Internationale Grundsätze und Leitlinien für den Zugang von Menschen mit Behinderungen zur Justiz

 
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Internationale Grundsätze und Leitlinien für den Zugang von Menschen mit Behinderungen zur Justiz
Internationale
                        Grundsätze und
                        Leitlinien für den
                        Zugang von
                        Menschen mit
                        Behinderungen
                        zur Justiz
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Internationale Grundsätze und Leitlinien für den Zugang von Menschen mit Behinderungen zur Justiz
Internationale Grundsätze und Leitlinien für den Zugang von Menschen mit Behinderungen zur Justiz
Internationale Grundsätze
und Leitlinien für den Zugang von
  Menschen mit Behinderungen
             zur Justiz

             Genf, August 2020
Internationale Grundsätze und Leitlinien für den Zugang von Menschen mit Behinderungen zur Justiz
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    VORWORT DER HOHEN KOMMISSARIN
    DER VEREINTEN NATIONEN FÜR
    MENSCHENRECHTE

        Menschen mit Behinderungen nehmen in                Die Grundsätze und Leitlinien werden
    der Tätigkeit meines Amtes unter anderem           Akteuren im Justizwesen, Nationalen
    deswegen eine zentrale Stellung ein, weil sie      Menschenrechtsinstitutionen und der Zivil-
    zu denen gehören, die am weitesten zurück-         gesellschaft, insbesondere Organisationen von
    gelassen werden. Schon viel zu lange werden        Menschen mit Behinderungen, dabei nützlich
    sie ignoriert, vernachlässigt und missverstan-     sein, Sensibilisierungsaktivitäten und Aus-
    den und werden ihnen ihre Rechte schlichtweg       und Fortbildungsmaßnahmen zu verstärken
    verwehrt. Nach wie vor werden sie im Gesetz        und vermehrt entsprechende Vorkehrungen
    und in der Praxis diskriminiert, und dem Justiz-   bereitzustellen und so die Achtung der Rechte
    system kommt eine entscheidende Rolle dabei        von Menschen mit Behinderungen und ihre
    zu, solche Negativerfahrungen, insbesondere        stärkere Vertretung in und Teilnahme an
    wenn sie auf unfaire Gesetze zurückgehen, zu       Verfahren zu gewährleisten. Darüber hinaus
    verhindern und gegebenenfalls für wirksame         bieten sie einen Rahmen für die Inklusion und
    Wiedergutmachung zu sorgen.                        Teilhabe von Menschen mit Behinderungen
                                                       in unterschiedlicher Funktion im Justizwesen,
        Der garantierte Zugang zur Justiz ist unver-   beispielsweise als haupt- und ehrenamtliche
    zichtbar für ein demokratisches, rechtsstaat-      Richterinnen und Richter und Zeuginnen und
    liches Staatswesen und die Bekämpfung von          Zeugen. Dies ist Ausdruck des demokratischen
    Ungleichheit und Ausgrenzung. Das Überein-         Imperativs, alle Facetten der Gesellschaft
    kommen über die Rechte von Menschen mit            einzubeziehen und widerzuspiegeln – mit
    Behinderungen gibt seit seiner Annahme einen       anderen Worten, die Gesellschaft zu ge-
    Weg vor, auf dem die Inklusion von Menschen        stalten, in der wir leben. Die Grundsätze und
    mit Behinderungen auf der Grundlage des            Leitlinien sind ein unerlässlicher Beitrag zur
    Menschenrechtsmodells von Behinderung              Verwirklichung von Gerechtigkeit für alle.
    zu erreichen ist. Die unter der Leitung der
    Sonderberichterstatterin über die Rechte von
    Menschen mit Behinderungen, Catalina
    Devandas Aguilar, erarbeiteten Internationalen
    Grundsätze und Leitlinien für den Zugang von
    Menschen mit Behinderungen zur Justiz sind         Michelle Bachelet
    fest in dem Übereinkommen verwurzelt. Ich          Hohe Kommissarin der Vereinten Nationen
    begrüße sie als erstes Instrument dieser Art,      für Menschenrechte
    das eine umfassende und praktische Anleitung
    bietet, wie Menschen mit Behinderungen
    gleichberechtigt mit anderen der Zugang zur
    Justiz gewährleistet werden kann.
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VORWORT VON JUAN MANUEL
FERNÁNDEZ MARTÍNEZ

    Rechtsstaatlichkeit – der Zustand also, in   Menschen getragen und erfordert aktive
dem Mensch und Staat dem Primat des Rechts       Maßnahmen seitens der öffentlichen
und seiner Verfahren unterliegen –, ist der      Gewalten. In der Rechtsordnung müssen die
Grundstein jeder Demokratie. Sie allein reicht   unverzichtbaren Mindestgrundsätze für die
jedoch nicht aus, um den Fortbestand einer       Regulierung der Grundrechte in absoluter
Demokratie zu sichern. Bei der Ausgestaltung     Klarheit festgelegt und von Maßnahmen
einer Rechtsordnung sind die Menschenrechte      begleitet sein, die die ihrer vollen Verwirk-
streng zu achten. Diese Rechte haben sich im     lichung entgegenstehenden Hindernisse be-
Lauf der Geschichte demokratischer Nationen      seitigen und die Gleichheit aller Menschen
aus einer Reihe von Grundrechten entwickelt,     fördern.
die das Fundament eines friedlichen, inklusi-
ven und gleichberechtigten Zusammenlebens             Die Internationalen Grundsätze und Leit-
bilden.                                          linien für den Zugang von Menschen mit
                                                 Behinderungen zur Justiz, deren Vorwort zu
    Zwei dieser Grundsätze ragen heraus:         verfassen mir eine Ehre ist, sind das Ergebnis
die Gleichheit aller Menschen und die abso-      der enormen Arbeit, die die Menschenrechts-
lute Achtung der Menschenwürde ungeach-          mechanismen der Vereinten Nationen in den
tet der persönlichen, familiären oder sozialen   letzten Jahren im Hinblick auf dieses grund-
Umstände. Gleichheit bedeutet Gleichheit vor     legende Recht auf Zugang zur Justiz geleistet
dem Gesetz ohne Diskriminierung aufgrund         haben.
des Alters, der Geburt, der „Rasse“, einer
Behinderung, des Geschlechts, der Religion,          Wie eingangs erwähnt, gibt es ohne die
der Anschauung oder anderer persönlicher         Achtung der Rechtsstaatlichkeit keine Demo-
oder sozialer Bedingungen oder Umstände.         kratie; noch wird das Recht wirklich geachtet,
Die Menschenwürde wird in demokratischen         wenn keine rechtsprechende Gewalt seine
Rechtssystemen als eine dem Menschen inne-       Einhaltung garantiert. Dieser obliegt es, die
wohnende Eigenschaft angesehen, aus der          Gleichheit aller Menschen zu fördern und
sich die Grundrechte herleiten, die ebenso       insbesondere das Recht jeder Person auf Zu-
wie die freie Entwicklung der Persönlichkeit     gang zur Justiz gleichberechtigt mit anderen
des Menschen unverletzlich und unveräußer-       zu gewährleisten. Die richterliche Unpartei-
lich sind, gerade weil sie grundlegend sind.     lichkeit bei der Beilegung von Konflikten darf
                                                 nicht mit einer distanzierten und gefühllosen
    Mit der Formulierung dieser Grundsätze       Neutralität gegenüber der sozialen Realität
ist es jedoch nicht getan. Die Menschen-         verwechselt werden, da diese Realität als
rechte können nicht auf die bloße Äußerung       Auslegungskriterium bei der Anwendung von
guter Absichten oder auf Rhetorik ohne jede      Rechtsvorschriften dient. Als Richterinnen
praktische Wirkung reduziert werden. Ech-        und Richter garantieren wir die Einhaltung
tes demokratisches Zusammenleben ist von         der Rechtsvorschriften und damit die Realität
der Achtung der Gleichheit und Würde aller       des demokratischen Zusammenlebens. Wir
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    sind in letzter Instanz auch die Garanten        Ausübung dieser Rechts- und Handlungsfähig-
    der Menschenrechte. Bei der Auslegung und        keit erforderlich sind. Der dadurch gesetzte
    Durchsetzung des Rechts ist es möglich und       Impuls hat in eine Reihe von Rechtsordnungen
    notwendig, mit den anderen Staatsgewalten        Eingang gefunden.
    in Dialog zu treten und die Gründe zu be-
    nennen, die bestimmte Änderungen an den             Die Achtung der Rechte aller Menschen,
    Rechtsvorschriften rechtfertigen.                auch derjenigen mit Behinderungen, ihre volle
                                                     Gleichstellung und der Schutz ihrer Menschen-
        Aus Platzgründen lassen sich hier die in     würde lassen erkennen, was für eine Gesell-
    den letzten Jahren von den Menschenrechts-       schaft wir sind und wohin wir uns entwickeln.
    mechanismen der Vereinten Nationen geför-
    derten Initiativen nicht alle zusammenfassen.
    Dennoch möchte ich betonen, dass die volle
    Anerkennung der Rechts- und Handlungsfähig-
    keit der Menschen mit Behinderungen dadurch
    einen entscheidenden Impuls erhalten hat.
    Das Recht auf Anerkennung der Rechts- und
    Handlungsfähigkeit ist in Artikel 12 des Über-   Juan Manuel Fernández Martínez
    einkommens über die Rechte von Menschen          Mitglied des Generalrats der
    mit Behinderungen geregelt – unbeschadet         rechtsprechenden Gewalt
    der Unterstützungsmaßnahmen, die für die         Spaniens
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HINTERGRUND

     Im November 2018 veranstaltete die           diese Aktivitäten eingebunden und haben zur
Sonderberichterstatterin über die Rechte          Erarbeitung der Internationalen Grundsätze
von Menschen mit Behinderungen, Catalina          und Leitlinien beigetragen. Organisationen
Devandas Aguilar, gemeinsam mit dem Hohen         von Menschen mit Behinderungen wurden
Kommissariat der Vereinten Nationen für Men-      während des gesamten Prozesses konsultiert
schenrechte (OHCHR) und mit Unterstützung         und eingebunden.
der Regierung Spaniens ein Sachverständigen-
treffen in Genf, um die Verwirklichung des            Gemäß Resolution 73/177 der General-
Rechts von Menschen mit Behinderungen auf         versammlung wird der Generalsekretär der
Rechts- und Handlungsfähigkeit und auf den        Versammlung auf ihrer fünfundsiebzigsten
Zugang zur Justiz zu erörtern. Anschließend       Tagung einen Bericht über die neuesten
gab die Sonderberichterstatterin eine Studie      Entwicklungen, Herausforderungen und
in Auftrag, um die maßgeblichen Grundsätze,       vorbildlichen Verfahren auf dem Gebiet der
Interventionen und Strategien zu ermitteln, die   Menschenrechte in der Rechtspflege sowie
Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt       über die Situation von Menschen mit Behin-
mit anderen den wirksamen Zugang zur Justiz       derungen in der Rechtspflege vorlegen. Der
gewährleisten.                                    Bericht (A/75/327) enthält die Empfehlung,
                                                  in Konsultation mit Menschen mit Behinderun-
    Am 21. Februar 2020 berief die Sonder-        gen internationale Grundsätze und Leitlinien
berichterstatterin ein weiteres Sachverständi-    für den Zugang zur Justiz zu erarbeiten und
gentreffen nach Genf ein, um die Notwendig-       so die Staaten bei ihren diesbezüglichen
keit internationaler Grundsätze und Leitlinien    Bemühungen zu unterstützen. Die zur
für den Zugang von Menschen mit Behinderun-       Erarbeitung dieser Leitlinien unternommenen
gen zur Justiz zu erörtern, die die Staaten bei   Anstrengungen werden in dem Bericht
der Umsetzung ihrer internationalen Verpflich-    anerkannt.
tungen auf diesem Gebiet anleiten sollen.
                                                      Die Internationale Juristenkommission,
   Der Ausschuss für die Rechte von Men-          die International Disability Alliance und
schen mit Behinderungen und die Sonder-           das Entwicklungsprogramm der Vereinten
gesandte des Generalsekretärs für Behinde-        Nationen haben die Grundsätze und
rungsfragen und Barrierefreiheit waren eng in     Leitlinien anerkannt.
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    EINLEITUNG

         Jeder Mensch soll gleichberechtigt mit an-             die sie bei der Ausübung ihrer Rechts-
    deren das Recht auf Gleichheit vor dem Ge-                  und Handlungsfähigkeit gegebenenfalls
    setz, auf gleichen Schutz durch das Gesetz,                 benötigen;
    auf eine faire Beilegung von Streitigkeiten, auf       c)   sicherzustellen, dass zu allen die
    produktive Teilhabe und Gehör genießen. Die                 Ausübung der Rechts- und Handlungs-
    Staaten müssen allen Menschen mit Behinde-                  fähigkeit betreffenden Maßnahmen
    rungen gleichberechtigten Zugang zur Justiz                 geeignete und wirksame Sicherungen
    gewährleisten und zu diesem Zweck die erfor-                vorgesehen werden, um Missbräuche
    derlichen materiellen, verfahrensbezogenen,                 zu verhindern, und dass diese Sicherun-
    altersgemäßen und geschlechtergerechten Vor-                gen auch gewährleisten, dass bei den
    kehrungen und entsprechende Unterstützung                   Maßnahmen betreffend die Ausübung
    bereitstellen. Die Grundsätze und Leitlinien sol-           der Rechts- und Handlungsfähigkeit die
    len Staaten und sonstigen Akteuren bei der                  Rechte, der Wille und die Präferenzen
    Gestaltung, Entwicklung, Änderung und Um-                   der betreffenden Person geachtet
    setzung von Justizsystemen helfen, die allen                werden;
    Menschen mit Behinderungen gleichberech-               d)   Menschen mit Behinderungen gleich-
    tigten Zugang zur Justiz eröffnen, ungeach-                 berechtigt mit anderen wirksamen
    tet ihrer jeweiligen Rolle in dem Prozess und               Zugang zur Justiz, unter anderem durch
    im Einklang mit dem Übereinkommen über die                  verfahrensbezogene und altersgemäße
    Rechte von Menschen mit Behinderungen.                      Vorkehrungen, zu gewährleisten, um
                                                                ihre wirksame unmittelbare und mittel-
         Die Artikel 12 und 13 des Übereinkom-                  bare Teilnahme, einschließlich als Zeu-
    mens stellen einen Paradigmenwechsel in der                 gen und Zeuginnen, an allen Gerichts-
    rechtlichen Anerkennung der Autonomie von                   verfahren, auch in der Ermittlungsphase
    Menschen mit Behinderungen dar. Das Über-                   und in anderen Vorverfahrensphasen,
    einkommen lehnt historisch verwurzelte Vor-                 zu erleichtern.
    stellungen von Behinderung ab, die Menschen
    mit Behinderungen jeglicher Mittel berauben,             Obwohl der Zugang zur Justiz für den
    ihren Willen und ihre Präferenzen geltend zu        Genuss und die Verwirklichung aller Men-
    machen. Solche Vorstellungen haben in vielen        schenrechte von grundlegender Bedeutung
    Ländern effektiv dazu geführt, dass diese           ist, sehen sich Menschen mit Behinderungen
    Menschen nicht gleichberechtigt mit anderen         vielen Barrieren gegenüber, die sie am mit
    Zugang zur Justiz und zu Verfahrensgarantien        anderen gleichberechtigten Zugang zur Justiz
    haben. Zu den wichtigsten Bestimmungen              hindern. Dazu zählen Einschränkungen bei
    des Artikels 12 betreffend die gleiche An-          der Ausübung der Rechts- und Handlungs-
    erkennung vor dem Recht und des Artikels 13         fähigkeit, die physische Unzugänglichkeit
    betreffend den Zugang zur Justiz zählen die         von Justizeinrichtungen wie Gerichten und
    Verpflichtungen der Staaten,                        Polizeistationen, ein Mangel an barrierefreien
                                                        Transportmitteln für die Beförderung zu und
        a)   anzuerkennen, dass Menschen mit Be-        von diesen Einrichtungen, Hindernisse beim
             hinderungen in allen Lebensbereichen       Zugang zu rechtlicher Unterstützung und
             gleichberechtigt mit anderen Rechts-       Vertretung, ein Mangel an Informationen in
             und Handlungsfähigkeit genießen;           barrierefreien Formaten, bevormundende oder
        b)   geeignete Maßnahmen zu treffen, um         negative Einstellungen, die die Fähigkeit von
             Menschen mit Behinderungen Zugang          Menschen mit Behinderungen zur Teilnahme
             zu der Unterstützung zu verschaffen,       an allen Phasen der Rechtspflege in Frage
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stellen, und die mangelnde Schulung der im        von ihnen verstehen oder kennen möglicher-
Justizwesen tätigen Fachkräfte. Im Justizsystem   weise nicht die Folgen rechtlicher Schritte oder
herrscht oft die Auffassung, dass Menschen        Maßnahmen und unterschätzen die Bedeutung
mit Behinderungen des Schutzes eines rechts-      raschen Handelns. Klägerinnen und Kläger
staatlichen Verfahrens, den alle anderen Bür-     oder Opfer mit Behinderungen laufen Gefahr,
gerinnen und Bürger erhalten, unwürdig sind,      dass ihre Aussagen als nicht glaubwürdig er-
dass sie nicht davon profitieren können oder      achtet werden, wodurch die Verantwortlichen
dass er ihnen sogar schaden könnte. Selbst        für Straftaten gegen Menschen mit Behinderun-
Grundrechte wie das Aussageverweigerungs-         gen straflos ausgehen. Aus diesem Grund sind
recht und die Unschuldsvermutung können           die Grundsätze und Leitlinien so wichtig, um
ihnen entweder unmittelbar rechtlich oder         Menschen mit Behinderungen den wirksamen
politisch oder mittelbar durch Gewohnheits-       Zugang zur Justiz zu erleichtern.
recht oder in der Praxis verweigert werden.
Dies birgt enorme Risiken, darunter falsche            Die Grundsätze und Leitlinien zielen nicht
Geständnisse, Fehlurteile und rechtswidrige       darauf ab, ein bestimmtes Justizsystem im
Freiheitsentziehung.                              Einzelnen zu beschreiben. Vielmehr sollen sie
                                                  auf der Grundlage eines heute bestehenden
     Justizsysteme spiegeln die Werte der         Konsenses und der gesammelten Erfahrungen
Gesellschaft wider, in der sie verankert sind.    die allgemein als vorbildlich anerkannten
Beim Kontakt zu Justiz und Polizei können         Verfahrensweisen für die Garantie des dis-
Menschen aus verschiedensten Gründen              kriminierungsfreien, gleichberechtigten und
individueller und systemischer Voreingenom-       gerechten Zugangs zur Justiz im Einklang mit
menheit, Rassismus und struktureller Ungleich-    Artikel 13 und anderen einschlägigen Bestim-
heit begegnen. In Anbetracht dessen, dass         mungen des Übereinkommens darlegen. Bei
diese sich überschneidenden Faktoren nicht        der Anwendung der Grundsätze und Leitlinien
voneinander losgelöst, sondern nur als Gan-       sollten sich die Staaten der mehrfachen und
zes angegangen werden können, zeigen die          intersektionellen Diskriminierung beim Zugang
Grundsätze und Leitlinien deutlich den un-        zur Justiz bewusst sein und dagegen angehen.
gleichen Zugang zur Justiz auf, der die Folge     Im Einklang mit ihren Verpflichtungen nach
von Voreingenommenheit, Stigmatisierung           dem Übereinkommen ist es außerdem von
und mangelnden Kenntnissen von Justizbe-          entscheidender Bedeutung, dass die Staaten
diensteten über Menschen mit Behinderungen        mit den Menschen mit Behinderungen und
ist. In Strafsachen können Fehlurteile gegen      den sie repräsentierenden Organisationen
Beschuldigte und Angeklagte aufgrund von          enge Konsultationen führen und sie aktiv
falschen Geständnissen, Fehlidentifizierung       einbeziehen.
und Dienstvergehen ergehen, die die Folge
von Zwang sowie fehlenden Informationen               Die Individualrechte und die Verpflich-
und mangelndem Verständnis von Menschen           tungen der Staaten, die hierin beschrieben
mit Behinderungen sein können. Zwar ver-          sind, gelten in allen Gerichtsverfahren – zivil-,
unsichern Gerichtssäle und die in Gerichts-       straf- und verwaltungsrechtlichen – ungeachtet
verfahren verwendete formelle und fach-           der Gerichtsbarkeit oder des Streitbeilegungs-
spezifische Sprache und die entsprechenden        verfahrens, sowie während Ermittlungen, bei
Abläufe ohnehin alle, die damit nicht vertraut    Festnahmen und in anderen Vorverfahrens-
sind, aber für Menschen mit Behinderungen         phasen und in den Phasen nach dem Gerichts-
ist diese Verunsicherung aufgrund physischer      urteil, einschließlich bei der Bereitstellung von
und anderer Barrieren noch größer. Manche         Rechtsbehelfen. Dementsprechend werden
Internationale Grundsätze und Leitlinien für den Zugang von Menschen mit Behinderungen zur Justiz
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    die Grundsätze und Leitlinien unter anderem         auszuschließen – sofern diese Innovation mit
    für die Gesetzgebung, die Politik, die Richter-     dem Übereinkommen und den Grundsätzen
    schaft, die Polizei und den Strafvollzug und        und Leitlinien im Einklang steht und darauf
    für Menschen mit Behinderungen und die sie          abzielt, den gleichberechtigten Zugang zur
    repräsentierenden Organisationen von Nutzen         Justiz zu gewährleisten –, noch sind sie so
    sein. Je nach Sachverhalt finden sie auf alle       auszulegen, als schränkten sie andere inter-
    Menschen Anwendung, die mittelbar oder              nationale, regionale oder innerstaatliche
    unmittelbar an Gerichtsverfahren jeder Art          Rechtsvorschriften oder Standards ein, die
    teilnehmen, darunter auch uneingeschränkt           geeigneter sind, das Recht von Menschen
    auf Beschuldigte, Inhaftierte, Angeklagte,          mit Behinderungen auf Zugang zur Justiz zu
    Klägerinnen und Kläger, Opfer, ehrenamtliche        verwirklichen.
    Richterinnen und Richter, Justiz- und Polizei-
    bedienstete sowie Zeuginnen und Zeugen.                 Menschen mit Behinderungen haben
                                                        gleichberechtigt mit anderen und ohne
         Trotz der großen Vielfalt an rechtlichen,      Diskriminierung darauf Anspruch, von den
    sozialen, wirtschaftlichen und geografischen        Standards zu profitieren, die in allen bis-
    Bedingungen in der Welt können und sollen           herigen internationalen und regionalen
    die Staaten ihre Gesetze, Regeln, Vorschriften,     Menschenrechtsinstrumenten enthalten sind
    Leitlinien und Protokolle ebenso wie ihre Praxis    und für die Justizsysteme, den Zugang zur
    und ihre Politik an diesen Grundsätzen und          Justiz und die Rechtspflege allgemein relevant
    Leitlinien ausrichten. Dabei ist es weder Ziel      sind. Einige dieser Standards sind am Ende
    der Grundsätze und Leitlinien, Innovation           dieses Dokuments angeführt.

                                     Catalina Devandas Aguilar
                                Sonderberichterstatterin über die Rechte von
                                      Menschen mit Behinderungen

                                             Danlami Basharu
                                Vorsitzender des Ausschusses für die Rechte
                                     von Menschen mit Behinderungen

                                     María Soledad Cisternas Reyes
                                  Sondergesandte des Generalsekretärs für
                                   Behinderungsfragen und Barrierefreiheit
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GLOSSAR

Angemessene Vorkehrungen: alle notwendi-           ziel liegt hauptsächlich darin, gemeinsam für
gen und geeigneten Änderungen und An-              die Rechte von Menschen mit Behinderungen
passungen, die keine unverhältnismäßige oder       zu handeln, sich zu diesen Rechten zu äußern,
unbillige Belastung darstellen und die, wenn       sie zu fördern, für sie einzutreten und/oder sie
sie in einem bestimmten Fall erforderlich sind,    zu verteidigen.3
vorgenommen werden, um zu gewährleisten,
dass Menschen mit Behinderungen gleich-            Mittelspersonen (auch „Unterstützungs-
berechtigt mit anderen alle Menschenrechte         personen“ genannt): Personen, die nach Be-
und Grundfreiheiten genießen oder ausüben          darf mit Justizbediensteten und mit Menschen
können.1                                           mit Behinderungen zusammenarbeiten, um in
                                                   Gerichtsverfahren eine wirksame Kommunika-
Ersetzende Entscheidungsfindung: Situation,        tion zu gewährleisten. Mittelspersonen helfen
in der i) einer Person die Rechts- und             Menschen mit Behinderungen, Sachverhalte
Handlungsfähigkeit entzogen wird, selbst           zu verstehen und aufgeklärte Entscheidungen
wenn dies nur für eine einzige Entscheidung        zu treffen. Zu diesem Zweck stellen sie sicher,
geschieht, ii) eine rechtliche Vertretung nicht    dass die Sachlage verständlich erklärt und
durch die betroffene Person selbst, sondern        behandelt wird und dass Menschen mit
von jemand anderem (d. h. Vormunden,               Behinderungen angemessene Vorkehrungen
Verfahrenspflegerinnen oder -pflegern,             und Unterstützung erhalten. Sie sind neutral,
Rechtsanwältinnen oder -anwälten oder              sprechen weder für Menschen mit Behinde-
Sachverständigen) ernannt wird und dies            rungen noch für das Justizsystem und lenken
gegen den Willen der betroffenen Person            oder beeinflussen nicht Entscheidungen oder
erfolgt oder iii) Entscheidungen einer Ver-        Ergebnisse.
tretung aufgrund dessen getroffen werden,
was als objektives „Wohl“ der betroffenen          Rechts- und Handlungsfähigkeit: die Fähigkeit,
Person erachtet wird, im Gegensatz zu einer        sowohl Träger von Rechten als auch Akteur
Entscheidung, die auf dem Willen und den           im Rahmen des Rechts zu sein. Als Träger von
Präferenzen der betroffenen Person selbst          Rechten hat die jeweilige Person Anspruch
beruht.2                                           auf den vollen Schutz ihrer Rechte durch
                                                   das Rechtssystem. Als Akteur im Rahmen
Ersthelfende: Personen wie Polizeibedienstete,     des Rechts ist sie befugt, Rechtsgeschäfte zu
Gesundheitsfachkräfte in der Notversorgung         tätigen und Rechtsverhältnisse einzugehen, zu
oder Krisenhelferinnen und -helfer, die mit da-    ändern und zu beenden.4
für verantwortlich sind, in einem Notfall oder
einer Krise sofort vor Ort Hilfe zu leisten.

Menschen mit Behinderungen repräsentierende
Organisationen: Organisationen, die von
Menschen mit Behinderungen angeführt,              3 Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen,
geleitet und verwaltet werden. Ihr Gründungs-        Allgemeine Bemerkung Nr. 7 (2018) über die Partizipation
                                                     von Menschen mit Behinderungen einschließlich Kindern
                                                     mit Behinderungen über die sie repräsentierenden
                                                     Organisationen bei der Umsetzung und Überwachung des
                                                     Übereinkommens, Ziff. 11.
1 Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit
                                                   4 Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen,
  Behinderungen, Art. 2.
                                                     Allgemeine Bemerkung Nr. 1 (2014) betreffend die gleiche
2 Allgemeine Bemerkung Nr. 1, Ziff. 27.
                                                     Anerkennung vor dem Recht, Ziff. 12.
10

     Überwachungsmechanismen: Nationale                 Verfahrensbezogene Vorkehrungen: alle
     Menschenrechtsinstitutionen, nationale             notwendigen und geeigneten Änderungen
     Präventionsmechanismen und gemäß Artikel           und Anpassungen im Kontext des Zugangs zur
     33 Absatz 2 des Übereinkommens über die            Justiz, die erforderlichenfalls vorgenommen
     Rechte von Menschen mit Behinderungen              werden, um die Teilnahme von Menschen mit
     geschaffene Organe, denen bei der Über-            Behinderungen gleichberechtigt mit anderen
     wachung der Durchführung des Überein-              zu gewährleisten. Im Unterschied zu angemes-
     kommens eine besondere Rolle zukommt.              senen Vorkehrungen sind verfahrensbezogene
     Nach Artikel 16 Absatz 3 des Überein-              Vorkehrungen nicht durch das Konzept der
     kommens sind Staaten außerdem verpflichtet,        „unverhältnismäßigen oder unbilligen
     zur Verhinderung von Ausbeutung, Gewalt            Belastung“ eingeschränkt.6
     und Missbrauch sicherzustellen, dass alle
     Leistungen, die Menschen mit Behinderungen
     bereitgestellt werden – einschließlich innerhalb
     des Justizsystems –, von unabhängigen
     Behörden wirksam überwacht werden.

     Universelles Design: ein Design von Produkten,
     Umfeldern, Programmen, Hilfsmitteln und
     Dienstleistungen in der Weise, dass sie von
     allen Menschen möglichst weitgehend ohne
     eine Anpassung oder ein spezielles Design
     genutzt werden können.5

     5 Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit   6 A/HRC/34/26, Ziff. 35.
       Behinderungen, Art. 2.
11

Internationale Grundsätze und Leitlinien
für den Zugang von Menschen mit
Behinderungen zur Justiz

Grundsatz 1                                    Grundsatz 6
Alle Menschen mit Behinderungen besitzen       Menschen mit Behinderungen haben das
Rechts- und Handlungsfähigkeit. Daher darf     Recht auf unentgeltlichen oder erschwing-
niemandem aufgrund einer Behinderung der       lichen rechtlichen Beistand.
Zugang zur Justiz verweigert werden.
                                               Grundsatz 7
Grundsatz 2                                    Menschen mit Behinderungen haben gleich-
Einrichtungen und Dienste müssen allgemein     berechtigt mit anderen das Recht auf Teilhabe
und barrierefrei zugänglich sein, um Men-      an der Rechtspflege.
schen mit Behinderungen den gleichberechtig-
ten und diskriminierungsfreien Zugang zur
Justiz zu gewährleisten.                       Grundsatz 8
                                               Menschen mit Behinderungen haben das
                                               Recht, Menschenrechtsverletzungen und Straf-
Grundsatz 3                                    taten anzuzeigen und Gerichtsverfahren an-
Menschen mit Behinderungen, einschließ-        zustrengen, sowie das Recht auf Ermittlungen
lich Kindern mit Behinderungen, haben das      in ihrem Fall und auf wirksame Rechtsbehelfe.
Recht auf angemessene verfahrensbezogene
Vorkehrungen.
                                               Grundsatz 9
                                               Wirksamen und robusten Überwachungs-
Grundsatz 4                                    mechanismen kommt eine entscheidende Rolle
Menschen mit Behinderungen haben gleichbe-     bei der Förderung des Zugangs zur Justiz für
rechtigt mit anderen das Recht auf zeitnahen   Menschen mit Behinderungen zu.
und barrierefreien Zugang zu rechtlichen
Hinweisen und Informationen.
                                               Grundsatz 10
                                               Allen im Justizsystem arbeitenden Personen
Grundsatz 5                                    müssen Programme zur Schulung und Sensibi-
Menschen mit Behinderungen haben gleich-       lisierung auf dem Gebiet der Rechte von
berechtigt mit anderen Anspruch auf alle im    Menschen mit Behinderungen, insbesondere
Völkerrecht anerkannten materiellen und ver-   im Kontext des Zugangs zur Justiz, angeboten
fahrensbezogenen Garantien, und die Staaten    werden.
müssen die erforderlichen Vorkehrungen
bereitstellen, um ordnungsgemäße
Verfahren zu gewährleisten.
12   INTERNATIONALE GRUNDSÄTZE UND LEITLINIEN FÜR DEN ZUGANG VON MENSCHEN MIT BEHINDERUNGEN ZUR JUSTIZ

     Grundsatz 1
     Alle Menschen mit Behinderungen besitzen Rechts- und
     Handlungsfähigkeit. Daher darf niemandem aufgrund einer
     Behinderung der Zugang zur Justiz verweigert werden

     LEITLINIEN

     1.1   Die Staaten garantieren, dass Menschen                      solcher, die eine ersetzende Entschei-
           mit Behinderungen gleichberechtigt mit                      dungsfindung zulassen und die die
           anderen Rechts- und Handlungsfähigkeit                      Handlungsfähigkeit einer Person daran
           genießen, und stellen bei Bedarf die                        knüpfen, dass sie „im Vollbesitz ihrer
           Unterstützung und die Vorkehrungen bereit,                  geistigen Kräfte“ ist, und auf diese
           die für die Ausübung der Rechts- und                        Weise Menschen mit Behinderungen
           Handlungsfähigkeit und den garantierten                     vom gleichberechtigten Zugang zur
           Zugang zur Justiz erforderlich sind.                        Justiz ausschließen;
                                                                  e)   alle Gesetze, Verordnungen, Politikvor-
                                                                       gaben, Leitlinien und Verfahren auf-
     1.2   Zu diesem Zweck werden die Staaten:                         heben oder ändern, die Lehren von der
                                                                       „Verhandlungsunfähigkeit“ festschreiben
           a)   gewährleisten, dass allen Menschen mit                 und umsetzen, durch die Menschen
                Behinderungen Rechts- und Handlungs-                   mit Behinderungen auf der Grundlage
                fähigkeit und das Recht zuerkannt                      einer Erfragung oder Feststellung ihrer
                werden, sie auszuüben;                                 Fähigkeit an der Teilnahme an Rechts-
           b)   die volle Fähigkeit und das unein-                     verfahren gehindert werden;
                geschränkte Recht von Menschen mit                f)   alle Gesetze, Verordnungen, Politikvor-
                Behinderungen zur Teilnahme an Ver-                    gaben, Leitlinien und Verfahren auf-
                fahren aller Gerichte, Gerichtshöfe und                heben oder ändern, die Zeuginnen und
                sonstigen Streitentscheidungsgremien                   Zeugen mit Behinderungen aufgrund
                anerkennen und voraussetzen;                           von Beurteilungen ihrer Zeugnisfähigkeit
           c)   sicherstellen, dass Konstrukte wie                     in ihrer Zeugenaussage einschränken
                „kognitive Unfähigkeit“ oder „geistige                 oder davon ausschließen;
                Unfähigkeit“, die etwa anhand von                 g)   alle Gesetze, Verordnungen, Politikvor-
                Bewertungen des funktionalen oder                      gaben, Leitlinien und Verfahren auf-
                mentalen Status festgestellt werden,                   heben oder ändern, die medizinische
                nicht dazu verwendet werden, das                       Fachkräfte befugen oder auf andere
                Recht einer Person auf Rechts- und                     Weise ermächtigen, als einzige oder
                Handlungsfähigkeit einzuschränken;                     bevorzugte „Sachverständige“ über die
           d)   alle Gesetze, Verordnungen, Politik-                   Entscheidungs- und Zeugnisfähigkeit
                vorgaben, Leitlinien und Verfahren                     oder sonstige Fähigkeiten einer Person
                aufheben oder ändern, die die Rechts-                  zu befinden oder sie zu beurteilen;
                und Handlungsfähigkeit von Menschen               h)   alle Gesetze, Verordnungen, Politik-
                mit Behinderungen mittelbar oder                       vorgaben, Leitlinien und Verfahren
                unmittelbar einschränken, einschließlich               aufheben oder ändern, die Menschen
GRUNDSATZ 1   13

                                                          j)   bei Bedarf Mittels- oder Unterstützungs-
                                                               personen bereitstellen, um eine klare
                                                               Kommunikation zwischen Menschen mit
                                                               Behinderungen und Gerichten, Gerichts-
                                                               höfen und Polizei- und Vollzugsbehörden
                                                               zu ermöglichen und Menschen mit
                                                               Behinderungen so eine sichere, faire
                                                               und wirksame Einbeziehung und die
                                                               Möglichkeit zur vollen Teilnahme an
                                                               Rechtsverfahren zu gewährleisten;
                                                          k)   sicherstellen, dass Menschen, denen
                                                               die Rechts- und Handlungsfähigkeit für
                                                               einen bestimmten Zweck abgesprochen
                                                               wurde, das Recht haben, dagegen Be-
                                                               schwerde einzulegen oder anderweitig
                                                               eine Wiederherstellung ihrer Rechts-
                                                               und Handlungsfähigkeit einzufordern,
                                                               und dass sie Zugang zu rechtlichem
                                                               Beistand haben, um ihre Ansprüche
                                                               geltend zu machen;
                                                          l)   alternative Justizmechanismen einrichten
                                                               oder fördern, wie etwa die ausgleichs-
        Foto: Christian Tasso, Projekt Fifteen Percent.        orientierte Justiz, alternative Streit-
                                                               beilegungsmechanismen und kulturelle
                                                               und soziale Justizformen und -foren, die
     mit Behinderungen daran hindern, recht-                   Menschen mit Behinderungen gleich-
     liche Ansprüche geltend zu machen und                     berechtigt mit anderen und ungeachtet
     einzufordern;                                             irgendwelcher Konstrukte von Teilnahme-
i)   ein einklagbares und durchsetzbares                       fähigkeit zur Verfügung stehen;
     Recht auf die Bereitstellung der indivi-             m)   Gesetze, Verordnungen, Politikvor-
     duell bestimmten verfahrensbezogenen                      gaben, Leitlinien und Verfahren, ein-
     Vorkehrungen, einschließlich Unterstüt-                   schließlich gerichtlicher Verfügungen,
     zung, zu schaffen, die erforderlich sind,                 aufheben oder ändern, die Beschuldigte
     um Menschen mit Behinderungen die                         mit Behinderungen aufgrund einer
     wirksame Teilnahme an allen Verfahren                     subjektiv wahrgenommenen Gefährlich-
     vor Gerichten, Gerichtshöfen oder                         keit oder Betreuungsbedürftigkeit auf
     sonstigen Streitentscheidungsgremien                      bestimmte oder unbestimmte Zeit
     zu ermöglichen;                                           der Freiheitsentziehung in einer Haft-
                                                               anstalt oder einer psychiatrischen
                                                               oder anderen Einrichtung unterwerfen
                                                               (manchmal als „Maßregelvollzug“ oder
                                                               „Sicherungsverwahrung“ bezeichnet).
14   GRUNDSATZ 2

     Grundsatz 2
     Einrichtungen und Dienste müssen allgemein und barriere-
     frei zugänglich sein, um Menschen mit Behinderungen den
     gleichberechtigten und diskriminierungsfreien Zugang zur
     Justiz zu gewährleisten
     LEITLINIE
     2.1   Um gleichberechtigten Zugang zur Justiz                  Zellen, Büros, Eingänge, Aufzüge,
           und Nichtdiskriminierung zu garantieren,                 Kantinen und Freizeitanlagen);
           müssen die Staaten sicherstellen, dass die           ii) Informations-, Kommunikations- und
           in Rechtssystemen genutzten Einrichtungen                anderen Dienste, einschließlich
           und Dienste nach den Grundsätzen des                     Informations- und Kommunikations-
           universellen Designs gestaltet, entwickelt               technologien und systemen;
           und bereitgestellt werden, und zu diesem        b)   die Barrierefreiheit aller im Justiz-
           Zweck zumindest                                      system verwendeten Transportmittel
                                                                gewährleisten;
           a)   durchsetzbare Gesetze, Verordnungen,       c)   für eine ausreichende Finanzierung sor-
                Politikvorgaben, Leitlinien und Ver-            gen, um das Justizsystem im Einklang
                fahren erlassen und umsetzen, die die           mit den Grundsätzen des universellen
                Barrierefreiheit aller im Justizsystem          Designs für Menschen mit Behinderun-
                genutzten Einrichtungen und Dienste             gen barrierefrei zu machen;
                nach den Grundsätzen des universellen      d)   Verfahrensbezogene Vorkehrungen
                Designs garantieren, namentlich der             garantieren, wenn die Einrichtungen
                i) Gerichte, Polizeieinrichtungen,              und Dienste den Zugang von Menschen
                   Vollzugsanstalten, Haft- und forensi-        mit Behinderungen zur bestehenden
                   schen Einrichtungen, Räumlichkeiten          physischen Umwelt, zu Transportmitteln
                   für die Beratungen der Geschwore-            und zu Information und Kommunikation
                   nen sowie Richterinnen und Richter,          nicht gewährleisten.
                   Verwaltungsgebäude und sonstigen
                   Einrichtungen dieser Art (einschließ-
                   lich dort befindlicher Toiletten,               Foto: Christian Tasso, Projekt Fifteen Percent.
GRUNDSATZ 3     15

Grundsatz 3
Menschen mit Behinderungen, einschließlich Kindern mit
Behinderungen, haben das Recht auf angemessene
verfahrensbezogene Vorkehrungen
LEITLINIEN
3.1   Um Diskriminierung zu vermeiden und die
      wirksame und gleichberechtigte Teilnahme
      von Menschen mit Behinderungen an allen
      Gerichtsverfahren zu garantieren, stellen
      die Staaten geschlechter- und altersgerechte
      sowie individuell angepasste verfahrens-
      bezogene Vorkehrungen für Menschen mit
      Behinderungen bereit. Dazu gehören alle
      notwendigen und geeigneten Änderungen
      und Anpassungen, die in einem bestimmten
      Fall erforderlich sind, darunter die Bereit-
      stellung von Mittels- oder Unterstützungsper-
      sonen, verfahrensbezogene Anpassungen
      und Änderungen, Anpassungen des Um-
      felds und Kommunikationsunterstützung, um
      den Zugang von Menschen mit Behinde-
      rungen zur Justiz zu gewährleisten. Die
      Vorkehrungen sollen so weit wie möglich
      vor Verfahrensbeginn getroffen werden.

3.2   Die Staaten gewährleisten ein breites
      Spektrum an verfahrensbezogenen Vor-
      kehrungen und stellen zugleich sicher, dass
      bei deren Umsetzung die Rechte aller
      Parteien angemessen abgewogen und
      geachtet werden. Zu diesem Zweck werden
      sie unter anderem

      Unabhängige Mittels- und                        Foto: Christian Tasso. Das Foto entstand im Rahmen des EU-
                                                      Projekts Bridging the Gap II zur Förderung der Inklusion
      Unterstützungspersonen                          und Gleichberechtigung von Menschen mit Behinderun-
                                                      gen und erscheint mit freundlicher Genehmigung der
      a)   Programme zur Bereitstellung unab-         Internationalen und iberoamerikanischen Stiftung für
           hängiger Mittels- oder Unterstützungs-     Verwaltung und öffentliche Politik (FIIAPP).
           personen einrichten, finanzieren und
           umsetzen, die darin geschult sind, Ver-             die Kommunikation während des ge-
           fahrensparteien und dem Justizsystem                samten Verfahrens zu unterstützen;
           Kommunikationsunterstützung zu                 b)   Programme zur Bereitstellung unab-
           leisten, um die Notwendigkeit und                   hängiger Mittels- oder Unterstützungs-
           Angemessenheit von Vorkehrungen                     personen im Einklang mit lokalen
           und Unterstützung festzustellen und                 Verfahren und Gepflogenheiten und
16   INTERNATIONALE GRUNDSÄTZE UND LEITLINIEN FÜR DEN ZUGANG VON MENSCHEN MIT BEHINDERUNGEN ZUR JUSTIZ

                                                                  d)   Menschen mit Behinderungen gestat-
              dem Übereinkommen über die Rechte                        ten, auf Wunsch in allen Phasen des
              von Menschen mit Behinderungen                           Verfahrens von Familienmitgliedern,
              konzipieren und umsetzen;                                Freunden oder anderen Personen
                                                                       begleitet zu werden, die sie emotional
         Verfahrensbezogene Anpassungen und                            und seelisch unterstützen, ohne dabei
         Änderungen                                                    jedoch die Rolle einer Mittels- oder
                                                                       Unterstützungsperson zu übernehmen;
         c)   Verfahren für Anhörungen festlegen, die
              die faire Behandlung und volle Beteili-             Kommunikationsunterstützung
              gung von Menschen mit Behinderungen,
              einschließlich Kindern mit Behinderun-              e)   sicherstellen, dass die Parteien, Zeu-
              gen, im Verfahrensverlauf gewähr-                        ginnen und Zeugen, Klägerinnen und
              leisten, darunter nach Bedarf                            Kläger, Angeklagten sowie ehrenamt-
               i)   die Anpassung der Räumlichkeiten;                  lichen Richterinnen und Richter bei allen
               ii)  geeignete Warteräume;                              Prozessen im Justizsystem die erforder-
               iii) Verzicht auf Umhänge und                           liche technische und sonstige Unter-
                    Perücken;                                          stützung erhalten, damit sie jede für ihre
               iv)  Anpassungen des Verfahrenstempos;                  volle Teilnahme erforderliche Form von
               v)   getrennte Eingänge und Warte-                      Kommunikation nutzen können, darunter
                    räume oder Trennwände, um                           i)   unterstützende Hörsysteme und
                    Menschen mit Behinderungen                               -geräte;
                    gegebenenfalls vor Begegnungen                      ii)  offene, geschlossene oder
                    mit anderen Personen zu schützen                         Live-Untertitel und Decoder für
                    und ihnen so körperliche oder                            geschlossene Untertitel sowie
                    seelische Unbill zu ersparen;                            entsprechende Geräte;
               vi)  unter geeigneten Umständen                          iii) sprach-, text- und videogestützte
                    die Änderung der Vernehmungs-                            Telekommunikationsprodukte;
                    methode, etwa die Zulassung von                     iv)  Videotext-Bildschirme;
                    Suggestivfragen, die Vermeidung                     v)   computergestützte Live-Mitschrift;
                    mehrteiliger Fragen, Alternativen                   vi)  Bildschirmleseprogramme,
                    zu komplexen hypothetischen                              Vergrößerungssoftware und
                    Fragen und die Einräumung von                            optische Lesegeräte;
                    mehr Zeit für die Beantwortung,                     vii) Geräte, die die Tonspur von
                    bei Bedarf das Einlegen von                              Fernsehprogrammen mittels Audio-
                    Pausen und die Verwendung                                deskription und Zweikanalton
                    einfacher Sprache;                                       wiedergeben können;
               vii) falls erforderlich, praktisch und             f)   die Kommunikation nicht nur durch
                    möglich die Verwendung von                         Mittels- oder Unterstützungspersonen,
                    Videoaufzeichnungen von Beweis-                    sondern auch durch Dienste Dritter
                    mitteln und Zeugenaussagen, die                    unterstützen, darunter
                    vor dem Verfahren angefertigt                       i)   Protokollführung;
                    wurden, wenn dabei keine grund-                     ii)  qualifizierte Gebärden- und
                    legenden Rechte verletzt werden,                         Lautsprachendolmetschung;
                    etwa das Recht auf Gegenüber-                       iii) Telefonvermittlungsdienste;
                    stellung mit Zeuginnen und Zeu-                     iv)  Dolmetschung für taktile
                    gen und auf deren Kreuzverhör;                           Gebärdensprache;
GRUNDSATZ 3   17

g)   gewährleisten, dass die jeweiligen               Bedingungen ihres Freiheitsentzugs
     Dolmetscherinnen und Dolmetscher                 zu verbessern, etwa durch die An-
     in der Lage sind, effektiv, genau und            erkennung der Parteifähigkeit von
     unparteiisch zu dolmetschen, sowohl              Organisationen, die für Gefangenen-
     passiv (d. h. sie verstehen, was die je-         rechte eintreten oder Menschen mit
     weiligen Menschen mit Behinderungen              Behinderungen repräsentieren, die
     sagen) als auch aktiv (d. h. sie können          Vereinfachung von Abläufen, die
     ihnen im Gegenzug Informationen                  Verkürzung von Entscheidungsfristen
     verständlich machen), und dass sie               und die Bereitstellung wirksamer
     dabei das erforderliche Fachvokabular            Rechtsbehelfe;
     (z. B. rechtliches oder medizinisches)
     verwenden und berufliche und ethische      Beantragung und Angebot von
     Standards einhalten;                       Vorkehrungen

Verfahrensbezogene Vorkehrungen für der         k)    Gesetze, Verordnungen, Politikvorga-
Begehung von Straftaten Beschuldigte,                 ben, Leitlinien, Verfahren und Prozesse
Gefangene und Inhaftierte                             erlassen und umsetzen, die es Men-
                                                      schen mit Behinderungen ermöglichen,
h)   sicherstellen, dass Polizeibedienstete,          verfahrensbezogene Vorkehrungen zu
     Staatsanwältinnen und -anwälte und               beantragen, einschließlich Änderungen
     andere an Festnahmen und Ermittlun-              von Rechtsverfahren und Unterstützung
     gen in Strafsachen Beteiligte die Rechte         in solchen Verfahren, bei angemesse-
     von Menschen mit Behinderungen ken-              nem Schutz ihrer Privatsphäre;
     nen, sich dessen bewusst sind, dass        (l)   sicherstellen, dass alle an einem
     eine Person eine Behinderung haben               Gerichtsverfahren Beteiligten während
     könnte, und sich während einer Fest-             des gesamten Verfahrens darüber
     nahme oder Ermittlung entsprechend               informiert sind, dass ihnen verfahrens-
     verhalten;                                       bezogene Vorkehrungen zur Verfügung
i)   sicherstellen, dass unabhängige Dritte,          stehen, falls sie sie aufgrund einer
     etwa Rechtsanwältinnen und -anwälte              Behinderung benötigen und wünschen;
     oder andere Personen, bereitstehen,        (m)   gewährleisten, dass ein Prozess zur
     um Menschen mit Behinderungen                    Ermittlung des Bedarfs von Kindern
     auf die Polizeiwache zu begleiten                mit Behinderungen an verfahrensbe-
     und ihnen während des Ermittlungs-               zogenen Vorkehrungen und zu deren
     prozesses beizustehen, etwa bei der              Bereitstellung, einschließlich Kommuni-
     Abnahme von Fingerabdrücken oder                 kationsunterstützung, besteht und dass
     der Abgabe biologischer Proben, und              diese Kinder unter Berücksichtigung
     dass Mittels- oder Unterstützungs-               ihres Entwicklungsstands und ihres
     personen oder ähnliche Personen                  Rechts auf Gehör bei Bedarf zusätz-
     zur Verfügung stehen, um die                     liche Schutzmaßnahmen in Anspruch
     Kommunikation zwischen Menschen                  nehmen können.
     mit Behinderungen und dem Polizei-
     und Gerichtspersonal zu erleichtern;
j)   Barrieren beseitigen, die Gefangene
     und Inhaftierte mit Behinderungen
     daran hindern oder davon abhalten,
     ihre Inhaftierung anzufechten und die
18   GRUNDSATZ 4

     Grundsatz 4
     Menschen mit Behinderungen haben gleichberechtigt mit
     anderen das Recht auf zeitnahen und barrierefreien Zugang
     zu rechtlichen Hinweisen und Informationen

     LEITLINIE

     4.1   Um das Recht auf aktuelle und barrierefrei               v)     induktive, Funk- oder Infrarot-
           zugängliche Informationen zu garantieren,                       Höranlagen;
           werden die Staaten                                        vi)   Hörverstärker und Lesehilfen;
                                                                     vii) geschlossene Untertitel;
           a)   durchsetzbare Gesetze, Verordnungen,                 viii) Braille-Schrift;
                Politikvorgaben und Leitlinien erlassen,             ix)   leichte und einfache Sprache;
                die ein Recht auf zeitnahe Hinweise                  x)    gestützte Kommunikation;
                und Informationen zu allen Aspekten            c)   gewährleisten, dass alle Hinweise,
                von Gerichtsverfahren vollständig                   die eine Antwort oder Handlung
                anerkennen;                                         erfordern (z. B. Ladungen, Auskunfts-
           b)   verschiedene Formen des Zugangs zu                  anordnungen (subpoenas), schriftliche
                Informationen zum Justizsystem und                  Anordnungen (writs), Verfügungen und
                -verfahren gewährleisten, darunter je               Urteilssprüche), über barrierefreie
                nach Bedarf                                         Medien und Formate (wie den unter
                 i)   Gebärdensprache;                              1 b) aufgeführten) verfügbar sind;
                 ii)  Video- und Audioanleitungen;             d)   sicherstellen, dass Hinweise und Infor-
                 iii) telefonische Beratung und                     mationen auf klare und verständliche
                      Vermittlung;                                  Weise darüber informieren, wie be-
                 iv)  barrierefreie Websites;                       stimmte Verfahren ablaufen, was die
                                                                    betreffende Person zu erwarten hat und
                                                                    was von ihr erwartet wird, an wen sie
                                                                    sich wenden kann, um das Verfahren
                                                                    besser zu verstehen, und welche Rechte
                                                                    sie in dem Verfahren hat; dabei ist das
                                                                    entsprechende Statut oder die jeweilige
                                                                    Vorschrift, Politikvorgabe oder Leitlinie
                                                                    nicht lediglich wörtlich wiederzugeben,
                                                                    sondern beispielsweise in einfacher
                                                                    Sprache;
                                                               e)   sicherstellen, dass Personen, die Hilfe
                                                                    benötigen, um Hinweise und Informa-
                                                                    tionen zu verstehen, diese in Echtzeit
                                                                    erhalten, etwa durch die Bereitstellung
                                                                    von Dolmetschung, von Personen zum
                                                                    Führen oder Vorlesen, von Mittels- oder
                                                                    Unterstützungspersonen oder ander-
                                                                    weitiger Unterstützung.

                                                           Foto: Christian Tasso. Das Foto entstand im Rahmen des EU-
                                                           Projekts Bridging the Gap II zur Förderung der Inklusion
                                                           und Gleichberechtigung von Menschen mit Behinderun-
                                                           gen und erscheint mit freundlicher Genehmigung der In-
                                                           ternationalen und iberoamerikanischen Stiftung für Ver-
                                                           waltung und öffentliche Politik (FIIAPP).
GRUNDSATZ 5   19

Grundsatz 5
Menschen mit Behinderungen haben gleichberechtigt mit
anderen Anspruch auf alle im Völkerrecht anerkannten
materiellen und verfahrensbezogenen Garantien, und die
Staaten müssen die erforderlichen Vorkehrungen bereit-
stellen, um ordnungsgemäße Verfahren zu gewährleisten

LEITLINIEN

5.1   Die Staaten gewährleisten, dass allen Men-                 aufgrund einer Behinderung – etwa
      schen mit Behinderungen gleichberechtigt                   aufgrund vermeintlicher Unterschiede im
      mit anderen alle völkerrechtlich anerkann-                 Verhalten oder in der Kommunikation –
      ten materiellen und verfahrensbezogenen                    geschützt zu sein, unter anderem
      Garantien gewährt werden, gleichviel ob                    durch die Bereitstellung angemessener
      in Straf-, Zivil- oder Verwaltungsverfahren,               Unterstützung ohne Beteiligung und
      einschließlich der Unschuldsvermutung                      unabhängig von Polizei- oder sonstigem
      und des Aussageverweigerungsrechts.                        Rechtsvollzugspersonal;
      Verfahrensbezogene Vorkehrungen müssen                d)   gewährleisten, dass für Menschen mit
      bei Bedarf allen Menschen mit Behinderun-                  Behinderungen zum Zeitpunkt ihrer Fest-
      gen, auch beschuldigten und angeklagten                    nahme verfahrensbezogene Vorkehrun-
      Personen, zur Verfügung stehen, wenn sie                   gen bereitgestellt werden, einschließ-
      Hilfe benötigen, um an Ermittlungen und                    lich verfahrensbezogener Anpassungen
      Gerichtsverfahren wirksam teilnehmen zu                    und Kommunikationsunterstützung, und
      können.                                                    gegebenenfalls Deeskalationstechniken
                                                                 eingesetzt werden, um alle Garantien
5.2   Dementsprechend werden die Staaten                         für ein ordnungsgemäßes Verfahren
                                                                 einzuhalten und Polizeigewalt und
      a)   sicherstellen, dass alle beschuldigten                -missbrauch zu verhindern;
           und angeklagten Personen mit Behinde-            e)   Gesetze, Verordnungen, Leitlinien, Ver-
           rungen als unschuldig gelten, solange                 fahren und Politikvorgaben ausarbeiten,
           ihre Schuld nicht gemäß dem Gesetz                    erlassen und umsetzen, die Menschen
           nachgewiesen ist;                                     mit Behinderungen in allen Phasen des
      b)   gewährleisten, dass beschuldigte oder                 Justizverfahrens davor schützen, auf-
           angeklagte Personen mit Behinderungen                 grund ihrer Behinderung ausgenutzt zu
           barrierefreie und verständliche Informa-              werden;
           tionen über ihre Rechte erhalten, auch
           über das Recht auf Verweigerung der
           Selbstbezichtigung;
      c)   gewährleisten, dass Menschen mit
           Behinderungen bei allen Begegnungen
           mit Ersthelfenden das Recht haben, vor
           Diskriminierung und jeglicher Gewalt-
           anwendung oder Zwangsausübung

                 Foto: Christian Tasso, Projekt Saharawi.
20   GRUNDSATZ 5

         f)   sicherstellen, dass verfahrensbezogene    g)   gewährleisten, dass Menschen mit
              Vorkehrungen, einschließlich Unter-            Behinderungen auf ihr Ersuchen und auf
              stützung, für eine wirksame Teilnahme          der Grundlage ihrer freien Einwilligung
              von Menschen mit Behinderungen                 nach vorheriger Aufklärung, ungeachtet
              zur Verfügung stehen, damit sie gleich-        der Ergebnisse von Polizeimaßnahmen
              berechtigt mit anderen das Recht haben,        oder Gerichtsverfahren und unabhängig
              selbst über ihre Verteidigung zu ent-          von einer Verständigung im Verfahren,
              scheiden;                                      einem Geständnis oder einem Schuld-
                                                             spruch gesundheitliche und psycho-
                                                             soziale Unterstützung erhalten.
GRUNDSATZ 6       21

Grundsatz 6
Menschen mit Behinderungen haben das Recht auf
unentgeltlichen oder erschwinglichen rechtlichen Beistand

LEITLINIEN
6.1   Um das Recht auf ein faires Verfahren zu                    Unterbringung in einer Einrichtung,
      garantieren, stellen die Staaten Kindern                    zwangsweise oder unfreiwillige
      mit Behinderungen in allen Angelegen-                       medizinische Behandlung (z. B.
      heiten und allen anderen Menschen mit                       Sterilisierung) oder unfreiwillige
      Behinderungen in allen rechtlichen und                      Krankenhauseinweisung, Verlust
      gerichtlichen Verfahren, die Verletzungen                   der Rechts- und Handlungsfähigkeit
      der Menschenrechte oder Grundfreiheiten                     (z. B. Vormundschaft) oder Verlust
      betreffen oder die diese Rechte oder                        der Familienintegrität durch Verlust
      Freiheiten, insbesondere das Recht auf                      des Eltern- oder Sorgerechts;
      Leben, Freiheit, Unversehrtheit, Eigentum,             ii) Verlust der Wohnung, der Unterkunft
      angemessenes Wohnen, Entscheidungs-                         oder des Eigentums;
      autonomie und Unversehrtheit der Familie,              iii) jede andere Situation, in der Men-
      beeinträchtigen könnten, unentgeltlichen                    schen mit Behinderungen bei der
      oder erschwinglichen rechtlichen Beistand                   Kommunikation, dem Verstehen oder
      bereit. Dieser rechtliche Beistand ist von                  dem Verstandenwerden in einem
      kompetenten Personen zeitnah zu erbrin-                     Verfahren benachteiligt sein können,
      gen, damit Menschen mit Behinderungen                       einschließlich in nicht mit Freiheits-
      an allen Gerichtsverfahren gleichberech-                    strafen belegten Strafsachen, Baga-
      tigt teilnehmen können.                                     tellverfahren und Zivilsachen;
                                                        c)   zusätzlich zu 2 b) sicherstellen, dass
                                                             Menschen mit Behinderungen unent-
6.2   Zu diesem Zweck werden die Staaten                     geltlichen rechtlichen Beistand zu nicht
                                                             weniger günstigen Bedingungen wie
      a)   Gesetze, Verordnungen, Politik-                   für Menschen ohne Behinderungen
           vorgaben, Leitlinien und Verfahren                sowie bei Bedarf mindestens auf
           erlassen und umsetzen, die das Recht              individueller Grundlage als verfahrens-
           auf rechtlichen Beistand in allen gericht-        bezogene Vorkehrung erhalten;
           lichen und gerichtsähnlichen Verfahren       d)   zusätzlich zu rechtlichem Beistand den
           gewähren, ungeachtet der Rolle der je-            Zugang zu Rechtsberatung gewähr-
           weiligen Menschen mit Behinderungen               leisten, etwa über telefonische oder
           in dem Verfahren oder der möglichen               digitale Vermittlungsdienste, nicht-
           Folgen oder Ergebnisse;                           anwaltliche Dienstleistungen und
      b)   Programme zur Bereitstellung unent-               Online-Rechtsberatung, bei Bedarf
           geltlichen rechtlichen Beistands für              unter Nutzung unterstützender
           Menschen, einschließlich Menschen                 Technologie;
           mit Behinderungen, die sich diesen           e)   alle Gesetze, Verordnungen, Politik-
           Beistand nicht leisten können, einrichten,        vorgaben, Leitlinien oder Verfahren
           finanzieren und umsetzen, zumindest in            aufheben oder ändern, die die Rechts-
           nachstehenden Angelegenheiten:                    fähigkeit von Menschen mit Behinde-
           i) Verlust des Lebens oder der                    rungen einschränken, eine Rechts-
               Freiheit, unter anderem durch                 anwältin oder einen Rechtsanwalt zu
               Freiheitsentziehung, Inhaftierung,            beauftragen und zu instruieren;
22   GRUNDSATZ 6

         f)   rechtlichen Beistand leicht zugänglich
              machen, indem sie alle administrativen,
              kommunikativen und physischen
              Barrieren ausräumen;
         g)   gewährleisten, dass spezialisierte
              Dienste für Opfer (z. B. Stellen, die
              auf den Umgang mit geschlechts-
              spezifischer Gewalt spezialisiert sind)
              für Menschen mit Behinderungen
              ebenso zugänglich sind;
         h)   verfahrensbezogene Vorkehrungen wie
              die Bereitstellung von Dolmetschung,
              unterstützende Technologie und Mittels-
              und Unterstützungspersonen oder die
              für diese Vorkehrungen erforderlichen
              Ressourcen für Rechtsanwältinnen und
              -anwälte verfügbar machen, damit sie
              bei der Ausübung ihrer beruflichen
              Pflichten wirksam mit Klientinnen und
              Klienten, Zeuginnen und Zeugen und
              anderen Menschen mit Behinderungen
              kommunizieren können;
         i)   die für Rechtsanwältinnen und -anwälte
              geltenden ethischen und anderen
              relevanten Vorschriften gegebenenfalls
              dahingehend ändern, dass sie ver-
              pflichtet werden, den Willen und die
              Präferenzen ihrer Klientinnen und
              Klienten mit Behinderungen zu achten
              und zu verteidigen und deren aus-
              drücklichen Weisungen Folge zu
              leisten; alle anderslautenden Gesetze,
              Verordnungen, Politikvorgaben,            Foto: Christian Tasso. Das Foto entstand im Rahmen des EU-
              Leitlinien oder Verfahren sollen auf-     Projekts Bridging the Gap II zur Förderung der Inklusion
              gehoben oder geändert werden;             und Gleichberechtigung von Menschen mit Behinderun-
         j)   alle Gesetze, Verordnungen, Politikvor-   gen und erscheint mit freundlicher Genehmigung der
              gaben, Leitlinien und Verfahren aufhe-    Internationalen und iberoamerikanischen Stiftung für
                                                        Verwaltung und öffentliche Politik (FIIAPP).
              ben oder ändern, die eine ersetzende
              Entscheidungsfindung in Gerichts-
              verfahren vorschreiben, einschließlich
              derjenigen, die die Bestellung von            k)   allen Menschen mit Behinderungen,
              Personen erlauben, die Entscheidungen              denen Gewalt zugefügt wurde,
              gegen den Willen von Menschen                      insbesondere Frauen und Mädchen,
              mit Behinderungen treffen (z. B. Ver-              unentgeltlichen rechtlichen Beistand
              fahrenspflegerinnen oder -pflegern,                und Unterstützung bereitstellen,
              nahestehenden Personen (next friends)              einschließlich professioneller Opfer-
              u. ä.), oder die das vermeintliche                 unterstützung, Rechtsberatung und Hilfe
              Wohl der Betroffenen und nicht deren               bei der Anzeige von Straftaten und der
              eigenen Willen und Präferenzen als                 Anstrengung von Gerichtsverfahren.
              Entscheidungsgrundlage vorsehen;
GRUNDSATZ 7   23

Grundsatz 7
Menschen mit Behinderungen haben gleichberechtigt mit
anderen das Recht auf Teilhabe an der Rechtspflege
LEITLINIEN

7.1   Das Recht auf gleichberechtigten Zugang                    oder ehrenamtliche Richterinnen oder
      zur Justiz verlangt, dass Menschen mit                     Richter oder in einer anderen Funktion
      Behinderungen Gelegenheit haben,                           im Justizsystem tätig zu sein;
      unmittelbar an Rechtsprechungsprozessen               c)   die gleichberechtigte Teilnahme von
      teilzunehmen und sich gleichberechtigt mit                 Menschen mit Behinderungen als
      anderen in verschiedenen Rollen an der                     ehrenamtliche Richterinnen und Richter
      Rechtspflege zu beteiligen. Die Staaten                    gewährleisten und ihnen dafür jede
      sollen gewährleisten, dass Menschen                        erforderliche Unterstützung und alle
      mit Behinderungen im Justizsystem ohne                     notwendigen angemessenen und
      Diskriminierung die Richter-, Rechtsanwalts-,              verfahrensbezogenen Vorkehrungen
      Staatsanwalts- oder Zeugenfunktion                         bereitstellen;
      übernehmen sowie als ehrenamtliche                    d)   enge Konsultationen mit Menschen mit
      Richterinnen und Richter, Sachverständige                  Behinderungen und sie repräsentieren-
      und Gerichtsbedienstete tätig sein können.                 den Organisationen führen und sie in
                                                                 alle Erörterungen und Entscheidungs-
7.2   Zu diesem Zweck müssen Regierungen,                        prozesse in Rechtsfragen einbeziehen,
      Gesetzgebungsorgane und andere Behör-                      beispielsweise durch ihre aktive Beteili-
      den, einschließlich Justizräten und anderer                gung an Gremien, Ausschüssen, Kom-
      unabhängiger Justiz-Lenkungsorgane und                     missionen, Ausschüssen für Urteilsricht-
      unabhängiger selbstverwalteter juristischer                linien und anderen Richtlinien- und
      Berufsverbände, in ihrer jeweiligen Eigen-                 Aufsichtsorganisationen;
      schaft folgende Maßnahmen ergreifen:                  e)   aufgeschlüsselte Daten zur Teilhabe
                                                                 von Menschen mit Behinderungen am
      a)   Barrieren beseitigen, die Menschen                    Justizsystem erheben und bei der
           mit Behinderungen daran hindern oder                  Entwicklung und Umsetzung von
           davon abhalten, im Justizsystem an-                   Strategien für Politik-, Praxis- und
           gesiedelte Berufe zu ergreifen, und zu                Gesetzesreformen heranziehen, um
           diesem Zweck beispielsweise:                          den gleichberechtigten Zugang zur
           i) während der gesamten Dauer                         Justiz zu gewährleisten.
                juristischer und justizbezogener Aus-
                bildungsprogramme angemessene           Foto: Christian Tasso, Projekt Saharawi.
                Vorkehrungen bereitstellen;
           ii) während Zertifizierungs- und Zulas-
                sungsprüfungen und -verfahren ange-
                messene Vorkehrungen bereitstellen;
           iii) bei Anträgen auf Zulassung zu Rechts-
                berufen und bei Bewerbungen um
                Stellen im Justizsystem Fragen zu Ge-
                sundheit und Behinderung verbieten;
           iv) gewährleisten, dass alle Einrichtun-
                gen und Strukturen im Justizsystem
                für Erwerbstätige mit Behinderungen
                barrierefrei zugänglich sind.
      b)   alle Barrieren einschließlich Gesetzen
           beseitigen, die Menschen mit Behin-
           derungen daran hindern, als haupt-
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