Informationen 333 - Kommunalpolitik
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2 Kommunalpolitik Inhalt 36 6 63 21 Was ist eine Kommune? Verwaltungshandeln 22 Zur Bedeutung der Kommunalpolitik heute 4 Kommunale Aufgaben 22 Global City oder sterbende Kulisse? Kommunale Lagen 7 Kommunalfinanzen 30 Die Stadtstaaten 10 Verwaltungsmodernisierung und wirkungsorientierte Steuerung 34 Geschichte der kommunale Selbstverwaltung 12 Das Freiheitsversprechen der Preußischen Was ist Verwaltung? 36 Städteordnung (1806–1848) 12 Allgemeine Kennzeichen 36 Kommunale Selbstverwaltung als demokratische Kennzeichen der Kommunalverwaltung 36 Teilhabe (1848–1914) 14 Gliederung der Verwaltung 38 Kommunale Selbstverwaltung zwischen Bürgermeister, Oberbürgermeister, Dezernenten 40 Leistungsexpansion und Finanznot (1918–1933) 16 Zentrale Instrumente: Antrag und Vorlage 42 Ende der kommunalen Selbstverwaltung Ausschüsse 43 im „Dritten Reich“ (1933–1945) 17 Wer kontrolliert die Verwaltung? 46 Neuanfang und Wiederaufbau der kommunalen Selbstverwaltung (1945–1989) 20 „Kommunen ohne Bürger“? – die Landkreise 46 Europa und die Kommunen 52 Kommunale Spitzenverbände 53 Politische Mitbestimmung 56 Die Stadt als „Schule der Demokratie“ 56 Wahlen und Wahlsysteme 58 Informationen zur politischen Bildung Nr. 333/2017
3 In allen Flächenländern der Bundesrepublik Deutschland gibt es jeweils eigene Kommunalverfassungen (Gemeindeordnungen), die die Rahmenbe- dingungen für die Kommunen in dem jeweiligen Bundesland regeln. Dies Editorial führt dazu, dass es zu bestimmten Sachverhalten theoretisch bis zu 13 un- terschiedliche Regelungen geben kann. Es ist schon allein aus Platzgründen Kommunen, also Städte, Gemeinden und Landkreise, bieten nicht möglich, alle Regelungen in jedem Detail wiederzugeben. ihren Bürgerinnen und Bürgern das Lebensumfeld, in dem Die Vielzahl der Regelungen führt folgerichtig zu unterschiedlichen Be- diese ihren Alltag gestalten können, und stellen dafür die sozi- griffen. Deutlich wird dies etwa bei der Benennung des wichtigsten politi- ale, wirtschaftliche und kulturelle Infrastruktur bereit. Sie sor- schen Gremiums in den Kommunen. Es heißt je nach Bundesland entweder gen für Wohnraum, Arbeits- und Ausbildungsplätze sowie für Gemeinderat bzw. Stadtrat oder Stadtverordnetenversammlung (Hessen). Angebote zur Freizeitgestaltung. Sie kümmern sich um Ener- Wir haben hier mit dem Begriff Gemeindevertretung einen neutralen Ober- gie und Wasser, um Straßen und digitale Netze, um Abwasser- begriff gewählt, der zunächst gewiss für manche Leserin, manchen Leser und Müllentsorgung. Auch die Bereitstellung von Bildungs- ungewohnt ist, aber die Lesbarkeit des Textes deutlich erhöht. Aus Gründen verbesserter Lesbarkeit wurden nicht immer männliche und und Kultureinrichtungen wie Kitas, Kindergärten, Museen, weibliche Formen gleichermaßen verwendet. Dies erschien uns insbesonde- Bibliotheken und Volkshochschulen obliegt den Kommunen. re bei der Aneinanderreihung der Begriffe „Bürger“, „Bürgermeister“, „Ober- Als untere Ebene der Verwaltungsgliederung in Deutsch- bürgermeister“ usw. geboten. Als Amtsbezeichnungen konnten letztere aber land führen Städte, Gemeinden und Landkreise zu einem nicht korrekt durch neutrale Begriffe ersetzt werden. hohen Prozentsatz Aufgaben aus, die ihnen von den Ländern Die einzelnen Aspekte der Kommunalpolitik sind mannigfach miteinander bzw. vom Bund über die Länder zugewiesen werden. Dies be- verflochten. Das Zeichen bedeutet „siehe auch unter…“ und möchte dazu stimmt ihre Spielräume für ein eigenes Gestalten. ermutigen, an der entsprechenden Stelle im Heft sein Wissen zu vertiefen. Für diese Aufgaben sind die Städte und Gemeinden indes höchst unterschiedlich gerüstet. Es gibt „Schwarmstädte“, in die es besonders junge Menschen zieht, Städte, die ausrei- chend Arbeitsplätze zur Verfügung haben und in denen die Steuereinnahmen zur Finanzierung vielfältiger Freizeitange- bote vorhanden sind. Andere Kommunen sind dagegen auf besondere Weise vom demografischen Wandel geprägt: Die Bevölkerung schrumpft und überaltert, es fehlen Arbeitsplät- ze und Freizeitangebote, und die Pro-Kopf-Verschuldung lässt kaum eigenständiges Handeln zu. Hinzu kommen große Herausforderungen, etwa die Inte- gration Geflüchteter, die Spaltung in Arm und Reich innerhalb der Städte und Gemeinden sowie die Begleiterscheinungen der weiter zunehmenden Mobilität. Um diesen wachsenden Problemen zu begegnen, müssen Gemeinden über den eige- Wahl des Bürgermeisters 60 nen Kirchturm hinausblicken und enger zusammenarbeiten. Wahl der Dezernenten 61 Mit dem Pakt von Amsterdam hat die Europäische Union den Gemeindevertretung 61 Städten und Gemeinden ein Instrument in die Hand gegeben, Bezirks- und Ortschaftsräte 64 sich auf übernationaler Ebene zu vernetzen. In ihrer politischen Orientierung und in ihren Verfassun- Beiräte und andere Gruppenvertretungen 65 gen seien Gemeinden sehr viel stärker als die nationale Ebe- Bürgerbegehren und Bürgerentscheid 67 ne auf Verständigung aus. Anstelle eines scharfen Konflikts Bürgerinitiative 69 zwischen Mehrheit und Minderheit, Regierung und Oppo- Lokale Agenda 21 69 sition herrsche in kommunalen Gremien eher der Gedanke des Ausgleichs, der Machtteilung und der Konkordanz, so Bürgerplattform / Community-Organizing 70 Gesine Schwan, Präsidentin und Mitgründerin der „Hum- Ehrenamt und Bürgerschaftliches Engagement 71 boldt-Viadrina Governance Platform“: „Die Orte, wo man handfest und anschaulich die eigenen Erfahrungen austau- schen kann und wo man auf neue Ideen kommt, das sind Ausblick73 die Orte, wo die Musik spielt.“ Wie andere staatliche Institutionen haben auch Kommunen und die Kommunalpolitik mit Vertrauensverlusten zu kämpfen. Literaturhinweise74 Aber gerade auf lokaler Ebene, in Gemeindevertretungen und Bürgerforen, bestehen die größten Möglichkeiten, sich zu enga- gieren und Wandel zu bewirken. „All politics is local“ bedeutet, Internetadressen75 dass die Politik der höheren Ebenen immer eine Rückbindung zur Basis, den Städten und Gemeinden, haben sollte. Es lohnt, sich für kommunale Belange einzusetzen, denn Autorinnen und Autoren 75 Städte und Gemeinden sind für die Lebensqualität, aber auch für die öffentliche Ordnung unserer Demokratie von zentra- ler Bedeutung. Impressum 75 Jutta Klaeren Informationen zur politischen Bildung Nr. 333/2017
4 Kommunalpolitik Elena Frank / Ralf Vandamme Was ist eine Kommune? Zur Bedeutung von Kommunalpolitik heute Die Kommunalpolitik in Deutschland steht vor großen Herausforderungen. Die Schwierig- keiten sind für jede Gemeinde verschieden, trotzdem haben Kommunen noch immer viele Möglichkeiten, das direkte Lebensumfeld der Menschen zu gestalten. picture alliance / dpa / Patrick Pleul Kommunen sind die kleinsten politischen Verwaltungseinheiten in Deutschland. Getragen werden sie von ihren Bewohnerinnen und Bewohnern. Stadtfest in Eisenhütten- stadt, mit ca. 30 000 Einwohnern gemäß Einteilung des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) eine kleine Mittelstadt Informationen zur politischen Bildung Nr. 333/2017
Was ist eine Kommune? Zur Bedeutung von Kommunalpolitik heute 5 Verwaltungsgliederung in Deutschland Zusammengestellt im Deutschen Städtetag Vorbemerkung Die Verwaltungsgliederung in Deutschland am 30. Juni 2016 wurde auf Basis der Veröffentlichung des Statistischen Bundesamtes zusammengestellt. Die Zahl und die Bevölkerung der Gemeinden der Bundesrepublik Deutschland sind auf der Grundlage des Zensus 2011 am 01. Januar 2016 ausgewiesen. Gemeindefreie Davon Darunter Gemeindeverbandsebene³ Gebiete Regie- Kreise GemeindenB verbands- rungs- insge- verbands- Land kreisfreie Land- insgesamt Gemeinde- ange- bezirk samt StädteC insgesamt freie insgesamt unbewohnt Städte kreise verbände hörige Gemeinden 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 Baden- 4 44 9 35 1 101 313 462 270 190 911 2 2 Württemberg Bayern 7 96 25 71 2 056 317 1 426 312 1 071 985 43 43 Berlin - 1 1 - 1 1 1 - 1 - - - Brandenburg - 18 4 14 417 113 200 52 148 269 - - Bremen - 2 2 - 2 2 2 - 2 - - - Hamburg - 1 1 - 1 1 1 - 1 - - - Hessen 3 26 5 21 426 191 430 - 426 - 4 4 Mecklenburg- - 8 2 6 753 84 116 76 40 713 1 1 Vorpommern Niedersachsen - 46 8 38 973 158 434 122 287 684 25 23 Nordrhein- 5 53 22 31 396 271 396 - 396 - - - Westfalen Rheinland- - 36 12 24 2 305 128 192 150 42 2 263 1 1 Pfalz Saarland - 6 - 6 52 17 52 - 52 - - - Sachsen - 13 3 10 426 170 312 75 237 189 - - Sachsen- - 14 3 11 218 104 122 18 104 114 - - Anhalt Schleswig- - 15 4 11 1 110 63 173 85 86 1 024 2 2 Holstein Thüringen - 23 6 17 849 126 219 108 111 738 - - DE 19 402 107 295 11 086 2 059 4 538 1 268 3 194 7 890 78 76 davon: alte LänderE 19 326 89 237 8 423 1 462 3 569 939 2 554 5 867 77 75 neue Länder - 76 18 58 2 663 597 969 329 640 2 023 1 1 Stand: 30. Juni 2016 ¹ ohne unbewohnte gemeindefreie Gebiete; einschließlich Städte ² einschließlich kreisfreie Städte D Die Summe in der Spalte „ingsesamt (der Gemeindeverbandsebene)“ ergibt sich aus den Spalten „Gemeindeverbände“, „verbandsfreie Gemeinden“ sowie den „gemeindefreien Gebieten“ (ausgenommen unbewohnte gemeindefreie Gebiete in Rheinland-Pfalz, Mecklenburg-Vorpommern). E einschließlich Berlin Deutscher Städtetag Berlin, Bereich Statistik www.staedtetag.de/fachinformationen/statistik Informationen zur politischen Bildung Nr. 333/2017
6 Kommunalpolitik Harald Wenzel-Orf/image BROKER/OKAPIA Hans Blossey/imageBROKER/vario images Michael Staudt / VISUM Robert Grahn/euroluftbild.de/vario images Werner Dieterich/imageBROKER/vario images Das BBSR (siehe Bildtext S.4) teilt Kommunen in verschiedene Stadt- und Gemeindetypen ein: Magdeburg (li. o.) mit Dom und Elbe ist – bezogen auf die Einwohnerzahl – mit unter 500 000 Bewohnern eine kleine Großstadt, Flensburg (li. Mi.) – hier der Hafen 2016 – mit mehr als 50 000, aber weniger als 100 000 Einwohnern eine große Mittel- stadt, das rheinland-pfälzische Bad Dürkheim (li. u.) mit weniger als 20 000 Bewohnern eine größere Kleinstadt, und Norderney (re. o.) in Niedersachsen ist mit mehr als 5 000 Einwohnern eine kleine Kleinstadt. Lanze ist eine Landgemeinde mit 280 Einwohnern im Kreis Herzogtum Lauenburg im Land Schleswig-Holstein. Der Begriff „Kommune“ ruft vielfältige Assoziationen hervor. erlaubt war, oder wenn jemand seinen Brunnen nicht sauber Sie reichen von der politischen Gemeinde bis zur Hippiewohn- hielt und so die Gesundheit der Gemeinschaft gefährdete. gemeinschaft. „Gemeinde“ ist die wörtliche Übersetzung von Dieser enge Zusammenhang besteht so heute nicht mehr; „Kommune“ und betont das Gemeinsame, Gemeinschaftliche. Nachbarschaften sind keine lebenslänglichen Schicksalsge- Und genau das kennzeichnete vor der Industrialisierung die meinschaften mehr, sondern zeitlich begrenzt. Viele Men- Dörfer und Städte in Deutschland: Sie waren politische Ge- schen wechseln ihren Wohnort häufig, manche haben ständig meinschaften, die sich bemühten, möglichst große Unabhän- zwei Wohnorte, einen zum Wohnen, einen zum Arbeiten oder gigkeit von Adel und König zu erhalten, ohne deren Schutz zu Studieren. verlieren. Vor diesem Hintergrund hat Kommunalpolitik einen schwe- Zugleich waren die Menschen in den Gemeinden ökono- ren Stand. Warum soll man sich für die Kommune interessie- misch stark aufeinander angewiesen, etwa in der Organisa- ren, in der man gerade mehr oder weniger zufällig für eine tion der handwerklichen Produktion, aber auch im Erhalt der nicht bestimmbare Zeit seinen Wohnsitz hat? Diese defizitäre gemeinschaftlichen Güter wie Wege, Mauern oder Brunnen. Wahrnehmung wird dadurch noch verstärkt, dass Kommu- Dabei galten strenge Regeln, und es wurden harte Strafen nalpolitik sich meist sozusagen unter dem Radar der Medi- vollzogen, wenn beispielsweise jemand mehr produzierte, als enberichterstattung hindurchbewegt. Kommunalpolitische Informationen zur politischen Bildung Nr. 333/2017
Was ist eine Kommune? Zur Bedeutung von Kommunalpolitik heute 7 Ereignisse betreffen jeweils nur einen eingeschränkten Per- in der Politik bzw. Gemeindevertretung oder als Mitarbeiterin sonenkreis und sind in der Regel nicht so spektakulär wie oder Mitarbeiter der Verwaltung. Noch finden sich genügend bundespolitische oder internationale Themen. In der Folge Personen, die diese Form der kommunalen Selbstverwaltung haben viele Lokalzeitungen schließen müssen. Die Lokalteile am Leben erhalten und damit dazu beitragen, dass Kommu- der überregionalen Zeitungen bilden meist nur einen kleinen nalpolitik in Deutschland weitgehend als eine eigenständige Ausschnitt der örtlichen Ereignisse ab, von Radio und TV ganz politische Sphäre mit weitreichenden Mitbestimmungsrech- zu schweigen. ten wahrgenommen wird und sich damit stark von Kommu- Gegen diesen Trend der Konzentration auf überregionale nalpolitik in zentralistischen Staaten unterscheidet. Dies wird Berichterstattung gibt es in manchen Regionen Gegenbewe- unter anderem an den Kommunalwahlen deutlich, die dort gungen. Dazu zählen lokale Radio- und TV-Sender; manche häufig dazu genutzt werden, der Regierung einen „Denkzettel“ Kommunen publizieren auch eigene Nachrichten im Stile ei- zu verpassen, während sie sich in Deutschland – vor allem in nes „Amtsblattes“, in dem sie die zentralen politischen Neue- kleineren Kommunen – zumeist an lokalpolitischen Fragestel- rungen verkünden. Daneben gibt es vereinzelt Initiativen, die lungen orientieren. Doch das Gleichgewicht von Bürgerschaft, etwa die Sitzungen der politischen Gremien im Internet live Politik und Verwaltung ist gefährdet, wenn sich zu wenig übertragen. Wie diese das Informationsdefizit dauerhaft und Menschen aus allen sozialen Gruppen für ihr Lebensumfeld qualitätsvoll mindern können, ist noch nicht absehbar. einsetzen. Die nachfolgenden Ausführungen wollen daher Ganz im Gegensatz zu ihrer öffentlichen Wahrnehmung hat nicht nur die Funktionsweise dieses Dreiecks erläutern, son- Kommunalpolitik eine immense Bedeutung für die konkrete dern auch dessen Verletzlichkeit aufzeigen. Gestaltung unseres Umfeldes. Es sind die Kommunen, die die Infrastruktur für Arbeit und Freizeit organisieren oder in ei- gener Regie bereitstellen, vom Stromanschluss und sicheren Verkehrswegen bis hin zu Abwasser- und Müllentsorgung Global City oder sterbende Kulisse? („Kommunale Daseinsvorsorge“). Sie gestalten Bildungsange- Kommunale Lagen bote, betreiben Museen und schaffen öffentliche Räume wie Plätze oder Flussufer, an denen wir uns mit anderen treffen können, ohne dies, wie in Bars oder Cafés, zwangsläufig mit Stadt ist nicht gleich Stadt, „Land“ nicht gleich „Land“ und in- der Konsumtion von Getränken bezahlen zu müssen. folgedessen Kommunalpolitik nicht gleich Kommunalpolitik. Alle technischen und sozialen Neuerungen müssen von den Die Rahmenbedingungen für die Führung einer Kommune Verantwortlichen in den Kommunen gemanagt werden; für sind in Deutschland höchst unterschiedlich, sodass die vom E-Bikes sind Ladestationen bereitzustellen, für Smartphones Grundgesetz vorgesehene Gleichwertigkeit der Lebensverhält- offenes W-LAN, für generationenübergreifende Wohnprojekte nisse (Artikel 72 Absatz 2 GG) in der Realität schwer durchzu- Grundstücke und Infrastruktur, für Unternehmen schnelles setzen ist. Die Versorgung etwa mit Schulen, Krankenhäusern, Internet, auch in strukturschwachen Regionen. Schwimmbädern, Bibliotheken, Kindergartenplätzen, aber Soziale Bewegungen finden, wenn sie sich nicht vollständig auch mit Arbeits- und Ausbildungsplätzen sowie kulturellen im virtuellen Raum abspielen, in der Gemeinde oder im Quar- Angeboten ist in boomenden Regionen deutlich besser als in tier statt, politisch motivierte Veränderungen können hier schrumpfenden. Dies macht sie zusätzlich attraktiv für den ausprobiert werden, wie etwa die Geschichte der Energiewer- Zuzug vieler Bevölkerungsgruppen und stellt Kommunalpoli- ke Schönau zeigt. Das Schwarzwaldstädtchen mit 2 400 Ein- tik vor völlig unterschiedliche Herausforderungen. wohnern hatte unter dem Eindruck der Atomkraftwerkkatas- Dies gilt, obwohl sich paradoxerweise die Lebensformen in trophe von Tschernobyl zunächst sich selbst mit ökologischem Stadt und „Land“ in vieler Hinsicht angleichen: Durch das In- Strom versorgt und exportiert diesen nun auch an auswärtige ternet sind heute viele Berufstätigkeiten räumlich ungebun- Kunden. den. Ob eine Übersetzung oder ein Gutachten in einem städ- Zentralistisch organisierte Staaten neigen zu Großprojek- tischen Büro erstellt werden oder in einem Wohnzimmer auf ten, die wenig Rücksicht auf die Bevölkerung vor Ort nehmen. dem Lande, macht qualitativ keinen Unterschied. Einige Be- Föderale Strukturen sind gezwungen, dezentrale Lösungen zu rufstätigkeiten werden nur noch über das Internet vermittelt finden. Dass Deutschland eine Vorreiterrolle in der Energie- (cloud-working). wende einnimmt, ist kein Zufall, sondern auch den starken Dadurch ist die Ausübung von Berufen, die früher an städ- Kommunen geschuldet, die unter anderem in eigene Energie- tische Räume gebunden waren, heute auch auf dem Land gewinnung investiert hatten und daher nach der Kernschmel- möglich. Dabei geben die Betroffenen in der Regel bestimm- ze in Fukushima für den Atomausstieg eingetreten sind. te städtische Verhaltensweisen – wie etwa hohen Konsum, Kommunalpolitik wirkt also keineswegs nur im begrenz- wenig Selbstversorgung, geringe Vorratshaltung – nicht auf. ten Radius der Kommune, sondern weit darüber hinaus. Um- Durch die Globalisierung und die Konzentration des Handels gekehrt ist daran zu erinnern, dass Bund und Länder bei fast sind gleiche oder ähnliche Waren überall verfügbar. Bestehen- allen Gesetzen, die sie beschließen, darauf angewiesen sind, de Versorgungslücken werden durch Bestellungen über das dass die Kommunen diese umsetzen. Ob Kinderbetreuung, Internet geschlossen. Pflege, Integration usw. – fast immer sind es die Kommunen, Städte dehnen sich aus, gemeinden dabei ehemalige Dörfer die Räume bereitstellen, Personal ausbilden und einstellen ein und überformen diese. In den neuen Stadtteilen existieren müssen oder dies an freie Träger delegieren, ohne dabei die dann oftmals städtische und ländliche Merkmale nebenei- Letztverantwortung vollständig abgeben zu dürfen. nander, also neben historischen Ortskernen anonyme Wohn- „Kommune“ ist, so könnte die Antwort auf die eingangs ge- blocks. Umgekehrt ziehen auch ländliche Aspekte in die Stadt: stellte Frage lauten, die Möglichkeit, das eigene Lebensumfeld Im Rahmen von Urban Gardening brechen interessierte An- in den verschiedenen Handlungsfeldern der Kommunalpolitik wohnerinnen und Anwohner versiegelte oder ungenutzte Flä- zu gestalten – als aktiver Bürger, als gewählter Repräsentant chen auf und gärtnern dort fortan öffentlich. Informationen zur politischen Bildung Nr. 333/2017
8 Kommunalpolitik Schwarmstädte und Landleben […] „Die Zahl der Hochschulstandorte ist mittlerweile so groß, Schon heute ist zu sehen, dass diese Binnenwanderung teils dass kaum jemand für eine höhere Bildung seine Heimatregi- fundamentale Veränderungen mit sich bringt. Das Leben in den on verlassen müsste“, heißt es in dem bemerkenswerten Report Schwarmstädten wird teurer, Wohnungen werden knapp. Es ist „Schwarmstädte in Deutschland“, den das Berliner Forschungsin- paradox: In einem Land, dessen Bevölkerung schrumpft, gibt es in stitut Empirica Ende 2015 im Auftrag des Bundesverbands deut- Teilen wieder Wohnungsnot. Hinzu kommt: Weil die Lebenshal- scher Wohnungs- und Immobilienunternehmen erarbeitet hat. tungskosten steigen, wird es auch mehr Verlierer geben in diesen Ein Ergebnis: Wenn den jungen Gebildeten ihre Stadt oder ihre Städten. Das hat gerade das Institut der deutschen Wirtschaft in Region nicht gefällt, wandern sie weiter, ganz gleich, wie das Köln herausgefunden: „Auch scheinbar wohlhabende Städte wei- Bildungsangebot in der Nähe ist. Spätestens nach dem Studium sen nach der Preisbereinigung ein hohes Armutsrisiko auf.“ […] zieht es sie in eine Stadt: dorthin, wo andere junge Gebildete woh- Die Frage ist, wie sich die nach Glück Suchenden und gut Ge- nen, wo etwas los und wo es schön ist. […] bildeten aus der Provinz mit den Armen in der Stadt arrangieren [D]iese neuartige Binnenwanderung [hat] […] nichts mit der und wie man diesen sozialen Sprengstoff entschärft. Viele Zu- klassischen Landflucht früherer Jahre zu tun. Denn die Stadt per zügler würden ohnehin am liebsten in der Stadt leben, aber ihr se ist gar nicht das Ziel. Dreißig besonders attraktive Schwarm- Dorfleben behalten. Vor zwei Jahren hat das Institut für Demos- städte haben die Autoren der Studie herausgefiltert: München kopie Allensbach festgestellt, dass der ländliche Raum für viele gehört dazu, Leipzig und Frankfurt, aber auch Bonn, Regensburg Deutsche „auf einer psychologischen Ebene“ sogar attraktiver und Trier. geworden sei. „Wo haben die Menschen ganz allgemein mehr „Praktisch das ganze Ruhrgebiet“ hingegen verliere Menschen vom Leben: auf dem Land oder in der Stadt?“ Auf diese Frage ant- an die sehr viel kleinere Stadt Münster. Die Alten schwärmen worteten 1956 noch 59 Prozent der Menschen mit Stadt. Heute dann in andere Richtungen aus, an die Nord- und Ostseeküste, sagt nur noch jeder Fünfte, in der Stadt lebten Menschen besser. nach Garmisch, Baden-Baden, Landshut oder Weimar. […] Das Landleben trage noch immer Züge eines Idealbildes, in den Diese Binnenflucht ist auch deshalb so bemerkenswert, weil Büchern der Stadtkinder seien Bauernhöfe abgebildet, die es seit sie nicht mehr nur dem klassischen Muster folgt: Menschen ge- Jahrzehnten allenfalls noch in Freilichtmuseen gebe, schreibt Au- hen nicht mehr nur dorthin, wo es Arbeitsplätze gibt. Schlicht ge- tor Thomas Petersen. sagt, das müssen sie aktuell nicht. Der Wirtschaft in Deutschland „Je mehr Menschen in der Stadt leben, je weniger Kontakt sie geht es gut, es gibt in der Regel genug Arbeitsplätze – auch in der zum tatsächlichen Landleben haben, desto mehr wird das Land Provinz. Das Wirtschaftswachstum ist in vielen Regionen sogar zu einer Projektionsfläche ihrer Phantasien.“ […] stärker als in den Städten. Den Schwärmern geht es gut, und sie Tatsächlich ist in manchen Stadtteilen schon heute zu beob- leisten sich diese wirtschaftlich eigentlich unsinnige Wanderung. achten, wie die neuen Bewohner versuchen, ein ländliches Idyll „Geldverdienen müssen“ hat in der Erbengeneration an Bedeu- zu erschaffen mit „Urban Gardening“, Bioläden und Bouleplätzen tung verloren. Natürlich bleibt es wesentlich, aber andere Ziele wie in der französischen Provinz. spielen eine stärkere Rolle. Glaubt man den Empirica-Autoren, dann werden die meisten Für ein glückliches Leben etwa, was immer man darunter ver- Maßnahmen gegen die neue Binnenwanderung scheitern. Billige steht, nehmen viele Jüngere finanzielle Einbußen in Kauf. So Grundstücke für Familien, Lockangebote für junge Ärzte werden kommt es, dass viele Menschen heute in teuren, aber attraktiven ein Dorf schwächen, das andere stärken und nur zu einem letzt- Schwarmstädten wohnen und zum Arbeiten in die Provinz pen- lich aussichtslosen Verteilungskampf innerhalb einer Verlierer- deln. Arbeiten in Wolfsburg, wohnen in Berlin, selbst das ist keine region führen. Besser wäre es demnach, in jeder Region die Kräfte Seltenheit. Früher sind die Menschen vom Land in die Stadt gefah- zu bündeln und ein Zentrum zu stärken. Dass damit Konflikte ren, um zu arbeiten. Heute ist es umgekehrt. Deshalb hilft es auch aufkämen, sei keine Frage. Aber eine andere Lösung dürfte es nur bedingt, auf dem Land Arbeitsplätze zu schaffen, um diese Be- kaum geben. Die Autoren wählen einen drastischen Vergleich: wegung zu stoppen: „Neue Arbeitsplätze im Donnersbergkreis oder „Zwei halbtote Städte werten die Region nicht auf, eine lebendige in Merseburg bringen zunächst Mainz und Leipzig zusätzliche Ein- und eine tote hingegen schon.“ wohner, nicht aber dem Donnersbergkreis oder Merseburg selbst“, Bernd Freytag, „Alle auf einen Haufen“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 10. August heißt es in dem Report. Was die Attraktivität der Schwarmstädte 2016; © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur ausmacht, darüber herrscht Rätselraten: Letztlich zeichneten sie Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv sich dadurch aus, dass sie eine angenehme Atmosphäre hätten. […] Wildtiere kehren in die Städte zurück. Im Sommer 2016 fütter- ter aus. Benachteiligte Quartiere sind nur sehr schwer wieder ten Badegäste über Wochen liebevoll einen Fuchs, der sich in aufzuwerten, strukturschwache Regionen verlieren Einwohner ein Berliner Schwimmbad verlaufen hatte, bis ihn schließlich und insbesondere Einwohnerinnen, denn junge Frauen sind Jäger zur Strecke brachten. Auch Wildschweine und Waschbä- oftmals schneller bereit, den Wohnort zu wechseln, als Männer, ren entdecken zunehmend städtische Grünzüge und Müllton- was die Chancen der Verbliebenen weiter reduziert. Benachtei- nen als ihr Territorium. Imker produzieren Honig in der Stadt, ligte Regionen verlieren Arbeitsplätze und Infrastruktur, wie weil ihre Bienen dort während der gesamten Saison Blüten Busverbindungen, Ärzte und Apotheken. Zurück bleiben häufig finden, während sie inmitten von großflächigen Monokultu- ältere Menschen und eine gewisse Hoffnungslosigkeit, die ei- ren auf dem Land in Schwierigkeiten geraten. nen Nährboden für politische Radikalisierung bilden kann. Die Lebensformen in „Stadt“ und „Land“ haben sich also in Boomende Regionen und Städte sind geprägt von Zuzug, mancher Hinsicht angeglichen – die Chancen einzelner Quar- Wirtschaftswachstum und einer Vielzahl kultureller Ange- tiere, Orte oder Regionen aber differenzieren sich immer wei- bote, aber auch sie produzieren eigene Probleme: Durch die Informationen zur politischen Bildung Nr. 333/2017
Was ist eine Kommune? Zur Bedeutung von Kommunalpolitik heute 9 Unterschiedliche Voraussetzungen für kommunale Steuerung: Frankfurt – Frankfurt Die Städte Frankfurt am Main und Frankfurt (Oder) haben den Die Städte im Zahlenvergleich gleichen Namen, sind aber sehr unterschiedlich. Das hat den Kabarettisten Rainald Grebe dazu veranlasst, ein Theaterstück Frankfurt (Oder) Frankfurt am Main zu schreiben, in welchem er beide Städte beschreibt. „Ist Frank- Einwohnerzahl 57 649 717 624 furt noch zu retten? Wenn die Entwicklung so weitergeht, wird Einwohnerdichte 389,9 2 890,0 es Frankfurt in 100 Jahren nicht mehr geben. Denn die jungen (Einwohner je km²) Frankfurter ziehen weg und die alten Frankfurter sterben“ – Unter 18-Jährige 13,2 % 16,2 % heißt es über Frankfurt (Oder). Über 65-Jährige 24,0 % 15,9 % Frankfurt (Oder) ist eine traditionsreiche Stadt in Branden- Ausländeranteil 5,4 % 27,7 % burg an der polnischen Grenze. Durch die Nähe zur Hauptstadt Arbeitslosenquote 13,1 % 7,3 % Berlin und die Nähe zu Polen ist Frankfurt (Oder) theoretisch ein interessanter Wirtschaftsstandort. Doch die Heimatstadt BIP je Erwerbstätigen 49 377 Euro im Jahr 2013 93 194 Euro im Jahr 2013 des Schriftstellers Heinrich von Kleist (1777 – 1811) wurde im Schulden 65 Millionen Euro 1 540 Millionen Euro im Zweiten Weltkrieg zur Ruinenstadt. Jahr 2013 In der DDR wurde Frankfurt (Oder) einer der 15 Verwaltungs- Werte von 2014, wenn nicht anders angegeben bezirke. Heute schrumpfen seit Jahren die Bevölkerungszahlen. Im Jahr 2000 wohnten dort 72 131 Personen, im Jahr 2014 nur noch 57 649. Besonders der Anteil junger Menschen nimmt ab. Die kreisfreie Stadt Frankfurt (Oder) hat ein Haushaltsvolumen picture alliance / Andreas Arnold / dpa von circa 200 Millionen Euro. Im Gegensatz zu Frankfurt (Oder) wuchs Frankfurt am Main von 646 550 Einwohnern im Jahr 2000 auf 717 624 im Jahr 2014 an. Somit ist die kreisfreie Stadt Frankfurt am Main eine Groß- stadt. Ihre Größe ermöglicht und erfordert auch ein entspre- chend größeres Haushaltsvolumen von circa drei Milliarden Euro (ohne Berücksichtigung der 371 Eigenbetriebe in den Be- reichen Wirtschaft, Verkehr, Entsorgung, Wohnungsbau, Kultur, Freizeit und Sozialwesen). Die größte Stadt Hessens und fünftgrößte Stadt Deutsch- Gleicher Name, aber unterschiedliche Voraussetzungen: Frankfurt am Main ist lands ist für ihren internationalen Flughafen, das Bankenwe- (gemäß BBSR s. a. S. 4) eine große Großstadt und bietet mit seinen Hochhäusern sen und die Skyline der Hochhäuser bekannt. Viele Menschen eine eindrucksvolle Kulisse. Jeden Tag pendeln Tausende in die Stadt zur Arbeit. leben dort auf engem Raum, und es werden tendenziell immer mehr. Tagsüber sind es weit über 1,5 Millionen Menschen, da Ulf Boettcher / LOOK-foto viele zum Arbeiten nach Frankfurt am Main pendeln. Trotz des Bankenwesens und des hohen Bruttoinlandsprodukts pro Erwerbstätigen sind die öffentlichen Schulden der Großstadt Frankfurt am Main viel höher als die des kleineren Frankfurt (Oder). Dieses konnte in den vergangen Jahren Schulden abbauen, während sie in Frankfurt am Main gestiegen sind. Elena Frank Im brandenburgischen Frankfurt (Oder), an der polnischen Grenze gelegen, ist die Einwohnerzahl seit der Einheit stark gesunken. Blick von der polnischen Sei- te über die Oder auf die Stadt. Überteuerung von Wohnraum in den Innenstädten – durch also sowohl das Entstehen von Gettos oder Slums, als auch große Nachfrage, aber auch, weil Immobilien als Spekula- das Entstehen von Gated Communities, von Quartieren also, tionsobjekte gehandelt werden – ist es für manche Global in die nur eine reiche Oberschicht Zutritt hat. Denn beide Citys (Städte von internationaler Bedeutung) inzwischen Formen der Entmischung sind mit Folgekosten für die Kom- schwer, offene Stellen in bestimmten Berufen zu besetzen, munen verbunden. Weder abgehängte noch „abgehobene“ wie etwa in Kindertageseinrichtungen oder bei Rettungs- Quartiere inspirieren dazu, sich aktiv in das kommunalpo- diensten. Wo sie können, zahlen finanzkräftige Städte daher litische Geschehen einzubringen und zum Beispiel ein Man- höhere Löhne, doch reicht dies häufig nicht, um sich die Mie- dat in der Kommunalvertretung anzustreben. Ebenso ist ten dort leisten zu können, sodass die offenen Stellen viel- auch das Entstehen abgehängter Regionen zu verhindern fach trotzdem nicht besetzt werden können. oder rückgängig zu machen. Eine Aufgabe, die die Kommu- Kommunalpolitik muss versuchen, zu große Segregation nen alleine nicht bewältigen können. (Entmischung) von Bevölkerungsgruppen zu verhindern, Informationen zur politischen Bildung Nr. 333/2017
10 Kommunalpolitik Die Stadtstaaten als auch aus Mitgliedern der Bremerhavener Bürgerschaft Elena Frank (15 Abgeordnete) gebildet. Die Bremer Mitglieder haben eine In Deutschland gibt es drei Stadtstaaten: Berlin, Hamburg Doppelfunktion: Sie bilden einerseits die Gemeindevertre- und Bremen. Sie sind Bundesländer und Kommunen zu- tung der Stadt Bremen, zugleich aber auch gemeinsam mit gleich. Das Bundesland Bremen besteht aus zwei Kommu- jenen aus Bremerhaven die Volksvertretung des Landes Bre- nen – der Stadt Bremen und der Stadt Bremerhaven – und ist men. Diese Doppelfunktion hat auch der Bürgermeister: Er ist genau genommen ein Zwei-Städte-Staat oder eigentlich ein gleichzeitig Chef der Landesregierung und Bürgermeister der Zwei-Städte-Bundesland. Stadt Bremen. Der Gegensatz zum Stadtstaat ist ein Flächenland. Das ist ein Bundesland, das viele Gemeinden einschließt und von ihnen administrativ und politisch getrennt ist. Die anderen Stadtstaaten: ihre oberste Leitungsebene 13 Bundesländer Deutschlands sind Flächenstaaten. Der Status als Stadtstaat hat Auswirkungen auf die Auf- Berlin Hamburg Bremen gabenvielfalt, die Organisationsstruktur und Entscheidungs- Landesregierung Regierender Erster Bürger- Bürgermeister prozesse der Kommune. Deshalb werden Stadtstaaten bei all- Bürgermeister meister gemeinen Erklärungen zur Kommunalpolitik oder auch bei Senat Senat Senat der Statistik häufig nicht berücksichtigt. Beispielsweise wird Landesparlament Abgeordneten- Bürgerschaft Bürgerschaft in Berlin und Hamburg nicht zwischen dem Landes- und dem haus Kommunalhaushalt unterschieden, weswegen sie nicht mit anderen Kommunalhaushalten vergleichbar sind und zum Beispiel aus den Statistiken zu Kommunalfinanzen ausgeklam- mert werden. Aufgrund ihrer Größe werden die Stadtstaaten in Bezirke (Ber- Die Stadtstaaten Berlin und Hamburg sind getrennt von lin und Hamburg) und Stadt- bzw. Ortsteile (Bremen) einge- dem Zwei-Städte-Staat Bremen zu betrachten. Da Berlin und teilt. In Berlin mit etwa 3,5 Millionen Einwohnern gibt es zwölf Hamburg gleichzeitig Land und Gemeinde sind, sind die Lan- Bezirke, sodass im Durchschnitt auf einen Bezirk 300 000 Ein- desverfassungen zugleich Kommunalverfassungen. Dort wer- wohner kommen. Die durchschnittliche Einwohnerzahl der den staatliche und kommunale Tätigkeiten nicht voneinander Berliner Bezirke entspricht der Einwohnerzahl von Großstäd- getrennt. Die Volksvertretung, Regierung und Verwaltung ten wie Münster, Karlsruhe oder Augsburg. nehmen somit die Aufgaben von Berlin bzw. Hamburg als Ge- In den Bezirken werden untergeordnete Verwaltungsein- meinde und als Land wahr. heiten gebildet, welche für Aufgaben und Entscheidungen Der Zwei-Städte-Staat Bremen untergliedert sich in die Städ- vor Ort zuständig sind. Diese Dezentralisierung schafft mehr te Bremen und Bremerhaven. Die größere Stadt Bremen weist Bürgernähe. In den einzelnen Bezirken existieren kommuna- stadtstaatähnliche Strukturen auf, da die Landesverfassung zu- le Strukturen und Gremien, sie sind aber keine selbstständi- gleich die Kommunalverfassung ist und darüber hinaus städti- gen Gemeinden. Je nach der entsprechenden Verfassung gibt sche und staatliche Organe weitgehend identisch sind. Die zwei- es Unterschiede in den einzelnen Stadtstaaten bezüglich der te Stadt Bremerhaven ist organisatorisch vom Land getrennt Aufgaben, Rechte und Pflichten der Bezirke. Während für die und hat auch eine eigene Kommunalverfassung. Gesamtstadt die Landesverfassung gilt, regelt das Bezirksver- Da Stadtstaaten Kommune und Land zugleich sind, ist für die waltungsgesetz (bzw. Ortsgesetz in Bremen) die Verwaltung Gesamtstadt die Landesregierung zuständig. Die Regierung be- in den Bezirken. steht in den Stadtstaaten aus dem Senat, mit dem Regierenden In jedem Bezirk gibt es eine eigene Verwaltung (Bezirksamt Bürgermeister (Berlin), Ersten Bürgermeister (Hamburg) oder in Berlin und Hamburg oder Ortsamt in Bremen genannt) Bürgermeister (Bremen) als Regierungschef. Er entspricht den sowie eine eigene Vertretungskörperschaft (Bezirksverordne- Ministerpräsidenten in den Flächenländern. Deshalb sitzt er tenversammlung in Berlin, Bezirksversammlung in Hamburg auch im Bundesrat. Zu seinen Aufgaben gehört es, den Stadtstaat und stadtteilbezogene Beiräte in Bremen). Die Vertretungs- nach außen zu vertreten und den Vorsitz im Senat zu führen. körperschaft wird wie das Landesparlament von den Einwoh- Gemeinsam mit seinem Regierungskollegium – dem Senat – be- nern der entsprechenden Bezirke gewählt. Sie hat die Aufga- stimmt er die Richtlinien der Regierungspolitik des Stadtstaates. be, die Verwaltung in dem jeweiligen Bezirk zu kontrollieren Die Senatoren führen und beaufsichtigen die Hauptver- und Maßnahmen vor Ort anzuregen. Die Bezirksverwaltung waltung in dem ihnen zugeteilten Geschäftsbereich. Sie sind verfügt über finanzielle Mittel, die ihr von der Gesamtstadt sowohl Landesminister als auch städtische Dezernenten. Die zugeteilt werden, über welche sie in einem eingeschränkten Hauptverwaltung übernimmt Aufgaben von übergeordneter Rahmen frei bestimmen kann. Auch wenn die Bezirksämter in Bedeutung, welche einer einheitlichen Regelung für die Ge- den ihnen übertragenen Aufgaben frei handeln können, hat samtstadt bedürfen. der Senat ein allgemeines Eingriffsrecht. Die Landesregierung wird vom Landesparlament gewählt, welches in den Stadtstaaten Abgeordnetenhaus (Berlin) und Bürgerschaft (Hamburg, Bremen) genannt wird. Das Abgeord- Leitung und Verwaltung in Bezirken / Stadtteilen netenhaus bzw. die Bürgerschaft wird wiederum von den Bür- gern gewählt und ist die Vertretung des Volkes. Sie hat folgen- Berlin Hamburg Bremen de Aufgaben: Wahl des Regierungschefs und der Senatoren, Vertretung Bezirksverordne- Bezirks stadtteilbezogene Gesetzgebung für das jeweilige Land und Kontrolle des Senats. tenversammlung versammlung Beiräte Aufgrund der Zusammensetzung aus den zwei Städten Bre- Regierung / Bezirksbürger- Bezirksamtsleiter Beiratssprecher men und Bremerhaven wird die Landesregierung des Landes Leitung meister Bremen sowohl aus Mitgliedern der Bremer (68 Abgeordnete) Verwaltung Bezirksamt Bezirksamt Ortsamt Informationen zur politischen Bildung Nr. 333/2017
Was ist eine Kommune? Zur Bedeutung von Kommunalpolitik heute 11 Seit der Wiedervereinigung Deutschlands gab es immer wie- So bleiben die drei genannten Städte frei und den Bundes- der Bestrebungen, den Stadtstaat Berlin und das Bundesland ländern gleichrangig. Sie führen damit eine lange Traditi- Brandenburg zu fusionieren. Davon erhofften sich die Befür- onslinie fort: Berlin als eine Rechtsnachfolgerin des Staates worter eine Stärkung des Wirtschaftsstandorts Berlin-Bran- Preußen, Hamburg als freie Reichsstadt seit 1510, Bremen seit denburg und eine Kostensenkung durch die Zusammenfüh- mindestens 1649. rung der Verwaltung. Im Jahr 1996 scheiterte die Fusionierung Letztere erinnern gerne daran, dass sie der Hanse, einem jedoch an einem Volksentscheid, weil die Mehrheit der Bran- einflussreichen Handelsverband von Städten im Nord- und denburger mit Nein stimmte. Sie befürchtete einen finan- Ostseeraum, angehörten. Dieser Verband wurde 1669 nach ziellen Nachteil und zugleich eine politische Dominanz der 400-jährigem Bestehen aufgelöst, 1980 aber aus Gründen der Hauptstadt in dem dann neu entstehenden Bundesland. Traditionspflege wiederbelebt. picture alliance / Robert Schlesinger ullstein bild – CARO / Frank Sorge picture alliance / prisma / Bernd j. Fiedler picture alliance / ZB / euroluftbild.de / Siegfried Kuttig Berlin und Hamburg sind Land und Kommune in einem. Das Land Bremen besteht aus zwei Kommunen, den Städten Bremen und Bremerhaven. Im Bild oben ist Berlin mit Spree, Nikolaiviertel, Alexanderplatz (mit Fernsehturm) und dem Roten Rathaus zu sehen. Die Bremer Stadtmusikanten, Esel, Hund, Katze, Hahn, stehen am Westportal des Bremer Rathauses. Der Seehafen in Bremerhaven ist eines der Exportzentren Deutschlands. Die Elbphilharmonie am Ufer der Elbe im neuen Stadtteil Hamburg-HafenCity (Bild unten) wurde 2016 eröffnet und gehört zu den Wahrzeichen Hamburgs. Informationen zur politischen Bildung Nr. 333/2017
12 Kommunalpolitik Jens Hildebrandt Geschichte der kommunalen Selbstverwaltung Die heute gültigen Gemeindeordnungen entwickelten sich Die heutige kommunale Selbstverwaltung entstand als Er- seit dem Mittelalter stetig weiter. Auf dem Weg zur Selbst- gebnis der politischen Entwicklung in Deutschland seit dem verwaltung gab es aber auch zahlreiche Hindernisse, die 19. Jahrhundert. Die Ursprünge der kommunalen Selbstver- überwunden werden mussten. waltung reichen bis ins Mittelalter zurück, denn in dieser Zeit hatten sich bereits Gemeinden als genossenschaftlich gepräg- te Gebietskörperschaften herausgebildet, die öffentlich-recht- liche Aufgaben wahrnahmen. Das Freiheitsversprechen Seit dem 15. Jahrhundert waren auch Freie Städte und der Preußischen Reichstädte entstanden, die unabhängig vom Einfluss der Landesfürsten entweder „reichsunmittelbar“ dem Kaiser Städteordnung (1806 – 1848) unterstellt waren oder nur einem Bischof als Landesfürsten dienten. Diese Städte verfügten über zahlreiche Selbstver- Die Gemeinde ist eine Urform des gemeinschaftlichen Zu- waltungsrechte und Privilegien in Fragen der Gerichtsbar- sammenlebens von Menschen, um die Dinge des täglichen keit, der Teilnahme an Kriegen oder der Steuerzahlung an Bedarfs, gemeinsame Aufgaben und Herausforderungen kol- das Reich, die es ihnen erlaubten, in ihren Stadtmauern wei- lektiv zu meistern. Dabei haben sich Grundstrukturen heraus- testgehend unabhängig zu bleiben. Auf diese Traditionsbe- gebildet, die bis heute Bestand haben. Auftretende Konflikte stände griffen zahlreiche Reformer der kommunalen Selbst- im Inneren werden durch eine Gemeindevertretung, einen verwaltung im 19. Jahrhundert zurück. Rat oder eine Versammlung geklärt. Die Beziehungen zu ande- Die Idee der kommunalen Selbstverwaltung fand ihre mo- ren Personen und Institutionen außerhalb der Gemeinschaft derne Form und Ausprägung im Zuge der Entstehung eines werden durch Personen geregelt, die die Gemeinde offiziell deutschen Nationalstaates nach der Französischen Revolution vertreten. Dabei haben sich je nach Region und Land unter- 1789. Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation hatte auf- schiedliche Verwaltungstraditionen und -institutionen, aber gehört zu bestehen, und Napoleon Bonaparte – General und auch verschiedene Formen der Willensbildung und Entschei- selbstgekrönter Kaiser – hatte in Folge der Revolutionskriege dungsfindung in den Kommunen herausgebildet. Das nicht seit 1792 die deutsche und europäische Landkarte neu geord- immer spannungsfreie Verhältnis von bürgerschaftlicher Be- net. Im Süden des heutigen Deutschlands entstand mit dem teiligung, leistungsfähiger Verwaltung und kommunaler So- Rheinbund 1806 eine Konföderation, also ein Staatenbund von lidargemeinschaft bestimmt die Selbstverwaltung bis heute. Napoleons Gnaden. INTERFOTO / Sammlung Rauch Seit dem 15. Jahrhundert verfügen die Freien und Reichsstädte über zahlreiche Selbstverwaltungsrechte und sind innerhalb ihrer Stadtmauern weitestge- hend unabhängig. Stadtansicht der Freien Reichsstadt Köln, Holzschnitt aus der Schedelschen Weltchronik, Nürnberg 1493 Informationen zur politischen Bildung Nr. 333/2017
Geschichte der kommunalen Selbstverwaltung 13 akg-images ullstein bild – Heritage Images / Stapleton Historical Collection bpk / Villa von der Heydt, SPK In der Schlacht bei Jena und Auerstedt am 14. Oktober 1806 besiegt das napoleonische Heer die preußischen Truppen. Karl August Freiherr von Hardenberg und Karl Freiherr vom und zum Stein bemühen sich nach der Niederlage, durch Reformen, die auch die kommunale Selbstverwaltung betreffen, Preußen zu neuer Macht zu verhelfen. Die drei süddeutschen Staaten Bayern, Württemberg und Das Ziel dieser preußischen Reformen war es, den „Charakter Baden wurden zu dessen Kernstaaten und übernahmen das der Nation durch die Verwaltung“ zu bilden. Eine effiziente Ver- französische Verfassungs-, Verwaltungs- und Rechtssystem. waltung sollte dazu beitragen, die machtpolitische Bedeutung Sie wurden zu napoleonischen „Modellstaaten“ und orien- Preußens durch eine aktive Einbeziehung der Gesellschaft zu tierten ihre Staatsorganisation an den Prinzipien der Rati- stärken. Die Aufgabe der Selbstverwaltung in den Provinzen, onalität und Zweckmäßigkeit. Hier wurde relativ rasch ein Kreisen und Städten war die „Belebung des Gemeingeistes und dreistufiges Verwaltungssystem nach französischem Vorbild Bürgersinns, die Benutzung der schlafenden und falsch gelei- aus Départements, Arrondissements (Distrikte) und Muni- teten Kräfte und zerstreut liegenden Kenntnisse, der Einklang zipalitäten mit Präfekten, Unterpräfekten und Maires (Bür- zwischen dem Geist der Nation, ihren Ansichten und Bedürf- germeistern) installiert. Das zentralistisch-bürokratische nissen und denen der Staatsbehörden, die Wiederbelebung Präfektursystem führte zu einer strikten Zentralisierung der Gefühle für Vaterland, Selbstständigkeit und Nationalehre“ der Staatsgewalt und zu einem Ende der Selbstverwaltung (Auszug aus der Nassauer Denkschrift, siehe u.). der Gemeinden. Aber nicht nur die Gemeinden büßten ihre Selbstständigkeit ein, auch viele Freie Städte und Reichsstäd- te verloren ihre Unabhängigkeit und wurden in die süddeut- Die Nassauer Denkschrift „Über die zweckmäßige Bildung schen Staaten eingegliedert. der obersten und der Provinzial-, Finanz- und Polizei-Behör- In Jena und Auerstedt, im heutigen Thüringen, schlugen den in der preußischen Monarchie“ aus dem Jahre 1807 bil- Napoleons Truppen noch im gleichen Jahr am 14. Oktober 1806 dete die programmatische Grundlage für eine umfassende die preußischen Truppen. Diese waren schlecht ausgerüstet, Staatsreform. Heinrich Friedrich Karl Reichsfreiherr vom mangelhaft vorbereitet und hatten ohne Kampfgeist agiert. und zum Stein war preußischer Beamter und Staatsmann. Das Königreich Preußen war bis zu diesem Zeitpunkt eine Nach ersten Verwaltungserfahrungen in den westlichen führende europäische Großmacht. Nun lag es am Boden, war preußischen Provinzen wurde er Minister für Wirtschaft räumlich stark verkleinert und durch die Zahlung von Kriegs- und Finanzen in Berlin. Er war zusammen mit Karl August kosten finanziell handlungsunfähig. von Hardenberg nach dem Frieden von Tilsit der Hauptbe- In dieser prekären Lage versuchte der Reichsfreiherr Karl treiber der Preußischen Reformen, musste aber aufgrund vom und zum Stein (1757 – 1831) gemeinsam mit Karl August seiner antinapoleonischen Haltung bereits 1808 ins Exil ge- von Hardenberg (1750 – 1822) durch eine radikale Staats- und hen, bevor ihn der russische Zar Alexander I. 1812 als Berater Gesellschaftsreform Preußen kurzfristig wieder handlungsfä- in seine Dienste nahm. Bis zu seinem Tod blieb vom Stein ein hig zu machen und langfristig dessen machtpolitische Stellung Verteidiger ständischer Interessen des Adels und kritisierte in Europa zu stärken. Im Rahmen der Preußischen Reformen die bürgerliche Emanzipationsbewegung. kam es zu einem Bündel von Veränderungen aus Verwaltungs- reform, Bauernbefreiung, Wirtschafts- und Finanzreform, Re- form des Militärwesens und Judenemanzipation. Stein stellte die ständische Gliederung der Gesellschaft in Adel, Die in der Städteordnung vom 19. November 1808 nieder- Bürgertum und Bauernschaft nicht grundsätzlich in Frage, gelegte Kommunalreform, die Stein gemeinsam mit seinem doch er sah im Besitzbürgertum einen Träger seiner Reform- Mitarbeiter Gottfried Frey (1762 – 1831) entworfen hatte, nahm ideen. Das Wahlrecht sollte prinzipiell allen Eigentümern zu- in diesem Reformpaket eine entscheidende Rolle ein. Sie war stehen und war an eine Besitzklausel gebunden. Demnach als bewusstes Gegenmodell zur französischen „Mairie-Verfas- waren nur knapp zehn Prozent der Einwohner wahlberech- sung“ gedacht, nach der die Stadtverwaltung mit dem Bür- tigte Bürger. Neu war die ausdrückliche Nennung des Bürger- germeister an der Spitze weiterhin nur ein Glied der zentral- tums, das aufgrund seiner ökonomischen Lage und Bildung staatlichen Verwaltung war und nicht unabhängig mit einem dazu befähigt sei, das Steueraufkommen zu steigern und sich eigenen Zuständigkeitsbereich agieren konnte. mit dem politischen Gemeinwesen zu identifizieren. Informationen zur politischen Bildung Nr. 333/2017
14 Kommunalpolitik Gleichzeitig existierten unterhalb dieser gesellschaftlichen rung des allgemeinen Wahlrechts 1871 und die Ausweitung Ebene soziale Gruppen, die von der Politik ausgeschlossen der Teilhabechancen der Bürgerschaft in der Kommune er- waren. Zu ihnen gehörten unter anderem Gesellen, Hand- halten, wobei Frauen weiterhin von der Wahl ausgeschlossen langer, Tagelöhner, Arbeiter, Hausdiener, aber auch niedere blieben und in den einzelnen Bundesstaaten, wie die Bundes- Beamte. länder damals bezeichnet wurden, weiterhin ein restriktives Die Stadtverordneten sollten in der Stadtverordnetenver- Dreiklassenwahlrecht vorherrschte. sammlung nicht als Vertreter ihres Standes auftreten, sondern Aber durch die Veränderungen des Kommunalwahlrechts als Repräsentanten der gesamten Gemeinde, die nur ihrem am Ende des 19. Jahrhunderts wandelte sich auch die soziale Gewissen unterworfen waren. Dass ihre Entscheidungen in Zusammensetzung insbesondere der zweiten Wählerklasse so der Realität weiterhin vielfach ständischen Interessen folgten, sehr, dass vielerorts die Mehrheit in den Stadtverordnetenver- war angesichts der gesellschaftlichen Stellung der Stadtver- sammlungen vom liberalen Bürgertum erobert werden konnte. ordneten vorhersehbar. Die Stadtverordnetenversammlung wählte einen Magistrat als Verwaltungsspitze, dessen Mit- glieder nicht der Stadtverordnetenversammlung angehören durften. Bereits 1831 wurde der Magistrat zu einer Art zweiten Kommunale Selbstverwaltung als Kammer aufgewertet. Die Beschlüsse der Stadtverordneten- demokratische Teilhabe (1848 – 1914) versammlung konnten ohne eine Zustimmung des Magistrats nicht in Kraft treten, was die Machtstellung der Verwaltung in der Preußischen Städteordnung stärkte. Die rheinbündischen und preußischen Reformen brachen die Stein übernahm damit Ideen, wie sie bereits in Großbri- traditionellen absolutistischen Herrschaftsstrukturen auf. Die tannien von Edmund Burke oder in Frankreich von Charles Kommunen wurden trotz der obrigkeitsstaatlichen Zensurpo- de Montesquieu formuliert worden waren. Er verstand die litik des Deutschen Bundes (1815 – 1866), die mitunter bis in die kommunale Selbstverwaltung mitnichten als Keimzelle der kommunale Ebene wirkte, zum Experimentierfeld des Bürger- Demokratie; sie diente ihm vielmehr zur politischen Mo- tums für dessen ökonomisches, soziales und kulturelles En- bilisierung der Nation unter Rückgriff auf mittelalterliche gagement. In den Kommunen entwickelten sich liberale Dis- Traditionen gegen die französische Fremdherrschaft. Als kussionsplattformen der bürgerlichen Verfassungsbewegung, rationale Organisationseinheit im Gesamtgefüge der staatli- auf denen weitergehende Teilhaberechte des Bürgertums dis- chen Verwaltung war die kommunale Selbstverwaltung des kutiert wurden. Reichsfreiherrn vom Stein ein Herrschaftselement, das zum Reformer, wie der Staatsrechtler Lorenz von Stein (1815–1890), machtpolitischen Wiederaufstieg des Königreichs Preußen sahen die kommunale Selbstverwaltung mit hoher Eigen- in Europa beitragen und langfristig zur Herausbildung einer verantwortung unabhängig von staatlicher Einflussnahme eigenständigen Herrschaftskultur der Beamtenschaft – der ausgestattet, und für den Juristen und Politiker Rudolf Gneist Bürokratie – beitragen sollte. (1816–1895) waren unbesoldete Ehrenbeamte die zentrale Säu- Der innovative Charakter seines Reformwerks bestand zum le der kommunalen Unabhängigkeit. Für konservative Theo- einen im Freiheitsgewinn der Kommunen gegenüber der zen- retiker hingegen konnte es keine autonomen kommunalen tralstaatlichen Autorität, dessen wichtigstes Merkmal die Fi- Hoheitsrechte, sondern nur vom Staat verliehene und zugewie- nanzhoheit der Kommune war; zum anderen in der institutionel- sene Aufgaben geben. len Öffnung der Stadtverordnetenversammlung weg von einer Erst im späten 19. Jahrhundert gewannen die liberalen Refor- Ständeversammlung hin zu einem repräsentativen Gremium, men im Zuge der Industrialisierung, gesellschaftlichen Mobi- auch wenn dies nicht seine eigentliche Zielsetzung gewesen war. lisierung und deutschen Nationalstaatswerdung einen immer Einen demokratischen Modernisierungsimpuls sollte die stärkeren Einfluss auf die Modernisierung der kommunalen kommunale Selbstverwaltung jedoch erst durch die Einfüh- Selbstverwaltung. INTERFOTO / Austrian National Library ullstein bild – adoc-photos / J.C. Schaarwächter akg-images Lorenz Ritter von Stein und Heinrich Rudolf Hermann Friedrich von Gneist setzen Die 1849 in der Frankfurter Paulskirche verabschiedete Verfassung gewährt den Ge- sich für eine unabhängige kommunale Selbstverwaltung ein. meinden in § 184 umfangreiche Selbstverwaltungsrechte. Informationen zur politischen Bildung Nr. 333/2017
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