Interkultureller Dialog in Essen - Dokumentation ausgewählter Veranstaltungen aus 2006 - Stadt Essen

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- Interkultureller Dialog in Essen -
Dokumentation ausgewählter Veranstaltungen aus 2006

RAA/Büro für interkulturelle Arbeit
Impressum

Herausgeber:            Stadt Essen
                        Der Oberbürgermeister
                        RAA/Büro für interkulturelle Arbeit

Redaktion:              Detlef Ullenboom (Keilstr. 17, 44879 Bochum), unter Mitwirkung von
                        Tuncer Kalayci und Dr. Helmuth Schweitzer
                        (RAA/Büro für interkulturelle Arbeit)

Bilder:                 Jörg Cavasin, RAA/Büro für interkulturelle Arbeit (Umschlag, S. 15 u. 21)
                        D. Ullenboom (S. 47), privat (S. 49)

Gestaltung:             D. Ullenboom

Satz und Druck:         Stadt Essen, Amt für Zentralen Service

Auflage:                500 Exemplare

Eine Publikation in der Reihe „Interkulturelle Orientierung“,
Nr. D/8/03/2007
Inhaltsverzeichnis

Einleitende Zusammenfassung der Veranstaltungen
ƒ Rück- und Ausblick:                                                                  4
    Tuncer Kalayci, RAA/Büro für Interkulturelle Arbeit

Veranstaltung "Mitten in der Gesellschaft und doch außen vor?!" vom 30.10.2006
ƒ Grußworte:                                                                            6
   Gudrun Hock, Geschäftsbereichsvorstand Soziales, Arbeit und Gesundheit, Essen
   Burak Copur, Vorsitzender d. Ausschusses f. Zuwanderung und Integration (AZI), Essen
   Jürgen Becker, Schulamtsdirektor Essen
ƒ Referat Georg Hansen, FernUni Hagen:                                                  9
   “Es ist nicht die Kultur’“
ƒ Referat Hayrettin Aydin, Muslimische Akademie Deutschland, Berlin:                  21
   “Kulturelle Leit- und Rollenbilder bei muslimischen SchülerInnen“
ƒ Teilnehmerliste                                                                     30

Veranstaltung "Was ist islamistisch" vom 21.11.2006
ƒ Referat Korkut Bugday, Innenmisterium NRW:                                          34
   “Was ist islamistisch? – Eine Annäherung aus sicherheitspolitischer Perspektive“
ƒ Fragen zum Referat                                                                  42
ƒ Referat Hayrettin Aydin, Muslimische Akademie Deutschland, Berlin:                  44
   “Muslime in Deutschland aus gesellschafts- und integrationspolitischer Sicht“
ƒ Diskussion beider Referate                                                          48
ƒ Teilnehmerliste                                                                     54

Veranstaltung "Religion und Tradition" vom 18.12.2006
ƒ Referat Susanne Kröhnert-Othman, Universität Bielefeld:                             56
   “Tradition oder Religion? – Neue Trends, nicht nur im Islam“
ƒ Teilnehmerliste                                                                     63

Anlagen:
Profil der RAA/Büro für interkulturelle Arbeit der Stadt Essen                        64

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Einleitende Zusammenfassung der Veranstaltungen:
Rück- und Ausblick
Tuncer Kalayci (RAA/Büro für Interkulturelle Arbeit, Essen)

Die hier dokumentierten Veranstaltungen im Rahmen des Interkulturellen Dialogs waren der
Auftakt zur gemeinsamen Erarbeitung konkreter Handlungsschritte. Hierzu wurden einzelne
Problemfelder aufgezeigt und differenziert, um einen bewussten und ehrlichen Diskussionspro-
zess anzustoßen. Die Auseinandersetzung mit kulturellen Leit- und Rollenbildern war zentrales
Anliegen der Veranstaltungen. Obwohl jeweils unterschiedlich hinsichtlich ihrer Konzeption und
Methoden, haben diese Work-shops, Fortbildungen und Seminare regen Zuspruch erfahren, den
wir als Motivation für weitere Aktivitäten im laufenden Jahr nutzen möchten. Mit dieser Veröf-
fentlichung sollen zunächst die auf den Veranstaltungen erarbeiteten Ergebnisse gesichert und
Interessierten zugänglich gemacht werden. Die einzelnen Impulsreferate sind komplett doku-
mentiert (ebenso die Diskussion während des Workshops „Was ist islamistisch?“):

ƒ   Georg Hansen, Hochschullehrer an der Fernuniversität Hagen, zeigt die integrative und
    zugleich ausgrenzende Wirkung der Wir-Gruppen-Bildung, indem er auf die traditionelle
    deutsche Leitkultur, den Ausschluss nichtdeutscher Minderheiten im deutschen Staatsbür-
    gerschaftsgesetz, auf die Islamophobie des Westens und die europäische Sprachpolitik blickt
    und dabei die Kulturalisierung bzw. Ethnisierung von sozialen Machtunterschieden als
    Hauptintegrationshindernis hervorhebt.

ƒ   Hayrettin Aydin, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Bremen und Geschäfts-
    führer der 2005 gegründeten „Muslimischen Akademie Deutschland“ macht in seinem Vor-
    trag deutlich, dass religiöse Orientierungen bzw. die Ausprägungen von Religiosität ebenso
    wie die Leit- und Rollenbilder in muslimischen Familien oder speziell unter muslimischen
    Schülern/innen genauso vielfältig sind wie bei christlichen bzw. einheimischen deutschen
    Familien. Da es dazu keine vergleichenden Untersuchungen gibt, geht er davon aus, dass die
    Leit- und Rollenbilder bei Muslimen weitgehend mit denen der nichtmuslimischen Mehr-
    heitsgesellschaft identisch sind.

ƒ   Welche Bereicherung muslimische Islamwissenschaftler beim Verfassungsschutz sein können,
    um eine sachliche Auseinandersetzung mit dem Islam führen zu können, veranschaulicht
    Korkut Bugday vom Innenministerium NRW. Er beantwort die Frage „Was ist islamistisch?“
    für den Arbeitsalltag mit einem sicherheitspolitisch-praxisnahen Blick auf die unterschiedli-
    chen Richtungen im Islam und deren Beziehung zum Islamismus bzw. zum islamistisch be-
    gründeten Terrorismus. Dazu muss der pluralistische Diskurs innerhalb des Islams in einer
    demokratisch-pluralistisch verfassten Gesellschaft verankert sein.

ƒ   Wieweit dieser Prozess bereits vorangeschritten ist, zeigt Hayrettin Aydin in seinem Beitrag
    über die Muslime in Deutschland aus gesellschaftspolitischer und integrationspolitischer
    Sicht.

ƒ   Susanne Kröhnert-Othman, Ethnologin an der Universität Bielefeld, illustriert abschließend
    an einigen Beispielen die Bedeutung einer differenzierten Sichtweise auf unterschiedliche
    Ausprägungen von kultureller Tradition und Religiosität (nicht nur) unter muslimischen Ju-
    gendlichen und ihren Eltern.

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Wichtige Materialien und Inputs der Veranstaltungen sind, zum Teil beispielhaft, jeweils im An-
schluss an die Vorträge gesammelt. Die ebenfalls beigefügten Listen der TeilnehmerInnen können
der gegenseitigen Kontaktaufnahme und dem Austausch dienen. Nicht zuletzt möchten wir am
Ende dieses Readers in eigener Sache auf das Leistungsspektrum der RAA/Büro für Interkulturelle
Arbeit verweisen.

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Veranstaltung "Mitten in der Gesellschaft und doch außen vor?“ vom 30.10.06

Hintergrund
Nicht erst nach den Ereignissen des 11. September 2001, dem Mord an dem niederländischen
Filmemacher Theo van Gogh, den Krawallen in Paris und dem Karikaturenstreit wird in den Me-
dien, der politischen Öffentlichkeit, in Bildungseinrichtungen, aber auch in Familien das Thema
„Integration von Zuwanderern“ kontrovers diskutiert. Das Scheitern der "multikulturellen Gesell-
schaft", die sich vermehrt bildenden „Parallelgesellschaften“ als Symbol der Integrationsverwei-
gerung oder das "Kopftuchverbot" sind zu bestimmenden Themen geworden. Hinzu kommen
schulische Alltagsthemen wie Nichtteilnahme am Schwimm- und Sportunterricht, Bildung von
Banden oder Cliquen: „Türken nur mit Türken“, „Russen nur mit Russen“, „Deutsche nur mit
Deutschen“, in denen die Gruppensprache ausschließlich die jeweilige Muttersprache ist. Lehrer
und Lehrerinnen sehen sich von solchen Schülergruppen bewusst ausgegrenzt und erleben einen
Kontrollverlust, der Unsicherheit und Ängste auslösen kann. In dem Versuch des Systems Schule,
dieses Dilemma zu überwinden, werden mehr oder weniger wirksame Maßnahmen ergriffen, die
teils auf Kontrolle und Vereinbarungen, teils auf kreativer Einbindung kultureller Vielfalt in das
schulische Leben beruhen. Viele Schüler/-innen aus Zuwandererfamilien ihrerseits fühlen sich -
obwohl in Deutschland geboren und aufgewachsen - von Lehrer/-innen ungleich behandelt und
ausgegrenzt und immer noch als Fremdkörper in dieser Gesellschaft. Die Eltern dieser Kinder
erwarten oft von Schule neben der Bildung auch die Erziehung ihrer Kinder. Schule jedoch setzt
voraus, dass Erziehung hauptsächlich im Elternhaus stattfindet und dass die Kinder dort in schu-
lischen Belangen unterstützt werden. Diese Fachtagung bildete den Auftakt zur gemeinsamen
Erarbeitung konkreter Handlungsschritte. Hierzu wurden einzelne Problemfelder aufgezeigt und
differenziert, um einen bewussten und ehrlichen Diskussionsprozess anzustoßen. Die Auseinan-
dersetzung mit kulturellen Leit- und Rollenbildern - sowohl den eigenen als auch denen der
Schülerinnen und Schüler- war zentrales Thema der Veranstaltung.

Informationen zu den Referenten
ƒ Georg Hansen, geb. 1944, Professor an der Fernuniversität Hagen, Fakultät für Kultur- und
    Sozialwissenschaften, Lehrgebiet „Interkulturelle Erziehungswissenschaft“.
    Kontakt: LG.Hansen@FernUni-Hagen.de

ƒ   Hayrettin Aydin, geb. 1961, ist seit 2004 wissenschaftlicher Mitarbeiter der Universität Bre-
    men am Institut für Religionswissenschaft/-pädagogik und seit 2006 Geschäftsführer der
    Muslimischen Akademie in Deutschland mit Sitz in Berlin.
    Kontakt: aydin@uni-bremen.de

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Grußwort
Gudrun Hock, Geschäftsbereichsvorstand Soziales, Arbeit und Gesundheit, Essen

„Mitten in der Gesellschaft und doch außen vor“ - ein Satz, der scheinbar einen Widerspruch
birgt, der aber leider sehr präzise die Selbstwahrnehmung der meisten zugewanderten Menschen
in unserer Stadt beschreibt. Vor allem die jungen Generationen - hier geboren und aufgewach-
sen - fühlen sich nicht als gleichwertiger Teil der Welt, in der sie leben, sondern immer noch als
Fremdkörper, als Ausgegrenzte.

Eine traurige Erscheinung, die sich im Alltag vor allem an unseren Schulen bemerkbar macht und
hier dafür sorgt, dass allen - Schülern, Lehrern und auch Eltern- das Leben und das Lernen
schwer gemacht wird. Nichtteilnahme am Schwimmunterricht, an Klassenfahrten oder das Tra-
gen oder Nichttragen von Kopftüchern sind schulische Alltagsprobleme, die aus diesem Phäno-
men resultieren - aber bei weitem nicht die einzigen: Schüler, die unterschiedliche kulturelle
Hintergründe mitbringen, fühlen sich von Lehrern und von Mitschülern unverstanden, ungleich
behandelt und ausgegrenzt. Sie flüchten sich nicht selten in Cliquen oder Banden, in denen Tür-
ken nur mit Türken, Russen nur mit Russen, Deutsche nur mit Deutschen verkehren und in denen
nur die jeweilige Sprache geduldet wird.

Lehrerinnen und Lehrer haben zu diesen Gruppen keinen Zugang mehr, verlieren die Kontrolle
und fühlen sich nicht selten verunsichert, verängstigt oder gar bedroht. Und können ihren Auf-
trag nicht mehr gemäß ihrer Berufung erfüllen. Hinzu kommen Erwartungen der Eltern an das
System Schule, die konträr zu dem sind, was Schule vom Elternhaus erwartet.
Das Dilemma ist perfekt.

Wie aber können wir diesem Dilemma begegnen? Die heutige Tagung, die von den Geschäftsbe-
reichsvorständen Jugend, Bildung und Kultur sowie Soziales gemeinsam mit dem Schulamt für
die Stadt Essen im Rahmen des Interkulturellen Konzeptes angeregt wurde, will eine ehrliche
Diskussion anstoßen, an deren Ende konkrete Handlungsschritte für die Praxis stehen sollen.

Hierbei wird die Auseinandersetzung mit kulturellen Leit- und Rollenbildern - den eigenen und
denen der Anderen - besonders im Fokus stehen. Denn nur über diese Auseinandersetzung kann
ein Verstehen, eine Annäherung aneinander möglich werden. Und nur so können wir Lösungen
finden, die für die Zukunft unserer Gesellschaft dringend notwendig sind.

Uns allen wünsche ich einen guten und erfolgreichen Verlauf dieser Veranstaltung.

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Grußwort
Burak Copur, Vorsitzender des Ausschusses für Zuwanderung und Integration (AZI), Essen

Das Thema Integration spielt in der deutschen Öffentlichkeit eine immer größere Rolle und es
besteht kein Zweifel daran, dass Bildung und Schule eine ganz besondere Funktion bei der Inte-
gration von Migranten zukommt, z.B. die Nichtteilnahme muslimischer Schüler/-innen am
Schwimm-/ Sexualunterricht oder an Klassenfahrten. Es stellt sich die Frage: „Wie soll Schule mit
diesem Problem umgehen?“

Auf der einen Seite gibt es kulturelle Leit- und Rollenbilder der Einwanderer die sich auf die
Glaubens- und Religionsfreiheit des deutschen Grundgesetzes berufen, auf der anderen Seite
steht die deutsche Schulpflicht und die Gleichheit der Geschlechter. Insofern steht die Gesell-
schaft vor einem Dilemma.

Zu den kulturellen Leitbildern von Migranten: Ich selbst habe durch meine Herkunft den Vorteil,
dass ich Dinge beim Namen nennen kann, die sich der eine oder andere aus falsch verstandener
Toleranz nicht zu sagen traut. Um es auf den Punkt zu bringen: Das kulturelle Leitbild vieler
muslimischer Migranten ist das Patriarchat und die türkische Machokultur. Männliche Mitglieder
der Familie üben oft erheblichen Druck auf das weibliche Geschlecht aus, um die Mädchen und
Frauen besser kontrollieren zu können. Doch türkische Machos sind selbst oft Täter und Opfer
zugleich. Sie kompensieren ihr schwaches Geschlecht häufig durch das Paschaverhalten, Domi-
nanzgebaren und Gewalt an Schulen.

Was kann die Gesellschaft gegen das Pascha-Syndrom also tun? Sollen wir - wie es die NRW-
SPD kürzlich vorgeschlagen hat - z.B. den Schwimmunterricht nach Geschlechtern trennen? Und
somit den gemeinsamen Unterricht, der Teil der Gleichberechtigung ist und von Vätern des
Grundgesetzes in unserer Verfassung verankert wurde, über Bord werfen? Dies ist ein Irrweg,
denn Geschlechtertrennung fördert hier nicht Integration, sondern ist die Kapitulation vor den
Problemen.

Mein Vorschlag lautet dagegen: Eltern und Familien im Rahmen der Elternbildung zu erreichen
und für Themen wie Pubertät, sexuelle Erziehung, Gleichberechtigung zu sensibilisieren. Ein
wichtiger Schritt wäre eine „Elternakademie“ der Föderation türkischer Elternvereine. Diesen
Gedanken müssen wir weiterentwickeln. Das ist die Seite der Migrant/-innen. Die Regeln des
Zusammenlebens müssen in einem Dialog gemeinsam ausgehandelt werden.

Aber auch die deutsche Seite muss etwas tun: Schulen und Universitäten müssen sich interkultu-
rell öffnen. Wie viele Lehrer/-innen wurden in ihrer Ausbildung auf den Umgang mit Schülern
mit Migrationshintergrund vorbereitet? Land und Hochschulen müssten an allen Universitäten
ein Fach für „Interkulturelle Kompetenz“ verpflichtend für alle Lehramtsstudent/-innen einfüh-
ren, damit man die Ursachen für diese Probleme verstehen lernt.

In einem zweiten Schritt sollten diese Konfliktthemen in den Lehrplan der Klassen eins bis 13
einbezogen werden, um gemeinsam mit den Schüler/-innen darüber zu reden. Sie sehen: Integ-
ration ist ein Geben und Nehmen, ohne dabei aber die Werte des deutschen Grundgesetzes zu
opfern.

Ich wünsche Ihnen einen erfolgreichen Verlauf der Veranstaltung.

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Grußwort
Jürgen Becker, Schulamtsdirektor, Essen

Als Vertreter der staatlichen Schulaufsicht möchte ich mich für die sehr engagierten Redebeiträ-
ge meiner Vorredner herzlich bedanken. Die Probleme sind damit auf der Metaebene umrissen.
Die grundsätzlichen Schwierigkeiten und Ängste bis hin zum Terrorismus sind uns bekannt. Für
die Stadt Essen, bezogen auf die Arbeit in den Schulen, sehe ich weniger eine Terrorismusgefahr,
sondern mehr folgende Probleme und Fragen: Wie gestalte ich eine angemessene Integration
aller zugewanderten Familien? Was müssen wir wissen und tun und was müssen die Zugewan-
derten wissen und tun?

Mit kleinen Beispielen möchte ich konkretisieren, was so an einigen Stellen in unseren Schulen
oder in den zusätzlichen Förderbereichen am Nachmittag geschieht: Vor einigen Wochen sprach
mich eine Lehrerin über ihre Erfahrungen mit muslimischen Kindern an, die einige Jahre als
Hausaufgabenhilfe in Moscheevereinen gearbeitet hat. Bezahlt wurde die Kollegin aus den Mit-
teln des Interkulturellen Konzeptes der Stadt Essen. Große Probleme bereiteten ihr die Verhal-
tensweisen der muslimischen Jungen. Sie klagte über ständige motorische Unruhe, Lernunwillig-
keit, Aggressivität, Unkonzentriertheit, über die fehlende Akzeptanz ihr gegenüber als weiblicher
Lehrkraft. Die Lernerfolge der männlichen Kinder und Jugendlichen schätzte sie als sehr gering
ein. Das Hauptproblem war für sie das fehlende Interesse der Eltern an diesem Land und an die-
ser Sprache.

Eine andere Lehrkraft, eine türkische Lehrerin, erzählte von einem sehr schönen ökumenischen
Gottesdienst für Grundschulkinder. Am Gottesdienst nahmen türkische Mütter teil. Eine dieser
türkischen Mütter schwärmt nach dem Gottesdienst mit folgenden Worten: „Was für ein schö-
ner Gottesdienst. Leider ist das nur die falsche Religion“. Ich frage hier: „Wieso“? Integratives
Denken hätte so formuliert werden können: „Was für ein schöner Gottesdienst. Wir machen das
aber ganz anders.“

In der ersten Klasse einer Grundschule setzten sich einige muslimische Kinder nicht neben die
deutschen Kinder und vermieden auch jeglichen körperlichen Kontakt beim Spielen oder Arbei-
ten. Ein Kindergeburtstag wird in der Grundschulklasse gefeiert. Ein muslimischer Mitschüler
feiert nicht mit und erklärt auf Befragen, der Vorbeter der Gemeinde predige, dass das Ge-
burtstagsfeiern eine Sünde ist. Der Koran verbiete solche Feiern. Was passiert hier? Alle Kinder,
die Geburtstage feiern, werden mit dieser Definition zu Sündern und werden ausgegrenzt.

Um genauer zu erkunden, was sich in den Schulen im Zusammenleben der verschiedenen Religi-
onen und Muttersprachen ereignet, haben wir vor den Herbstferien eine Befragung aller Essener
Schulen vorgenommen. Die Befragung war freiwillig. Wir waren erstaunt über den hohen Rück-
lauf. Die Auswertung ist gerade in Arbeit und kann noch nicht vorgetragen werden. Man kann
aber schon jetzt sagen, dass nicht wenige Schulen ähnliche oder weitergehende Erfahrungen
vortragen, die die gelebte Praxis der Ungleichheit von Mann und Frau betreffen oder es wird die
übertriebene Empfindlichkeit und Verletzlichkeit vieler Muslime beklagt, sobald Kritik geäußert
wird oder Verhaltensänderungen eingefordert werden.

Wir werden sicherlich nicht mit dieser Veranstaltung Lösungen erarbeiten können, die alle Fra-
gestellungen erfassen und sämtliche Schwierigkeiten angehen. Daher ist unser heutiges Treffen
als Auftakt für eine länger geplante fachliche Auseinandersetzung zu verstehen. Ich wünsche für
uns eine interessante und inhaltsreiche Veranstaltung – vielen Dank.

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Es ist nicht die „Kultur“
Prof. Dr. Georg Hansen, Fernuniversität Hagen

Vorbemerkungen
Nicht alle gesellschaftlichen Probleme können in der Schule gelöst werden. Schüler/innen (aber
auch Lehrer/innen) orientieren sich an Leit- und Rollenbildern, die gesellschaftlich vorhanden
sind. In heterogenen Gesellschaften, die stark segmentiert sind, also modernen, pluralistischen
Gesellschaften, ist das Repertoire von Leit- und Rollenbildern entsprechend breit gefächert und
vielfältig. Diese Orientierung dient dazu, Zugehörigkeit zu dokumentieren und Abgrenzung zu
markieren. Sie ist der sichtbarste Ausdruck von Wir-Gefühlen, die aus der geglaubten Gemein-
samkeit innerhalb von Wir-Gruppen resultieren. Ich konzentriere mich hier auf die Mechanis-
men, die strukturellen Ursachen, für die Bildung von Wir-Gruppen, deren sichtbarer Ausdruck
Leit- und Rollenbilder sind.

Möglicherweise ist die aktuelle dominante Kategorie „Kultur“ nicht zielführend, weil gesell-
schaftliche Strukturen außer Acht gelassen werden. Vielmehr sollten wir uns darauf konzentrie-
ren, welche Grenzen für Integration in Gesellschaften mit extrem unterschiedlichen Zugängen
zu Teilhabe und zu Ressourcen gesetzt werden.

Wir-Gruppen
Durch Integration wird Zugehörigkeit organisiert, durch Segregation Nicht-Zugehörigkeit. Die
Zugehörigen bilden eine Wir-Gruppe ebenso wie Nicht-Zugehörige Wir-Gruppen bilden. Das
nennen wir dann Binnenintegration. Die Grenzen von Wir-Gruppen werden über die tatsächliche
oder vermeintliche Gemeinsamkeit, jedenfalls durch den Glauben an diese Gemeinsamkeit(en)
markiert. Der Aufrechterhaltung dieser Grenzziehungen zwischen den „Eigenen“ und den „Frem-
den/Anderen“ dienen häufig Vorurteile gegenüber den bzw. Stereotype über die „Anderen“. Im
Fall ethnischer Gruppen können diese Vorurteile/Stereotype als Ethnozentrismen gefasst werden.

Wir-Gruppen sind offenbar ein unvermeidliches Mittel zur Orientierung in komplexen Gesell-
schaften: Sie schaffen vermeintlich Sicherheit. Ethnische Wir-Gruppen (Ethnien) sind aktuell
eine empirische Tatsache und bestimmen das Handeln von Einzelnen in unterschiedlichem Aus-
maß. Ethnizität zu ignorieren bedeutet keineswegs, sie zu überwinden. Diskriminierungserfah-
rungen und die Verweigerung von Entfaltungschancen (tatsächlich oder vermeintlich) führen
häufig zu ethnischer Orientierung. Ethnische Orientierungen werden insbesondere in Konfliktsi-
tuationen handlungsrelevant. In solchen Situationen wird der Rückgriff auf ethnische Orientie-
rung (Ethnozentrismus) vor allem bei unterlegenen, machtschwächeren Konfliktpartnern nie
ganz zu verhindern sein. Aktuell lassen sich derartige Rückgriffe u. a. bei Jugendlichen beobach-
ten, die auf diese Weise Diskriminierungserfahrungen verarbeiten – dieser Mechanismus erklärt
sowohl nationalistische Orientierungen bei Jugendlichen mit deutschem Pass (Spätaussiedler und
Alteingesessene) als auch bei Jugendlichen ohne Einbürgerung (vgl. z. B. Dannenbeck 1999).

Ethnozentrismen sind der Versuch, durch gezielte Auswahl und Hervorhebung bestimmter sowie
Leugnung und Missachtung anderer Informationen die Überlegenheit der eigenen ethnischen
Gruppe glaubwürdig erscheinen zu lassen. Für alle diejenigen, die sich zu einer Wir-Gruppe zäh-
len oder gezählt werden wollen, entsteht aus dem Interesse an der Zugehörigkeit eine Motivati-
on, die ethnozentrischen Vorurteile dieser Wir-Gruppe zu übernehmen. Das Interesse an der Zu-
gehörigkeit wird dadurch zum Erkenntnis leitenden Interesse bei der Übernahme von Vorurteilen
beziehungsweise bei deren Ausbildung. Die Übernahme der Wir-Gruppen-spezifischen Vorurteile
wird zum Nachweis der Zugehörigkeit zur Eigengruppe. Je umstrittener die Abgrenzung der

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Eigengruppe von Fremdgruppen ist, umso wichtiger werden die Vorurteile der Eigengruppe ge-
genüber Fremdgruppen (vgl. hierzu die empirisch gesättigten Theorien „Etablierten-Außenseiter-
Figuration“ (Elias 1990) und „Die feinen Unterschiede“ (Bourdieu 1984)). Die Außengrenzen von
Wir-Gruppen können durch Gesetze, öffentliche Diskussionen oder Maßnahmen der Politik un-
durchlässig werden.

Staatsangehörigkeitsrecht
Die BRD ist neben Irland das Land in der EU, das einen besonders kleinen Teil der dauerhaft und
legal anwesenden Nicht-Staatsbürger einbürgert (vgl. Lederer 1997). Der Hintergrund dafür ist
das bis heute völkisch inspirierte Staatsangehörigkeitsrecht. Die Ethnisierung von legaler Zuge-
hörigkeit reicht in das 19. Jahrhundert zurück (vgl. Hansen 2001 und 2005). Das „Gesetz über die
Erwerbung und den Verlust der Bundes- und Staatsangehörigkeit“ des Norddeutschen Bundes
vom 01.06.1870 gab keinen Anlass zur Ethnisierung. Dies holte die Praxis in Preußen in den fol-
genden Jahrzehnten nach: Nur gut der Hälfte aller Einbürgerungsanträge von Juden in Preußen
in den Jahren 1904 bis 1910 wird stattgegeben. Mit dem „Reichs- und Staatsangehörigkeitsge-
setz“ vom 22.07.1913 wird diese Praxis mit Hilfe eines Vetorechts der Bundesstaaten bei der Ein-
bürgerung durch einen Bundesstaat auf das ganze Reich ausgedehnt.

Mit der „Verordnung über die deutsche Staatsangehörigkeit“ vom 05.02.1934“, dem „Reichsbür-
gergesetz“ vom 15.09.1935, dreizehn Verordnungen zwischen dem 14.11.1934 und 01.07.1943,
dem Runderlass des Reichsinnenministeriums vom 29.03.1939, den Sammeleinbürgerungen 1938
und 1939 durch Verträge mit der Tschechoslowakischen Republik und der Republik Litauen sowie
der „Verordnung über die Deutsche Volksliste und die deutsche Staatsangehörigkeit in den ein-
gegliederten Ostgebieten“ vom 04.03.1941 wird die Ethnisierung nach den rassistischen Kriterien
der Nazis systematisiert.

Durch § 6 des Bundesvertriebenengesetzes (fast deckungsgleich mit dem Rderl. d. RMdI 1939)
vom 19.05.1953 sowie das „Gesetz zur Regelung von Fragen der Staatsangehörigkeit“ vom
22.02.1955 werden die Ethnisierungsmaßnahmen der Nazis - mit Ausnahme von Ausschlussrege-
lungen für Juden - in der BRD demokratisch legitimiert. Zugehörigkeit wird weiter ethnisch de-
finiert; Ausländer genießen weiterhin nicht den Schutz einer Reihe von Grundrechtsartikeln des
Grundgesetzes. Erstmals wird 1990 mit den §§ 85 und 86 des Ausländergesetzes und dann mit
dem „Gesetz zur Reform des Staatsangehörigkeitsrechts“ vom 15.07.1999 eine Anspruchseinbür-
gerung für ethnische Nicht-Deutsche eingeführt.

Zwischen 1972 und 1996 werden gut 1,5 Millionen Einbürgerungen nach Art. 116 GG vorge-
nommen, also Anspruchseinbürgerungen von Aussiedlern und Spätaussiedlern. Im gleichen Zeit-
raum werden insgesamt gut 2,1 Millionen Einbürgerungen ausgesprochen - fast 470.000 Ermes-
senseinbürgerungen und seit 1994 fast 125.000 Anspruchseinbürgerungen nach §§ 85 und
86,1 AuslG. Die große Mehrheit von fast drei Vierteln der Einbürgerungen sind also wiederum
Personen, die als Deutsche gelten.

Seit 1866 sind in Preußen-Deutschland ganz überwiegend Personen eingebürgert worden, die als
Deutsche begriffen wurden - manchmal gegen ihren Willen. Alle anderen Einbürgerungen sind
bis heute quantitativ deutlich weniger bedeutend. Es ist bis heute ungleich schwieriger als
Nicht-Deutscher in Deutschland eingebürgert zu werden, als in den meisten westeuropäischen
Ländern als Staatsbürger aufgenommen zu werden.

Harald W. Lederer hat diesen Vergleich vorgenommen und kommt zu dem Ergebnis, dass in
Schweden, Finnland, den Niederlanden und Norwegen zwischen 1986 und 1994 im Umfang von
rund der Hälfte der 1985 anwesenden Ausländer eingebürgert wurden; Hingegen waren es in
Deutschland (das Schlusslicht vor Irland) gerade einmal jeder Zwanzigste. Im Mittelfeld mit

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jedem dritten bis vierten Neubürger lagen Dänemark, Großbritannien, Österreich und Spanien.
Der hohe Ausländeranteil in der Bundesrepublik Deutschland resultiert also nicht zuletzt aus der
restriktiven Einbürgerungspraxis. Merke: Je weniger eingebürgert wird, umso leichter lässt sich
das Bild vom „vollen Boot“ aktivieren.

Zum Vergleich: 1910 sind im Deutschen Reich 1,2 Millionen Ausländer dauerhaft anwesend. Im
gleichen Jahr werden ganze 8.262 Ermessenseinbürgerungen vorgenommen. Dieses entspricht
0,7 % der anwesenden Ausländer - anders ausgedrückt: nur jeder Einhundertfünfundvierzigste
(145.) wird damals eingebürgert. Zwischen 1910 und heute hat sich also etwas verändert: statt
jedem 145. wird nunmehr siebenmal häufiger eingebürgert, nämlich jeder Zwanzigste. Im west-
europäischen Vergleich ist diese Einbürgerungspraxis aber immer noch sehr restriktiv.

Die restriktive Handhabung des Ermessens bei der Einbürgerung bis 1990 und die - gemessen am
europäischen Standard - restriktive Regelung von Anspruchseinbürgerungen können nur als
Integrationshemmnis begriffen werden. Bis jetzt ist es einfacher und weniger langwierig für ei-
nen Nicht-EU-Bürger, die Staatsangehörigkeit z. B. Schwedens oder der Niederlande zu erwer-
ben, um damit als EU-Bürger einen gesicherten, dauerhaften Aufenthalt in der BRD zu erlangen,
als sich den Einbürgerungsbedingungen in Deutschland auszusetzen. Hieraus könnten Regierun-
gen den Schluss ziehen, dass die Bedingungen für Einbürgerung innerhalb der EU anzugleichen
wären. In der vergleichbaren Situation im Deutschen Kaiserreich führte die Angleichung der
Einbürgerungsbedingungen zu der angeführten ethnisierenden Einbürgerungspraxis und der
Ausdehnung der restriktiven Einbürgerungspolitik Preußens auf alle Mitgliedstaaten im Reich.
Ob ein analoger Prozess in der EU im Interesse einer gemeinsamen Einbürgerungs- und Bevölke-
rungspolitik wäre, darf bezweifelt werden.

Dies umso mehr, weil gleichzeitig zwei privilegierte Gruppen von Einwanderern einen bemer-
kenswert stabilen und komfortablen Aufenthaltsstatus genießen können: Spätaussiedler und
jüdische Kontingentflüchtlinge aus Staaten der ehemaligen Sowjetunion. Wie beurteilen lang
und legal ansässige andere Migranten diese Privilegierung? Wie einladend sind auf diesem Hin-
tergrund die Regelungen des Staatsangehörigkeitsgesetzes von 1999 und des Zuwanderungsge-
setzes von 2004?

Islamophobie
In einer Weltöffentlichkeit, in der der „Kampf der Kulturen“ (Huntington 1997) zur populären
Formel geworden ist, um weltpolitische Konflikte einschließlich Terrorismus scheinbar ausrei-
chend zu erklären und viele sich der Notwendigkeit einer präziseren Ursachenanalyse der Kon-
flikte enthoben fühlen, hat die aktuelle Islamophobie Konjunktur:

ƒ   Die öffentliche Diskussion um Hindernisse für Beitrittsverhandlungen der EU mit der Türkei
    hat hierzu im Jahr 2004 einen Beitrag geleistet: CDU und CSU diskutierten eine Unterschrif-
    tenkampagne gegen die Verhandlungen (oder gegen den Beitritt?)
ƒ   1999 wurden in Hessen die Landtagswahlen mit Hilfe einer massiven Kampagne gegen die
    Hinnahme von Mehrstaatigkeit („Doppelte Staatsangehörigkeit“) im Zusammenhang mit der
    Modernisierung des Staatsbürgerrechts von 1913 und einer klaren Zielsetzung zur Abwehr
    der Einbürgerung von Türken gewonnen.

Aber das Modell ist älter. Bereits im Vorfeld des ersten Golfkrieges Anfang 1991 (also mehrere
Jahre vor der Huntigtonschen Ideologieproduktion) wurde vom damaligen Innenminister
Schäuble vor Arabern als möglichen Angehörigen einer fünften Kolonne gewarnt. In einem –
glücklicherweise – differenzierten Zeitungsbericht werden die – möglicherweise nicht beabsich-
tigten – Folgen als Progromstimmung von in der BRD lebenden Arabern wahrgenommen. In je-
dem Fall handelt es sich um einen Beitrag zur Ausgrenzung einer Gruppe entlang einer

                                              12
ethnischen Grenze, um die Bereitstellung eines Sündenbocks (vgl. Klaus Tscharneke (dpa), FR
15.02.1991).
Eine ähnliche Beobachtung erlaubt uns die westeuropäische Diskussion um das Kopftuch: Für die
einen ist es ein Symbol eines fundamentalistischen Islamismus, fast schon ein Synonym für Ter-
rorismus. Für andere ist es ein Zeichen von Selbstbewusstsein in einer als diskriminierend erfah-
renen Umgebung. Einige Feministinnen sehen im Kopftuch das Patriarchat repräsentiert, andere
Feministinnen sehen in der gesetzlichen Diskriminierung des Kopftuchs einen Beitrag zur Unter-
drückung von Frauen, da so deren Ausbildung und Emanzipation verhindert werde. Kopftuchtra-
gende Frauen geben dem Kleidungsstück ganz unterschiedliche Bedeutungen: das reicht von
Keuschheitsvorstellungen und einer Absage an die offensive Zurschaustellung eigener Reize und
als Objekt sexueller Begierde über den öffentlichen Ausdruck von Religiosität bis hin zum Fun-
damentalismus, aber auch als eine Möglichkeit, Gruppenzugehörigkeit zu reklamieren und so
deren Solidarität zu fordern. Schließlich kann es als Zeichen gegen die Folgen einer Globalisie-
rung verstanden werden, die in ultraliberaler Weise gesellschaftliche Prozesse so beschleunigt,
dass Verlierer auf Identitätssymbole angewiesen sind, die einer vermeintlichen Herkunftskultur
entnommen werden (ethnic revival). Für Gegner des Kopftuchs, die nur ein fundamentalistisches
Symbol erkennen, werden Kopftuchträgerinnen zum Sündenbock. Dieses ist funktional für Ab-
grenzungsbedürfnisse und rechtfertigt scheinbar Ausgrenzungen.

In Frankreich wird für ein Verbot des Kopftuchs in der Schule mit dem Argument gefochten,
man müsse verhindern, dass Schüler sich durch Symbole von einander abgrenzen - in der Konse-
quenz ist das ein Plädoyer für Schuluniformen und genormten Haarschnitt sowie ein Verbot von
Kult-Klamotten. Die Diskussion um das Kopftuch hat bereits bisher dazu geführt, dass Frauen
sich wegen dessen Diskriminierung geradezu gezwungen sehen, es zu tragen. Nur so glauben
diese Frauen, ihr Selbstbewusstsein und ihre Selbstentfaltung sichern zu können.

Die Diskussion führt zu einer ideologischen Aufladung eines Fetzens Textil, zu einer Leidenschaft
auf allen Seiten, die einen gelassenen Umgang nicht mehr zulässt. Es darf vermutet werden, dass
mit Hilfe dieser Diskussion andere Ziele verfolgt werden, als öffentlich diskutiert werden. Eines
ist jedenfalls klar: Je mehr das Kopftuch zum feindlichen Symbol erklärt wird, je schärfer Gren-
zen zwischen Befürwortern und Gegnern gezogen werden, umso mehr wird die Auseinanderset-
zung selbst zum Integrationshindernis. Das Kopftuch ist nur ein Mosaikstein des in den letzten
15 Jahren aufgebauten bzw. reaktivierten Feindbildes Islam:

ƒ   es fing in Deutschland damit an, dass der Bundesinnenminister 1991 im Vorfeld des ersten
    Golfkrieges vor Arabern als „möglicher fünfter Kolonne des Irak“ warnte (s.o.),
ƒ   es ging weiter mit der Rezeption von Huntingtons „Kampf der Kulturen“ und seinem essenti-
    alistischen Primitivweltbild vom WESTEN gegen den ISLAM,
ƒ   in der angelsächsischen Öffentlichkeit wird zunehmend von „Islamo-Faschismus“ geredet,
    obwohl weder Faschismustheorien noch Totalitarismustheorien sich auf das, was mit Isla-
    mismus verbunden wird anwenden lassen. Also geht es offensichtlich um den Versuch einer
    Diffamierung von Islamismus und die Gleichsetzung mit ganz anderen Phänomenen, die
    (zumindest verbal) verbreitet abgelehnt werden (Durand 2006),
ƒ   nach dem 11. September 2001 kam das Schlagwort vom REICH DES BÖSEN hinzu mit der
    Gleichsetzung von Islam = Terrorismus. Dabei erkennen die einen Fundamentalisten nur noch
    den Fundamentalismus der Anderen,
ƒ   der vorerst letzte Mosaikstein (Mitte 2006) zur Abrundung des Feinbildes Islam ist die Dis-
    kussion um die Karikaturen Mohammeds. Die Reaktionen in islamischen Ländern werden als
    Angriff auf die Pressefreiheit begriffen.

Den Kopf des Propheten als Bombe darzustellen mag dümmlich sein. Die spezifischen innerdäni-
schen Gründe für rechtspopulistische Aktionen von Parteien und Gazetten können hier

                                               13
vernachlässigt werden – diese Karikaturen sind nur Anlass, aber nicht Ursache für Proteste. Mit
dem organisierten Protest wird das Feindbild Westen (= USA + Israel + Europa) mit einem opti-
schen Blickfang – einer Ikone ergänzt. Das Feindbild Westen hat in vielen islamischen Ländern
weit zurückreichende historische Hintergründe.

Bei Moslems in Nordafrika und dem Nahen Osten u. a. Diskriminierungserfahrungen im Zusam-
menhang mit der Kolonialisierung im 19. Jahrhundert, der Ölausbeutung durch anglo-
amerikanische Konzerne seit knapp einhundert Jahren oder der systematischen Stützung autori-
tärer Regime besonders im kalten Krieg. Die Liste reicht von Saudi-Arabien und Kuwait bis zu
Saddam Hussein und dem Schah im Iran. Saddam Hussein war in den achtziger Jahren als will-
kommener Bündnisgenosse gegen den Iran, bevor er dann 1990 zum Feind aus dem „Reich des
Bösen“ erklärt wurde. Der Schah ist bis zu seinem Sturz 1978/79 ein umworbener Bündnispart-
ner gegen die Sowjetunion und – ungewollt – der Wegbereiter für die anschließende Islamische
Republik, die wiederum als Feind aus dem „Reich des Bösen“ gilt. Derartige jahrzehntelange
Stützungen von Unrechtsregimen, solange diese aus opportunistischen Gründen willkommen
sind, sind ebenso schwer vermittelbar, wie anschließende „Kreuzzüge“ gegen neue Unrechtsre-
gime, die den Interessen des „Westens“ nicht entgegenkommen. Von Demokratie und Menschen-
rechten wird dann nur geredet, wenn die Regime in militärischer, ökonomischer und politischer
Hinsicht nicht willfährig sind. Die Erfahrungen mit einer „Pressefreiheit“ á la US-Militär in den
letzten Jahren im Irak können den Eindruck erwecken, Zensur und Pressefreiheit seien Synony-
me. Auch deswegen erscheint der Verweis auf Pressefreiheit in Reaktion auf den Karikaturenpro-
test durchaus scheinheilig. Wie sollen diese Mächte des „Westens“ glaubwürdig als Botschafter
der Demokratisierung und der Menschenrechte auftreten, die autoritäre Unrechtsregime für die
eigenen Zwecke gehätschelt und mit Waffen ausgestattet haben?

Wer dieses alles nicht mitdenkt wird nicht verstehen, wieso das Feindbild WESTEN so glaubwür-
dig erscheint. Wer dieses alles nicht mitdenkt wird nicht verstehen, wie wenig produktiv das
Feindbild ISLAM für Verständigung und Ausgleich ist. Kopftücher und Karikaturen geraten zu
Ikonen in Auseinandersetzungen, die viel mehr mit jahrzehntelanger Unterdrückung, Ausbeu-
tung und Diskriminierung zu tun haben, als mit vorgeblichen kulturellen Prägungen. Bei beiden
Feindbildern ist ein Kulturalismus am Werk, der sich kaum noch scheut, seine rassistischen Wur-
zeln zu zeigen.

Die Suche nach islamischen Wurzeln für Terrorismus, nach der theologischen Rechtfertigung von
Gewalt und Unterdrückung wird mühelos von Erfolg gekrönt: Es findet sich immer ein Theologe,
der als Kronzeuge dienen kann. Nur: Wer mit gleichem Aufwand christliche Theologen und Kir-
chenväter befragt – keineswegs nur im Mittelalter oder während des Ersten Weltkriegs anlässlich
der feierlichen Segnung von Kanonen – wird in gleicher Weise fündig. Mit dieser Suche nach
Wurzeln von Gewalt und deren theologischen Rechtfertigungen können viele Religionen an den
Pranger gestellt werden. Konflikte haben aber in aller Regel einen realen Hintergrund: Mächtige
bekämpfen und unterdrücken Ohnmächtige, Ohnmächtige wehren sich dagegen, Opfer werden
zu Tätern – alle diese Akteure wünschen sich eine ethische Rechtfertigung ihrer Aktionen und
diese wird häufig genug in weltanschaulichen Positionen gesucht und gefunden.

Die Austragung von Konflikten zwischen ethnisch oder religiös definierten Gruppen sagt nichts
darüber aus, dass es sich um ethnische oder religiöse Konflikte handelt. Vielmehr können wir nur
feststellen, dass Loyalitäten in diesen Konflikten entlang ethnischer oder religiöser Grenzziehun-
gen organisiert werden und Konfliktparteien sich innerhalb so definierter Gruppen legitimieren
können. Auf diese Weise wird Solidarität erzeugt und erwartet (Solidaritätszumutungen/vgl. Max
Weber).

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Alleine die Konflikte zwischen verschiedenen Gruppierungen innerhalb des Islams (z.B. Schiiten
versus Sunniten im Irak) sollten uns zeigen, dass eine Ursachensuche in religiösen Vorstellungen
nicht zu den zugrunde liegenden Konflikten führt (übrigens ebenso wenig wie in Nordirland).
Die Tatsache, dass politisches, militärisches und auch terroristisches Handeln theologisch oder
weltanschaulich gerechtfertigt wird, erklärt nun eben nicht den Konflikt. Um die Ursache des
Konflikts herauszufinden muss nach Zugang und Ausschluss von Ressourcen, von Macht, dem
Ausschluss von Integration gesucht werden.

Sprachenpolitik
Erklärtes Ziel der EU ist, dass alle Schulkinder zwei Fremdsprachen lernen. Diesem Ziel dient auch
der Fremdsprachenunterricht in der Grundschule. In vielen EU-Ländern wird dabei Englisch als
Pflichtfremdsprache vorgeschrieben, dessen Anteil weiter ansteigt (z. Zt. etwa 90 %). (Nur in
Belgien, Luxemburg und Rumänien liegen Niederländisch bzw. Französisch und Deutsch bzw.
Französisch vor Englisch). Die Schulsprachenpolitik in Deutschland setzt seit ca. 100 Jahren auf
Englisch (vgl. Hansen 2001c, 2001d). Daneben werden Deutsch und Französisch im europäischen
Durchschnitt von je einem Viertel der Schulkinder mindestens ein Jahr lang gelernt. Alle anderen
Sprachen aus dem romanischen Bereich (z. B. Italienisch oder Spanisch – weniger als 15 %) so-
wie aus dem slawischen Sprachbereich (z. B. Russisch – ca. 2 %) spielen untergeordnete Rollen.
Weniger als die Hälfte aller Schüler/innen in Europa lernen mindestens zwei Fremdsprachen. Die
Sprachen von Migranten spielen quantitativ im Schulunterricht keinerlei Rolle.

Das heißt, dass die Mehrheit der Migrantenkinder in Europa der Sprache der Herkunftsfamilie
nur in der Schule nur im muttersprachlichen Ergänzungsunterricht begegnen. Mehrsprachigkeit,
die diesen Namen verdient, wird so nicht erreicht. Sprachliche Vielfalt einschließlich des Schut-
zes von Minderheitensprachen mit der Fähigkeit der Europäer sich in mehreren Sprachen und
Sprachfamilien zu bewegen wird mit dieser Schulsprachenpolitik faktisch verhindert. Die aktuel-
le Diskussion um die Pflichtsprache Deutsch auf Schulhöfen rundet das Bild ab: diese Schulspra-
chenpolitik führt zu Deutsch plus Englisch. Alle anderen Sprachen sind faktisch marginalisiert
und diskriminiert.

Was das heißt, wird vielleicht an folgendem Beispiel deutlich: Im Zuge der Europäisierung bishe-
riger Nationalstaaten ist der Prozess der Herstellung von Einsprachigkeit („monolingualer Habi-
tus“, vgl. Gogolin 1994) umzukehren und ein plurilingualer Habitus zu entwickeln. Die vermeint-
lich attraktive Lösung „Nationalsprache und Englisch als Lingua franca“, also die Anglophonisie-
rung überregionaler Kommunikation führt zum Problem der unreflektierten Übernahme von
Perspektiven und damit der Begünstigung kultureller Hegemonie. Zur Illustration: Für den glei-
chen historischen Vorgang, die Migrationsbewegungen des 4. bis 6. Jahrhunderts in Europa, wird
im deutschen Sprachgebrauch eine gänzlich andere Bezeichnung gewählt, als in romanischen
Sprachen:

ƒ   D:          Völkerwanderung
ƒ   DK:         folkevandring
ƒ   PL:         wedrówka ludów
ƒ   NL:         volksverhuizing
ƒ   GB:         germanic invasions
ƒ   F:          grandes invasions
ƒ   I:          le invasioni barbariche

Während also im deutschen, dänischen, polnischen und niederländischen Sprachgebrauch eine
ähnliche bis wortgleiche Bezeichnung gewählt wurde, zeigen der englische, französische und
italienische Sprachgebrauch eine gänzlich andere Perspektive auf den gleichen Vorgang an. Die
einen stellen eine Migrationsbewegung von „Völkern“ in den Vordergrund, die anderen den

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Einmarsch, die Invasion der Anderen, der Barbaren. Damit wird an eine ältere griechische und
römische Tradition der Betrachtung angeknüpft. Beide Sprachgebräuche können als hoch ideo-
logisch und ethnozentrisch angesehen werden. Für mich steht allerdings ein anderes Problem im
Vordergrund: Bei diesen Sprachgebräuchen wird mit der korrekten Übersetzung von einer in die
andere Sprache die Perspektive gewechselt. Ethnozentrismus kann in diesem Fall nur dadurch
vermieden werden, dass die verschiedenen Perspektiven mitgeteilt und der Diskussion zugänglich
werden. Die europäische Perspektive setzt in solchen Fällen Mehrsprachigkeit voraus - nicht un-
bedingt einer Person, aber in der Summe der Beteiligten an einer Diskussion (Hansen 1996, S.
89).

Intermarriage
In weiten Teilen der Literatur ebenso wie in der öffentlichen Diskussion werden Ehen zwischen
Angehörigen verschiedener Ethnien (Intermarriage) als Indikator für Integration herangezogen.
Dieser Indikator ist nicht unproblematisch. Noch in den fünfziger Jahren des vorherigen Jahr-
hunderts galten Ehen zwischen Katholiken und Protestanten als „Mischehen“ und wurden über-
wiegend als unerwünscht angesehen. Wenn also Ehen vor fünfzig Jahren zwischen Protestanten
und Katholiken eher selten anzutreffen waren, haben wir dann damit einen Indikator für unzu-
reichende Integration der bundesdeutschen Gesellschaft zu Beginn der BRD?

Und weiter: Wie steht es heute mit Ehen zwischen Angehörigen verschiedener sozialer Milieus,
Schichten und Klassen? Wie häufig sind Ehen zwischen den Kindern von Managern großer Un-
ternehmer und denen ihrer Arbeiter oder Pförtner? Wenn wir mit Bourdieu (vgl. 5.2) von den
„feinen Unterschieden“ zwischen verschiedenen Milieus ausgehen müssen, so ist es kaum ver-
wunderlich, dass derartige Ehen eher selten sind. Warum aber werten wir dieses Datum nicht als
Indikator für mangelnde Integration?

Beide Fälle, die interkonfessionelle Ehe ebenso wie die Ehe über Schichtgrenzen hinweg, werden
kaum als Indikator für Integration herangezogen bzw. deren Nichtvorhandensein als Indikator
für mangelnde Integration. Demgegenüber werden Ehen über ethnische Grenzen hinweg durch-
gängig begrüßt, Ehen innerhalb ethnischer Gruppen als problematisch angesehen. So lange nur
ethnische Grenzen bei der Thematisierung von Intermarriage herangezogen werden, nicht aber
soziale oder konfessionelle, handelt es sich bei diesem Indikator um einen Beitrag zur Ethnisie-
rung von Differenz.

Die Revolte in den französischen Vorstädten
In den französischen Medien fand man Klassifizierungen wie „Wilde Horden“ oder „Feinde unse-
rer Welt“. Es wurde behauptet, es gäbe eine „Krise der städtischen Verhaltensregeln oder Um-
gangsformen“ und diese Jugendlichen lebten in einer „Parallelgesellschaft außerhalb des Rechts
der Republik“. Insgesamt sei also die Integration der Jugendlichen, deren Eltern oder Großeltern
aus den Maghrebländern kamen, gescheitert. Sie seien nicht integrationswillig. Verstärkt wurde
dieser Eindruck in der französischen Presse in den letzten Jahren noch durch regelrechte Kam-
pagnen über erfolgreiche Einwanderer. Vorzeige-Erfolgsmenschen aus diskriminierten Gruppen
wurden kontrastiert mit den vielen Erfolglosen und ihnen als Vorbild dargestellt. Die zunehmen-
de Ungleichheit des Zugangs zu gesellschaftlichen Ressourcen wurde durch diesen Kontrast zwi-
schen gefeierten erfolgreichen und randständigen erfolglosen Mitgliedern diskriminierter Grup-
pen durch diese Kampagnen für alle augenfällig.

Die Vorstädte der französischen Großstädte werden überwiegend von sozial randständigen und
sozial schwachen Bewohnern bevölkert. Viele – insbesondere Jugendliche – sind arbeits- und
ausbildungslos, haben keine soziale Sicherung, sind von ihren Eltern abhängig und auf deren
Hilfe angewiesen und sehen keine Perspektive. Dieser Befund gilt unabhängig von ethnischen

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Kategorien –diese soziale Randständigkeit kennt keine kulturellen Grenzen und trifft Nachfahren
von Einwanderern aus den Maghrebländern genauso wie ethnische Franzosen.

Alle diese Bewohner der Vorstädte leben unter den Bedingungen von Diskriminierung und
Apartheid. Es handelt sich um eine Ghettorisierung der Erfolglosen und Verlierer in den Vorstäd-
ten. Der hohe Anteil von Jugendlichen aus Einwandererfamilien scheint dann eine Rechtferti-
gung für die Ethnisierung von Jugendverhalten zu liefern.

Die Situation dieser Jugendlichen lässt sich auch ganz anders beschreiben als in den Eingangszi-
taten:

ƒ   Es gab in den letzten Jahren einen massiven Abbau von Jugendsozialarbeit, die Schließung
    von Jugendzentren, den Rückzug des Sozialstaats aus den Vorstädten.
ƒ   Parallel dazu wurde die Polizei umgebaut: statt Kontaktbereichspolizisten wurde schwer
    bewaffnete Antikriminalitätsbrigaden in die Vorstädte geschickt, Polizeirepression in Form
    von häufigen Ausweiskontrollen ist die Regel.

Diese Politik des Sozialabbaus bei gleichzeitiger Kriminalisierung der Verlierer der sozioökonomi-
schen Prozesse unter neoliberalem Vorzeichen führt zu einer Protestbereitschaft, die bei beliebi-
gen Anlässen aktiviert werden kann. Fazit: Es gibt keine stabile und akzeptierte staatsbürgerliche
Ordnung ohne soziale Ordnung.

Was heißt das für Migration und Migranten?
Die Befunde einer empirischen Untersuchung bei Jugendlichen in München stützen die genann-
te Einschätzung kollektiver Identitäten und illustrieren die genannten Eckpunkte eindrucksvoll
(vgl. Dannenbeck u.a. 1999). Im Resümee ihrer Untersuchung stellen die Autorinnen die Frage
nach der Gültigkeit ethnischer Differenzierung:

„Wann sticht eigentlich der Hinweis auf nationale bzw. ethnisch-kulturelle Herkunft als Argu-
ment zur Unterscheidung von Seinesgleichen und Anderen? Fragen, wer wir sind und wer die
anderen, was Heimat ist und was Fremde, können mit der Berufung auf ‚Blut‘, Nationalität,
Ethnie oder Kultur nur sehr bedingt beantwortet werden. Befindlichkeiten wie heimisch und
vertraut, anders und fremd sind ebenso Elemente koexistierender und rivalisierender kollektiver
Zugehörigkeiten wie auch Resultate von immer wieder neu zu treffenden Urteilen.

Paradigmen der Selbst- und Fremdverortung wie Rasse, Klasse, Nationalität, Ethnizität, Kultur
und Glaube firmieren nicht nur als kollektive Identitätsangebote. Sie stehen auch für real exis-
tierende, historisch durchgesetzte gesellschaftliche Verhältnisse, in denen Menschen auf kollek-
tive Zugehörigkeiten verpflichtet werden. So macht es einen Unterschied, ob jemand seine Her-
kunft und Abstammung als honoriges Zugehörigkeitswappen vorzuzeigen vermag, oder ob Her-
kunft und Abstammung nichts als Rechtlosigkeit und Ohnmacht zeitigen“ (Dannenbeck u.a.
1999, S. 229).

Der Doppelcharakter ethnischer Zugehörigkeit als Angebot und als Verpflichtung wird hier noch
einmal betont. Die untersuchten Jugendlichen haben mit den üblichen ethnischen Zuschreibun-
gen einen geradezu spielerischen Umgang gefunden. Da sie erwarten, dass die deutschen Sozial-
forscher sie als türkische Jugendliche wahrnehmen, entsprechen sie dieser Wahrnehmung und
bezeichnen sich folgerichtig als: „Wir Junior, Turkish Westside. Junge Türken Westside“ (Dannen-
beck u.a. 1999, S. 233). Die Autorinnen kommentieren diese Selbstdarstellung: „Die Art ihrer
Selbstpräsentation ist alles andere als zufällig. Die ‚Jungen Türken Westside‘ sind eine Clique –
womöglich mit einem nicht über unsere Begegnung hinausreichendem Verfallsdatum. Mit unse-
rer Frage, welcher Clique sie angehören, unterstellen wir eine kollektive Identität, die dann auch

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prompt bedient wird“ (Dannenbeck u.a. 1999, S. 233). Damit werden diese Selbstdarstellungen
zu „gemeinsam ausgehandelten Konstruktionsleistungen“ (Dannenbeck u.a. 1999, S. 234), die in
der konkreten Interaktion entstehen und möglicherweise auch nur so lange Bestand haben, wie
die Interaktion andauert.

Da diese Jugendlichen auf Grund ihrer Erfahrungen annehmen, dass von ihnen eine ethnische
kollektive Identität erwartet wird, bedienen sie diese Erwartung mit einer ethnisch angeleiteten
Selbstdarstellung, um so die (vermeintliche) Erwartung der Sozialforscher nicht zu enttäuschen.
Dieser Hinweis auf die allgegenwärtige ethnische Interpretation wird von den Autorinnen her-
vorgehoben, wenn sie betonen, dass durch die ethnische Brille „nicht nur Alltagskonflikte, son-
dern jegliche Gesellungsformen Jugendlicher eine ethnische Begutachtung erfahren können“
(Dannenbeck u.a. 1999, S. 237).

Damit gerät jedes Missverständnis, jeder Konflikt oder jede überraschende Aktion bei der inter-
ethnischen Interaktion zu einem ethnisch-kulturell zu deutenden Ereignis. Im Extremfall werden
alle Lebensäußerungen von Deutschen auf einem christlichen und diejenigen von Türken auf
einem islamischen Hintergrund vermeintlich erklärt und erklärbar. Die tatsächliche Nähe zu die-
sem jeweiligen Hintergrund ist unerheblich, die unterstellte ethnisch-kulturelle Identität hat sich
verselbständigt und erklärt sich aus sich selbst heraus. Wenn aber dieses Erklärungsmuster selbst
nicht mehr erklärt werden muss, dient es umso glaubwürdiger als Erklärung für eigenes und
fremdes Handeln. Schlimmer: andere Erklärungen wären sogar unglaubwürdiger als die eth-
nisch-kulturelle. Handlungen und Lebensäußerungen als Autofahrer, Schulabbrecher, Auszubil-
dender, männlicher Jugendlicher, Fußballspieler können beim Blick durch die ethnisch-kulturelle
Brille eben nicht mehr im jeweiligen Handlungskontext, sondern nur als Manifestationen von
Ethnizität wahrgenommen werden.

Diese Dominanz ethnischer Begutachtung aller Konflikte und aller Beobachtungen, sobald nicht
nur Angehörige einer Ethnie beteiligt sind, verhindert die Wahrnehmung von „Ethnizität als un-
abgeschlossenes Verhandlungsprojekt“ (Dannenbeck u.a. 1999, S. 235).

Jean-François Bayart (1996) stellt den Zusammenhang zwischen der Suche nach kollektiven
Identitäten und politischen Interessen heraus. Bayarts Forschungen machen ihn zum Kenner
Afrikas südlich der Sahara, der Türkei und des Iran – er bezieht aber auch Süd- und Ostasien,
Nordafrika und Europa in seine Analysen ein. Auf diesem Hintergrund stellt er folgende Zusam-
menhänge dar:

ƒ   Globalisierung, Internationalisierung und Mondialisierung führten zu einer Suche nach kol-
    lektiver Identität, um die Folgen der erstgenannten Phänomene auszuhalten, also Suche
    nach vermeintlicher Sicherheit zusammen mit denjenigen, die vermeintlich Werte, Normen,
    Lebensentwürfe und kulturellen, religiösen oder/und historischen Hintergrund gemeinsam
    haben (Bayart 1996, S. 11),
ƒ   Politische Akteure und strategisch Handelnde benutzten den kulturellen Mantel, um die rea-
    len Motive nicht nennen zu müssen und besser verstecken zu können (Bayart 1996, S. 12),
    indem sie die Deckungsgleichheit von Kultur und Politik suggerierten (als prominentes Bei-
    spiel dieser Camouflage kann Huntington’s „Clash of Civilisations/Kampf der Kulturen“ gel-
    ten, in dem die Unvermeidlichkeit von weltweiten Auseinandersetzungen entlang der Gren-
    zen vermeintlich klar abgrenzbarer und vermeintlich homogener Großkulturen propagiert
    wird (Huntington 1997),
ƒ   In ihrer Macht bedrohte und ihre Herrschaft behalten wollende Eliten benutzen den Ge-
    meinsamkeitsglauben an ethnische und kulturelle Identität, um diesem Verlust zu begegnen
    (Beispiel: „serbische kommunistische Apparatschiks konvertieren zu Ultra-Nationalisten“,
    Bayart 1996, S. 10),

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