Inklusion in Archiven - Möglichkeiten und Grenzen in der Archivbenutzung
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Inklusion in Archiven – Möglichkeiten und Grenzen in der Archivbenutzung Bachelorarbeit am Fachbereich Informationswissenschaft im Studiengang Archiv Zur Erlangung des akademischen Grades eines Bachelor of Arts Name: Lukas Heck Matrikelnummer: 15358 Studiengang: Archiv Erstgutachter: Prof. Dr. Michael Scholz Zweitgutachterin: Sabine Stropp M.A. Eingereicht am 07.02.2020
Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung ............................................................................................................. 3 2. Begrifflichkeiten ................................................................................................... 4 2.1 Inklusion ........................................................................................................ 4 2.2 Barrierefreiheit ............................................................................................... 6 2.3 Behinderung .................................................................................................. 7 3. Rechtliche Grundlage der Menschen mit Behinderung ...................................... 10 3.1 UN-Behindertenrechtskonvention ................................................................ 10 3.2 Gesetzliche Bestimmungen in der Bundesrepublik Deutschland ................. 12 3.3 Barrierefreie-Informationstechnik-Verordnung ............................................. 14 3.4 Archivspezifische Gesetze und Richtlinien .................................................. 15 4. Anforderungen an Archive ................................................................................. 16 4.1 Praktische Anforderungen aus Nutzersicht .................................................. 16 5. Grundlagen der Behinderten- und Sonderpädagogik mit dem Blick auf die Vermittlung von Geschichte ............................................................................... 22 5.1 Bildung für Menschen mit geistigen Behinderungen .................................... 22 6. Leichte & Einfache Sprache ............................................................................... 25 6.1 Leichte Sprache .......................................................................................... 25 6.2 Einfache Sprache ........................................................................................ 28 6.3 Anwendung von Leichter und Einfacher Sprache in Archiven ...................... 30 7. Angebote von Kulturinstitutionen ....................................................................... 32 7.1 Kulturelle Angebote und Projekte von Archiven ........................................... 32 7.2 Kulturelle Angebote und Projekte von Museen, Bibliotheken und Gedenkstätten ............................................................................................. 36 8. Konzeptideen und Projekte für Menschen mit Behinderungen ........................... 39 8.1 Persönliche Projekte ................................................................................... 40 8.2 Gruppenprojekte ......................................................................................... 42 8.3 Zeitzeugen .................................................................................................. 44 8.4 Tag der offenen Tür..................................................................................... 46 9. Fazit ................................................................................................................... 48 Anhang..................................................................................................................... 50 Literatur- und Quellenverzeichnis ............................................................................. 52 Eidesstattliche Erklärung .......................................................................................... 55 2
1. Einleitung Inklusion – einer der meist diskutierten Begriffe der letzten Jahre. Obwohl sich das Schlagwort Inklusion an zentralen Stellen in öffentlichen, politischen und fachwissenschaftlichen Debatten findet, stellt sich auch zehn Jahre nach der Veröffentlichung der UN-Behindertenrechtskonvention noch immer die Frage nach ihrer Umsetzung. Menschen mit Behinderungen zählen auch heute noch zu Randgruppen der Gesellschaft. Vorurteile gegenüber behinderten Menschen abbauen, die Ziele der Inklusion in den Vordergrund stellen und die Möglichkeiten und Grenzen der Inklusion in Archiven zu konkretisieren ist im Archivkosmos unterrepräsentiert. Menschen mit Behinderung sind als gleichwertige Mitglieder der Gesellschaft wahrzunehmen und somit auch als potenzielle Archivbenutzer! Ihnen muss ohne Einschränkungen, wie jeder anderen Nutzergruppe, ein Zugang zum Archiv gewährleistet werden. Archive müssen sich mit der Anforderung auseinandersetzen, dass Menschen mit einer geistigen, körperlichen oder seelischen Behinderung eine weitere Klientel sind. Die Gleichheit aller Menschen und das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit sind elementare Grundpfeiler unserer Gesellschaft und im Grundgesetz verankert. In Deutschland leben 83 Millionen Menschen, davon haben ca. 7,8 Millionen eine Behinderung. 1 Sollen diese 7,8 Millionen Bevölkerungsmitglieder als potenzielle Nutzer von der archivischen Forschung ausgeschlossen werden? Das Grundgesetz sagt dazu: „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich und niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden“.2 Archive haben sich mit dem Thema der Inklusion bisher wenig beschäftigt, denn Menschen mit Behinderung sind nur einen Bruchteil der Nutzer. Andere Kultureinrichtungen wie Museen, Gedenkstätten oder Bibliotheken sind Archiven in dieser Beziehung deutlich voraus. Barrierefreiheit und Inklusion ist dort ein seit vielen Jahren zentraler und häufig schon umgesetzter Themenkomplex. Archive müssen sich 1 Statistisches Bundesamt: „Pressemitteilung Nr. 228 Anzahl der Menschen mit Behinderungen in Deutschland 2018“ verfügbar unter: https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2018/06/PD18_228_227.html [Letzter Zugriff am 06.02.2020] 2 Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG 3
ebenso die Frage stellen lassen: Welche Möglichkeiten haben ihre Institutionen und wo liegen die Grenzen in der Umsetzung von Inklusion? Eines steht außer Frage: Archive müssen die Bereitschaft haben, sich mit der Umsetzung von Inklusion auseinanderzusetzen. Denn auch wenn es nur wenige Menschen mit Behinderungen sind, die Archive in Anspruch nehmen wollen, ist es Pflicht der Archive, diesen Menschen den Zugang zu ermöglichen. Archive sollen bürgernah sein und haben eine einzigartige Aufgabe des Wissenstransfers in unserer heutigen Gesellschaft und Demokratie. Der Beauftragte der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen, Jürgen Dusel, fordert dazu: „Demokratie braucht Inklusion.“3 Konkret heißt das für ihn, dass es in einer offenen und liberalen Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland nicht mehr zeitgemäß ist, Menschen mit Behinderung die Teilhabe an Bildungsmöglichkeiten, zu denen die Archive gehören, zu verschließen. Archive müssen sich dem dynamischen Wandel stellen und neue Wege gehen. Dennoch muss in der Gesellschaft ein Konsens darüber herrschen, dass es keine „allgemeine Welt, an der alle mit Ausnahme der Menschen mit geistigen, körperlichen oder seelischen Behinderungen teilhaben“4 gibt. Die Realität zeigt - ein Mensch, ob behindert oder nicht behindert, kann nicht an allem teilhaben. Ferner besteht darüber hinaus Einigkeit, dass es „private Bereiche, exklusive Bereiche (wie z.B. Vereine oder die Kantine des Bundestags), Subkulturen, die sich voreinander abschotten“ 5 gibt. Freilich gibt es Zugangsbeschränkungen auf verschiedenen Ebenen, welche aber im Einklang mit Grundgesetz und Menschenrechten stehen und von der Gesellschaft akzeptiert sind. 2. Begrifflichkeiten 2.1 Inklusion Inklusion, eine Ableitung des Verbes „includere“, zu Deutsch „einschließen“ oder „einbeziehen“, ist nicht nur eine gutgemeinte Idee, sondern ein Menschenrecht. Es bedeutet, dass kein Mensch aus der Gesellschaft ausgegrenzt oder an dessen Rand 3 Beauftragter für die Belange von Menschen mit Behinderung: „Pressemitteilung Behindertenbeauftragter 100 Tage im Amt“, verfügbar unter: https://www.behindertenbeauftragter.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2018/PM9_100_Tage_im _Amt.html [Letzter Zugriff am 06.02.2020] 4 Erhardt/Grüber (2011): S. 36 5 Erhardt/Grüber (2011): Ebda. 4
gedrängt werden darf. Als Menschenrecht ist Inklusion unmittelbar mit dem Anrecht auf Freiheit, Gleichheit, Selbstbestimmung und Solidarität verbunden. Inklusion versteht sich als eigenständiges Recht, welches aber ohne die Anwendung dessen ein fehlender Teil in den Menschenrechten bleibt. Die Begrifflichkeit „Inklusion“ stellt einen Paradigmenwechsel im Umgang mit Menschen mit Behinderung dar. Die Betitelung der Inklusion soll vom Denken der Zwei-Klassen-Gesellschaft abwenden, in der eine Gruppe in eine andere integriert 6 werden muss. Inklusion hat demnach die Bedeutung, dass alle Menschen gleichberechtigt am Leben teilnehmen können. Um es eindeutig zu definieren: Inklusion ist nicht allein ein Thema für Menschen mit Behinderungen. Für alle Menschen in der Gesellschaft, die aufgrund von Alter, Behinderung, ihrer sexuellen Orientierung, Hautfarbe, Herkunft oder der Geschlechtsidentität nicht gänzlich und gleichberechtigt an der Gesellschaft partizipieren, ist Inklusion ein Menschenrecht 7 und dieses muss sich im gesamtgesellschaftlichen Kontext verstehen. In diversen Veröffentlichungen wird die Begrifflichkeit Inklusion durch folgende Abbildung veranschaulicht: Abb. 1 Aktion Mensch e. V., Was ist Inklusion?8 Die Abbildung zeigt drei unterschiedliche Bereiche – Exklusion, Integration und Inklusion. Exklusion (Kreis 1) umfasst die Ausgrenzung einzelner Personen oder von Gruppen aus der Gesamtgesellschaft. Ein Beispiel dafür sind Heime am Stadtrand, in denen Menschen mit Behinderungen lebten und somit nicht am gesellschaftlichen 6 Antor/Bleidick (2001): S. 76-79 7 Deutsches Institut für Menschenrechte: Online-Handbuch „Inklusion als Menschenrecht“ verfügbar unter: https://www.inklusion-als-menschenrecht.de/#c395 [Letzter Zugriff am 06.02.2020] 8 Grafik: Aktion Mensch e. V., Was ist Inklusion? verfügbar unter: https://www.aktion- mensch.de/dafuer-stehen-wir/was-ist-inklusion.html [Letzter Zugriff am 06.02.2020] 5
Leben teilnehmen konnten.9 Integration (Kreis 2) wird häufig mit Inklusion gleichgesetzt. Doch dabei wird nur die Eingliederung von Personen oder Gruppen in die Gesamtheit vollzogen, ohne dass sich grundlegende Rahmenbedingungen ändern. Die farbigen Punkte im Kreis der Integration zeigen, dass diese Personen als separate Gruppe im Kreis der Gesamtheit verbleiben. Meistens bezieht sich Integration auf Schüler mit Förderbedarf. Im Falle der Inklusion (Kreis 3) werden alle farbigen Punkte miteinander und nebeneinander vereint, sodass die dargestellten Punkte (=Personen) auf einer gleichberechtigten Stufe stehen. Durch diese symbolische Darstellung wird eine selbstbestimmte und gleichberechtigte Teilhabe geschaffen und die Aufhebung der Segregation in die Wege geleitet. Legitimiert wird Inklusion durch diverse rechtliche Grundlagen. Die zentralste Grundlage der Inklusion ist die verbindliche UN-Behindertenrechtskonvention 10 , in welcher erstmals formuliert wird, dass Inklusion ein Menschenrecht ist. Verena Bentele, ehemalige Behindertenbeauftragte der Bundesregierung (2014- 2018), führte im Vorwort der UN-Behindertenrechtskonvention aus, dass das Leitbild dieser Konvention „Inklusion“ sei. Weiterhin schreibt sie: „Es geht also nicht darum, dass sich der oder die Einzelne anpassen muss, um teilhaben und selbst gestalten zu können. Es geht darum, dass sich unsere Gesellschaft öffnet, dass Vielfalt unser selbstverständliches Leitbild wird. Es geht um eine tolerante Gesellschaft, in der alle mit ihren jeweiligen Fähigkeiten und Voraussetzungen wertvoll sind.“11 2.2 Barrierefreiheit Der Begriff der Barrierefreiheit wird oft im Kontext der Inklusion verwendet. Die Verbindung beider Aspekte ist wichtig, aber ohne bestehende Barrieren für Menschen mit Behinderungen zu überwinden, ist dieser Gedanke wertlos. Wo in der Gesellschaft Hürden bestehen, ist eine gleichberechtigte Teilhabe aller Menschen an kulturellen, bildungs- oder politischen Prozessen nicht gegeben. Damit dies in der Gesellschaft nicht passieren kann, ist Barrierefreiheit wie folgt nach §4 im 9 Stadt Leipzig: „Exklusion erklärt“, unter: https://www.leipzig.de/jugend-familie-und- soziales/menschen-mit-behinderungen/teilhabeplan-stadt-leipzig/inklusion-integration-exklusion/ [Letzter Zugriff am 06.02.2020] 10 Vgl. Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Behinderten Menschen [Hrsg.]: UN- Behindertenrechtskonvention, Stand 2017, verfügbar unter: https://www.behindertenbeauftragte.de/SharedDocs/Publikationen/UN_Konvention_deutsch.pdf?__bl ob=publicationFile&v=2 [Letzter Zugriff am 06.02.2020] 11 UN-BRK: S. 2 6
Gesetz zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen (Behindertengleichstellungsgesetz [BGG]) definiert: „Barrierefrei sind bauliche und sonstige Anlagen, Verkehrsmittel, technische Gebrauchsgegenstände, Systeme der Informationsverarbeitung, akustische und visuelle Informationsquellen und Kommunikationseinrichtungen sowie andere gestaltete Lebensbereiche, wenn sie für Menschen mit Behinderungen in der allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe auffindbar, zugänglich und nutzbar sind. Hierbei ist die Nutzung behinderungsbedingt notwendiger Hilfsmittel zulässig“.12 Dieser Paragraf zeigt auf, dass Barrierefreiheit weiter zu verstehen ist, als nur in Bezug auf den Neu- und Umbau öffentlicher Bauten. Dennoch sind die Baumaßnahmen ein wichtiger Teil des Paragrafen. Mit Hilfe der DIN 18040-1 „Barrierefreies Bauen - Planungsgrundlagen - Teil 1: Öffentlich zugängliche Gebäude 13 “ werden diese zu einem standardisierten Planungselement bei einem Bau oder Umbau eines öffentlichen Gebäudes wie z. B. Archive oder Bibliotheken. Neben dieser allgemeinen Richtlinie wurde 2017 die DIN-Norm 67700:2017-05 „Bau von Bibliotheken und Archiven - Anforderungen und Empfehlungen für die Planung“ in Umlauf gebracht. Mit dieser Norm wird Barrierefreiheit vorangebracht, da spezielle Anforderungen in der Richtlinie aufgeführt werden die als Fortsetzung des BGG und der DIN 18040-1 zu sehen sind. 2.3 Behinderung Der Begriff der Behinderung ist komplex und in der Gesamtheit schwierig zu bestimmen. In unserer sich stetig wandelnden und vielfältigen Gesellschaft unterliegt dieser Begriff immer wieder Veränderungen. Oftmals wird dieser Begriff als Vereinfachung zur Bezeichnung einer Zielgruppe genutzt. Die gesetzliche Definition dazu selbst ist im Sozialgesetzbuch 9. Buch §2 (SGB IX) geregelt und sagt: „Menschen gelten als behindert, wenn sie „körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können. Eine 12 §4 BGG 13 Vgl. DIN 18040-1:2010-4, verfügbar unter: https://www.ift- rosenheim.de/documents/10180/114265/DIN_18040-1_Entwurf_2010-04-23.pdf [Letzter Zugriff am 06.02.2020] 7
Beeinträchtigung nach Satz 1 liegt vor, wenn der Körper- und Gesundheitszustand von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht. Menschen sind von Behinderung bedroht, wenn eine Beeinträchtigung nach Satz 1 zu erwarten ist“.14 Die im SGB IX aufgeführte geminderte Teilhabe bzw. die gesellschaftliche Beeinträchtigung von Menschen mit Behinderung muss nicht immer offensichtlich sein. Eine Schädigung der geistigen oder seelischen Funktionen ist schwer nachzuweisen oder kann gar nicht nachgewiesen werden, trotzdem kann eine Beeinträchtigung vorliegen (z. B. Lernbehinderte).15 Die Ursachen, wie es zu einer Behinderung kam, sind in angeborene und erworbene Behinderungen zu unterscheiden. Zu angeborenen Behinderungen kommt es vor allem durch Vererbung (z. B. Down-Syndrom) oder pränatale Schädigungen16 (vor der Geburt entstandene bedingte Schäden). Erworbene Behinderungen können durch Schädigung während der Geburt entstehen, weiterhin durch Krankheiten, körperliche Schädigungen wie z. B. Unfall oder verschiedenste Gewalteinwirkung und durch den natürlichen Alterungsprozess einschließlich allgemeiner Krankheiten.17 Im deutschsprachigen Raum werden die Arten der Behinderung in Kategorien aufgeteilt. Dazu zählen18: • Körperbehinderung • Geistige Behinderung • Sinnesbehinderungen o Hörschädigung (Gehörlosigkeit & Schwerhörigkeit) o Sehschädigung (Blindheit & Sehbehinderung) o Taubblindheit • Sprachbehinderung • Lernbehinderung • Verhaltensstörung 14 §2 Abs. 1 SGB IX 15 Bleidick (1977): S.9 16 Pränatal: Bedeutung „vor der Geburt“ 17 Vgl. Gesundheitsberichterstattung des Bundes, verfügbar unter: http://www.gbe- bund.de/gbe10/abrechnung.prc_abr_test_logon?p_uid=gast&p_aid=0&p_knoten=FID&p_sprache=D& p_suchstring=25426#m8* s. auch: DESTATIS Statistik der Schwerbehinderten Menschen (2017), verfügbar unter: https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Gesundheit/Behinderte- Menschen/Publikationen/Downloads-Behinderte-Menschen/sozial-schwerbehinderte-kb- 5227101179004.pdf?__blob=publicationFile [Letzter Zugriff am 06.02.2020] 18 Aufteilung in Gruppen, verfügbar unter: https://behinderung.org/gesetze/definition-behinderung.htm [Letzter Zugriff am 06.02.2020]] 8
• Mehrfachbehinderung Das dabei die Behinderung des betroffenen Menschen subjektiv anders aufgefasst werden kann, ist ein gesellschaftlicher Kontext. Damit bleibt festzuhalten, dass die Einordnung in die verschiedenen Untergruppen nicht vollkommen sein kann. Um zum Beispiel die Gruppe der Menschen mit einer geistigen Behinderung oder reinen Intelligenzminderung medizinisch richtig einzuordnen, muss differenziert werden. Die „Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme“ der Weltgesundheitsorganisation (WHO) verwendet in dieser rein den Intelligenzquotienten der Betroffenen. Diese Klassifikation gliedert Intelligenzminderung in mehrere Stufen:19 • Leichte Intelligenzminderung: Die Betroffenen haben einen durchschnittlichen IQ von 50-69, was einem Intelligenzalter von 9 bis 12 Jahren entspricht. Diese Personen haben überwiegend Lernschwierigkeiten in der Schule. Im Erwachsenendasein können sie arbeiten, gute soziale Beziehungen unterhalten und somit einen Beitrag zur Gesellschaft leisten. • Mittelgradige Intelligenzminderung: Eine mittelgradige Intelligenzminderung mit einem durchschnittlichen IQ von 35- 49 drückt sich durch deutliche Entwicklungsverzögerungen in der Kindheit aus, was einem Intelligenzalter von 6 bis 9 Jahren entspricht. Betroffene haben die Möglichkeit, eine gewisse Unabhängigkeit und ausreichende Kommunikationsfähigkeit zu erlangen. Im Alltag und bei der Arbeit benötigen sie in unterschiedlicher Ausprägung Unterstützung. • Schwere Intelligenzminderung: Die Betroffenen brauchen dauerhafte Unterstützung. Der durchschnittliche IQ ist zwischen 20 bis 34. Dies entspricht bei Erwachsenen einem Intelligenzalter von drei bis sechs Jahren. • Andere Intelligenzminderung: Die Kategorie der anderen Intelligenzminderung wird nur dann verwendet, wenn die Beurteilung der Intelligenzminderung nicht möglich ist. Dies ist besonders 19 Klassifikation ICD-10-WHO: Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme, 10. Revision, Version 2019, verfügbar unter: https://www.dimdi.de/static/de/klassifikationen/icd/icd-10-who/kode-suche/htmlamtl2019/block-f70- f79.htm [Letzter Zugriff am 06.02.2020] 9
bei Blinden, Taubstummen, schwer Verhaltensgestörten oder körperlich behinderten Menschen der Fall. Die Auslegung des Begriffes erfolgte in Übereinstimmung mit Art. 1 Satz 2 der UN- Behindertenrechtskonvention und schafft durch das SGB IX die gesetzliche Grundlage. 3. Rechtliche Grundlage der Menschen mit Behinderung 3.1 UN-Behindertenrechtskonvention Ein grundlegender Meilenstein in der Förderung von Menschen mit Behinderung ist die von den Vereinten Nationen am 13. Dezember 2006 beschlossene „Convention on the Rights of Persons with Disabilities“, zu Deutsch „Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen“ oder kurz UN-Behindertenrechtskonvention (UN- BRK).20 Diese durch 163 Staaten unterzeichnete Konvention ist im März 2009 durch die Bundesregierung der Bundesrepublik Deutschland ratifiziert worden. Das Übereinkommen hat den Zweck, Inklusion in der Gesellschaft zu verankern. Dabei dient es „den vollen und gleichberechtigten Genuss aller Menschenrechte und Grundfreiheiten durch alle Menschen zu fördern, zu schützen und zu gewährleisten“.21 Dieses Übereinkommen definiert in einem ausführlichen Kontext die Rechte und Pflichten von Menschen mit Behinderung. Dabei stechen vor allem Selbstbestimmung und Teilhabe in allen Lebensbereichen der Gemeinschaft hervor.22 Die Konvention macht deutlich, dass die Einforderung von Teilhabe von Menschen mit Behinderung an der Gesellschaft der erste Schritt ist, die Segregation zu beenden. Menschen mit Behinderung sollen dort sein, wo auch gesunde Menschen sind und nicht mehr in gesonderten Einrichtungen.23 Ebenso fügt die Konvention hinzu, dass jeder Mensch die gleichen Rechte und die gleichen Wahlmöglichkeiten wie andere Menschen in der Gemeinschaft haben soll. Zielsetzung ist, Menschen mit Behinderungen das Recht und ihre volle Einbeziehung in die Gemeinschaft und Teilhabe an der Gemeinschaft zu erleichtern.24 20 Bundesbeauftragter für die Belange von Menschen mit Behinderungen: UN- Behindertenrechtskonvention, verfügbar unter: https://www.behindertenbeauftragte.de/SharedDocs/Publikationen/UN_Konvention_deutsch.pdf?__blo b=publicationFile&v=2 [Letzter Zugriff am 06.02.2020] 21 Art. 1 UN-BRK 22 Art. 19 UN-BRK 23 Erhardt/Grüber (2011): S. 36 24 Vgl. Art. 19 UN-BRK 10
Weiterhin erkennt das Übereinkommen an, dass eine Verpflichtung der Staaten darin bestehen muss, den gleichberechtigten Zugang zu allgemeiner Hochschulbildung, Berufsbildung, Erwachsenenbildung und das existenzielle Recht auf lebenslanges Lernen zu sicherzustellen. 25 Besonders das Recht auf Erwachsenenbildung und lebenslanges Lernen fördert ein inklusives Bildungssystem. Außerdem wird in Artikel 30 des Übereinkommens explizit die Teilhabe am kulturellen Leben und das Recht auf Freizeit vorgebracht. Dabei heißt es, „Zugang zu Orten kultureller Darbietungen oder Dienstleistungen, wie Theatern, Museen, Kinos, Bibliotheken und Tourismusdiensten, sowie, soweit wie möglich, zu Denkmälern und Stätten von nationaler kultureller Bedeutung haben“ 26 , ist für Menschen mit Behinderung ein Grundrecht. Archive werden in dieser Auflistung nicht aufgeführt. Dennoch sind Sie auch von nationaler kultureller Bedeutung und lassen sich neben Bibliotheken und Museen in die Auflistung einreihen. Darüber hinaus wird für Menschen mit Behinderung das Recht gewährt, Zugang zu kulturellem Material in zugänglichen Formaten zu haben.27 Basierend auf der Grundaussage dieses Artikels der „kulturellen Teilhabe am Leben“ ist es machbar, die Möglichkeiten der Verwendung von leichter und einfacher Sprache in der Archivbenutzung zu diskutieren. Natürlich werden in der Konvention nicht nur Selbstbestimmung und Teilhabe, sondern auch das Thema der Barrierefreiheit erläutert. Dabei soll für die Betroffenen eine Zugänglichkeit gewährleistet werden, um eine unabhängige Lebensführung und gleichberechtigten Zugang in der physischen Umwelt zu erhalten. Dies bedeutet die Sicherstellung der Mobilität und Barrierefreiheit. 28 Die Richtlinie umfasst nicht nur öffentliche Einrichtungen, sondern auch private Rechtsträger die öffentlich zugänglich sind, sodass auch hier die Aspekte der Zugänglichkeit für Menschen mit Behinderungen berücksichtigt sein müssen.29 Seit die UN-Behindertenrechtskonvention 2009 in Kraft getreten ist, ist eine Bewegung in der Umsetzung erkennbar. Die öffentliche und private Hand setzt sich in ihren Zuständigkeitsbereichen jeweils mit unterschiedlicher Stärke für die Gleichberechtigung, Selbstbestimmung und Teilhabe von Menschen mit Behinderung ein.30 Besonders hervorzuheben ist das Engagement der Menschen mit Behinderung 25 Vgl. Art. 24 UN-BRK 26 Vgl. Art. 30 Abs. 1c UN-BRK 27 Vgl. Art. 30 Abs. 1a UN-BRK 28 Vgl. Art. 9 Abs. 1 & Art. 20 UN-BRK 29 Vgl. Art. 9 Abs. 2b UN-BRK 30 Deutsches Institut für Menschenrechte (2015): S.4 11
selbst und den nichtstaatlichen Stellen, welche den Auftrag der Umsetzung der Konvention sehr ernst nehmen. Kritik am Übereinkommen wird von der Zivilgesellschaft dabei meist in der Form geäußert, dass gerade in Bezug auf die privaten Unternehmen viele Bereiche der Konvention in der Praxis und in der rechtlichen Handhabe wirkungslos sind.31 3.2 Gesetzliche Bestimmungen in der Bundesrepublik Deutschland In der Bundesrepublik Deutschland gibt es diverse Gesetze, Initiativen und Verordnungen, die sich mit der Durchsetzung und der Gewährleistung des Rechtes von Menschen mit Behinderung beschäftigen. Diese geben die Richtung in der Umsetzung vor und sind die rechtsverbindlichen Legitimationen. Obwohl es das Grundgesetz seit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland 1949 gibt, wurde dieses erst 1994 in Artikel 3 um einen Satz ergänzt. Damit wurde endgültig das Diskriminierungsverbot von Menschen mit Behinderung im Grundgesetz verankert. Artikel 3 mit dem Inhalt „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden“32, zeigt seitdem die gesetzliche Gleichberechtigung auf. Darüber hinaus existieren noch weitere Gesetze zur Gleichstellung, Selbstbestimmung und Teilhabe von Menschen mit Behinderung. Das Gesetz zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung (Behindertengleichstellungsgesetz – BGG) 33 soll zum Beispiel die Benachteiligungen von Betroffenen beseitigen und eine gleichberechtigte Teilhabe gewährleisten. Mit diesem Gesetz wurde ein weiterer wichtiger Grundstein zur Erfüllung der Teilhabe in der Gesellschaft gelegt. Neben zentralen Aspekten der „Herstellung von Barrierefreiheit in den Bereichen Bau und Verkehr 34 “, sowie von Informationstechnik 35 , sind Regelungen für die Arbeit der Bundesfachstelle für 36 Barrierefreiheit aufgenommen worden. Weiterhin werden Aufgaben an den Beauftragten der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen erteilt.37 Ein weiteres zentrales Element ist das Recht auf Verwendung von Gebärdensprache 31 Deutsches Institut für Menschenrechte (2015): S. 4 32 §3 Abs. 3 GG 33 Behindertengleichstellungsgesetz, verfügbar unter: https://www.gesetze-im- internet.de/bgg/BJNR146800002.html [Letzter Zugriff am 06.02.2020] 34 §8 BGG 35 §12a BGG 36 §13 BGG 37 §17-18 BGG 12
38 und anderen Kommunikationsmitteln. Mit diesem haben Menschen mit Hörbehinderungen und Menschen mit Sprachbehinderungen das Recht, Verwaltungsverfahren in Deutscher Gebärdensprache, mit lautsprachbegleitenden Gebärden oder über andere Kommunikationsmittel 39 durchzuführen. Hilfsmittel müssen dabei von „Trägern öffentlicher Gewalt“ zur Verfügung gestellt werden und die dafür notwendigen Aufwendungen von diesen getragen werden.40 Des Weiteren wird unter §11 „Verständlichkeit und Leichte Sprache41“ für Träger von öffentlicher Gewalt konkretisiert. In dem Paragrafen wird festgelegt, dass Behörden mit Menschen mit geistigen Behinderungen und Menschen mit seelischen Behinderungen in einfacher und verständlicher Sprache kommunizieren sollen 42. Zur Unterstützung der Verwaltungsprozesse für diese Menschen stellen Behörden Vordrucke in einfacher Weise aus. Leichte und Einfache Sprache in Behörden wird ebenfalls von der Bundesregierung gefördert, sodass die wesentlichen Behörden Kompetenzen für das Verfassen von Texten in diesen Formen erlangen.43 Ergänzend zum Behindertengleichstellungsgesetz des Bundes gibt es jeweils eigene Gleichstellungsgesetze der Bundesländer. 44 Dabei ist zu berücksichtigen, dass von dem Grundsatz Bundesrecht bricht Landesrecht auszugehen ist. Meistens orientieren sich jedoch die einzelnen Gesetze am BGG des Bundes. Kritik am BGG kommt vor allem von nichtstaatlichen Organisation und auch vom Behindertenbeauftragten der Bundesregierung, Jürgen Dusel, welche kritisieren, dass dieses Gesetz die Privatwirtschaft nicht mit einschließe und damit die potenzielle Gleichstellung von Menschen mit Behinderung im Alltag verwehrt.45 Neben dem BGG ist noch das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz zu erwähnen, dass Benachteiligungen an personenbezogenen Merkmalen wie Rasse oder ethnische Herkunft, Geschlecht, Religion, Alter, sexueller Identität und Behinderung 38 §9 BGG 39 Vgl. §9 Abs. 1 BGG & §9 Abs. 2 Satz 1-4 BGG 40 §9 Abs. 1 BGG 41 §11 BGG 42 §11 Abs. 1 & Abs. 2 BGG 43 §11 Abs. 4 BGG 44 Vgl. Gesetz zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung und Gesetz des Landes Brandenburg zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen (Brandenburgisches Behindertengleichstellungsgesetz - BbgBGG), verfügbar unter: https://bravors.brandenburg.de/gesetze/bbgbgg [Letzter Zugriff am 06.02.2020] 45 Evangelischer Presse Dienst: „Kritik an Reform des Behindertengleichstellungsgesetzes“, verfügbar unter: https://www.domradio.de/themen/kirche-und-politik/2016-05-12/kritik-reform-des- behindertengleichstellungsgesetzes [Letzter Zugriff am 06.02.2020] 13
verbietet. 46 Die Anwendungsbereiche dieses Gesetztes ähneln sich mit denen des BGG und beziehen sich überwiegend auf den Zugang zur Gesellschaft und auf Bildung. 3.3 Barrierefreie-Informationstechnik-Verordnung Ebenso komplex wie die Umsetzung der analogen Barrierefreiheit ist auch die Umsetzung der technischen Angebote von Kultureinrichtungen. Die dazu im Jahr 2002 verabschiedete „Barrierefreie-Informationstechnik-Verordnung“ in der aktualisierten 47 Fassung von Mai 2019 (BITV 2.0) ist als Ergänzung zum Behindertengleichstellungsgesetz und verschiedenen europäischen Richtlinien und Normen48 zu sehen. Diese Verordnung, welche sich an alle Bundesbehörden richtet, soll an dieser Stelle erwähnt werden, ist aber eher nur für Bibliotheken vorrangig wichtig. In der BITV 2.0 wird Leichter und Einfacher Sprache Rechtsverbindlichkeit gegeben. Weiterhin werden die öffentlichen Institutionen dazu verpflichtet, Internetseiten von den öffentlichen Verwaltungsstellen barrierefrei zu gestalten, sowie die Navigation in Leichter Sprache und Gebärdensprache 49 zu gewährleisten. In diesem Zusammengang ist zu erwähnen, dass auch elektronische Verwaltungsabläufe bis 2021 barrierefrei zu gestalten sind. Für Webseiten und Apps von Kulturerbesammlungen sind die ausgenommenen Inhalte unter §2 der Anwendungsbereich nochmals spezifiziert. Ausgenommen sind „Reproduktionen von Stücken aus Kulturerbesammlungen, die nicht vollständig barrierefrei zugänglich gemacht werden können“, wenn die Erhaltung des Gegenstandes nicht gewährleistet ist, sowie die Authentizität nicht gegeben ist.50 46 §1 AGG 47 Verordnung zur Schaffung barrierefreier Informationstechnik nach dem Behindertengleichstellungsgesetz, verfügbar unter: https://www.gesetze-im- internet.de/bitv_2_0/BJNR184300011.html [Letzter Zugriff am 06.02.2020] 48 Vgl. Richtlinie des Europäischen Parlamentes und des Rates 2016/2102 über den barrierefreien Zugang von Websites und mobilen Anwendungen öffentlicher Stellen, verfügbar unter: https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/?uri=CELEX%3A32016L2102 s. auch europäische Norm 301 549 „Accessibility for ICT products and services“, verfügbar unter: https://www.etsi.org/deliver/etsi_en/301500_301599/301549/02.01.02_60/en_301549v020102p.pdf [Letzter Zugriff am 06.02.2020] 49 §4 Abs. 4 BITV 2.0 50 Vgl. §2 Abs. 2 Satz 1a BITV 2.0 & Bundefachstelle für Barrierefreiheit „Ausnahmefälle: Was muss nicht barrierefrei gestaltet werden?“, verfügbar unter: https://www.bundesfachstelle- barrierefreiheit.de/DE/Themen/EU-Webseitenrichtlinie/BGG-und-BITV-2-0/Die-neue-BITV-2-0/die- neue-bitv-2-0_node.html#doc1018738bodyText3 [Letzter Zugriff am 06.02.2020] 14
3.4 Archivspezifische Gesetze und Richtlinien Wer in Archiven aktiv Forschung betreiben möchte, kann auf gravierende Hindernisse stoßen. Denn nicht in allen staatlichen Archiven ist das „Jedermann-Recht“ auf Benutzung von Archivgut vorhanden, soweit es in anderen Rechtsvorschriften nicht 51 anders bestimmt ist. Diese gesetzliche Grundlage ist bisher nur im Bundesarchivgesetz und in den Archivgesetzen der Bundesländer Nordrhein- Westfalen und Schleswig-Holstein vorhanden. Der überwiegende Teil der Archivgesetze der Bundesländer stellt für die Benutzung jedoch die Voraussetzung, dass ein „berechtigtes Interesse vorliegt“.52 Menschen mit Behinderungen haben ein Recht darauf, mit Unterlagen aus ihrer eigenen Vita und mit dem Umgang der Gesellschaft mit Behinderten konfrontiert zu werden. Dies ist für sie ein unmittelbarer Zugang, Geschichte zu erleben. Wird dieser Zugang nicht standardmäßig gewährt, ist der Schritt eines Archives in Richtung Inklusion und Barrierefreiheit nicht gegeben. So besagt das Archivgesetzt des Landes NRW in §6 (3): „Betroffenen ist auf Antrag nach Maßgabe des Absatzes 2 aus dem Archivgut Auskunft zu erteilen oder Einsicht in dieses zu gewähren, soweit es sich auf ihre Person bezieht“. 53 Denn nicht nur mit diesem Gesetz, sondern auch mit der UN-BRK steht dieser Paragraf im Einklang. Mit dem Verweis auf Art. 30 der UN-BRK, der besagt das alle geeigneten Maßnahmen getroffen werden müssen, um Menschen mit Behinderungen Zugang zum kulturellen Leben zu gewähren54 wird dieses noch einmal untermauert. Neben den geltenden Archivgesetzen ist noch der „Kodex ethischer Grundsätze für Archivarinnen und Archivare“55 als Richtlinie des ICA ein wichtiger Faktor im Umgang mit Behinderten. Darin heißt es, dass Archivarinnen und Archivare sich gegenüber Benutzern dazu verpflichten, sich für die weitest mögliche Benutzung von Archivalien einzusetzen und allen Benutzern gegenüber einen unparteiischen Rat und eine Dienstleistung zu gewähren. 56 Diese Richtlinien stellen einen richtungsweisenden Anfang zur Transformation zu 51 Vgl. §6 ArchG NRW 52 Vgl. u. a. §9 Abs. 2 BbgArchivG 53 §6 Abs. 3 ArchG NRW 54 Vgl. Art. 30 UN-BRK 55 International Council on Archives (ICA): „Kodex ethischer Grundsätze von Archivarinnen und Archivaren“, Angenommen von der Generalversammlung des ICA 1996, Stand Januar 1997: https://www.ica.org/sites/default/files/ICA_1996-09-06_code%20of%20ethics_DE.pdf [Letzter Zugriff am 28.01.2020] 56 Worm/Gilhaus (2017): S. 2 15
einem inklusiven und barrierefreien Archiv vor. Menschen mit Behinderung haben vor allem durch das Jedermann-Recht die Möglichkeit Archive zu benutzen. 4. Anforderungen an Archive 4.1 Praktische Anforderungen aus Nutzersicht Anforderungen an Archive für Menschen mit Behinderungen sind vielfältig. So haben Menschen mit geistigen Behinderungen andere Anforderungen als Menschen mit Sinnesbehinderungen oder körperbehinderte Menschen. Aufgrund dieser verschiedenen Ausgangslagen ist eine Standardisierung für Archive schwierig. Dennoch wurde mit verschiedenen DIN-Normen eine Grundlage für Kultureinrichtungen in Deutschland festgelegt. Ein Meilenstein wurde durch die Novellierung der DIN 18040-157 geschaffen, in welcher die Belange von Menschen mit Behinderung zum ersten Mal wirklich beachtet wurden. Eine barrierefreie Ausstattung und Infrastruktur wurde vor dieser Richtlinie bei der Umnutzung von historischem Baubestand für Archivzwecke nicht erstrangig berücksichtigt.58 Seit dieser Norm ist Barrierefreiheit ein wesentlicher Bestandteil bei der Unterbringung eines Archives. Es ist in Teilbereichen sehr einfach einen großen Effekt zu erzielen; für Menschen mit Körperbehinderungen ist eine barrierefreie Infrastruktur die entscheidende Grundlage. Ein ebenerdiger bzw. barrierefreier Zugang in das Gebäude, welcher schon vor dem Zugang zum Gebäude beginnt, ist die Basis. Über die Eingangstür hinaus muss bis zum Lesesaal durchgängig eine ausreichende Bewegungsfläche verfügbar sein. Mit einer ausreichenden Breite von 150 cm wird für eine gradlinige Fortbewegung und Mobilität während der Begegnung mit anderen Menschen dafür die Voraussetzung geschaffen.59 Nach jeweils 15 m Flurlänge muss ein Gang mindestens an einer Stelle die Größe von 180x180 cm aufweisen, um eine Begegnung mit anderen Rollstuhlfahrern oder Gehhilfen (z.B. Rollatoren) zu ermöglichen. 60 Im Gebäude vorhandene Türen müssen ergänzend eine ausreichende Breite von mind. 90 cm für 57 Vgl. DIN 18040-1:2010-4 (2010) „Barrierefreies Bauen - Planungsgrundlagen - Teil 1: Öffentlich zugängliche Gebäude“ ersetzte die veraltete DIN 18024-2 (1998), verfügbar unter: https://www.ift- rosenheim.de/documents/10180/114265/DIN_18040-1_Entwurf_2010-04-23.pdf [Letzter Zugriff am 06.02.2020]] 58 Vgl. Worm/Gilhaus (2017): S. 5 59 Vgl. DIN 18040-1 – Allgemeines: S. 6 60 DIN 18040-1 – 4.3.2 Flure und sonstige Verkehrsflächen: S. 8 16
den Durchgang von Rollstühlen haben. Weiterhin ist eine einfache Bedienbarkeit gefordert und eine ausreichende Bewegungsfläche vor den Durchgängen zu gewährleisten.61 Für sehbehinderte Menschen müssen, bevor diese das Gebäude betreten, ebenfalls besondere Vorkehrungen getroffen werden. Mit Hilfe von einem visuell kontrastreichen Eingang (z. B. helle Türen und dunkle Umgebungsfläche) und einer guten Beleuchtung, wird für diese Zielgruppe die Voraussetzung zur Nutzung (z.B. eine leichte Auffindbarkeit) geschaffen.62 Blinde Menschen dagegen nutzen zur Orientierung einen Blindenstock. Um sich auch im Archiv problemfrei bewegen zu können, muss es unterschiedliche Bodenstrukturen geben, welche Begrenzungen erkennen lassen. Auf öffentlichen Wegen und Verkehrsflächen und mittlerweile immer öfter in öffentlichen Gebäuden kommt dazu ein Blindenleitsystem zum Einsatz, das mit Hilfe von Bodenindikatoren63 eine gezielte Fortbewegung zulässt. Gerade für Menschen mit Sinnesbehinderungen ist eine einfache Auffindbarkeit von Türen (visuell abgegrenzt, eindeutig erkennbare Türschilder) 64 von entscheidender Hilfe. Damit wird gewährleistet, Bewegung und Orientierung ohne eine Zusatzperson zu ermöglichen. Weiterhin ist für diese Menschen die Generierung von Informationen aus ihrer Umwelt überlebenswichtig. Die Wahrnehmung dieser wird entweder visuell (=Sehen), auditiv (=Hören) oder taktil (=Fühlen/Tasten) gestaltet. 65 Besonders Informationen, welche taktil sind, werden von blinden Menschen auf verschiedene Art und Weise wahrgenommen, das bedeutet, die Wahrnehmung erfolgt mit Händen und Fingern, dem Langstock bzw. Blindenstock oder mit den Füßen. Schriftlich erfassbare Informationen müssen sowohl durch „erhabene lateinische Großbuchstaben und arabische Ziffern als auch durch Braillsche Blindenschrift“ 66 vermittelbar sein. Sie werden oftmals in verschiedenen Lageplänen und Übersichtskarten mit Sonderzeichen und Piktogrammen ergänzt. 61 Vgl. DIN 18040-1 – 4.3.3 Türen: S. 10-13 62 DIN 18040-1 - 4.2.3 Zugangs- und Eingangsbereiche: S. 9 63 Vgl. DIN 32984: "Bodenindikator: Bodenelement zur Information, Orientierung, Leitung und Warnung für blinde und sehbehinderte Menschen mit einem hohen taktilen, visuellen und gegebenenfalls akustischen Kontrast zum angrenzenden Bodenbelag." 64 DIN 18040-1 – 4.3.3.5 Orientierungshilfe an Türen: S. 8 65 DIN 18040-1 – 4.4 Warnen/Orientieren/Informieren/Leiten: S. 19 66 DIN 18040-1 – 4.4.4 Taktil: S. 21 17
Abb. 3 & 4: Tastplan im Innenbereich der „Euthanasie-Anstalt Brandenburg“ 67 und Türöffner mit Blindenschrift und erhabenen Großbuchstaben 68 Für die Benutzung des Lesesaals haben behinderte Nutzer ebenfalls spezielle Anforderungen. Die in der DIN 67700 aufgeführten Maße für Standardnutzerplätze, welche eine minimale Tischtiefe von 0,80 m und einer Tischlänge von 1,60 m haben 69 müssen , sind nicht für alle Menschen kompatibel. Menschen mit Mobilitätseinschränkungen benötigen für eine komfortable Arbeitsumgebung u. a. höhenverstellbare Tische. Vor allem Rollstuhlfahrer haben somit die Möglichkeit im Archivalltag zu partizipieren. Weiterhin ist es unerlässlich, im Lesesaal für Sehbehinderte und Blinde einen extra Sehbehindertenarbeitsplatz zu schaffen. Dieser ist, in Ergänzung zu einem normalen Arbeitsplatz, mit einer extra Braillezeile versehen. 67 Abb. 3: Webseite „nullbarriere“: Tastplan der Gedenkstätte für die Opfer der Euthanasie-Morde, verfügbar unter: https://nullbarriere.de/ilis-leitsysteme.htm [Letzter Zugriff am 06.02.2020] 68 Abb. 4: Webseite „nullbarriere“: Türöffner Beschilderung, verfügbar unter: https://nullbarriere.de/ilis- leitsysteme.htm [Letzter Zugriff am 06.02.2020] 69 DIN 67700:2017-05 Bau von Bibliotheken und Archiven – Anforderungen und Empfehlungen für die Planung, Tabelle 4 – Standardnutzerplätze: S. 21 18
Abb. 2: Sehbehindertenarbeitsplatz mit Braillezeile TU Bergakademie Freiberg 70 Die Abbildung zeigt einen Sehbehindertenarbeitsplatz mit einer Braillezeile und einem geräumigen Arbeitsplatz in der Bibliothek der Bergakademie TU Freiberg, welcher mit einem großen Bildschirm mit Lupenfunktion ausgerüstet ist. Des Weiteren ist die eigentliche Tastatur des Computers mit Großbuchstaben für Sehbehinderte versehen. Für eine gute Arbeitsplatzausstattung ist es ebenfalls wünschenswert, wenn ein Drucker am Arbeitsplatz steht und die Funktionstasten an diesem mit Brailleschrift zum Fühlen bzw. Tasten versehen werden. Größten Komfort erhalten Sehbehinderte dann, wenn in einem Archiv auch ein Drucker vorhanden ist, welcher das Druckerzeugnis direkt in Brailleschrift ausgibt. In Archiven ist diese Art von Sehbehindertenarbeitsplätzen bisher nur im Stadtarchiv in Halle an der Saale71 zu finden. Die Ausstattung des Stadtarchivs weicht dabei stark von der Ausstattung der TU Freiberg ab. Eingerichtet wurde dieser, um Archivgut sichtbar zu machen. Die vorhandenen alten 15‘‘ Zoll Bildschirme waren für die Nutzung ungeeignet und wurden mit entsprechender Scan- und Lesetechnik und Software ausgerüstet. Zurückzuführen ist die Abweichung in der Ausstattung größtenteils auf 70 TU Freiberg: „Inklusion - TU Bergakademie Freiberg gut aufgestellt“, November 2015, verfügbar unter: https://tu-freiberg.de/presse/inklusion-tu-bergakademie-freiberg-gut-aufgestellt [Letzter Zugriff am 06.02.2020] 71 Vgl. Stadtarchiv Halle (Saale): „Sehbehindertenarbeitsplatz des Stadtarchivs in Zusammenarbeit mit der Wilhelm-Herbert-Marx-Stiftung (Personenstiftung für Blinde in Halle) und dem Verein IDEAL e.V. – Integration durch ein aktives Leben“, 2008, verfügbar unter: https://www.augias.net/2008/12/03/anet6465/ [Letzter Zugriff am 06.02.2020] 19
die teilweise enge finanzielle Situation von einer lokalen Stiftung oder einem gemeinnützigen Verein. Neben diesen speziellen Arbeitsplätzen sind Arbeitskabinen und Gruppenräume besonders für Menschen mit Hörschädigungen und Menschen mit geistigen Behinderungen, welche oftmals in Begleitung kommen aber dann anschließend allein arbeiten möchten, notwendig. 72 Damit in diesen Räumen Aufsicht gewährleistet werden kann, sind Kamerasysteme zur Überwachung mit einer Aufschaltung zum Arbeitsplatz der Lesesaalaufsicht notwendig, worüber die Benutzer informiert werden müssen.73 Andere technische und praktische Möglichkeiten, um die Arbeit von Menschen mit Sinnesbehinderungen zu erleichtern, sind Lupen. Ob in analoger oder digitaler Form als Software auf dem PC, lassen sich schnell adäquate Verbesserungen erzielen. Außerdem müssen Sehgeschädigte die Chance haben, eine sehbehindertengerechte Beleuchtung am Arbeitsplatz zu erhalten. Die Beleuchtung für diesen Arbeitsplatz weicht von der in der Beleuchtungsnorm DIN EN 12464-1 in einigen Punkten ab, da diese Norm für normal sehende Menschen ausgerichtet ist.74 Lichtoptimierung ist eine Maßnahme, die „die Sehschärfe, die Kontrastwahrnehmung, die Lesegeschwindigkeit und das physische Wohlbefinden optimieren“75. Sehbehinderte brauchen, im Gegensatz zu den Beleuchtungsstufen der Norm, mindestens 50% bis 100% mehr dieser Beleuchtungsstufen. Dabei ist zu beachten: Je kleiner ein Objekt ist, desto größer ist der Lichtbedarf den sie benötigen, da sie für die Adaption von hell und dunkel länger brauchen. 76 Wichtig ist ebenfalls, dass eine gleichmäßige Beleuchtung geschaffen werden sollte. Das Beispiel einer praktischen Anwendung dieser Norm ist die Bearbeitung bzw. das Lesen von Akten an einem Arbeitsplatz im Lesesaal. Für die Tätigkeit an einem Nutzerplatz benötigen nicht behinderte Menschen eine Beleuchtungsstärke von 500 Lumen77 um gut arbeiten zu können. Bei Menschen mit Sehschädigungen wird eine 72 Worm/Gilhaus (2017): S. 9 73 Worm/Gilhaus (2017): Ebda. 74 Schweizer Zentralverein für das Blindenwesen: Allgemeines Merkblatt zur sehbehindertengerechten Beleuchtung, 2013, verfügbar unter: S. 1 https://www.szb.ch/uploads/pics/1-SZB_Lichtblatt_neu- Allgemein-BF_01.pdf s. auch: DIN 67700 Kap. 11 Licht und Beleuchtung S. 70-71 [Letzter Zugriff am 06.02.2020] 75 Vgl. Schweizer Zentralverein für das Blindenwesen (2013): Ebda. 76 Vgl. Schweizer Zentralverein für das Blindenwesen (2013). Ebda. 77 Vgl. DIN 67700: S. 71, s. auch: DIN EN 12464 welche für Tätigkeiten in Räumen z. B. „Lesen“ eine minimale Beleuchtungsstufe von 300 für Menschen ohne Behinderung empfiehlt. 20
78 Beleuchtungsstufe von bis zu 1.000 als Empfehlung genannt. Weiterhin wird empfohlen, daneben noch eine bewegliche Arbeitsplatzleuchte einzusetzen, welche die Nutzer nach ihren Bedürfnissen verwenden können79. Für die analoge Kommunikation von nicht behinderten Menschen mit Hörgeschädigten bieten sich FM-Anlagen 80 an. Diese kommen bereits bei Führungen verschiedener Kulturinstitutionen zum Einsatz und verbessern die Verständigung zwischen Mitarbeiter bzw. Vortragendem und Nutzer. Neben diesen FM-Anlagen empfiehlt es sich auch, über die Anschaffung einer induktiven Höranlage nachzudenken. Diese erleichtern ein eventuelles Beratungsgespräch erheblich.81 Das Stadtarchiv Münster veranstaltet z.B. auch Führungen mit Hilfe dieser FM- Anlagen. Ergänzend dazu steht bei diesen Führungen ein 82 Gebärdensprachendolmetscher zur Verfügung. Diese Unterstützung in der Kommunikation kann auch problemlos für die Verständigung im Lesesaal mit einzelnen Nutzern oder für Gruppen verwandt werden. Neben diesen analogen und digitalen Kommunikationsmitteln nutzen Hörgeschädigte zur Kommunikation neben Mails oftmals das heute in der Verwaltung wenig benutze Fax als Kontaktaufnahme. 83 Falls keine Hilfsmittel, Begleitpersonen oder Gebärdensprachendolmetscher im Archiv greifbar sind, kann eine Verständigung auch über Apps auf den Smartphones funktionieren. Zum Beispiel könnte die kostenlose marktführende Applikation „Spreadthesign“ 84 eingesetzt werden, welche ein Online-Wörterbuch ist und eingegebene Wörter in Gesten der deutschen und anderen internationalen Gebärdensprachen übersetzt. 78 Schweizer Zentralverein für das Blindenwesen (2013): S. 1 „Wartungswerte Beleuchtungsstärke“ 79 Vgl. Sehbehindertengerechte Arbeitsplatzbeleuchtung, TU Bergakademie Freiberg, 2019: https://tu- freiberg.de/inklusion/studierende/gebaeudeausstattung/ausstattung-und-hilfsmittel/sehen [Letzter Zugriff am 28.01.2020] 80 FM-Anlagen sind drahtlose Signalübertragungsanlagen, die Signale mit frequenzmodulierten Funksignalen (FM) übertragen. Die Konfiguration besteht aus einem Sender (z. B. Mikrofon) und einem Empfänger. Empfänger ist die Person mit Hörschädigungen, Worte werden als Funksignal in Schallwellen umgewandelt und über ein Kabel an das Hörgerät weitergeleitet. 81 Baibl (2016): S. 25 82 Wolf, Thomas: Stadtgeschichte für Hörbehinderte des Stadtarchivs Münster, 2010, verfügbar unter: https://archiv.twoday.net/stories/6355761/main [Letzter Zugriff am 06.02.2020] 83 Baibl (2016): S. 25 84 Spread Signs ein Projekt des “European Sign Language Center” in Schweden, veröffentlicht 2006, verfügbar unter: https://www.spreadthesign.com/de.de/search/ [Letzter Zugriff am 06.02.2020] 21
5. Grundlagen der Behinderten- und Sonderpädagogik mit dem Blick auf die Vermittlung von Geschichte Menschen mit Behinderungen sind individuell. Pauschale Aussagen über den Bildungsgrad dieser Menschen und die Vermittlung von Bildung in Schulen und im Erwachsenenalter durch Lebenslanges Lernen haben keine vertretbare gemeinsame Grundlage. Es ist nochmal wichtig zu erwähnen: Kein Mensch ist gleich! Menschen mit Sinnesbehinderungen, z. B. mit leichten bis mittleren Hörschädigungen, besuchen oftmals eine Regelschule und erlangen dort einen Abschluss wie z.B. die Allgemeine Hochschulreife. Dieser Grad der Behinderung muss nicht offensichtlich sein und ein Mensch mit einer Hörschädigung kann aktiv am sozialen Leben teilhaben. Für Menschen mit anderen Sinnesbehinderungen wie Blinde und Sehbehinderte ist die Partizipation im Alltag genauso möglich. Sie haben die Möglichkeit, durch Regelschulen oder durch Blindenschulen, die für Menschen mit Sehschädigungen ausgelegt sind, am Schulsystem teilzunehmen. Die Vermittlung von Bildung ist dabei auf die Situation der Betroffenen ausgerichtet. Diese Menschen erreichen oftmals einen allgemeinen Schulabschluss (z.B. Allgemeine Hochschulreife) oder einen berufsorientierten Schulabschluss. Davon auszugehen, dass diese Menschen mit Behinderungen pauschal weniger gebildet sind als Menschen ohne Behinderung, ist eine Falschaussage. Es gibt genug Beispiele für Menschen mit Behinderungen wie z.B. den derzeitigen Bundesbeauftragten der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen, Jürgen Dusel, der diese Tätigkeit als seit Geburt stark Sehbehinderter ausübt. Da für Menschen mit Sinnesbeeinträchtigungen schon vielfältige Maßnahmen getroffen wurden, beschäftigt sich das nachfolgende Kapitel hauptsächlich mit der Vermittlung von Bildung an Menschen mit geistiger Behinderung. Für diese Personen müssen andere Methoden angewandt werden um die erfolgsversprechenden Ergebnisse in der Vermittlung von Bildung zu erzielen. 5.1 Bildung für Menschen mit geistigen Behinderungen Das Verständnis von geistiger Behinderung ist im allgemeinen Verständnis die kognitive Beeinträchtigung. Daneben muss Behinderung aber auch als sozialer Prozess betrachtet werden, welcher charakterisiert ist durch Isolation und in Folge zu 22
Abhängigkeit und Fremdbestimmung führen kann.85 Historische Bildungsarbeit kann dabei eine grundlegende Rolle in der Persönlichkeitsentwicklung sein. "Das Recht auf Bildung steht im engen Zusammenhang mit der Menschenwürde und dem Grundrecht auf eine freie Entfaltung der Persönlichkeit. Das verweist wiederum auf die Bedeutung Historischen Lernens für die Enkulturation und die Entwicklung der Ich-Identität.“ 86 Dieser Ansatz zeigt, dass Historisches Lernen und die Entwicklung von Geschichtsbewusstsein eine grundlegende Rolle in der Persönlichkeitsentwicklung sind. Historische Bildungsarbeit bringt Archive der Gesellschaft näher. Sie leistet einen bildungspolitischen Auftrag und schafft einen außerschulischen Lernort, in dem Menschen mit Behinderungen anhand von authentischen Materialien lernen, einen Bezug zwischen Gegenwart und Vergangenheit herzustellen. 87 Zielgruppe dieser Konzepte sind vor allem (Förder-)Schüler zwischen 13 und 16 Jahren. In der Phase der „Pubertät“ dieser Personen dreht sich wie angemerkt, viel um die eigene Identitätsforschung, sodass man ein Wissen der eigenen Behinderung erlangt. 88 Schüler dieser Altersstruktur sind in der Oberstufe 89 , in der die Kernthemen Sachkunde, Politik, Geschichte und Erdkunde unterrichtet werden. Andere Fächer wie Sprachen und Mathematik sowie Musik, Praktisches und Motorisches werden stufenübergreifend gefördert, d.h. Schüler von der Eingangsstufe bis zur Oberstufe nehmen gemeinsam am Unterricht teil. 90 In der Oberstufe werden die Schüler außerdem für historische, geografische und politische Zusammenhänge geschärft und sensibilisiert und können somit tagespolitische Ereignisse einordnen und bewerten. 91 Auf dieser Ebene kann jeder Schüler in Historisches Lernen einbezogen werden. Dabei dürfen jedoch keine spezifischen Interessen oder ein tieferes Bewusstsein für die Zusammenhänge vorausgesetzt werden. 92 Menschen mit Behinderungen können durch Historisches Lernen ein elementares Verständnis dafür erhalten, was sich verändert hat und somit den Status quo hinterfragen. Es fördert weiterhin das 85 Vgl. Finke (2010): S. 11 86 Springborn (2004): S 10 87 Arand (1997): S. 196f. 88 Ruppel (2010): S. 49 89 In den meisten Förderschulen gibt es kein Klassenmodell, sondern ein Stufenkonzept. Diese sind die Unterstufe, Mittelstufe, Oberstufe und der Abschlussstufe. 90 Ruppel (2010): S. 49 91 Ruppel (2010): S. 50 92 Ruppel (2010): Ebda. 23
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