Die Berücksichtigung von Kausalitäten und kontrafaktischen Szenarien im Schweizer und EU-Kartellrecht

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FORUM – ZUR DISKUSSION | A DISCUTER
Philipp Zurkinden | Robert Klotz

Die Berücksichtigung von Kausalitäten
und kontrafaktischen Szenarien im
Schweizer und EU-Kartellrecht
Der Beitrag befasst sich mit der Frage, inwiefern die                                             Cet article aborde la question de savoir dans quelle
Schweizer Wettbewerbskommission und die europäische                                               mesure la Commission suisse de la concurrence et la
Kommission in Verfahren der Wettbewerbsaufsicht Kau-                                              Commission européenne tiennent compte, ou doivent
salitäten und kontrafaktische Szenarien berücksichtigt                                            tenir compte, des liens de causalité et des scénarios
bzw. berücksichtigen muss. Beiden Rechtsordnungen ist                                             contrefactuels dans les procédures de surveillance de
gemeinsam, dass volkswirtschaftlich oder sozial schäd-                                            la concurrence. Les deux systèmes juridiques ont pour
liche Auswirkungen von Kartellen und anderen Wett-                                                objectif de prévenir les effets économiquement ou socia-
bewerbsbeschränkungen verhindert werden sollen. Da                                                lement néfastes des cartels et autres restrictions de la
sie einen wirkungsbasierten Ansatz verfolgen, stellt sich                                         concurrence. Avec leur approche fondée sur les effets,
die Frage, welche Wirkungen im Markt zu beobachten                                                il se pose la question de savoir quels effets pourraient
wären, falls das fragliche Verhalten nicht stattgefunden                                          être observés sur le marché si le comportement discu-
hätte. In dem Beitrag wird anhand der Kartellrechtspraxis                                         table n’avait pas eu lieu. Sur la base de la pratique du
in der Schweiz und der EU untersucht, ob eine Kausalität                                          droit de la concurrence en Suisse et dans l’UE, l’article
zwischen Marktbeherrschung und angeblich unzuläs-                                                 s’interroge sur la nécessité d’établir un lien de causalité
sigem Verhalten bzw. zwischen Missbrauch und Wett-                                                entre la position dominante sur le marché et le compor-
bewerbsverfälschung erforderlich ist und im Verfahren                                             tement présumé illicite, ainsi qu’entre l’abus de position
zur Anwendung von Artikel 7 KG bzw. Artikel 102 AEUV                                              dominante et la distorsion de la concurrence. Il examine
kontrafaktische Szenarien zu berücksichtigen sind.                                                également si des scénarios contrefactuels doivent être
Dabei zeigt sich, dass die Praxis in der Schweiz und in der                                       pris en compte dans la procédure d’application de l’art. 7
EU sich teilweise deckt, aber teilweise auch voneinander                                          LCart ou de l’art. 102 TFUE. Dans ce contexte, il apparaît
abweicht. Aufgrund der Bedeutung des EU-Rechts ist                                                que les pratiques en Suisse et dans l’UE ne coïncident
dieser Vergleich für die Schweizer Praxis von Relevanz.                                           que partiellement. En raison du poids du droit européen,
                                                                                                  cette comparaison est importante pour la pratique
                                                                                                  suisse.

I.    Ausgangslage und Fragestellung                                                             III.    Bewertung nach EU- Recht
                                                                                                         1. Die Bedeutung des EU-Rechts für die
II.   Bewertung nach Schweizer Recht
                                                                                                            schweizerische Kartellrechtspraxis
      1. Grundlagen
                                                                                                         2. Berücksichtigung von kontrafaktischen Szenarien
      2. Jüngste Rechtsprechung des Bundesverwaltungs-
                                                                                                            nach EU-Recht
         gerichts und des Bundesgerichts
                                                                                                         3. Erfordernis einer Kausalbeziehung nach EU-Recht
      3. Fazit aus der jüngsten Rechtsprechung des Bun-
         desverwaltungsgerichts und des Bundesgerichts                                           IV.     Schlussbetrachtung

                                                                                                 I. Ausgangslage und Fragestellung
P HILIPP Z URKINDEN , Dr. iur., Titularprofessor für
Kartellrecht an der Universität Basel und Partner bei                                            Der Beitrag befasst sich mit der Frage, inwiefern die Wett-
Prager Dreifuss AG in Bern/Zürich/Brüssel.                                                       bewerbskommission (Weko) bei der Anwendung von
                                                                                                 Artikel 7 KG Kausalitäten und kontrafaktische Szenarien be-
R OBERT K LOTZ , Partner bei Sheppard Mullin Richter &
                                                                                                 rücksichtigt bzw. berücksichtigen muss. Das Kartellgesetz
Hampton LLP in Brüssel, Lehrbeauftragter für EU-Kartell-
                                                                                                 bezweckt, volkswirtschaftlich oder sozial schädliche Auswir-
recht am Europainstitut des Saarlandes, an der FU Berlin
                                                                                                 kungen von Kartellen und anderen Wettbewerbsbeschrän-
und am ZEI Bonn.
                                                                                                 kungen zu verhindern. Indem das Kartellgesetz einen wir-
Dieser Aufsatz beruht auf einem Gutachten, das die beiden                                        kungsbasierten Ansatz verfolgt, stellt sich – nicht nur – bei
Autoren für einen gemeinsamen Klienten verfasst haben.                                           Missbrauchsfällen die Frage, welche Wirkungen im Markt
Dabei handelt es sich um Swisscom. Der Artikel gibt die                                          zu beobachten wären, falls das fragliche Verhalten nicht
persönliche Meinung der Autoren wieder.                                                          stattgefunden hätte.

                                                              © 2021 sic! Stiftung, Bern / Helbing Lichtenhahn Verlag, Basel
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Philipp Zurkinden | Robert Klotz Die Berücksichtigung von Kausalitäten und kontrafaktischen Szenarien

       Im Entscheid «Geschäftskunden Preissysteme für adres-                                halten bzw. zwischen Missbrauch und Wettbewerbsverfäl-
sierte Briefsendungen» vom 30. Oktober 2017 sanktionierte                                   schung erforderlich ist und im Verfahren zur Anwendung
die Weko die Schweizerische Post wegen unzulässiger Ver-                                    von Artikel 7 KG kontrafaktische Szenarien zu berücksichti-
haltensweisen nach Artikel 7 KG. Sie qualifizierte dabei die                                gen sind. Dabei zeigt sich, dass die Ausgangslage bzw. Praxis
uneinheitliche Anwendung des Preis- und Rabattsystems                                       in der Schweiz und in der EU nicht deckungsgleich ist, wes-
der Post gegenüber den Kunden der Post als Diskriminie-                                     halb die Beantwortung der Frage unter den beiden Rechts-
rung i.S.v. Artikel 7 Abs 2 Bst. b KG. In den rechtlichen Er-                               ordnungen jeweils unterschiedlich angegangen wird.
wägungen betonte die Weko unter Bezugnahme auf die
Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts i.S. «Sank-
                                                                                            II. Bewertung nach Schweizer Recht
tionsverfügung – Preispolitik Swisscom ADSL»,1 im Rahmen
einer Prüfung von einzelnen Tatbeständen des Kartellgeset-                                  1. Grundlagen
zes vielfach Einschätzungen miteinzubeziehen, die sich auf
zukünftige oder alternativ denkbare Ereignisse oder Aus-                                    Die Frage der allgemeinen Notwendigkeit von kontrafakti-
wirkungen beziehen.2 Diese Aussage wurde unter dem Titel                                    schen Szenarien bei der Anwendung des KG wird weder in
«Beweismass» gemacht. Bestehen im Einzelfall «komplexe                                      der kartellrechtlichen Lehre noch in der einschlägigen
wirtschaftliche Sachverhalte mit multiplen Wirkungszu-                                      Rechtsprechung diskutiert, geschweige denn eine solche
sammenhängen», so soll der Nachweis des Wettbewerbs-                                        Notwendigkeit bejaht.
verstosses mittels eines Wahrscheinlichkeitsbeweises genü-                                        Aus der Rechtsprechung, welche nachstehend disku-
gen.3 Wie nachstehend aufgezeigt wird, erscheint den Auto-                                  tiert wird, lässt sich indessen der Schluss ziehen, dass kon-
ren diese auf das Beweismass beschränkte Sichtweise zu                                      trafaktische Szenarien im Rahmen von Kausalitätserforder-
kurz gegriffen. Können alternative Kausalverläufe vernünf-                                  nissen zwischen Tatbestandselementen in Artikel 7 KG
tigerweise nicht ausgeschlossen werden, so müssen kon-                                      durchaus relevant sind. Die Frage der Kausalität zwischen
trafaktische Szenarien auch im Rahmen eines Wahrschein-                                     den verschiedenen Tatbestandselementen in Artikel 7 KG,
lichkeitsbeweises geprüft werden, andernfalls Artikel 7 KG                                  der das materiellrechtliche «Pendant» zu Artikel 102 AEUV
faktisch zur per se Verbotsnorm würde, was aus verfassungs-                                 bildet, wird in der neuesten Schweizer Literatur folgender-
rechtlicher Perspektive, aber auch aus rechtsvergleichender                                 massen beantwortet:
Sicht mit Hinblick auf die EU-Rechtsprechung und Anwen-                                     – Ein Kausalzusammenhang zwischen der marktbeherr-
dungspraxis, insbesondere zu Artikel 102 AEUV, abzu-                                           schenden Stellung und dem missbräuchlichen Verhalten
lehnen ist.                                                                                    wird in der neueren Lehre und Rechtsprechung grundsätz-
       Die Frage, ob und inwiefern bei der materiellrecht-                                     lich verneint. Ein solcher Zusammenhang sei wettbe-
lichen Beurteilung von Artikel 7 KG kontrafaktische Szena-                                     werbstheoretisch nicht relevant.4 Im Basler Kommentar,
rien berücksichtigt werden müssen, hängt im Wesentlichen                                       dessen letzte verfügbare Auflage allerdings aus dem Jahr
davon ab, ob zwischen verschiedenen Tatbestandselemen-                                         2009 stammt, wurde noch festgestellt, dass die Mehrheit
ten Kausalitätserfordernisse bestehen, welche den Einbezug                                     der schweizerischen Lehre eine Kausalität zwischen dem
von kontrafaktischen Szenarien erfordern. Bei der Prüfung                                      Einsatz der Marktbeherrschung und dem Missbrauch be-
eines kontrafaktischen Szenarios wird die Situation, in der                                    jahe,5 um dieses Kausalerfordernis aber dann doch schluss-
die (vermutete) Zuwiderhandlung begangen wurde, mit                                            endlich zu verneinen.6
einer hypothetischen Situation verglichen, in der diese frag-                               – Ebenso wird in der Lehre ein Kausalitätserfordernis zwi-
liche Handlung nicht oder unter anderen Umständen vor-                                         schen der marktbeherrschenden Stellung und wettbe-
genommen wurde. Dies gilt auch bei der Beurteilung eines                                       werbswidrigen Auswirkungen verneint.7 Die Begründung
Sachverhalts, der sich ergäbe, wenn das betreffende Unter-                                     geht dahin, dass nach dem schweizerischen und europä-
nehmen nicht marktbeherrschend wäre.                                                           ischen Konzept der Missbrauchskontrolle (d.h. Artikel 7
       Kontrafaktische Szenarien spielen eine Rolle sowohl                                     KG bzw. Artikel 102 AEUV) das Bestehen einer markt-
bei einer Kausalität zwischen Marktbeherrschung und miss-
bräuchlichem Verhalten bzw. Wettbewerbsverfälschung und
derjenigen zwischen Missbrauch und Wettbewerbsverfäl-
                                                                                            1       BVGer vom 14. September 2015, B-7633/2009.
schung. Bei der Frage der Kausalität zwischen Marktstellung                                 2       Verfügung der WEKO vom 30. Oktober 2017, Geschäftskunden Preis-
und missbräuchlichem Verhalten geht es darum zu beurtei-                                            systeme für adressierte Briefsendungen, 152, N 639.
len, ob die Marktstellung Ausgangspunkt bzw. Mittel des                                     3       Idem.
                                                                                            4       L. S TÄUBLE /F. S CHR ANER , in: R. Zäch/R. Arnet/M. Baldi/R. Kiener/
Missbrauchs ist. Wie sich aus der Fragestellung ergibt, be-                                         O. Schaller/F. Schraner/A. Spühler (Hg.), KG. Kommentar zum Bun-
trifft diese Frage somit den Bezug zwischen Marktstellung                                           desgesetz über Kartelle und andere Wettbewerbsbeschränkungen,
und Missbrauchsverhalten und auch die Verbindung zwi-                                               Zürich 2018, KG 7 N 22 ff., mit Verweisungen auf weitere Literatur
                                                                                                    und Rechtsprechung.
schen dem beherrschten Markt und denjenigen, auf wel-                                       5       M. A MSTUTZ /B. C ARRON, in: M. Amstutz/M. Reinert (Hg.), Basler
chen die missbräuchlichen Verhaltensweisen erfolgen.                                                Kommentar zum Kartellgesetz (KG), Basel 2009, KG 7 N 20, mit ver-
       Nachstehend wird anhand der Kartellrechtspraxis in                                           schiedenen Verweisungen.
                                                                                            6       A MSTUTZ /C ARRON (Fn. 8), KG 7 N 21.
der Schweiz und der EU untersucht, ob eine Kausalität zwi-                                  7       S TÄUBLE /S CHR ANER (Fn. 7), KG 7 N 28 f. (wiederum mit Verweisung
schen Marktbeherrschung und angeblich unzulässigem Ver-                                             auf A MSTUTZ /C ARRON [Fn. 8]).

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FORUM – ZUR DISKUSSION | A DISCUTER
   beherrschenden Stellung alleine grundsätzlich nicht kar-                                      mic Currency Conversion; DCC) an. Damit die Händler
   tellrechtswidrig sein könne.8                                                                 diese neue Funktion ihrerseits den betreffenden Karteninha-
– Hingegen wird in der Lehre ein Kausalitätserfordernis                                          bern anbieten konnten, mussten diese ein Zahlkartentermi-
   zwischen der missbräuchlichen Verhaltensweise und den                                         nal haben, das mit dieser DCC-Funktion kompatibel ist.
   wettbewerbswidrigen Auswirkungen, d.h. der Wettbe-                                            Diese Kompatibilität war gemäss SIX nur bei den Zahlkar-
   werbsschädigung, bejaht.9                                                                     tenterminals einer Schwestergesellschaft von SIX gegeben
      Die neuere Praxis folgt in diesen Fragen grundsätzlich                                     und nicht bei anderen Terminals. Der Zugang zu dieser
der Lehre und verlangt grundsätzlich keine Kausalität zwi-                                       Funktion wurde dritten Terminalherstellern verweigert.
schen der marktbeherrschenden Stellung und der Wett-
bewerbsschädigung.10 Sie macht jedoch eine Ausnahme im
                                                                                                 aa) Kausalitätserfordernis zwischen der
Zusammenhang mit Artikel 7 Abs. 2 Bst. c KG («die Erzwin-
                                                                                                     marktbeherrschenden Stellung und
gung unangemessener Preise oder sonstiger unangemessener Ge-
                                                                                                     der missbräuchlichen Verhaltensweise
schäftsbedingungen»), indem die Weko der Meinung ist, dass
                                                                                                     bzw. Wettbewerbsverfälschung
die «Erzwingung» das Erfordernis einer Kausalität zwischen
der marktbeherrschenden Stellung und dem missbräuch-                                             Das Bundesverwaltungsgericht hatte sich u.a. mit den Vor-
lichen Verhalten statuiere.11 Es sei gerade die marktbeherr-                                     bringen der Beschwerdeführerinnen auseinanderzusetzen,
schende Stellung, welche es dem betreffenden Unterneh-                                           dass zwischen der marktbeherrschenden Stellung und dem
men erlaube, Konditionen durchzusetzen, die in einem                                             (angeblichen) Missbrauchsverhalten insofern ein kausaler
funktionierenden Wettbewerb nicht möglich wären.12                                               Zusammenhang bestehen müsse als die Abgrenzung des re-
      Unklar bleibt allerdings, inwiefern die Weko nicht                                         levanten Marktes «nicht isoliert ohne Rücksicht auf das angeb-
trotzdem eine generelle Kausalität zwischen der Marktstel-                                       lich missbräuchliche Verhalten erfolgen [könne]».16 Das Bundes-
lung und dem Missbrauch voraussetzt, indem sie verlangt,                                         verwaltungsgericht hält hierzu fest, dass «in Fällen, in denen
dass die Märkte, in welchen eine marktbeherrschende Stel-                                        das wirtschaftliche Verhalten auf einem anderen als dem be-
lung festgestellt wird, einen Bezug zu denjenigen Märkten                                        herrschten Markt vorgenommen wird und sich auf diesen oder
haben, in welchen der Missbrauch erfolgt. In einem älteren                                       auf einen weiteren anderen als den beherrschten Markt auswirkt,
Entscheid i.S. «Veterinärmedizinische Tests/Migros» stellte die                                  (liegt) die Grundkonstellation eines Marktmissbrauchs dann
Weko nämlich fest: «Die Kausalität zwischen Marktdominanz                                        vor[liegt], wenn zwischen dem Primärmarkt und dem anderen
und wettbewerbsschädlichem Verhalten ist vorliegend gegeben.                                     Markt bzw. den anderen Märkten eine spezifische Beziehung auf-
Wie soeben dargelegt wurde, ermöglicht es die marktbeherr-                                       grund besonderer Umstände besteht [...] Die Feststellung dieser
schende Stellung der Migros auf dem Markt für den Absatz von                                     besonderen Umstände hat aufgrund einer Gesamtschau aller
freiwilligen BSE-Schnelltests [...] vermittels der Schlachthöfe die                              Umstände des Einzelfalls zu erfolgen [...] Soweit die Gesamt-
Labors in der Aufnahme und Ausübung des Wettbewerbs zu be-                                       schau ergibt, dass sich das marktbeherrschende Unternehmen
hindern».13 Dass die Märkte, in welchen der Missbrauch er-                                       auch ohne besondere Stellung auf dem anderen Markt gegenüber
folgt, mit dem Markt, in welchem die Marktbeherrschung                                           den anderen Wettbewerbern unabhängig verhalten kann, ist der
festgestellt wird, einen Bezug haben müssen, ist auch in an-                                     wirksame Wettbewerb geschwächt [...] und die Grundkonstel-
deren Entscheiden erkennbar.14                                                                   lation somit auch in solchen Fällen gegeben».17 Diese Kriterien
      Auch in der Rechtsprechung unbestritten ist das Kausa-                                     des hinreichenden Zusammenhangs und der besonderen
lerfordernis zwischen Missbrauch und wettbewerbsschäd-                                           Umstände setzen gemäss Bundesverwaltungsgericht (ohne
lichen Auswirkungen, wie nachfolgend dargestellt wird.                                           weitere Erläuterungen) aber keine Kausalität voraus.18
      Gerade in jüngster Vergangenheit haben sich zudem
das Bundesverwaltungsgericht und auch das Bundesgericht
etwas vertiefter mit der Anwendung von Artikel 7 KG aus-                                          8      S TÄUBLE /S CHR ANER (Fn. 4), KG 7 N 28 f.
einandergesetzt, vor allem auch mit den Kausalitätsmerk-                                          9      S TÄUBLE /S CHR ANER (Fn. 4), KG 7 N 30 f.
                                                                                                 10      A MSTUTZ /C ARRON (Fn. 5) weisen in KG 7 N 19 noch auf eine unein-
malen bzw. dem Verhältnis zwischen Abs. 2 und Abs. 1 in                                                  heitliche Praxis hin und erwähnen die Fälle «Publigroupe» (Schluss-
Artikel 7 KG.                                                                                            bericht des Sekretariats vom 4. November 2002, RPW 2003/1, 87 ff.,
                                                                                                         N 59 und die Verfügung der WEKO vom 20. Oktober 2003 i.S. Veteri-
                                                                                                         närmedizinische Tests/Migros, RPW 2003/4, 753 ff.).
2. Jüngste Rechtsprechung des                                                                    11      RPW 2016/1, 124 ff.
                                                                                                 12      RPW 2016/1, 124, N 448; siehe dazu auch S TÄUBLE /S CHR ANER (Fn. 4),
   Bundesverwaltungsgerichts und des Bundesgerichts                                                      KG 7 N 26 ff.
                                                                                                 13      RPW 2003/4, 753 ff. N 78.
a) Urteil des Bundesverwaltungsgerichts                                                          14      Vgl. etwa BGE 139 I 72 ff. E. 10.1, «Publigroupe SA und Mitb. gegen
   vom 18. Dezember 2018 i.S.                                                                            Wettbewerbskommission».
   «Six Group/Six Payment Services»15                                                            15      BVGer vom 18. Dezember 2018, B-831/2011, «SIX Group AG/SIX Pay-
                                                                                                         ment Services gegen Wettbewerbskommission».
                                                                                                 16      BVGer vom 18. Dezember 2018, B-831/2011, «SIX Group AG/SIX Pay-
Der Sachverhalt, der diesem Urteil zugrunde lag, kann kurz                                               ment Services gegen Wettbewerbskommission» Rn 808.
wie folgt zusammengefasst werden: der grösste Schweizer                                          17      BVGer vom 18. Dezember 2018, B-831/2011, «SIX Group AG/SIX Pay-
                                                                                                         ment Services gegen Wettbewerbskommission», Rn 822.
Acquirer SIX Multipay (SIX) bot seinen Händlern eine neue                                        18      BVGer vom 18. Dezember 2018, B-831/2011, «SIX Group AG/SIX Pay-
Funktion zur dynamischen Währungsumrechnung (Dyna-                                                       ment Services gegen Wettbewerbskommission», Rn 822 f. mit Verwei-

                                                              © 2021 sic! Stiftung, Bern / Helbing Lichtenhahn Verlag, Basel
sic! 6 | 2021      Alle Rechte vorbehalten. Jede Verwertung in anderen als in den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der schriftlichen Zustimmung des Verlages.
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Philipp Zurkinden | Robert Klotz Die Berücksichtigung von Kausalitäten und kontrafaktischen Szenarien

      Während das Bundesverwaltungsgericht zwar einen                                        die Beschwerde an das Bundesgericht i.S. «Hallenstadion»
hinreichenden Zusammenhang zwischen den involvierten                                         brachte keine Änderung der Praxis, wonach kein Kausal-
Märkten erfordert, verneint es hingegen ein Kausalitätserfor-                                zusammenhang zwischen der marktbeherrschenden Stel-
dernis zwischen Marktstellung und dem Missbrauchsverhal-                                     lung und dem Missbrauchsverhalten verlangt wird.27
ten für die Verwirklichung eines Beispielstatbestands nach                                         Die Begründung der Ablehnung des Kausalitätserfor-
Artikel 7 Abs. 2 KG (in concreto Geschäftsverweigerung                                       dernisses zwischen Marktstellung und missbräuchlichem
gemäss Artikel 7 Abs. 2 lit. a KG). Das Gericht stellt hierzu                                Verhalten weist somit zwei Widersprüche auf. Zum einen
zunächst fest, dass die Lehre eine solche Kausalität über-                                   wird ein besonderer Bezug des Marktes, auf dem die markt-
wiegend ablehne und dass allenfalls vereinzelt eine ab-                                      beherrschende Stellung festgestellt wird, zu denjenigen
geschwächte Form im Sinne einer «normativen Kausalität»                                      Märkten verlangt, auf denen sich der Missbrauch manifes-
oder aber eine Kausalität ohne irgendwelche Erklärung ver-                                   tiert. Zum anderen erklärt das Bundesverwaltungsgericht,
langt werde19. Zur Begründung der Ablehnung der Kau-                                         dass das gleiche Verhalten dann nicht missbräuchlich ist,
salität argumentiert es, dass zur Ablehnung eines Geschäfts                                  wenn es von einem nicht marktbeherrschenden Unterneh-
keine marktbeherrschende Stellung erforderlich sei. «Die be-                                 men ausgeht.
sondere Marktstellung, die bereits eine objektive Voraussetzung                                    Auf das Kausalitätserfordernis zwischen Marktstellung
des Tatbestands darstellt, kann nicht darüber hinaus als weitere                             und wettbewerbsschädlichen Auswirkungen geht das Bun-
Voraussetzung in Form von natürlicher Äquivalenz und sozial-                                 desverwaltungsgericht nicht explizit ein. Zwar sind sich die
adäquater Adäquanz erforderlich sein, damit ein marktbeherr-                                 Lehre und Praxis einig,28 dass eine solche Kausalität nicht
schendes Unternehmen überhaupt eine Geschäftsverweigerung                                    gegeben sein muss, doch zeigen gerade die oben beschriebe-
begehen kann. Denn wenn jedes nicht marktbeherrschende Un-                                   nen Erwägungen des Bundesverwaltungsgerichts i.S. «SIX»
ternehmen die Eingehung von Geschäftsbeziehungen ablehnen                                    zum Bezugserfordernis zwischen dem Primär- und den üb-
kann, obwohl ein solches Verhalten aufgrund der wirtschaftlichen                             rigen Märkten, auf denen sich der Missbrauch manifestiert,
Auswirkungen regelmässig nicht empfehlenswert ist, dann steht                                dass auch die Frage der Kausalität zwischen Marktstellung
einem marktbeherrschenden Unternehmen die Möglichkeit einer                                  und wettbewerbsschädlichen Auswirkungen durchaus rele-
Geschäftsverweigerung offensichtlich in jedem Fall offen, weil ein                           vant ist.
derartiges Verhalten aus wirtschaftlichen Gründen regelmässig
eher noch geringere Auswirkungen aufweist, ohne dass es weiterer
Umstände bedarf, welche die Kausalität begründen.»20
      Widersprüchlich erscheint vor diesem Hintergrund
allerdings der Anfang dieser Ziffer 825, welche besagt: «Dies
[das fehlende Kausalitätserfordernis, Anm. Verf.] ergibt sich
schon aus der ausdrücklichen Qualifizierung der Wettbewerbs-                                         sungen auf die schweizerische und europäische Praxis. Bezüglich der
widrigkeit einer Geschäftsverweigerung durch marktbeherr-                                            schweizerischen Praxis gerade auf die oben erwähnte Verfügung
schende Unternehmen des Gesetzgebers, der im Gegensatz hierzu                                        der WEKO vom 20. Oktober 2003 i.S. Veterinärmedizinische Tests/
                                                                                                     Migros, RPW 2003/4, 753 ff. (Fn. 10).
Geschäftsverweigerungen von nicht marktbeherrschenden Unter-                                 19      BVGer vom 18. Dezember 2018, B-831/2011, «SIX Group AG/SIX Pay-
nehmen als wettbewerbskonform einstuft.» Das heisst aber nun                                         ment Services gegen Wettbewerbskommission», Rn 826.
nichts anderes, als dass nach dem Konzept von Artikel 7 KG                                   20      BVGer vom 18. Dezember 2018, B-831/2011, «SIX Group AG/SIX Pay-
                                                                                                     ment Services gegen Wettbewerbskommission», Rn 825.
missbräuchliches Verhalten und wettbewerbswidrige Wir-                                       21      BVGer vom 18. Dezember 2018, B-831/2011, «SIX Group AG/SIX Pay-
kungen ohne marktbeherrschende Stellung ausgeschlossen                                               ment Services gegen Wettbewerbskommission», Rn 827 f.
sind, was wiederum für einen kausalen Bezug zwischen der                                     22      BGE 137 II 199 ff., «Eidg. Volkswirtschaftsdepartement gegen Swiss-
                                                                                                     com (Schweiz) AG und Swisscom (Schweiz) AG gegen Wettbewerbs-
Marktstellung und dem missbräuchlichen Verhalten spricht.                                            kommission».
      In diesem Zusammenhang geht das Bundesverwal-                                          23      BVGer vom 24. November 2016, B-3618/2013, «Starticket/Ticket-
tungsgericht summarisch auf die schweizerische und euro-                                             portal gegen AG Hallenstadion/Ticketcorner AG».
                                                                                             24      EuGH vom 21. März 1972, 6/72, «Euroemballage und Continental
päische Praxis ein21 und erwähnt dabei das Urteil des Bun-                                           Can Company/Kommission», EuGH vom 13. Februar 1979, 85/76,
desgerichts i.S. «Terminierung Mobilfunk»22 sowie das Urteil                                         «Hoffmann-La Roche» und EuGH vom 14. November 1996,
des Bundesverwaltungsgerichts i.S. «Hallenstadion»23 und                                             C-333/94 P, «Tetra Pak».
                                                                                             25      BVGer vom 24. November 2016, B-3618/2013 E. 4.3.4, «Starticket AG/
die Urteile des EuGH i.S. «Continental Can», «Hoffmann-La                                            Ticketportal AG gegen AG Hallenstadion/Ticketcorner AG».
Roche» und «Tetra Pak II».24 Die genannten Schweizer Urteile                                 26      BGE 137 II 199 ff. E. 281, «Eidg. Volkswirtschaftsdepartement gegen
analysieren das Bestehen eines Missbrauchs nach Artikel 7                                            Swisscom (Schweiz) AG und Swisscom (Schweiz) AG gegen Wett-
                                                                                                     bewerbskommission».
Abs. 2 lit. c KG («Erzwingung unangemessener Preise oder sons-                               27      BGer vom 12. Februar 2020, 2C_113/2017, «AG Hallenstadion/
tiger unangemessener Geschäftsbeziehungen»). Aus deren Er-                                           Ticketcorner gegen Starticket/Ticketportal» und BVGer vom 24. No-
wägungen ergibt sich, dass mit Bezug auf diesen konkreten                                            vember 2016, B-3618/2013, «Starticket/Ticketportal gegen AG Hallen-
                                                                                                     stadion/Ticketcorner AG», Rn 829 f.
Missbrauchssachverhalt normalerweise eine Kausalität zwi-                                    28      Siehe Fn. 10; vgl. BGE 146 II 217 ff. E. 4.1, «Swisscom AG und Swiss-
schen der Marktbeherrschung und der Unangemessenheit                                                 com (Schweiz) AG gegen Wettbewerbskommission i.S. Preispolitik
von Preisen gegeben sei,25 dass aber mit Bezug auf die                                               Swisscom ADSL», mit Verweis auf BGE 139 I 72 ff. E. 10.1.1, «Publi-
                                                                                                     groupe»; BGE 137 II 199 ff. E. 4.3.4, «Eidg. Volkswirtschaftsdeparte-
Durchsetzung solcher unangemessener Preise das Vorliegen                                             ment gegen Swisscom (Schweiz) AG und Swisscom (Schweiz) AG ge-
einer marktbeherrschenden Stellung nicht ausreicht.26 Auch                                           gen Wettbewerbskommission».

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FORUM – ZUR DISKUSSION | A DISCUTER
bb) Kausalitätserfordernis zwischen Missbrauch                                                   werde. «Ob die darin aufgeführten Verhaltensweisen miss-
    und der Wettbewerbsverfälschung                                                              bräuchlich sind, ist allerdings im Zusammenhang mit Artikel 7
                                                                                                 Abs. 1 KG zu beurteilen. Mit anderen Worten ist im Einzelfall
Mit Bezug auf die Kausalität zwischen dem missbräuchlichen                                       zu prüfen, ob eine Verhaltensweise nach Artikel 7 Abs. 2 KG
Verhalten und der Wettbewerbsverfälschung bejaht das Bun-                                        eine Behinderung bzw. Benachteiligung i.S. des Artikels 7 Abs. 1
desverwaltungsgericht zumindest implizit eine solche Kau-                                        KG darstellt [...]. Insofern indizieren die Tatbestände von Abs. 2
salität,29 meint aber in diesem Zusammenhang, dass die                                           nicht per se eine unzulässige Verhaltensweise, weshalb anhand
Wettbewerbsverfälschung nicht in Form von tatsächlichen                                          des dualen Prüfungsmusters zu eruieren ist, ob unzulässiges Ver-
Auswirkungen nachgewiesen werden müsse; «massgeblich ist                                         halten vorliegt: In einem ersten Schritt sind die Wettbewerbsver-
die Wahrscheinlichkeit einer Schädigung und nicht der Nachweis                                   fälschungen (d.h. die Behinderung bzw. Benachteiligung von
einer tatsächlich eingetretenen Schädigung».30 Der Gesetzgeber                                   Marktteilnehmern) herauszuarbeiten und in einem zweiten
habe durch die Statuierung von Regelbeispielen in Artikel 7                                      Schritt mögliche Rechtfertigungsgründe («legitimate business
Abs. 2 KG klargestellt, dass bei Vorliegen solcher Sachverhalte                                  reasons») zu prüfen».40
in jedem Fall eine nachteilige Auswirkung auf den Wett-                                                Entscheidend ist im bundesgerichtlichen Urteil die
bewerb vorliegt und dass in diesem Zusammenhang keine                                            Aussage, dass «die Wettbewerbsverfälschungen (d.h. die Behin-
«theory of harm» geprüft werden müsse.31 Ein «monokausaler»                                      derung bzw. Benachteiligung von Marktteilnehmern) heraus-
Nachweis von tatsächlichen wettbewerbsschädlichen Auswir-                                        zuarbeiten» sind. Selbst wenn auf der Ebene des Beweis-
kungen «allein aufgrund der unangemessenen Verhaltensweise»                                      masses bei zunehmender Komplexität der Wahrscheinlich-
sei nicht möglich.32
      Beim Beweismass für die Feststellung einer Wett-
bewerbsverfälschung nimmt die Weko den Wahrscheinlich-                                           29      BVGer vom 18. Dezember 2018, B-831/2011, «SIX Group AG/SIX Pay-
keitsbeweis bzw. das Beweismass der überwiegenden Wahr-                                                  ment Services gegen Wettbewerbskommission», Rn 1124 ff.
                                                                                                 30      BVGer vom 18. Dezember 2018, B-831/2011, «SIX Group AG/SIX Pay-
scheinlichkeit an.33 Dieses Beweismass gelte (auch) für «den                                             ment Services gegen Wettbewerbskommission», Rn 1207 (s. zur Be-
Nachweis des natürlichen Kausalzusammenhangs oder bei hypo-                                              urteilung des Charakters des Tatbestandsmerkmals Rn 1198 ff.).
thetischen Kausalzusammenhängen».34                                                              31      BVGer vom 18. Dezember 2018, B-831/2011, «SIX», Rn 1124 ff., 1126.
                                                                                                         Der Nachweis der Geeignetheit für eine wettbewerbsschädliche Wir-
                                                                                                         kung reicht aus (vgl. Rn 1128). Eine nachteilige Auswirkung auf den
                                                                                                         Wettbewerb müsse auch keine Erheblichkeitsschwelle überschreiten
b) Urteil des Bundesgerichts vom 9. Dezember 2019 i.S.                                                   (Rn 1146). «Da ein marktmissbräuchliches Verhalten angesichts der ohne-
   «Swisscom gegen Weko i.S. Preispolitik Swisscom                                                       hin bereits bestehenden Beeinträchtigung des wirksamen Wettbewerbs keine
   ADSL»                                                                                                 Anwendung von bestimmten Erheblichkeitsschwellen voraussetzt (vgl.
                                                                                                         Rn. 1146), führt bereits eine Einschränkung der Geschäftstätigkeit des
Gegenstand dieses Urteils35 war die Preispolitik der Swiss-                                              Initiators zu einer nachteiligen Einwirkung, die es im Hinblick auf die
                                                                                                         Sicherung des Wettbewerbs zu berücksichtigen gilt.» (Rn 1180, s. auch
com im Zusammenhang mit ADSL-Diensten. Fernmelde-                                                        Rn 1192).
dienstanbieter, welche wie die Swisscom Breitbanddienste                                         32      BVGer vom 18. Dezember 2018, B-831/2011, «SIX Group AG/SIX Pay-
an Endkunden anbieten, müssen das Netzwerk der Swiss-                                                    ment Services gegen Wettbewerbskommission», Rn 1211.
                                                                                                 33      BVGer vom 18. Dezember 2018, B-831/2011, «SIX Group AG/SIX Pay-
com benutzen. Aufgrund der Preise der Swisscom auf der                                                   ment Services gegen Wettbewerbskommission», Rn 1214 ff.
Vorleistungs- und Endkundenebene fühlten sich einzelne                                           34      BVGer vom 18. Dezember 2018, B-831/2011, «SIX Group AG/SIX Pay-
Wettbewerber der Swisscom benachteiligt und warfen letz-                                                 ment Services gegen Wettbewerbskommission», Rn 1218. Das Beweis-
                                                                                                         mass der überwiegenden Wahrscheinlichkeit «entspricht den Prinzipien
terer ein missbräuchliches Verhalten in Form einer Kosten-                                               zur Anwendung des Überzeugungsbeweises als Regelbeweismass und den
Preisschere vor. Das Bundesgericht bestätigte dabei den                                                  hierzu anerkannten Ausnahmen, bei denen ein Überzeugungsbeweis nach
Entscheid der Weko, welche die Swisscom für dieses Verhal-                                               der Natur der Sache nicht möglich oder nicht zumutbar ist ... Denn im Rah-
                                                                                                         men einer Prüfung von einzelnen Tatbeständen des Kartellgesetzes sind viel-
ten mit einer hohen Sanktion belegte. Das Urteil des Bun-                                                fach Einschätzungen mit beizuziehen, die sich auf zukünftige oder alternativ
desgerichts war einerseits umstritten, weil es zu Kosten-/                                               denkbare Ereignisse oder Auswirkungen beziehen. Dies entspricht einer Be-
Preisscheren-Sachverhalten im Zeitpunkt, in welchem sich                                                 rücksichtigung von hypothetischen Kausalzusammenhängen ... Des Wei-
                                                                                                         teren ist es offensichtlich, dass mit zunehmender Komplexität einer Materie
das betreffende Verhalten der Swisscom abspielte, keine ge-                                              auch die Anzahl der denkbaren Varianten eines Geschehensablaufs unwei-
festigte Praxis gab36 und andererseits bemerkenswert, weil                                               gerlich um ein Vielfaches zunimmt. [...]» (Rn 1220).
es zwei wichtige materielle Erkenntnisse des ein Jahr zu-                                        35      BGE 146 II 217 ff., «Swisscom AG und Swisscom (Schweiz) AG gegen
                                                                                                         Wettbewerbskommission i.S. Preispolitik Swisscom ADSL».
vor ergangenen Urteils des Bundesverwaltungsgerichts i.S.                                        36      Vgl. C. Z ELLWEGER /P. Z URKINDEN, Ausdehnung der Sanktionstatbe-
«SIX» offensichtlich nicht übernahm. Dies betrifft zum                                                   stände und die bundesgerichtliche Schaffung von rechtsfreiem Raum
einen die Aussage, wonach ab einem Marktanteil von 50%                                                   für staatliches Handeln im schweizerischen Kartellrecht, in: P. Jung/F.
                                                                                                         Krauskopf/C. Cramer (Hg.), Theorie und Praxis des Unternehmens-
eine Vermutung für eine marktbeherrschende Stellung be-                                                  rechts. Festschrift für Lukas Handschin, Zürich 2020, 847 ff.
steht37 und zum anderen (und vorliegend relevant) die                                            37      BVGer vom 18. Dezember 2018, B-831/2011, «SIX Group AG/SIX Pay-
Feststellung des Bundesverwaltungsgerichts, dass bei Erfül-                                              ment Services gegen Wettbewerbskommission», Rn 442.
                                                                                                 38      Siehe bei Fn 13 ff. oben. Vgl. als Kommentierung des Urteils aus Sicht
lung der Beispieltatbestände nach Artikel 7 Abs. 2 KG keine                                              eines langjährigen Sekretariatsmitarbeiters auch S. BANGERTER , DCC-
«theory of harm» geprüft werden müsse.38 Mit Verweisung                                                  Urteil reduced.Wesentliche Erwägungen aus dem Urteil des Bundes-
auf ein bundesgerichtliches Urteil aus dem Jahr 201239                                                   verwaltungsgerichts in Sachen DCC, Jusletter vom 14. Oktober 2019.
                                                                                                 39      BGer vom 29. Juni 2012, 2C_484/2010, E. 10.1.1 f., «Publigroupe».
stellt das Bundesgericht fest, dass Artikel 7 Abs. 1 KG durch                                    40      BGE 146 II 217 ff E. 4.2, «Swisscom AG und Swisscom (Schweiz) AG
einen Beispielkatalog in Artikel 7 Abs. 2 KG «verdeutlicht»                                              gegen Wettbewerbskommission i.S. Preispolitik Swisscom ADSL».

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sic! 6 | 2021      Alle Rechte vorbehalten. Jede Verwertung in anderen als in den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der schriftlichen Zustimmung des Verlages.
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Philipp Zurkinden | Robert Klotz Die Berücksichtigung von Kausalitäten und kontrafaktischen Szenarien

keitsbeweis genügen soll, so muss diese Aussage des Bun-                                    sein, dass die Marktstellung dem betreffenden Unternehmen
desgerichts dahingehend verstanden werden, dass kontra-                                     die Grundlage bieten muss, sich in einem anderen Markt
faktische Szenarien bei der Beurteilung der Wirkungen der                                   missbräuchlich zu verhalten. Ohne eine solche Grundlage
in Frage stehenden Verhaltensweise zumindest dann zu prü-                                   würde ein Missbrauch nicht möglich sein bzw. würden die
fen sind, wenn solche vernünftigerweise nicht ausgeschlos-                                  anderen Marktakteure dieses auf einem anderen Markt do-
sen werden können; andernfalls wird dem Kriterium des                                       minante Unternehmen disziplinieren. Bei einem solchen Be-
«Herausarbeitens» nach hier vertretener Ansicht nicht Ge-                                   zugserfordernis wäre somit zu analysieren, ob das gleiche
nüge getan.                                                                                 Verhalten auf dem Markt erfolgreich durchgeführt werden
                                                                                            könnte, auch wenn das betreffende Unternehmen auf einem
                                                                                            anderen Markt nicht marktbeherrschend wäre.
3. Fazit aus der jüngsten Rechtsprechung des
                                                                                                  Der vom Bundesverwaltungsgericht verlangte Bezug
   Bundesverwaltungsgerichts und des Bundesgerichts
                                                                                            zwischen diesen Märkten bedeutet somit, dass die Markt-
Nach der obigen Analyse der Lehre und Praxis kann bezüg-                                    beherrschung geeignet ist, die Wettbewerbsverhältnisse auf
lich der Frage des Kausalitätserfordernisses und des Erfor-                                 einem anderen Markt so zu beeinflussen, dass dort das
dernisses von kontrafaktischen Szenarien folgendes Fazit                                    marktbeherrschende Unternehmen erfolgreich ein miss-
nach Schweizer Recht gezogen werden:                                                        bräuchliches Verhalten tätigen kann. Fehlt hingegen ein sol-
      Eine Kausalität zwischen der marktbeherrschenden                                      cher Zusammenhang zwischen der marktbeherrschenden
Stellung und dem Missbrauch wird sowohl in der Lehre wie                                    Stellung und dem missbräuchlichen Verhalten bzw. der
auch in der Praxis abgelehnt.41 Ebenso wird ein Kausalitäts-                                Wettbewerbsverfälschung, ist das Verhalten eines Markt-
erfordernis zwischen Marktbeherrschung und wettbewerbs-                                     beherrschers nicht ursächlich zum effektiven Missbrauch
schädlichen Auswirkungen abgelehnt.42 Dennoch lassen                                        bzw. zur Vergrösserung oder Etablierung seiner Markstellung
die oben erwähnten Erwägungen des Bundesverwaltungs-                                        in einem anderen Markt bzw. zur Wettbewerbsverfälschung.
gerichts zum Bezugserfordernis zwischen dem sog. pri-                                       Somit müssen aus dieser Optik bei dieser Analyse kontrafak-
mären Markt, in welchem die marktbeherrschende Stellung                                     tische Szenarien zwangsläufig berücksichtigt werden.
festgestellt wird, und den Märkten, in denen der Missbrauch                                       Hingegen wird die Kausalität zwischen der miss-
bzw. die Wettbewerbsverfälschung erfolgt, und die in die-                                   bräuchlichen Verhaltensweise und den negativen Auswir-
sem Zusammenhang gemachten Verweisungen43 einen ge-                                         kungen auf den Wettbewerb weder von der oben beschrie-
wissen Interpretationsspielraum zu.                                                         benen neuesten Rechtsprechung noch von der Literatur in
      So erscheint ein Widerspruch in der Argumentation des                                 Frage gestellt.46 Dabei erscheint allerdings das Verhältnis
Bundesverwaltungsgerichts erkennbar, als es einerseits mit                                  zwischen Artikel 7 Abs. 2 KG und den darin enthaltenen
Verweisung auf die bereits erwähnte Rechtsprechung ver-                                     Beispielstatbeständen einerseits und dem Grundtatbestand
langt, dass ein Bezug zwischen dem Markt, auf welchem die                                   in Abs. 1 andererseits in der jüngsten Praxis als nicht ganz
marktbeherrschende Stellung festgestellt wird, und denjeni-                                 klar.
gen Märkten, auf welchen der Missbrauch stattfindet, be-                                          So verneint das Bundesverwaltungsgericht einerseits
steht und dann aber andererseits ein Kausalitätserfordernis                                 das Erfordernis einer «theory of harm» bei Erfüllung eines
zwischen Marktstellung und Missbrauch u.a. damit ver-                                       Beispieltatbestands, weil der Gesetzgeber klargestellt habe,
neint, dass eine Ablehnung eines Geschäfts keine markt-                                     dass mit der Erfüllung der Tatbestände in Abs. 2 eine nach-
beherrschende Stellung bedingt.44                                                           teilige Einwirkung auf den Wettbewerb vorliegt.47 Anderer-
      Entscheidend ist nach hier vertretener Auffassung, ob
der (angebliche) Missbrauch eine Verbesserung der Markt-
stellung des marktbeherrschenden Unternehmens und da-                                       41      Siehe oben, II.1. und 2.
mit die Wettbewerbsschädigung zur Folge hat und hierzu                                      42      A MSTUTZ /C ARRON (Fn. 5), KG 7 N 21. Mit Bezug auf ein Kausalitäts-
erscheint die marktbeherrschende Stellung und dessen Ein-                                           erfordernis zwischen Marktbeherrschung und wettbewerbsschäd-
                                                                                                    lichen Auswirkungen meinen die Autoren, dass bei einer Bejahung
fluss auf die «Missbrauchsmärkte» doch unabdingbar. Das                                             eines solchen Erfordernisses man Gefahr laufen würde, die Markt-
Bundesverwaltungsgericht selber verweist in seiner Zif-                                             beherrschung als solche unter ein Verbot zu stellen. Vgl. oben,
fer 822 auf den oben erwähnten Entscheid der Weko i.S.                                              II. 2. a), Kommentierung des Urteils BVGer vom 18. Dezember 2018,
                                                                                                    B-831/2011, «SIX Group AG/SIX Payment Services gegen Wett-
«Veterinärmedizinische Tests/Migros»,45 in welchem festgestellt                                     bewerbskommission» und Rn 805 ff. des Urteils.
wurde, dass die marktbeherrschende Stellung der Migros                                      43      Vgl. oben, Fn 13 f.
«ermöglicht» habe, den Missbrauch auf einem anderen Markt                                   44      Vgl. oben, Fn 9 f. und Fn 16.
                                                                                            45      S. oben, Fn 15.
durchzuführen. Der gleiche Entscheid schliesst aus diesem                                   46      A MSTUTZ /C ARRON (Fn. 5), KG 7 N 21. Siehe auch BVGer vom 18. De-
«Ermöglichen» denn auch explizit auf eine Kausalität zwi-                                           zember 2018, B-831/2011, «SIX Group AG/SIX Payment Services ge-
schen der Marktstellung und dem missbräuchlichen Verhal-                                            gen Wettbewerbskommission», Rn 1055: «Den Gegenstand des allgemei-
                                                                                                    nen Tatbestandsmerkmals der Wettbewerbsverfälschung bildet das Ausmass
ten (Rn 78). Ob ein «Ermöglichen» in jedem Fall auch eine                                           der potenziellen oder tatsächlichen nachteiligen Einwirkungen auf den be-
Ursache oder eben eine Kausalität bedeuten muss, ist wohl                                           stehenden (Rest-)Wettbewerb auf den massgeblichen Märkten durch die
diskussionswürdig. Es ist daher durchaus möglich, dass wir                                          Ablehnungshandlung des marktbeherrschenden Unternehmens» (Hervor-
                                                                                                    hebung durch den Verf.).
es bezüglich der Kausalität mit einem begrifflichen Problem                                 47      BVGer vom 18. Dezember 2018, B-831/2011, «SIX Group AG/SIX Pay-
zu tun haben. In jedem Fall scheint es aber sachlogisch zu                                          ment Services gegen Wettbewerbskommission», Rn 1126.

                                                         © 2021 sic! Stiftung, Bern / Helbing Lichtenhahn Verlag, Basel
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FORUM – ZUR DISKUSSION | A DISCUTER
seits stellt das gleiche Urteil nur zwei Randziffern später fest,                                III. Bewertung nach EU- Recht
dass die «von einem bestimmten wirtschaftlichen Verhalten aus-
                                                                                                 1. Die Bedeutung des EU-Rechts für die
gehende Behinderung von anderen Wettbewerbsteilnehmern [...]
                                                                                                    schweizerische Kartellrechtspraxis
demzufolge grundsätzlich anhand von dessen Geeignetheit für
eine nachteilige Einwirkung auf den Wettbewerb zu beurteilen                                     Die WEKO orientiert sich in ihrer Praxis stark an der EU-Pra-
[ist].»48 Weiter stellt das Bundesverwaltungsgericht fest, dass                                  xis und Rechtsprechung.55 Dies nicht zuletzt auch deshalb,
die nachteilige Einwirkung auf den Wettbewerb nicht nur                                          weil sich der Schweizer Gesetzgeber bei der Ausgestaltung
rein hypothetischer Natur sein darf, es aber andererseits                                        des Kartellgesetzes stark vom EU-Kartellrecht inspirieren
auch nicht erforderlich sei, dass tatsächlich ein Schaden ein-                                   liess. Die Bestimmungen zu den unzulässigen Wettbewerbs-
tritt. Es sei bereits ausreichend, wenn eine potenzielle Schä-                                   abreden (Artikel 5 KG und Artikel 101 AEUV) weisen die-
digung nachgewiesen werde.49 Schliesslich bestimmt es,                                           selbe Grundstruktur auf. Das Bundesgericht hielt mit Bezug
dass als Beweismass der Wahrscheinlichkeitsbeweis aus-                                           auf vertikale Abreden (Artikel 5 Abs. 4 KG) ausdrücklich
reiche.50                                                                                        fest, dass der Gesetzgeber eine materiell identische Regelung
       Das ein Jahr später ergangene Urteil des Bundesgerichts                                   treffen wollte.56 Das EU-Kartellrecht gilt auch bei der Be-
stellt demgegenüber klar, dass die Beispieltatbestände in                                        urteilung von Horizontalabreden als Orientierungshilfe.57
Abs. 2 von Artikel 7 KG keine per se Missbräuche indizieren                                      Auch bei der Ausgestaltung der Bestimmungen zum Miss-
und daher die konkrete Behinderung oder Benachteiligung                                          brauch einer marktbeherrschenden Stellung (Artikel 7 KG)
von dritten Marktteilnehmern «herauszuarbeiten» ist.51 Da-                                       orientierte sich der Schweizer Gesetzgeber am EU-Kartell-
mit dürfte die Aussage des Bundesverwaltungsgerichts, wo-                                        recht.58 Das Bundesgericht hielt im oben mehrfach zitierten
nach für die Beispielstatbestände in Artikel 7 Abs. 2 KG                                         Urteil i.S. «Swisscom gegen Weko i.S. Preispolitik ADSL» denn
keine Schädigungstheorie untersucht werden müsse und                                             auch explizit fest, dass für die Auslegung von Artikel 7 KG
Artikel 7 KG ein Gefährdungsdelikt darstelle,52 relativiert
und an den Nachweis der Kausalität zwischen dem Miss-
brauch und der Wettbewerbsbeeinträchtigung bzw. dem                                              48      BVGer vom 18. Dezember 2018, B-831/2011, «SIX Group AG/SIX Pay-
Nachweis der schädlichen Auswirkungen höhere Anforde-                                                    ment Services gegen Wettbewerbskommission», Rn 1128.
                                                                                                 49      BVGer vom 18. Dezember 2018, B-831/2011, «SIX Group AG/SIX Pay-
rungen gestellt werden.                                                                                  ment Services gegen Wettbewerbskommission», Rn 1203 ff.
       Ob damit künftig der tatsächliche Eintritt von wett-                                      50      BVGer vom 18. Dezember 2018, B-831/2011, «SIX Group AG/SIX Pay-
bewerbsschädlichen Wirkungen nachgewiesen werden muss,                                                   ment Services gegen Wettbewerbskommission», Rn 1214 ff.
                                                                                                 51      BGE 146 II 217 ff. E. 4.2, «Swisscom AG und Swisscom (Schweiz) AG
ist unklar. Hingegen gibt es gute Gründe dafür, dass bei                                                 gegen Wettbewerbskommission i.S. Preispolitik Swisscom ADSL».
Anwendung des Wahrscheinlichkeitsbeweises im Zu-                                                 52      Vgl. dazu auch BANGERTER (Fn. 38), N 19, 21, 62, 68 f.
sammenhang mit der Kausalität zwischen Missbrauch und                                            53      Zur Begründung seiner Feststellung, wonach für einen rechtsgenüg-
                                                                                                         lichen Nachweis von kartellrechtlichen Tatbestandsmerkmalen bei
Wettbewerbsbeeinträchtigung, hypothetische Kausalzusam-                                                  «Vorliegen der Wettbewerbskomplexität» das Beweismass der überwie-
menhänge, sofern nicht bloss theoretischer Natur, zu berück-                                             genden Wahrscheinlichkeit genüge, stellt es fest: «Denn im Rahmen
sichtigen sind. Dies wird bereits vom Bundesverwaltungs-                                                 einer Prüfung von einzelnen Tatbeständen des Kartellgesetzes sind vielfach
                                                                                                         Einschätzungen mit einzubeziehen, die sich auf zukünftige oder alternativ
gericht selber in seinem Urteil i.S. «SIX» bestätigt.53 Auch in                                          denkbare Ereignisse oder Auswirkungen beziehen»(BVGer vom 18. De-
der Rechtsprechung, auf welche das Bundesverwaltungs-                                                    zember 2018, B-831/2011, «SIX Group AG/SIX Payment Services ge-
gericht verweist, wird darauf hingewiesen, «dass mit zuneh-                                              gen Wettbewerbskommission», Rz 1219 f.).
                                                                                                 54      BVGer vom 14. September 2015, B-7633/2009, «Swisscom AG und
mender Komplexität auch die Anzahl aller denkbaren Varianten                                             Swisscom (Schweiz) AG gegen Wettbewerbskommission i.S. ADSL
eines Geschehensablaufs unweigerlich um ein Vielfaches zu-                                               II», Rn 163. Vgl. auch BVGer vom 18. Dezember 2018, B-831/2011,
nimmt».54 Ob in diesem Zusammenhang die Weko bei der                                                     «SIX Group AG/SIX Payment Services gegen Wettbewerbskommis-
                                                                                                         sion», Rn 1220. Siehe auch den BGE 121 III 358 ff., auf den trotz des-
Prüfung von Auswirkungen auf den Wettbewerb eines be-                                                    sen zivilrechtliche Natur ebenfalls verwiesen wird und in dessen E. 5
stimmten Marktes aufgrund des Untersuchungsgrundsatzes                                                   die Vorinstanz aufgefordert wird, die Grundlagen zur Beurteilung des
auch kontrafaktische Szenarien zu berücksichtigen hat, ergibt                                            hypothetischen Kausalverlaufs besser abzuklären. Ebenso das BGE
                                                                                                         107 II 269 ff. E. 1b, welches ebenfalls die überwiegende Wahrschein-
sich wohl nur aus dem konkreten Einzelfall. Auch unter Be-                                               lichkeit für einen bestimmten Kausalverlauf als genügend erachtet.
rücksichtigung des verlangten Wahrscheinlichkeitsbeweises                                                Anders verhält es sich, wenn nach den besonderen Umständen des
sollte aber die Berücksichtigung von kontrafaktischen Szena-                                             Falles weitere Möglichkeiten bestehen, die neben der behaupteten Ur-
                                                                                                         sachenfolge ebenso ernst in Frage kommen oder sogar näher liegen.
rien mit der neuesten Rechtsprechung des Bundesgerichts i.S.                                     55      Vgl. S. BANGERTER /B. Z IRLICK , in: R. Zäch/R. Arnet/M. Baldi/R. Kiener/
«ADSL», die eine strengere Betrachtungsweise bezüglich des                                               O. Schaller/F. Schraner/A. Spühler (Hg.), KG. Kommentar zum Bun-
Nachweises der Wettbewerbsverfälschung zeigt, zumindest                                                  desgesetz über Kartelle und andere Wettbewerbsbeschränkungen, Zü-
                                                                                                         rich 2018, KG 5 N 41.
dann gewährleistet sein, wenn diese im Kausalverlauf ver-                                        56      Vgl. BGE 143 II 297 ff. E. 6.2.3, «Gaba», s. auch E. VII der Weko-Ver-
nünftigerweise nicht ausgeschlossen werden können.                                                       tikalbekanntmachung.
                                                                                                 57      A. H EINEMANN, Das Gaba-Urteil des Bundesgerichts: Ein Meilenstein
                                                                                                         des Kartellrechts, ZSR 2018, 112.
                                                                                                 58      Vgl. BGE 139 I 72 ff. E. 8.2.3, «Publigroupe SA und Mitb. gegen Wett-
                                                                                                         bewerbskommission» und BGE 146 II 217, «Swisscom AG und Swiss-
                                                                                                         com (Schweiz) AG gegen Wettbewerbskommission i.S. Preispolitik
                                                                                                         Swisscom ADSL»; Botschaft zu einem Bundesgesetz über Kartelle und
                                                                                                         andere Wettbewerbsbeschränkungen vom 23. November 1994 (Bot-
                                                                                                         schaft KG), BBl 1995 I 468 ff., 494 und 531.

                                                              © 2021 sic! Stiftung, Bern / Helbing Lichtenhahn Verlag, Basel
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Philipp Zurkinden | Robert Klotz Die Berücksichtigung von Kausalitäten und kontrafaktischen Szenarien

auf die Literatur und Praxis zu Artikel 102 AEUV zurück-                                     den Erläuterungen zu den Prioritäten der Kommission bei
gegriffen werden könne.59                                                                    der Anwendung von Artikel 102 AEUV auf Fälle von Behin-
     Im Gegensatz zur zuvor beschriebenen wettbewerb-                                        derungsmissbrauch durch marktbeherrschende Unterneh-
lichen Durchsetzungspraxis in der Schweiz befassen sich                                      men. Darin stellte sie erstmals die Regel auf, dass bei jedem
die Europäische Kommission («Kommission») und die EU-                                        einzelnen Verfahren die tatsächliche Situation auf dem rele-
Gerichte ausdrücklich mit dem kontrafaktischen Szenario.                                     vanten Markt mit einer kontrafaktischen Fallkonstellation,
Daher wird zunächst separat auf die Frage eingegangen, in-                                   in der das marktbeherrschende Unternehmen nicht auf die
wieweit das kontrafaktische Szenario nach EU-Recht Berück-                                   fragliche Verhaltensweise zurückgreift, verglichen werden
sichtigung findet (s. unten, 2.). Im Anschluss wird auf das                                  muss.66
Erfordernis einer Kausalbeziehung zwischen Marktbeherr-                                            Auch in den Leitlinien für die nationalen Gerichte zur
schung und Missbrauchsverhalten sowie zwischen Miss-                                         Schätzung des auf den mittelbaren Abnehmer abgewälzten
brauchsverhalten und Wettbewerbsschädigung im EU-Recht                                       Preisaufschlags greift die Kommission auf die Erstellung
näher eingegangen (s. unten, 3.).                                                            von kontrafaktischen Szenarien zurück. Sie stellt dort ver-
                                                                                             schiedene Methoden und Techniken vor, um kontrafakti-
                                                                                             sche Szenarien anzufertigen. Sie erklärt darin ausdrücklich,
2. Berücksichtigung von kontrafaktischen Szenarien
                                                                                             dass kontrafaktische Szenarien von den Wirtschaftswissen-
   nach EU-Recht
                                                                                             schaften und der Rechtsprechung entwickelt wurden, um
Der EuGH berücksichtigte das kontrafaktische Szenario be-                                    die Auswirkungen einer vermuteten Zuwiderhandlung ge-
reits im Jahr 1966 im Urteil «Société Technique Minière».                                    gen die Wettbewerbsvorschriften von anderen Faktoren zu
Darin wies er darauf hin, dass sich eine wettbewerbs-                                        isolieren, die sich ebenfalls auf den beobachteten Markt
beschränkende Vereinbarung nach Artikel 101 AEUV aus                                         auswirken können.67
der Gesamtheit oder einem Teil der Bestimmungen der Ver-                                           Auch die neuere EU-Rechtsprechung verlangt, dass die
einbarung selbst ergeben müsse. «Damit die Vereinbarung                                      Behörde kontrafaktische Vorbringen der Parteien zu prüfen
vom Verbot erfasst wird, müssen Voraussetzungen vorliegen, aus                               hat, wenn das betreffende Unternehmen sich darauf beruft.
denen sich insgesamt ergibt, dass der Wettbewerb tatsächlich                                 So stellte der EuGH in der Sache Intel im Jahr 2017 fest,
spürbar verhindert, eingeschränkt oder verfälscht worden ist.                                dass, «wenn das betroffene Unternehmen im Verwaltungsver-
Hierbei ist auf den Wettbewerb abzustellen, wie er ohne die strei-                           fahren, gestützt auf Beweise, geltend macht, dass sein Verhalten
tige Vereinbarung bestehen würde.»60                                                         nicht geeignet gewesen sei, den Wettbewerb zu beschränken und
      Die Prüfung des kontrafaktischen Szenarios ist heute                                   insbesondere die beanstandeten Verdrängungswirkungen zu er-
bei der Anwendung von Artikel 101 und 102 AEUV gängige                                       zeugen», die Kommission nicht nur verpflichtet ist, das Aus-
Praxis.61 Dies war nicht immer der Fall, denn zunächst be-                                   mass der beherrschenden Stellung des Unternehmens auf
rücksichtigten die Kommission und die EU-Gerichte allein                                     dem massgeblichen Markt und den Umfang der Markt-
bestimmte, als wettbewerbswidrig eingestufte Verhaltens-                                     erfassung durch die beanstandete Praxis, sondern auch
weisen (sog. form-based approach) und stellten die Frage                                     das Vorliegen einer eventuellen Strategie zur Verdrängung
nach den wettbewerblichen Auswirkungen der fraglichen                                        der mindestens ebenso leistungsfähigen Wettbewerbers zu
Handlung auf das konkrete Marktumfeld zurück.62                                              prüfen.68
      Problematisch war dabei jedoch, dass viele als miss-                                         Ebenso führte der EuGH in der Rechtssache Generics
bräuchlich eingestufte Verhaltensweisen auch wettbewerbs-                                    (UK) aus, dass bei der Beurteilung der Auswirkungen einer
fördernd wirken können.63 Bei der Analyse des fraglichen
Verhaltens wurden daher zunehmend die konkreten Markt-
                                                                                             59      BGE 146 II 217 ff. E. 4.3, «Swisscom AG und Swisscom (Schweiz) AG
umstände berücksichtigt, und zwar durch die Erstellung                                               gegen Wettbewerbskommission i.S. Preispolitik Swisscom ADSL» mit
eines kontrafaktischen Szenarios. In der Praxis der Kommis-                                          Verweisung auf weitere Rechtsprechung.
sion erfolgte dies zunächst im Rahmen der Fusionskon-                                        60      EuGH vom 30. Juni 1966, C-56/65, «Société Technique Minière»,
                                                                                                     303 f.
trolle. In ihren Leitlinien zur Bewertung horizontaler Zu-                                   61      Vgl. unten.
sammenschlüsse führte die Kommission aus, dass in den                                        62      EuGH vom 13. Februar 1979, 85/76, «Hoffmann-La Roche», Rn 89;
meisten Fällen die zum Zeitpunkt des Zusammenschlusses                                               EuG vom 17. Dezember 2003, T-219/99, «British Airways», Rn 293.
                                                                                             63      Die Zukunft der Missbrauchsaufsicht in einem ökonomisierten Wett-
vorherrschenden Wettbewerbsbedingungen der Vergleichs-                                               bewerbsrecht, Tagung des Arbeitskreises Kartellrecht, 20.9.2007, Hin-
massstab zur Bewertung der Auswirkungen einer Fusion                                                 tergrundpapier des BKartA, 5.
sind. «Unter besonderen Umständen kann die Kommission je-                                    64      Leitlinien zur Bewertung horizontaler Zusammenschlüsse, ABl. 2004,
                                                                                                     C 31/5, Rn 9.
doch zukünftige Änderungen im Markt berücksichtigen, die mit                                 65      Vgl. Entscheidung der Kommission vom 28. August 2009 zur Feststel-
einiger Sicherheit erwartet werden können.»64 Sie prüft in ihren                                     lung der Vereinbarkeit eines Zusammenschlusses mit dem Gemein-
fusionskontrollrechtlichen Freigabebeschlüssen daher re-                                             samen Markt und dem EWR-Abkommen, Sache COMP/M.5440 –
                                                                                                     Lufthansa/Austrian Airlines, Rn 57 ff.
gelmässig das kontrafaktische Szenario (ex-ante Betrach-                                     66      Mitteilung der Kommission, Erläuterungen zu den Prioritäten bei der
tung).65                                                                                             Anwendung von Artikel 82 des EG-Vertrags auf Fälle von Behin-
      Sodann war auch in der nachträglichen Wettbewerbs-                                             derungsmissbrauch durch marktbeherrschende Unternehmen, ABI.
                                                                                                     vom 24. Februar 2009, Nr. C 45, 7, Rn 21.
aufsicht eine Verlagerung hin zum Auswirkungsgrundsatz                                       67      Abl. vom 9. August 2019, Nr. C 267, 4, Rn. 85 ff.
(sog. effects-based approach) zu beobachten, beginnend mit                                   68      EuGH, NZKart 2017, 525 ff., «Intel».

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