von Tex- diskutieren, wie selbstverständlich die gen indischen Pluralität zeichnen sich ten, besonders auch der oralen Literatur. neuen Braunen schon in der Mitte der aus durch diachrone und synchrone Dazu werden regelmäßig Übersichten Gesellschaft siedeln. ! Dimensionen sowie stabilisierende und über die Entwicklungen in Dichtung, dynamisierende Entwicklungsfaktoren. Erzählungen, Dramen, Autobiographie, Essays und Folkliteratur zur Orientie- Man kann Tharoor nur zustimmen, wenn rung veröffentlicht. Auf diese Weise ver- er feststellt: „Die einzig mögliche Idee mittelt das Journal einen aktuellen Zu- von Indien ist die, dass die Nation gang zu Tendenzen in Bereichen der ein- größer ist als die Summe ihrer Bestand- zelnen Sprachen und zu wechselseitigen teile“. Und er fährt im Sinne unseres Einflüssen und Rezeptionen. In den Themas fort: „Das indische Abenteuer Literaturkritiken und Essays stellt sich ist das von Menschen verschiedener zudem die theoretische Auseinanderset- Ubuntu-Theologie – Ethnizitäten und Religionen, Kleidun- zung dar, wobei Trends in den Litera- gen und Bräuche, Küchen und Farben, turszenen außerhalb Indiens ebenfalls Was ist das? Sprachen und Akzente, die unter dem berücksichtigt werden. „Dass du in Isolation nie ein gleichen Dach zusammenarbeiten.“ Mensch, nie wirklich menschlich sein Literaturen und Autoren beweisen, dass kannst. Du brauchst andere, um Auch im Falle der Literatur fällt auf, linguistische Uniformität nie das Prinzip menschlich zu sein. Wir werden nie, dass mehrere Epochen und Stadien der der Einheit Indiens gewesen ist. Das nie den Krieg gegen den Terror Entwicklung miteinander und nebenein- klassische Prinzip moderner Staatenbil- gewinnen, solange Menschen in Tei- ander gleichzeitig in Indiens kulturellem dung „eine Nation – eine Sprache“ ist len der Welt unter Umständen leiden, Kosmos von Sprachen und Literaturen nicht der Fall im Kontext Indiens, mag die sie verzweifeln lassen. Ubuntu existieren. Deswegen ist es problema- dieses vielleicht noch in der Verfassung heißt: Wir sind im Netzwerk wechsel- tisch, ja wohl nicht möglich, von einer durch die Hervorhebung des Hindi nach- seitiger Abhängigkeit gefangen. Wir indischen Literatur und einer indischen klingen. Doch da erscheint gleich auch können nur gemeinsam frei sein. Wir Literaturgeschichte zu sprechen. Englisch, und es werden die vielen Spra- können nur gemeinsam sicher sein. chen Indiens genannt. Entsprechend ent- Wir können nur gemeinsam wohlha- Dem wird z.B. dadurch Rechnung getra- grenzen sich die indischen Literaturen bend sein. Wir können nur gemein- gen, dass die zentrale Sahitya Akademi und treten in Beziehung. Nach Aijaz sam menschlich sein.“ (Literaturakademie) in New Delhi zu je- Ahmed (Theory: Classes, Nations, Lite- - Desmond Tutu, der anerkannten Literatursprache einen ratures, 1993) gehört Multilingualismus früherer Erzbischof von Kapstadt und Band der Geschichte der Literatur her- zum Wesen der indischen nationalen Fiedensnobelpreisträger. Einheit. Ebenso ist die polyglotte Exi- _____________________________________________ Prof. Dr. Annakutty V. K. Findeis ist Germanistin und stenz ein Kennzeichen indischer Litera- (Quelle: Chrismon, 07.2007) emeritierte Professorin an der Universität Mumbai, turkultur. Viele Dichter zwischen dem Indien. 10. und 19. Jh. n. Chr. haben oft mindes- 8
tens in drei Sprachen gedichtet. Auch dien mehr als die Summe aller Pluralis- schmerzhaft an die arrogante und provo- etliche zeitgenössische Dichter schrei- men und auch all seiner Widersprüche... kative Äußerung Salman Rushdies: ben in mehr als einer Sprache: z.B. R. Schon hat unser Abenteuer begonnen. „¸Indo-Anglican’ literature represents Parthasarathy in Tamil und Englisch, perhaps the most valuable contribution A.K.Ramanujan in Kannada und Eng- Indien redet in mehreren Zungen – und India has yet made to the world of lisch, Kamala Das in Malayalam und all seine Stimmen verdienen Gehör. Es books.“ (India’s National Magazine, Englisch, Nagarkar in Marathi und Eng- ist höchste Zeit, dass (das ganze) Indien from the publishers of The Hindu, lisch, um nur einige zu erwähnen. Wir in seiner Polyphonie, besonders in sei- vol.14, No.16: Aug. 9-22, 1997). Darü- können vielleicht sagen, dass eher Ideen ner Polyphonie der Literaturen wahrge- ber hat sich nicht nur der renommierte und Symbole und nicht „eine Sprache“ nommen wird. Die beiden Frankfurter Autor Ananthamurthy, der in der dravi- die Einheit Indiens bilden. Buchmessen, die Indien als Schwer- dischen Sprache Kannada schreibt, geär- punkt hatten, haben etwas zur Wahrneh- gert. (In Indien erinnert man sich noch Interlingualismus mung der indischen Literaturvielfalt bei- gut der Kolonialhybris des 19. Jahrhun- Die Sprachen im indischen Kontext dür- getragen. Indische Verlage repräsentier- derts, die die Auffassung vertrat, dass es fen nicht nur isoliert voneinander be- ten die linguistische und thematische die ganze klassische indische Literatur trachtet werden. In vielerlei Hinsicht Vielfalt, beeindruckten durch ihren Pro- einschließlich der des Persischen nicht schließt der Multilingualismus einen duktionsstandard, wiesen auf die Kreati- mit einem Werk des zivilisierten Europa Interlingualismus ein. Das gilt nicht nur vität der Autoren und die indische Lese- aufnehmen könne!) für die Sprachgrenzen überschreitende, kultur in den vielen Sprachen hin. Den- nicht selten synchron verlaufende mehr- noch dominierten eher die englischspra- Translating Cultures sprachige Kommunikation, sondern chigen Autoren, Werke und Übersetzun- Ein praktisches und aktuelles Beispiel auch für die interaktive und adaptive Be- gen besonders in den Medien und Pres- für die Vielfalt der Sprachen, der unter- ziehung der Sprachen und Literaturen. seorganen. Das ist die moderne Form schiedlichen Tendenzen und für den Dabei ergibt sich ein vielschichtiger lin- der früheren Einseitigkeit einiger klassi- kreativen Dialog der Literaten bietet das guistischer Prozess. Dieser kann unter schen indologischen Darstellungen der „Multilingual Poet’s Forum“ in Mum- Umständen auch zu einer Art Sprachen- „Geschichte der indischen Literatur“, bai. (Dieses trifft sich regelmäßig und Patriotismus und zur Abwehr hegemo- die die umfangreiche Literatur der ver- veranstaltet Lesungen in verschiedenen nialer Tendenzen führen, aber auch zur schiedenen „modernen indischen Volks- indischen Sprachen einschließlich des Modernisierung und zur Ausweitung des sprachen“ nur als Anhang oder als Aus- Englischen.) In Verbindung damit wurde Kommunikationsraums und der Aus- blick auf die „neuindischen“ Sprachen am Department of German der Univer- drucksfähigkeit einzelner Sprachen. und Literaturen zusammenfassten. An- sität Mumbai ein Übersetzungsprojekt Sprachen lassen sich nicht durch politi- dererseits ist der gegenwärtige Trend in initiiert. Das Ziel ist eine Anthologie sche Grenzen einschließen oder aus- der Literaturvermarktung auch ein Zei- von literarischen Werken mehrerer indi- grenzen. In diesem Vorgang spielen chen dafür, dass die englischsprachige schen Sprachen auf Deutsch zu erstellen heute neben der Verbreitung von Presse Ausdrucksform indischer Literatur ei- und zu publizieren. Dieser Orientierung und Literatur besonders Fernsehen nen eigenen, anerkannten Status inner- entsprechend haben wir im Februar (Kabel- und Satelliten-Fernsehen), Film, halb der vielen postkolonialen englisch- 2007 eine internationale Konferenz über Rundfunk und mit zunehmender Bedeu- sprachigen Literaturen und ihrer interna- das Thema „Translating Cultures“ auf tung das Internet, aber auch Reisen und tionalen Förderungsstruktur gewonnen dem Universitätscampus durchgeführt. Migration regional, national und welt- hat und auf dem globalen Markt des Li- Die kulturelle und linguistische Plura- weit eine Rolle. In der Bedeutung für die teraturkonsums profitabel eingesetzt lität Indiens und Mumbais spiegelt sich Literatursprache nicht genügend beach- werden kann. Dabei wird die Rolle der auch in den Dichtern und Schriftstellern, tet worden ist die Interaktion zwischen anglo-indischen Literatur im Konzert die mit der Faculty of Arts der Mumbai- Schriftsprachen und oralen Sprachen, der innerindischen Literaturen oft ein- er Universität verbunden waren und während immer wieder der Einfluss des seitig von außen gewichtet. Die Überbe- sind. Das muttersprachlich basierte Sanskrit und seiner Literatur in der tonung der technischen Fächer gegen- Konzept der Übersetzungen möchte Geschichte der Sprachen und Literatu- über den humanistischen in der auf die einen eigenen Beitrag leisten zu den an- ren herausgestellt worden ist. Karriere ausgerichteten Ausbildung be- erkennenswerten Bemühungen in droht die muttersprachliche Kompetenz Deutschland seit den 60er und besonders Indien bedeutet heute: 22 Hauptspra- und beeinträchtigt die Zukunft der litera- 80er Jahren, durch Anthologien die viel- chen bzw. 24 Literatursprachen (nach rischen Kreativität und Rezeption in den sprachigen Literaturen Indiens (vor der Sahitya Academi), Tausende von indischen Sprachen. Angesichts der glo- allem moderner Lyrik und Erzählungen) Dialekten, Sprachen mit und ohne balen Expansion des Englischen, die deutschsprachigen Interessierten zu ver- Schrift, mehr als eine Milliarde Men- sich auch in Indien bis in die schulische mitteln. Dabei haben sich besonders schen, dazu das Ursprungs- und Zuwan- Ausbildung auswirkt, können die in- kleine Verlage (Draupadi u.a.) für die derungsland mehrerer Religionen, ein dischen Muttersprachen zu Fremdspra- Übersetzung und Verbreitung indischer gutes Duzend Traditionen klassischer chen werden. Literaturwerke eingesetzt. Tänze und einer Vielzahl von Volkstän- zen, circa 85 politische Parteien, zahllose Die zeitgenössische Rezeptionsweise Um die Problematik der hegemonialen kulinarische Raffinessen, so z.B. etwa mit dem eingeschränkten Blick auf die Stellung vor allem der brahmanisch 300 Methoden Kartoffeln zu kochen, englischsprachig verfasste und verfüg- sanskritischen Sprache (neben anderen wie Experten sagen ... Und doch ist In- bare indische Literatur erinnert einen klassischen indischen Sprachen) im 9
Kontext des Sprachenpluralismus und Konzept des Sanskrit als Ursprache Völker und Kulturen des Subkontinents, der Sprachenunterschiede bewusst zu Indiens geleitet ist. Dann umfasst das der Vielfalt der Sprachenfamilien (und machen, sei hier ein Gedicht des Dalit- Altindische das Vedische und das klassi- der historischen Bedeutung des Dravidi- Schriftstellers Arun Kamble aus Mum- sche Sanskrit, darauf folgt das Mittelin- schen) und der linguistischen Interaktion bai erwähnt. In seinen Worten klingt das disch (mit Prakrit und Pali), woran das nicht gerecht. Anliegen der Dalit-Bewegung unserer sog. Neu- oder moderne Indisch (insbe- Zeit an. sondere mit Blick auf die „neuin- Ohne alle Einzelsprachen und linguisti- dischen“ Sprachen des nördlichen und schen Beurteilungen (z.B. der Mon- SPRACHE zentralen Indien) anschließt. Diese Khmer-Gruppe, der andamanischen und mein knochenkauender Großvater Betrachtungsweise wird dem Sachver- anderer Sprachen bzw. Dialekte, Misch- am Verbrennungsghat halt der vor-sanskritischen und außer- oder Übergangssprachen) zu nennen, der ständige Bewohner meines Körpers, sanskritischen Sprachgeschichte der lässt diese Aufstellung den Reichtum an der Haushalt der Tradition aufgehäuft auf seinem Rücken, Seminarbericht bläfft mich an: „Sprich, wie wir sprechen, sprich, sage ich dir!“ „Tagores Enkel“ - Indische Literatur unter Globalisierungsdruck Im Buch herumblätternd, einfach die Veden wiederholend, Das im letzten Jahr neu gegründete -Jedes Jahr ein Literatur-Seminar den Haarzopf eingefettet mit Butter- Literatur Forum Indien e.V. führte von durchführen schmalz, 1.06. bis 3.06.2007 ein Wochenendse- - Einen Online-Newsletter über Ent- sagt mir mein Brahmanenlehrer: minar in der Evangelischen Akademie wicklungen in der Literatur-Szene „Du Hurensohn, benutze die reine Iserlohn durch. Das Thema des Semi- Indiens herausgeben Sprache!“ nars war „Indische Literatur unter - Verstärkt Lesungen aus indischer Globalisierungsdruck“. Es nahmen ca. Regionalliteraturen anbieten Nun frage ich Euch, 25 Literaturinteressierte an dem Semi- - Die professionellen Übersetzer, die welche Sprache soll ich sprechen? nar teil. Darunter waren Professoren, sich auf indische Literatur spezialisie- Dozenten und Studenten aus den Uni- ren, besser vernetzen (Übersetzt aus dem Marathi von Annakutty V.K.F. versitäten Köln, Bonn, Heidelberg und - Stärker auf Übersetzung und Veröf- im Gespräch mit dem Dichter) Göttingen. fentlichung von Romanen konzentrie- ren, da es keinen großen Markt für Multikulturalität, Sprachenpluralis- Die Vorträge und die Diskussions- Kurzgeschichten gibt. mus und literarisches Szenarium beiträge haben sowohl im Plenum wie Zur Verdeutlichung der Vielfalt und auch in den Arbeitsgruppen die Aus- Jose Punnamparambil, der 2.Vorsit- Vielschichtigkeit einige Hinweise zu wirkungen der Globalisierung auf zende des Literatur Forum Indien, gab den indischen Sprachen und Kulturen. Menschen in Indien, wie dies in indi- bekannt, dass er die Deutsch-Indische Die Sprachen Indiens gehören im scher Literatur wiedergegeben wer- Gesellschaft dazu angeregt hat, eine Wesentlichen vier linguistischen Famili- den, thematisiert. Die raschen Verän- Bibliothek-Reihe indischer Gegen- en an, deren Benennungen und Klassifi- derungen, die unter dem Druck der wartsliteratur aus 10 Landessprachen zierungen zum Teil variieren können: Globalisierung stattfinden, erschüttern innerhalb der kommender 5 Jahre auf 1. Die indo-arische Gruppe (auch: das soziale Gefüge des Landes. Alte Deutsch herauszugeben. Das Projekt indoeuropäische bzw. indo-irani- Werte und Normen verlieren ihre Gül- wird innerhalb der Gesellschaft ernst- sche) umfasst u.a. Sanskrit, Hindi, tigkeit. Die Schwachen und die haft diskutiert. Bengali, Marathi. Benachteiligten werden in die Ecke 2. Zur „dravidischen Gruppe“, die gedrängt. Die Fragen der Teilnehmer Insgesamt leistete das Seminar einen kennzeichnend für Südindien ist, an die Referenten waren: Wie reagie- Beitrag dazu, die TeilnehmerInnen gehören u.a. Tamil, Malayalam, ren die Schriftsteller auf diese Verän- über die neusten Entwicklungen in der Kannada, Telugu, auch Tulu, Toda derungen? Auf welche Weise und mit landesprachlichen Gegenwartslitera- an. welchen Mitteln bringen sie heute ihre tur Indiens zu informieren, sie für die 3. Der „austrischen bzw. austroasia- Erfahrungen und Erkenntnisse zu dort behandelten Themen zu sensibili- tische Gruppe“ sind z.B. die Munda- literarischem Ausdruck? Welche Mög- sieren und ihre Unterstützung für die Sprachen (bes. Santali) zugeordnet. lichkeiten gibt es und was muss noch Arbeit des Literatur Forum Indien 4. Zur „tibeto-burmesischen“ oder unternommen werden, um diese Lite- anzufordern. Es war eine große Ge- „sino-tibetische Gruppe“ zählen ratur der Gegenwart Indiens den deut- nugtuung für die Veranstalter, dass Sprachen im Grenzbereich Indiens schen Lesern zugänglich zu machen? viele Teilnehmer sofort Mitglied des von Tibet bis Myanmar. Forums wurden. Es kamen auch viele interessante Vor- - Dr. Nirmal Sarkar und Eine andere Gliederung der Sprachen schläge von Seiten der TeilnehmerIn- - Jose Punnamparambil versucht diese sprachgeschichtlich zu nen. Einige davon: ordnen, wobei die Leitperspektive vom 10
Sprachen und deren Verschiedenheit ah- historischer Roman, wissenschaftliche Aufgabe, den innerindischen Austausch nen, die eine gegenwärtig lebendige Untersuchungen und Forschung, Ästhe- zwischen den Sprachen und Literaturen Sprachen-, Literatur- und Kulturge- tik ausgezeichnet worden sind. In Assa- zu unterstützen, ist in den letzten 10 bis schichte auf dem indischen Subkonti- mesisch wurden seit 1960 insgesamt 41 15 Jahren immer stärker herausgestellt nent auszeichnet. Sahitya Akademi Awards vergeben. Den worden. Dabei wendet man sich zuneh- Hauptanteil haben Werke im Bereich mend auch den unterrepräsentierten oder Die indische Verfassung akzeptiert 22 Romane, Dichtung und Kurzgeschich- unbeachteten, zum Teil schon im Aus- Sprachen (einschließlich Englisch, das ten. Seit 1955 bis 2006 wurden in sterben begriffenen Sprachen der Adiva- als Adoptivsprache aus der Kolonialzeit Malayalam insgesamt 48 Werke ausge- si und gesellschaftlichen Klein- und nun zu den indischen Sprachen gehört). zeichnet, unter ihnen 15 Gedichte, 14 Untergruppen und der unzähligen Dia- Welche sind die 22 Sprachen? Zu nen- Romane, 5 Kurzgeschichten, aber auch lekte und ihrer linguistischen und litera- nen sind: Sanskrit, Hindi, Punjabi, Urdu, Literaturkritik und literaturtheoretische rischen Bedeutung zu. Vor allem dann, Kashmiri, Bengali, Assamesisch, Studien, Autobiographien, Literaturge- wenn die Sprachen und ihre Literaturen Manipuri, Oriya, Dogri, Nepali, Maithi- schichte und Essays. Vergleichbare Sta- nur in oraler Form bewahrt worden sind. li, Rajasthani, Marathi, Gujarati, Konka- tistiken finden sich zu allen Literatur- In diesem Bereich ist noch viel zu tun, ni, Sindhi, Tamil, Telugu, Malayalam, sprachen und Literaturgattungen, die vor allem in der Ethnolinguistik und Kannada und Englisch. Tamil hat nun Auskunft geben über die Gewichtungen Ethnoliteratur. In einem anderen Be- auch einen besonderen Status. Es wird von Literaturgattungen, der Qualität des reich, nämlich der alten und mittelalter- wie Sanskrit zur klassischen Sprache literarischen Schaffens, über Tendenzen lichen Sprachen, ist es in den letzten 15 Indiens gezählt. Wir dürfen nicht verges- in der indischen Literaturszene und bis 20 Jahren wenigstens zum Teil zu sen, dass sich die Vielzahl der Sprachen schließlich über die Wertschätzung der einer Wiederbelebung des Interesses ge- in den Schriften widerspiegelt; manche Autoren auf der Ebene der Literaturkri- kommen, wovon aber das Persische Sprachen haben sogar mehr als eine tik. noch nicht so sehr profitiert hat. Studien Schrift, manche existieren nur oral. Es in Sanskrit, Prakrit und Pali sind durch darf nicht unerwähnt bleiben, dass es Besonders erwähnenswert scheint mir in die Erforschung der brahmanischen, jai- einige indische Sprachen gibt, die (auch) unserem Rahmen die Förderung von nistischen und buddhistischen Literatu- die persisch-arabische Schrift verwen- Übersetzungen als Beitrag zur inter-lin- ren (z.T. mit politischer Unterstützung den. Die Schriftengeschichte der in- gualen Literaturkommunikation und zur und Förderung vom Ausland) erneuert dischen Sprachen ist dementsprechend Verbreitung literarischer Werke unter worden und haben so zur Entwicklung komplex und viel diskutiert. Lesern eines derartig diversifizierten der indigenen Indologie und der popula- Literaturmarktes in Indien. Erlaubt sei risierenden Literatur beigetragen. Auch Die nationale Sahitya Akademi fördert ein Blick auf die ausgezeichneten Über- diese Segmente gehören zur multi-lin- alle Gattungen der 24 Literatursprachen setzungen ins Malayalam (Mutterspra- gualen Literaturszene Indiens, wie die durch fast jährlich vergebene Auszeich- che von circa 34 Mill. Indern). Von Kataloge der Verlage ausweisen. nungen. Seit 1986 unterstützt die Akade- 1989-2005 wurden 17 Übersetzungen mie auch Übersetzungen in diesen Spra- ausgezeichnet. Was wurde ausgezeich- Einheit und Vielfalt chen. Dazu wird erklärt: „The awards net, und aus welcher Sprache waren die Dies alles bestätigt und bekräftigt unse- are meant to recognise and promote Werke übersetzt? Unter den ausgezeich- re These von der Multikulturalität bzw. excellence in Indian writing and expan- neten Titeln finden sich 10 Romane, 3 Pluralität: Die indische Kultur ist ein ding the very definition of Indian litera- Gedichtsammlungen, biographische Kompositum – die Sprachen und Litera- ture by acknowledging new trends and Werke (2) und ein Kommentar. Ein turen sind geprägt von diesen Interaktio- movements. They are a reflection of cur- Werk ist nicht kategorisiert. Die Über- nen und der Interkulturalität. Also ein rent tastes and contribute to the formati- setzung erfolgte aus folgenden Original- Turm von Babel? Ein Haus der Spra- on of an Indian sensibility.“ Es gibt auch sprachen: Tamil (4mal), Bengali (3mal), chen, Kulturen und Literaturen! fördernde Auszeichnungen für Literatu- Marathi (4mal), Hindi (3mal), Englisch Hinzuweisen ist hier auf das, was über ren in nicht formell von der Sahitya (1mal), Punjabi (1mal), Urdu (1mal). die Einheit und Vielfalt der indischen Akademi anerkannten Sprachen sowie Die übersetzten Gedichtsammlungen, Literaturen von Jawaharlal Nehru, dem für Beiträge zu den klassischen und mit- die eine Auszeichnung erhalten haben, Gründungsmitglied der Sahitya Akade- telalterlichen Literaturen. Die Arbeit der stammen ausschließlich aus dem Tamil mi, gesagt wurde: „It may, therefore be nationalen Institution wie deren Wirken (also aus dem Nachbarland und aus said that each of these great languages is auf der Ebene der einzelnen Staaten bie- einer verwandten dravidischen Spra- not merely the language of a part of ten ein gutes Beispiel für die Vielfältig- che). India, but is essentially a language of keit und die Wertschätzung des litera- India, representing the thought and cul- rischen multi-lingualen Schaffens in Solche Statistiken geben zumindest ture (ich würde sagen: cultures) and Indien. einen Hinweis, dass von der staatlichen development of this country in its mani- Ebene das literarische Schaffen in seiner fold forms.“ Auszeichnungen Bedeutung für die indische Kultur und Schauen wir in Auswahl auf die Aus- Gesellschaft anerkannt und unterstützt Es entwickelt sich eine einzigartige zeichnungen, fällt z.B. auf, dass seit wird. Die Auszeichnungen finden auch Kommunikationsfähigkeit, und diese 1956 bis 2005 bereits 38 Sanskrit-Werke in der Öffentlichkeit Beachtung und len- braucht man wiederum, um in Indien in den Kategorien Epos, Fiction, Lyrik, ken jährlich die Aufmerksamkeit auf die kommunikativ zu existieren. Man lernt Essays, Mahakavyam, Kurzgeschichten, komplexe Literaturszene Indiens. Die in der Schule in einer Sprache, zu Hause 11
spricht man eine andere bzw. die Mut- tersprache, im Zug oder unterwegs oder auf dem Markt spricht man wiederum eine andere Sprache. Auf der Universität Furcht und Gewalt studiert man in Englisch oder in einer Jiddu Krishnamurti anderen Sprache. Eine Art polyglotte Existenz. Man wohnt in einem Haus mit Furcht, Freude und Leid, Denken und selbst blockiert. Aber wenn Sie meinen, vielen Sprachfenstern. In den Dörfern Gewalttätigkeit haben einen inneren dass es möglich sein mag, auf eine ande- und unter Adivasi ist es nicht unbedingt Zusammenhang. Die meisten Menschen re Art zu leben, dann werden wir in der so. finden Gefallen daran, heftig und ge- Lage sein, uns miteinander zu verständi- walttätig zu sein, andere Menschen nicht gen. Die Vielsprachigkeit auf dem indischen zu mögen, eine besondere Rasse oder Subkontinent hat sich schon sehr früh in Gruppe von Menschen zu hassen oder zu So lassen sie uns zusammen mit denen, der klassischen Literatur niedergeschla- verabscheuen, feindselige Gefühle die verständigungsbereit sind, überle- gen. Beispielhaft dafür ist Kalidasas gegen andere zu hegen. Aber ein gen, ob es überhaupt möglich ist, jeder bekanntes Drama Abhijnanasakuntalam, Mensch, in dem alle Gewaltsamkeit auf- Art von Gewalttätigkeit in uns ganz und wo die Charaktere dem sozialen Status gehört hat, ist von einer Freude erfüllt, gar ein Ende zu bereiten und dennoch in entsprechend unterschiedliche Sprachen die sich sehr von der Lust an der Ge- dieser monströs-brutalen Welt weiter zu im Dialog verwenden. Oder das patrioti- walttätigkeit mit ihren Konflikten, ihren leben. Ich halte es für möglich. Ich wün- sche Lied „Vande Mataram“ von Bank- Feindseligkeiten und ihren Ängsten sche nicht, auch nur einen hauch von im Chandra Chatterjee ist 1876 (veröf- unterscheidet. hass, Eifersucht, Unruhe oder Furcht in fentlicht 1882) in zwei Sprachen verfas- mir zu haben. Ich möchte vollkommen st worden: Sanskrit und Bengali. Es Können wir bis zur Wurzel der Gewalt in Frieden leben. Das bedeutet nicht, wird von allen Bürgern Indiens heute vordringen und von ihr frei sein? Sonst dass ich sterben möchte; ich möchte auf noch auswendig gelernt und inbrünstig werden wir ewig im Streit miteinander dieser prachtvollen Erde, die so weit, so gesungen. Ebenso Janaganamana, von leben. Wenn sie es vorziehen, in dieser reich, so schön ist, leben. Ich möchte auf Rabindranath Tagore 1911 in Bengali art zu leben – und anscheinend ist das die Bäume, Blumen, Flüsse, Wiesen, verfasst, die Nationalhymne Indiens bei vielen Menschen der Fall –, dann Frauen, Knaben und Mädchen schauen (1950), wird von allen Enkeln und mögen sie es so weiter treiben. Wenn Sie und zugleich im völligen Frieden mit Enkelinnen bzw. von allen Bürgern ver- sagen: „Es ist zwar bedauerlich, aber die mir selbst und mit der Welt leben Was innerlicht. In den Schulen wird sie Gewalt wird niemals enden“, dann kann ich (…) ! andächtig jeden Tag vor Schulbeginn haben Sie und ich keine Möglichkeit der rezitiert! Verständigung, dann haben Sie sich Quelle: Die Zeit 31.05.07 60 Jahre unabhängiges Indien sind auch 60 fruchtbare Jahre für die Sprachen und Jiddu Krishnamurti Literaturen Indiens gewesen. Die Spra- chenvielfalt ist nicht durch eine Sprache War Philosoph und Psychologe. Er beeinflusst, sein Credo war aber, dass ersetzt worden. Sie ist vielmehr aner- wurde 1895 in Madanapalle, Indien, jeder Mensch abseits bestehender kannt und kreativ wirksam geblieben. als achtes Kind einer orthodoxen Methoden, Ideologien und Religionen Der Kommunikationsbereich hat sich Brahmanenfamilie geboren und starb seine eigene Lebenswahrheit finden zudem global erweitert. Dabei gewann 1986 in Ojai, Kalifornien. Als 13- solle. Dies solle ohne Angst, auf fried- Englisch international an Bedeutung; Jähriger wurde er von der Theosophin liche und uneigennützige Weise ge- davon haben auch einige indische Lite- Annie Besant adoptiert, welche ihn als schehen, denn nur so könne der Ein- raten ihren Vorteil gehabt. Englisch hat den wiedergeborenen Messias und zelne in die Obhut jener universellen sich vor allem wirtschaftlich, wissen- künftigen „Weltlehrer“ ansah und in Liebe gelangen, welche alle Menschen schaftlich und technologisch für Indien England erziehen ließ. Als 34-Jähriger vereine. Jiddu Krishnamurti reiste in als nützlich erwiesen. Doch die indi- warf Krishnamurti die Bürde dieser den siebziger und achtziger Jahren des schen Sprachen und Literaturen haben gewaltigen, auf ihn projizierten Heils- vergangenen Jahrhunderts als Lehrer auch einen inner-asiatischen linguisti- erwartung ab und entwickelte seine und Redner um die ganze Welt und schen und kulturellen Kontext, der seit Philosophie der völligen geistigen gründete Schulen in Indien, Großbri- etwa 20 Jahren wirtschaftlich und poli- Freiheit. Sie basiert auf der Formel tannien und den USA. Zu seinen tisch immer stärker wird. In den kom- „Truth is a pathless land“ (die Wahr- Freunden und Weggefährten zählten menden Jahrzehnten wird das multi-lin- heit ist ein Land ohne vorgebahnte George Bernard Shaw, Aldous Huxley, guale und -literarische Szenarium In- Wege). Krishnamurti war wohl vom Indira und Rajiv Gandhi. diens durch diese Entwicklung mit ge- Taoismus und vom Zen-Buddhismus prägt werden. Die Pluralität der Spra- chen, Literaturen und Kulturen wird für die Interaktion Indiens mit den Entwick- nologisch wichtig gewordene Sprache (Vortrag gehalten an dem Seminar „Tagores Enkel“ - Indische Literatur unter Globalisierungs- lungszentren der Welt ein Kompetenz- „Englisch“ diese Pluralität verdrängt druck vom 1. bis 3. Juni 2007 in der Ev. Akademie, und Kommunikationsvorteil sein, wenn durch eine subtile Diktatur des Sprach- Iserlohn) nicht die global, ökonomisch und tech- und Technokolonialismus. ! 12
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