Die Berücksichtigung von Kausalitäten und kontrafaktischen Szenarien im Schweizer und EU-Kartellrecht
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FORUM – ZUR DISKUSSION | A DISCUTER Philipp Zurkinden | Robert Klotz Die Berücksichtigung von Kausalitäten und kontrafaktischen Szenarien im Schweizer und EU-Kartellrecht Der Beitrag befasst sich mit der Frage, inwiefern die Cet article aborde la question de savoir dans quelle Schweizer Wettbewerbskommission und die europäische mesure la Commission suisse de la concurrence et la Kommission in Verfahren der Wettbewerbsaufsicht Kau- Commission européenne tiennent compte, ou doivent salitäten und kontrafaktische Szenarien berücksichtigt tenir compte, des liens de causalité et des scénarios bzw. berücksichtigen muss. Beiden Rechtsordnungen ist contrefactuels dans les procédures de surveillance de gemeinsam, dass volkswirtschaftlich oder sozial schäd- la concurrence. Les deux systèmes juridiques ont pour liche Auswirkungen von Kartellen und anderen Wett- objectif de prévenir les effets économiquement ou socia- bewerbsbeschränkungen verhindert werden sollen. Da lement néfastes des cartels et autres restrictions de la sie einen wirkungsbasierten Ansatz verfolgen, stellt sich concurrence. Avec leur approche fondée sur les effets, die Frage, welche Wirkungen im Markt zu beobachten il se pose la question de savoir quels effets pourraient wären, falls das fragliche Verhalten nicht stattgefunden être observés sur le marché si le comportement discu- hätte. In dem Beitrag wird anhand der Kartellrechtspraxis table n’avait pas eu lieu. Sur la base de la pratique du in der Schweiz und der EU untersucht, ob eine Kausalität droit de la concurrence en Suisse et dans l’UE, l’article zwischen Marktbeherrschung und angeblich unzuläs- s’interroge sur la nécessité d’établir un lien de causalité sigem Verhalten bzw. zwischen Missbrauch und Wett- entre la position dominante sur le marché et le compor- bewerbsverfälschung erforderlich ist und im Verfahren tement présumé illicite, ainsi qu’entre l’abus de position zur Anwendung von Artikel 7 KG bzw. Artikel 102 AEUV dominante et la distorsion de la concurrence. Il examine kontrafaktische Szenarien zu berücksichtigen sind. également si des scénarios contrefactuels doivent être Dabei zeigt sich, dass die Praxis in der Schweiz und in der pris en compte dans la procédure d’application de l’art. 7 EU sich teilweise deckt, aber teilweise auch voneinander LCart ou de l’art. 102 TFUE. Dans ce contexte, il apparaît abweicht. Aufgrund der Bedeutung des EU-Rechts ist que les pratiques en Suisse et dans l’UE ne coïncident dieser Vergleich für die Schweizer Praxis von Relevanz. que partiellement. En raison du poids du droit européen, cette comparaison est importante pour la pratique suisse. I. Ausgangslage und Fragestellung III. Bewertung nach EU- Recht 1. Die Bedeutung des EU-Rechts für die II. Bewertung nach Schweizer Recht schweizerische Kartellrechtspraxis 1. Grundlagen 2. Berücksichtigung von kontrafaktischen Szenarien 2. Jüngste Rechtsprechung des Bundesverwaltungs- nach EU-Recht gerichts und des Bundesgerichts 3. Erfordernis einer Kausalbeziehung nach EU-Recht 3. Fazit aus der jüngsten Rechtsprechung des Bun- desverwaltungsgerichts und des Bundesgerichts IV. Schlussbetrachtung I. Ausgangslage und Fragestellung P HILIPP Z URKINDEN , Dr. iur., Titularprofessor für Kartellrecht an der Universität Basel und Partner bei Der Beitrag befasst sich mit der Frage, inwiefern die Wett- Prager Dreifuss AG in Bern/Zürich/Brüssel. bewerbskommission (Weko) bei der Anwendung von Artikel 7 KG Kausalitäten und kontrafaktische Szenarien be- R OBERT K LOTZ , Partner bei Sheppard Mullin Richter & rücksichtigt bzw. berücksichtigen muss. Das Kartellgesetz Hampton LLP in Brüssel, Lehrbeauftragter für EU-Kartell- bezweckt, volkswirtschaftlich oder sozial schädliche Auswir- recht am Europainstitut des Saarlandes, an der FU Berlin kungen von Kartellen und anderen Wettbewerbsbeschrän- und am ZEI Bonn. kungen zu verhindern. Indem das Kartellgesetz einen wir- Dieser Aufsatz beruht auf einem Gutachten, das die beiden kungsbasierten Ansatz verfolgt, stellt sich – nicht nur – bei Autoren für einen gemeinsamen Klienten verfasst haben. Missbrauchsfällen die Frage, welche Wirkungen im Markt Dabei handelt es sich um Swisscom. Der Artikel gibt die zu beobachten wären, falls das fragliche Verhalten nicht persönliche Meinung der Autoren wieder. stattgefunden hätte. © 2021 sic! Stiftung, Bern / Helbing Lichtenhahn Verlag, Basel sic! 6 | 2021 Alle Rechte vorbehalten. Jede Verwertung in anderen als in den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der schriftlichen Zustimmung des Verlages. Tous droits réservés. Toute représentation ou reproduction, intégrale ou partielle, faite sans le consentement préalable de la maison d’édition, est interdite. Auch auf www.legalis.ch und swisslex.ch / Également sur www.legalis.ch et swisslex.ch
Philipp Zurkinden | Robert Klotz Die Berücksichtigung von Kausalitäten und kontrafaktischen Szenarien Im Entscheid «Geschäftskunden Preissysteme für adres- halten bzw. zwischen Missbrauch und Wettbewerbsverfäl- sierte Briefsendungen» vom 30. Oktober 2017 sanktionierte schung erforderlich ist und im Verfahren zur Anwendung die Weko die Schweizerische Post wegen unzulässiger Ver- von Artikel 7 KG kontrafaktische Szenarien zu berücksichti- haltensweisen nach Artikel 7 KG. Sie qualifizierte dabei die gen sind. Dabei zeigt sich, dass die Ausgangslage bzw. Praxis uneinheitliche Anwendung des Preis- und Rabattsystems in der Schweiz und in der EU nicht deckungsgleich ist, wes- der Post gegenüber den Kunden der Post als Diskriminie- halb die Beantwortung der Frage unter den beiden Rechts- rung i.S.v. Artikel 7 Abs 2 Bst. b KG. In den rechtlichen Er- ordnungen jeweils unterschiedlich angegangen wird. wägungen betonte die Weko unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts i.S. «Sank- II. Bewertung nach Schweizer Recht tionsverfügung – Preispolitik Swisscom ADSL»,1 im Rahmen einer Prüfung von einzelnen Tatbeständen des Kartellgeset- 1. Grundlagen zes vielfach Einschätzungen miteinzubeziehen, die sich auf zukünftige oder alternativ denkbare Ereignisse oder Aus- Die Frage der allgemeinen Notwendigkeit von kontrafakti- wirkungen beziehen.2 Diese Aussage wurde unter dem Titel schen Szenarien bei der Anwendung des KG wird weder in «Beweismass» gemacht. Bestehen im Einzelfall «komplexe der kartellrechtlichen Lehre noch in der einschlägigen wirtschaftliche Sachverhalte mit multiplen Wirkungszu- Rechtsprechung diskutiert, geschweige denn eine solche sammenhängen», so soll der Nachweis des Wettbewerbs- Notwendigkeit bejaht. verstosses mittels eines Wahrscheinlichkeitsbeweises genü- Aus der Rechtsprechung, welche nachstehend disku- gen.3 Wie nachstehend aufgezeigt wird, erscheint den Auto- tiert wird, lässt sich indessen der Schluss ziehen, dass kon- ren diese auf das Beweismass beschränkte Sichtweise zu trafaktische Szenarien im Rahmen von Kausalitätserforder- kurz gegriffen. Können alternative Kausalverläufe vernünf- nissen zwischen Tatbestandselementen in Artikel 7 KG tigerweise nicht ausgeschlossen werden, so müssen kon- durchaus relevant sind. Die Frage der Kausalität zwischen trafaktische Szenarien auch im Rahmen eines Wahrschein- den verschiedenen Tatbestandselementen in Artikel 7 KG, lichkeitsbeweises geprüft werden, andernfalls Artikel 7 KG der das materiellrechtliche «Pendant» zu Artikel 102 AEUV faktisch zur per se Verbotsnorm würde, was aus verfassungs- bildet, wird in der neuesten Schweizer Literatur folgender- rechtlicher Perspektive, aber auch aus rechtsvergleichender massen beantwortet: Sicht mit Hinblick auf die EU-Rechtsprechung und Anwen- – Ein Kausalzusammenhang zwischen der marktbeherr- dungspraxis, insbesondere zu Artikel 102 AEUV, abzu- schenden Stellung und dem missbräuchlichen Verhalten lehnen ist. wird in der neueren Lehre und Rechtsprechung grundsätz- Die Frage, ob und inwiefern bei der materiellrecht- lich verneint. Ein solcher Zusammenhang sei wettbe- lichen Beurteilung von Artikel 7 KG kontrafaktische Szena- werbstheoretisch nicht relevant.4 Im Basler Kommentar, rien berücksichtigt werden müssen, hängt im Wesentlichen dessen letzte verfügbare Auflage allerdings aus dem Jahr davon ab, ob zwischen verschiedenen Tatbestandselemen- 2009 stammt, wurde noch festgestellt, dass die Mehrheit ten Kausalitätserfordernisse bestehen, welche den Einbezug der schweizerischen Lehre eine Kausalität zwischen dem von kontrafaktischen Szenarien erfordern. Bei der Prüfung Einsatz der Marktbeherrschung und dem Missbrauch be- eines kontrafaktischen Szenarios wird die Situation, in der jahe,5 um dieses Kausalerfordernis aber dann doch schluss- die (vermutete) Zuwiderhandlung begangen wurde, mit endlich zu verneinen.6 einer hypothetischen Situation verglichen, in der diese frag- – Ebenso wird in der Lehre ein Kausalitätserfordernis zwi- liche Handlung nicht oder unter anderen Umständen vor- schen der marktbeherrschenden Stellung und wettbe- genommen wurde. Dies gilt auch bei der Beurteilung eines werbswidrigen Auswirkungen verneint.7 Die Begründung Sachverhalts, der sich ergäbe, wenn das betreffende Unter- geht dahin, dass nach dem schweizerischen und europä- nehmen nicht marktbeherrschend wäre. ischen Konzept der Missbrauchskontrolle (d.h. Artikel 7 Kontrafaktische Szenarien spielen eine Rolle sowohl KG bzw. Artikel 102 AEUV) das Bestehen einer markt- bei einer Kausalität zwischen Marktbeherrschung und miss- bräuchlichem Verhalten bzw. Wettbewerbsverfälschung und derjenigen zwischen Missbrauch und Wettbewerbsverfäl- 1 BVGer vom 14. September 2015, B-7633/2009. schung. Bei der Frage der Kausalität zwischen Marktstellung 2 Verfügung der WEKO vom 30. Oktober 2017, Geschäftskunden Preis- und missbräuchlichem Verhalten geht es darum zu beurtei- systeme für adressierte Briefsendungen, 152, N 639. len, ob die Marktstellung Ausgangspunkt bzw. Mittel des 3 Idem. 4 L. S TÄUBLE /F. S CHR ANER , in: R. Zäch/R. Arnet/M. Baldi/R. Kiener/ Missbrauchs ist. Wie sich aus der Fragestellung ergibt, be- O. Schaller/F. Schraner/A. Spühler (Hg.), KG. Kommentar zum Bun- trifft diese Frage somit den Bezug zwischen Marktstellung desgesetz über Kartelle und andere Wettbewerbsbeschränkungen, und Missbrauchsverhalten und auch die Verbindung zwi- Zürich 2018, KG 7 N 22 ff., mit Verweisungen auf weitere Literatur und Rechtsprechung. schen dem beherrschten Markt und denjenigen, auf wel- 5 M. A MSTUTZ /B. C ARRON, in: M. Amstutz/M. Reinert (Hg.), Basler chen die missbräuchlichen Verhaltensweisen erfolgen. Kommentar zum Kartellgesetz (KG), Basel 2009, KG 7 N 20, mit ver- Nachstehend wird anhand der Kartellrechtspraxis in schiedenen Verweisungen. 6 A MSTUTZ /C ARRON (Fn. 8), KG 7 N 21. der Schweiz und der EU untersucht, ob eine Kausalität zwi- 7 S TÄUBLE /S CHR ANER (Fn. 7), KG 7 N 28 f. (wiederum mit Verweisung schen Marktbeherrschung und angeblich unzulässigem Ver- auf A MSTUTZ /C ARRON [Fn. 8]). © 2021 sic! Stiftung, Bern / Helbing Lichtenhahn Verlag, Basel Alle Rechte vorbehalten. Jede Verwertung in anderen als in den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der schriftlichen Zustimmung des Verlages. sic! 6 | 2021 Tous droits réservés. Toute représentation ou reproduction, intégrale ou partielle, faite sans le consentement préalable de la maison d’édition, est interdite. Auch auf www.legalis.ch und swisslex.ch / Également sur www.legalis.ch et swisslex.ch
FORUM – ZUR DISKUSSION | A DISCUTER beherrschenden Stellung alleine grundsätzlich nicht kar- mic Currency Conversion; DCC) an. Damit die Händler tellrechtswidrig sein könne.8 diese neue Funktion ihrerseits den betreffenden Karteninha- – Hingegen wird in der Lehre ein Kausalitätserfordernis bern anbieten konnten, mussten diese ein Zahlkartentermi- zwischen der missbräuchlichen Verhaltensweise und den nal haben, das mit dieser DCC-Funktion kompatibel ist. wettbewerbswidrigen Auswirkungen, d.h. der Wettbe- Diese Kompatibilität war gemäss SIX nur bei den Zahlkar- werbsschädigung, bejaht.9 tenterminals einer Schwestergesellschaft von SIX gegeben Die neuere Praxis folgt in diesen Fragen grundsätzlich und nicht bei anderen Terminals. Der Zugang zu dieser der Lehre und verlangt grundsätzlich keine Kausalität zwi- Funktion wurde dritten Terminalherstellern verweigert. schen der marktbeherrschenden Stellung und der Wett- bewerbsschädigung.10 Sie macht jedoch eine Ausnahme im aa) Kausalitätserfordernis zwischen der Zusammenhang mit Artikel 7 Abs. 2 Bst. c KG («die Erzwin- marktbeherrschenden Stellung und gung unangemessener Preise oder sonstiger unangemessener Ge- der missbräuchlichen Verhaltensweise schäftsbedingungen»), indem die Weko der Meinung ist, dass bzw. Wettbewerbsverfälschung die «Erzwingung» das Erfordernis einer Kausalität zwischen der marktbeherrschenden Stellung und dem missbräuch- Das Bundesverwaltungsgericht hatte sich u.a. mit den Vor- lichen Verhalten statuiere.11 Es sei gerade die marktbeherr- bringen der Beschwerdeführerinnen auseinanderzusetzen, schende Stellung, welche es dem betreffenden Unterneh- dass zwischen der marktbeherrschenden Stellung und dem men erlaube, Konditionen durchzusetzen, die in einem (angeblichen) Missbrauchsverhalten insofern ein kausaler funktionierenden Wettbewerb nicht möglich wären.12 Zusammenhang bestehen müsse als die Abgrenzung des re- Unklar bleibt allerdings, inwiefern die Weko nicht levanten Marktes «nicht isoliert ohne Rücksicht auf das angeb- trotzdem eine generelle Kausalität zwischen der Marktstel- lich missbräuchliche Verhalten erfolgen [könne]».16 Das Bundes- lung und dem Missbrauch voraussetzt, indem sie verlangt, verwaltungsgericht hält hierzu fest, dass «in Fällen, in denen dass die Märkte, in welchen eine marktbeherrschende Stel- das wirtschaftliche Verhalten auf einem anderen als dem be- lung festgestellt wird, einen Bezug zu denjenigen Märkten herrschten Markt vorgenommen wird und sich auf diesen oder haben, in welchen der Missbrauch erfolgt. In einem älteren auf einen weiteren anderen als den beherrschten Markt auswirkt, Entscheid i.S. «Veterinärmedizinische Tests/Migros» stellte die (liegt) die Grundkonstellation eines Marktmissbrauchs dann Weko nämlich fest: «Die Kausalität zwischen Marktdominanz vor[liegt], wenn zwischen dem Primärmarkt und dem anderen und wettbewerbsschädlichem Verhalten ist vorliegend gegeben. Markt bzw. den anderen Märkten eine spezifische Beziehung auf- Wie soeben dargelegt wurde, ermöglicht es die marktbeherr- grund besonderer Umstände besteht [...] Die Feststellung dieser schende Stellung der Migros auf dem Markt für den Absatz von besonderen Umstände hat aufgrund einer Gesamtschau aller freiwilligen BSE-Schnelltests [...] vermittels der Schlachthöfe die Umstände des Einzelfalls zu erfolgen [...] Soweit die Gesamt- Labors in der Aufnahme und Ausübung des Wettbewerbs zu be- schau ergibt, dass sich das marktbeherrschende Unternehmen hindern».13 Dass die Märkte, in welchen der Missbrauch er- auch ohne besondere Stellung auf dem anderen Markt gegenüber folgt, mit dem Markt, in welchem die Marktbeherrschung den anderen Wettbewerbern unabhängig verhalten kann, ist der festgestellt wird, einen Bezug haben müssen, ist auch in an- wirksame Wettbewerb geschwächt [...] und die Grundkonstel- deren Entscheiden erkennbar.14 lation somit auch in solchen Fällen gegeben».17 Diese Kriterien Auch in der Rechtsprechung unbestritten ist das Kausa- des hinreichenden Zusammenhangs und der besonderen lerfordernis zwischen Missbrauch und wettbewerbsschäd- Umstände setzen gemäss Bundesverwaltungsgericht (ohne lichen Auswirkungen, wie nachfolgend dargestellt wird. weitere Erläuterungen) aber keine Kausalität voraus.18 Gerade in jüngster Vergangenheit haben sich zudem das Bundesverwaltungsgericht und auch das Bundesgericht etwas vertiefter mit der Anwendung von Artikel 7 KG aus- 8 S TÄUBLE /S CHR ANER (Fn. 4), KG 7 N 28 f. einandergesetzt, vor allem auch mit den Kausalitätsmerk- 9 S TÄUBLE /S CHR ANER (Fn. 4), KG 7 N 30 f. 10 A MSTUTZ /C ARRON (Fn. 5) weisen in KG 7 N 19 noch auf eine unein- malen bzw. dem Verhältnis zwischen Abs. 2 und Abs. 1 in heitliche Praxis hin und erwähnen die Fälle «Publigroupe» (Schluss- Artikel 7 KG. bericht des Sekretariats vom 4. November 2002, RPW 2003/1, 87 ff., N 59 und die Verfügung der WEKO vom 20. Oktober 2003 i.S. Veteri- närmedizinische Tests/Migros, RPW 2003/4, 753 ff.). 2. Jüngste Rechtsprechung des 11 RPW 2016/1, 124 ff. 12 RPW 2016/1, 124, N 448; siehe dazu auch S TÄUBLE /S CHR ANER (Fn. 4), Bundesverwaltungsgerichts und des Bundesgerichts KG 7 N 26 ff. 13 RPW 2003/4, 753 ff. N 78. a) Urteil des Bundesverwaltungsgerichts 14 Vgl. etwa BGE 139 I 72 ff. E. 10.1, «Publigroupe SA und Mitb. gegen vom 18. Dezember 2018 i.S. Wettbewerbskommission». «Six Group/Six Payment Services»15 15 BVGer vom 18. Dezember 2018, B-831/2011, «SIX Group AG/SIX Pay- ment Services gegen Wettbewerbskommission». 16 BVGer vom 18. Dezember 2018, B-831/2011, «SIX Group AG/SIX Pay- Der Sachverhalt, der diesem Urteil zugrunde lag, kann kurz ment Services gegen Wettbewerbskommission» Rn 808. wie folgt zusammengefasst werden: der grösste Schweizer 17 BVGer vom 18. Dezember 2018, B-831/2011, «SIX Group AG/SIX Pay- ment Services gegen Wettbewerbskommission», Rn 822. Acquirer SIX Multipay (SIX) bot seinen Händlern eine neue 18 BVGer vom 18. Dezember 2018, B-831/2011, «SIX Group AG/SIX Pay- Funktion zur dynamischen Währungsumrechnung (Dyna- ment Services gegen Wettbewerbskommission», Rn 822 f. mit Verwei- © 2021 sic! Stiftung, Bern / Helbing Lichtenhahn Verlag, Basel sic! 6 | 2021 Alle Rechte vorbehalten. Jede Verwertung in anderen als in den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der schriftlichen Zustimmung des Verlages. Tous droits réservés. Toute représentation ou reproduction, intégrale ou partielle, faite sans le consentement préalable de la maison d’édition, est interdite. Auch auf www.legalis.ch und swisslex.ch / Également sur www.legalis.ch et swisslex.ch
Philipp Zurkinden | Robert Klotz Die Berücksichtigung von Kausalitäten und kontrafaktischen Szenarien Während das Bundesverwaltungsgericht zwar einen die Beschwerde an das Bundesgericht i.S. «Hallenstadion» hinreichenden Zusammenhang zwischen den involvierten brachte keine Änderung der Praxis, wonach kein Kausal- Märkten erfordert, verneint es hingegen ein Kausalitätserfor- zusammenhang zwischen der marktbeherrschenden Stel- dernis zwischen Marktstellung und dem Missbrauchsverhal- lung und dem Missbrauchsverhalten verlangt wird.27 ten für die Verwirklichung eines Beispielstatbestands nach Die Begründung der Ablehnung des Kausalitätserfor- Artikel 7 Abs. 2 KG (in concreto Geschäftsverweigerung dernisses zwischen Marktstellung und missbräuchlichem gemäss Artikel 7 Abs. 2 lit. a KG). Das Gericht stellt hierzu Verhalten weist somit zwei Widersprüche auf. Zum einen zunächst fest, dass die Lehre eine solche Kausalität über- wird ein besonderer Bezug des Marktes, auf dem die markt- wiegend ablehne und dass allenfalls vereinzelt eine ab- beherrschende Stellung festgestellt wird, zu denjenigen geschwächte Form im Sinne einer «normativen Kausalität» Märkten verlangt, auf denen sich der Missbrauch manifes- oder aber eine Kausalität ohne irgendwelche Erklärung ver- tiert. Zum anderen erklärt das Bundesverwaltungsgericht, langt werde19. Zur Begründung der Ablehnung der Kau- dass das gleiche Verhalten dann nicht missbräuchlich ist, salität argumentiert es, dass zur Ablehnung eines Geschäfts wenn es von einem nicht marktbeherrschenden Unterneh- keine marktbeherrschende Stellung erforderlich sei. «Die be- men ausgeht. sondere Marktstellung, die bereits eine objektive Voraussetzung Auf das Kausalitätserfordernis zwischen Marktstellung des Tatbestands darstellt, kann nicht darüber hinaus als weitere und wettbewerbsschädlichen Auswirkungen geht das Bun- Voraussetzung in Form von natürlicher Äquivalenz und sozial- desverwaltungsgericht nicht explizit ein. Zwar sind sich die adäquater Adäquanz erforderlich sein, damit ein marktbeherr- Lehre und Praxis einig,28 dass eine solche Kausalität nicht schendes Unternehmen überhaupt eine Geschäftsverweigerung gegeben sein muss, doch zeigen gerade die oben beschriebe- begehen kann. Denn wenn jedes nicht marktbeherrschende Un- nen Erwägungen des Bundesverwaltungsgerichts i.S. «SIX» ternehmen die Eingehung von Geschäftsbeziehungen ablehnen zum Bezugserfordernis zwischen dem Primär- und den üb- kann, obwohl ein solches Verhalten aufgrund der wirtschaftlichen rigen Märkten, auf denen sich der Missbrauch manifestiert, Auswirkungen regelmässig nicht empfehlenswert ist, dann steht dass auch die Frage der Kausalität zwischen Marktstellung einem marktbeherrschenden Unternehmen die Möglichkeit einer und wettbewerbsschädlichen Auswirkungen durchaus rele- Geschäftsverweigerung offensichtlich in jedem Fall offen, weil ein vant ist. derartiges Verhalten aus wirtschaftlichen Gründen regelmässig eher noch geringere Auswirkungen aufweist, ohne dass es weiterer Umstände bedarf, welche die Kausalität begründen.»20 Widersprüchlich erscheint vor diesem Hintergrund allerdings der Anfang dieser Ziffer 825, welche besagt: «Dies [das fehlende Kausalitätserfordernis, Anm. Verf.] ergibt sich schon aus der ausdrücklichen Qualifizierung der Wettbewerbs- sungen auf die schweizerische und europäische Praxis. Bezüglich der widrigkeit einer Geschäftsverweigerung durch marktbeherr- schweizerischen Praxis gerade auf die oben erwähnte Verfügung schende Unternehmen des Gesetzgebers, der im Gegensatz hierzu der WEKO vom 20. Oktober 2003 i.S. Veterinärmedizinische Tests/ Migros, RPW 2003/4, 753 ff. (Fn. 10). Geschäftsverweigerungen von nicht marktbeherrschenden Unter- 19 BVGer vom 18. Dezember 2018, B-831/2011, «SIX Group AG/SIX Pay- nehmen als wettbewerbskonform einstuft.» Das heisst aber nun ment Services gegen Wettbewerbskommission», Rn 826. nichts anderes, als dass nach dem Konzept von Artikel 7 KG 20 BVGer vom 18. Dezember 2018, B-831/2011, «SIX Group AG/SIX Pay- ment Services gegen Wettbewerbskommission», Rn 825. missbräuchliches Verhalten und wettbewerbswidrige Wir- 21 BVGer vom 18. Dezember 2018, B-831/2011, «SIX Group AG/SIX Pay- kungen ohne marktbeherrschende Stellung ausgeschlossen ment Services gegen Wettbewerbskommission», Rn 827 f. sind, was wiederum für einen kausalen Bezug zwischen der 22 BGE 137 II 199 ff., «Eidg. Volkswirtschaftsdepartement gegen Swiss- com (Schweiz) AG und Swisscom (Schweiz) AG gegen Wettbewerbs- Marktstellung und dem missbräuchlichen Verhalten spricht. kommission». In diesem Zusammenhang geht das Bundesverwal- 23 BVGer vom 24. November 2016, B-3618/2013, «Starticket/Ticket- tungsgericht summarisch auf die schweizerische und euro- portal gegen AG Hallenstadion/Ticketcorner AG». 24 EuGH vom 21. März 1972, 6/72, «Euroemballage und Continental päische Praxis ein21 und erwähnt dabei das Urteil des Bun- Can Company/Kommission», EuGH vom 13. Februar 1979, 85/76, desgerichts i.S. «Terminierung Mobilfunk»22 sowie das Urteil «Hoffmann-La Roche» und EuGH vom 14. November 1996, des Bundesverwaltungsgerichts i.S. «Hallenstadion»23 und C-333/94 P, «Tetra Pak». 25 BVGer vom 24. November 2016, B-3618/2013 E. 4.3.4, «Starticket AG/ die Urteile des EuGH i.S. «Continental Can», «Hoffmann-La Ticketportal AG gegen AG Hallenstadion/Ticketcorner AG». Roche» und «Tetra Pak II».24 Die genannten Schweizer Urteile 26 BGE 137 II 199 ff. E. 281, «Eidg. Volkswirtschaftsdepartement gegen analysieren das Bestehen eines Missbrauchs nach Artikel 7 Swisscom (Schweiz) AG und Swisscom (Schweiz) AG gegen Wett- bewerbskommission». Abs. 2 lit. c KG («Erzwingung unangemessener Preise oder sons- 27 BGer vom 12. Februar 2020, 2C_113/2017, «AG Hallenstadion/ tiger unangemessener Geschäftsbeziehungen»). Aus deren Er- Ticketcorner gegen Starticket/Ticketportal» und BVGer vom 24. No- wägungen ergibt sich, dass mit Bezug auf diesen konkreten vember 2016, B-3618/2013, «Starticket/Ticketportal gegen AG Hallen- stadion/Ticketcorner AG», Rn 829 f. Missbrauchssachverhalt normalerweise eine Kausalität zwi- 28 Siehe Fn. 10; vgl. BGE 146 II 217 ff. E. 4.1, «Swisscom AG und Swiss- schen der Marktbeherrschung und der Unangemessenheit com (Schweiz) AG gegen Wettbewerbskommission i.S. Preispolitik von Preisen gegeben sei,25 dass aber mit Bezug auf die Swisscom ADSL», mit Verweis auf BGE 139 I 72 ff. E. 10.1.1, «Publi- groupe»; BGE 137 II 199 ff. E. 4.3.4, «Eidg. Volkswirtschaftsdeparte- Durchsetzung solcher unangemessener Preise das Vorliegen ment gegen Swisscom (Schweiz) AG und Swisscom (Schweiz) AG ge- einer marktbeherrschenden Stellung nicht ausreicht.26 Auch gen Wettbewerbskommission». © 2021 sic! Stiftung, Bern / Helbing Lichtenhahn Verlag, Basel Alle Rechte vorbehalten. Jede Verwertung in anderen als in den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der schriftlichen Zustimmung des Verlages. sic! 6 | 2021 Tous droits réservés. 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FORUM – ZUR DISKUSSION | A DISCUTER bb) Kausalitätserfordernis zwischen Missbrauch werde. «Ob die darin aufgeführten Verhaltensweisen miss- und der Wettbewerbsverfälschung bräuchlich sind, ist allerdings im Zusammenhang mit Artikel 7 Abs. 1 KG zu beurteilen. Mit anderen Worten ist im Einzelfall Mit Bezug auf die Kausalität zwischen dem missbräuchlichen zu prüfen, ob eine Verhaltensweise nach Artikel 7 Abs. 2 KG Verhalten und der Wettbewerbsverfälschung bejaht das Bun- eine Behinderung bzw. Benachteiligung i.S. des Artikels 7 Abs. 1 desverwaltungsgericht zumindest implizit eine solche Kau- KG darstellt [...]. Insofern indizieren die Tatbestände von Abs. 2 salität,29 meint aber in diesem Zusammenhang, dass die nicht per se eine unzulässige Verhaltensweise, weshalb anhand Wettbewerbsverfälschung nicht in Form von tatsächlichen des dualen Prüfungsmusters zu eruieren ist, ob unzulässiges Ver- Auswirkungen nachgewiesen werden müsse; «massgeblich ist halten vorliegt: In einem ersten Schritt sind die Wettbewerbsver- die Wahrscheinlichkeit einer Schädigung und nicht der Nachweis fälschungen (d.h. die Behinderung bzw. Benachteiligung von einer tatsächlich eingetretenen Schädigung».30 Der Gesetzgeber Marktteilnehmern) herauszuarbeiten und in einem zweiten habe durch die Statuierung von Regelbeispielen in Artikel 7 Schritt mögliche Rechtfertigungsgründe («legitimate business Abs. 2 KG klargestellt, dass bei Vorliegen solcher Sachverhalte reasons») zu prüfen».40 in jedem Fall eine nachteilige Auswirkung auf den Wett- Entscheidend ist im bundesgerichtlichen Urteil die bewerb vorliegt und dass in diesem Zusammenhang keine Aussage, dass «die Wettbewerbsverfälschungen (d.h. die Behin- «theory of harm» geprüft werden müsse.31 Ein «monokausaler» derung bzw. Benachteiligung von Marktteilnehmern) heraus- Nachweis von tatsächlichen wettbewerbsschädlichen Auswir- zuarbeiten» sind. Selbst wenn auf der Ebene des Beweis- kungen «allein aufgrund der unangemessenen Verhaltensweise» masses bei zunehmender Komplexität der Wahrscheinlich- sei nicht möglich.32 Beim Beweismass für die Feststellung einer Wett- bewerbsverfälschung nimmt die Weko den Wahrscheinlich- 29 BVGer vom 18. Dezember 2018, B-831/2011, «SIX Group AG/SIX Pay- keitsbeweis bzw. das Beweismass der überwiegenden Wahr- ment Services gegen Wettbewerbskommission», Rn 1124 ff. 30 BVGer vom 18. Dezember 2018, B-831/2011, «SIX Group AG/SIX Pay- scheinlichkeit an.33 Dieses Beweismass gelte (auch) für «den ment Services gegen Wettbewerbskommission», Rn 1207 (s. zur Be- Nachweis des natürlichen Kausalzusammenhangs oder bei hypo- urteilung des Charakters des Tatbestandsmerkmals Rn 1198 ff.). thetischen Kausalzusammenhängen».34 31 BVGer vom 18. Dezember 2018, B-831/2011, «SIX», Rn 1124 ff., 1126. Der Nachweis der Geeignetheit für eine wettbewerbsschädliche Wir- kung reicht aus (vgl. Rn 1128). Eine nachteilige Auswirkung auf den Wettbewerb müsse auch keine Erheblichkeitsschwelle überschreiten b) Urteil des Bundesgerichts vom 9. Dezember 2019 i.S. (Rn 1146). «Da ein marktmissbräuchliches Verhalten angesichts der ohne- «Swisscom gegen Weko i.S. Preispolitik Swisscom hin bereits bestehenden Beeinträchtigung des wirksamen Wettbewerbs keine ADSL» Anwendung von bestimmten Erheblichkeitsschwellen voraussetzt (vgl. Rn. 1146), führt bereits eine Einschränkung der Geschäftstätigkeit des Gegenstand dieses Urteils35 war die Preispolitik der Swiss- Initiators zu einer nachteiligen Einwirkung, die es im Hinblick auf die Sicherung des Wettbewerbs zu berücksichtigen gilt.» (Rn 1180, s. auch com im Zusammenhang mit ADSL-Diensten. Fernmelde- Rn 1192). dienstanbieter, welche wie die Swisscom Breitbanddienste 32 BVGer vom 18. Dezember 2018, B-831/2011, «SIX Group AG/SIX Pay- an Endkunden anbieten, müssen das Netzwerk der Swiss- ment Services gegen Wettbewerbskommission», Rn 1211. 33 BVGer vom 18. Dezember 2018, B-831/2011, «SIX Group AG/SIX Pay- com benutzen. Aufgrund der Preise der Swisscom auf der ment Services gegen Wettbewerbskommission», Rn 1214 ff. Vorleistungs- und Endkundenebene fühlten sich einzelne 34 BVGer vom 18. Dezember 2018, B-831/2011, «SIX Group AG/SIX Pay- Wettbewerber der Swisscom benachteiligt und warfen letz- ment Services gegen Wettbewerbskommission», Rn 1218. Das Beweis- mass der überwiegenden Wahrscheinlichkeit «entspricht den Prinzipien terer ein missbräuchliches Verhalten in Form einer Kosten- zur Anwendung des Überzeugungsbeweises als Regelbeweismass und den Preisschere vor. Das Bundesgericht bestätigte dabei den hierzu anerkannten Ausnahmen, bei denen ein Überzeugungsbeweis nach Entscheid der Weko, welche die Swisscom für dieses Verhal- der Natur der Sache nicht möglich oder nicht zumutbar ist ... Denn im Rah- men einer Prüfung von einzelnen Tatbeständen des Kartellgesetzes sind viel- ten mit einer hohen Sanktion belegte. Das Urteil des Bun- fach Einschätzungen mit beizuziehen, die sich auf zukünftige oder alternativ desgerichts war einerseits umstritten, weil es zu Kosten-/ denkbare Ereignisse oder Auswirkungen beziehen. Dies entspricht einer Be- Preisscheren-Sachverhalten im Zeitpunkt, in welchem sich rücksichtigung von hypothetischen Kausalzusammenhängen ... Des Wei- teren ist es offensichtlich, dass mit zunehmender Komplexität einer Materie das betreffende Verhalten der Swisscom abspielte, keine ge- auch die Anzahl der denkbaren Varianten eines Geschehensablaufs unwei- festigte Praxis gab36 und andererseits bemerkenswert, weil gerlich um ein Vielfaches zunimmt. [...]» (Rn 1220). es zwei wichtige materielle Erkenntnisse des ein Jahr zu- 35 BGE 146 II 217 ff., «Swisscom AG und Swisscom (Schweiz) AG gegen Wettbewerbskommission i.S. Preispolitik Swisscom ADSL». vor ergangenen Urteils des Bundesverwaltungsgerichts i.S. 36 Vgl. C. Z ELLWEGER /P. Z URKINDEN, Ausdehnung der Sanktionstatbe- «SIX» offensichtlich nicht übernahm. Dies betrifft zum stände und die bundesgerichtliche Schaffung von rechtsfreiem Raum einen die Aussage, wonach ab einem Marktanteil von 50% für staatliches Handeln im schweizerischen Kartellrecht, in: P. Jung/F. Krauskopf/C. Cramer (Hg.), Theorie und Praxis des Unternehmens- eine Vermutung für eine marktbeherrschende Stellung be- rechts. Festschrift für Lukas Handschin, Zürich 2020, 847 ff. steht37 und zum anderen (und vorliegend relevant) die 37 BVGer vom 18. Dezember 2018, B-831/2011, «SIX Group AG/SIX Pay- Feststellung des Bundesverwaltungsgerichts, dass bei Erfül- ment Services gegen Wettbewerbskommission», Rn 442. 38 Siehe bei Fn 13 ff. oben. Vgl. als Kommentierung des Urteils aus Sicht lung der Beispieltatbestände nach Artikel 7 Abs. 2 KG keine eines langjährigen Sekretariatsmitarbeiters auch S. BANGERTER , DCC- «theory of harm» geprüft werden müsse.38 Mit Verweisung Urteil reduced.Wesentliche Erwägungen aus dem Urteil des Bundes- auf ein bundesgerichtliches Urteil aus dem Jahr 201239 verwaltungsgerichts in Sachen DCC, Jusletter vom 14. Oktober 2019. 39 BGer vom 29. Juni 2012, 2C_484/2010, E. 10.1.1 f., «Publigroupe». stellt das Bundesgericht fest, dass Artikel 7 Abs. 1 KG durch 40 BGE 146 II 217 ff E. 4.2, «Swisscom AG und Swisscom (Schweiz) AG einen Beispielkatalog in Artikel 7 Abs. 2 KG «verdeutlicht» gegen Wettbewerbskommission i.S. Preispolitik Swisscom ADSL». © 2021 sic! Stiftung, Bern / Helbing Lichtenhahn Verlag, Basel sic! 6 | 2021 Alle Rechte vorbehalten. Jede Verwertung in anderen als in den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der schriftlichen Zustimmung des Verlages. Tous droits réservés. Toute représentation ou reproduction, intégrale ou partielle, faite sans le consentement préalable de la maison d’édition, est interdite. Auch auf www.legalis.ch und swisslex.ch / Également sur www.legalis.ch et swisslex.ch
Philipp Zurkinden | Robert Klotz Die Berücksichtigung von Kausalitäten und kontrafaktischen Szenarien keitsbeweis genügen soll, so muss diese Aussage des Bun- sein, dass die Marktstellung dem betreffenden Unternehmen desgerichts dahingehend verstanden werden, dass kontra- die Grundlage bieten muss, sich in einem anderen Markt faktische Szenarien bei der Beurteilung der Wirkungen der missbräuchlich zu verhalten. Ohne eine solche Grundlage in Frage stehenden Verhaltensweise zumindest dann zu prü- würde ein Missbrauch nicht möglich sein bzw. würden die fen sind, wenn solche vernünftigerweise nicht ausgeschlos- anderen Marktakteure dieses auf einem anderen Markt do- sen werden können; andernfalls wird dem Kriterium des minante Unternehmen disziplinieren. Bei einem solchen Be- «Herausarbeitens» nach hier vertretener Ansicht nicht Ge- zugserfordernis wäre somit zu analysieren, ob das gleiche nüge getan. Verhalten auf dem Markt erfolgreich durchgeführt werden könnte, auch wenn das betreffende Unternehmen auf einem anderen Markt nicht marktbeherrschend wäre. 3. Fazit aus der jüngsten Rechtsprechung des Der vom Bundesverwaltungsgericht verlangte Bezug Bundesverwaltungsgerichts und des Bundesgerichts zwischen diesen Märkten bedeutet somit, dass die Markt- Nach der obigen Analyse der Lehre und Praxis kann bezüg- beherrschung geeignet ist, die Wettbewerbsverhältnisse auf lich der Frage des Kausalitätserfordernisses und des Erfor- einem anderen Markt so zu beeinflussen, dass dort das dernisses von kontrafaktischen Szenarien folgendes Fazit marktbeherrschende Unternehmen erfolgreich ein miss- nach Schweizer Recht gezogen werden: bräuchliches Verhalten tätigen kann. Fehlt hingegen ein sol- Eine Kausalität zwischen der marktbeherrschenden cher Zusammenhang zwischen der marktbeherrschenden Stellung und dem Missbrauch wird sowohl in der Lehre wie Stellung und dem missbräuchlichen Verhalten bzw. der auch in der Praxis abgelehnt.41 Ebenso wird ein Kausalitäts- Wettbewerbsverfälschung, ist das Verhalten eines Markt- erfordernis zwischen Marktbeherrschung und wettbewerbs- beherrschers nicht ursächlich zum effektiven Missbrauch schädlichen Auswirkungen abgelehnt.42 Dennoch lassen bzw. zur Vergrösserung oder Etablierung seiner Markstellung die oben erwähnten Erwägungen des Bundesverwaltungs- in einem anderen Markt bzw. zur Wettbewerbsverfälschung. gerichts zum Bezugserfordernis zwischen dem sog. pri- Somit müssen aus dieser Optik bei dieser Analyse kontrafak- mären Markt, in welchem die marktbeherrschende Stellung tische Szenarien zwangsläufig berücksichtigt werden. festgestellt wird, und den Märkten, in denen der Missbrauch Hingegen wird die Kausalität zwischen der miss- bzw. die Wettbewerbsverfälschung erfolgt, und die in die- bräuchlichen Verhaltensweise und den negativen Auswir- sem Zusammenhang gemachten Verweisungen43 einen ge- kungen auf den Wettbewerb weder von der oben beschrie- wissen Interpretationsspielraum zu. benen neuesten Rechtsprechung noch von der Literatur in So erscheint ein Widerspruch in der Argumentation des Frage gestellt.46 Dabei erscheint allerdings das Verhältnis Bundesverwaltungsgerichts erkennbar, als es einerseits mit zwischen Artikel 7 Abs. 2 KG und den darin enthaltenen Verweisung auf die bereits erwähnte Rechtsprechung ver- Beispielstatbeständen einerseits und dem Grundtatbestand langt, dass ein Bezug zwischen dem Markt, auf welchem die in Abs. 1 andererseits in der jüngsten Praxis als nicht ganz marktbeherrschende Stellung festgestellt wird, und denjeni- klar. gen Märkten, auf welchen der Missbrauch stattfindet, be- So verneint das Bundesverwaltungsgericht einerseits steht und dann aber andererseits ein Kausalitätserfordernis das Erfordernis einer «theory of harm» bei Erfüllung eines zwischen Marktstellung und Missbrauch u.a. damit ver- Beispieltatbestands, weil der Gesetzgeber klargestellt habe, neint, dass eine Ablehnung eines Geschäfts keine markt- dass mit der Erfüllung der Tatbestände in Abs. 2 eine nach- beherrschende Stellung bedingt.44 teilige Einwirkung auf den Wettbewerb vorliegt.47 Anderer- Entscheidend ist nach hier vertretener Auffassung, ob der (angebliche) Missbrauch eine Verbesserung der Markt- stellung des marktbeherrschenden Unternehmens und da- 41 Siehe oben, II.1. und 2. mit die Wettbewerbsschädigung zur Folge hat und hierzu 42 A MSTUTZ /C ARRON (Fn. 5), KG 7 N 21. Mit Bezug auf ein Kausalitäts- erscheint die marktbeherrschende Stellung und dessen Ein- erfordernis zwischen Marktbeherrschung und wettbewerbsschäd- lichen Auswirkungen meinen die Autoren, dass bei einer Bejahung fluss auf die «Missbrauchsmärkte» doch unabdingbar. Das eines solchen Erfordernisses man Gefahr laufen würde, die Markt- Bundesverwaltungsgericht selber verweist in seiner Zif- beherrschung als solche unter ein Verbot zu stellen. Vgl. oben, fer 822 auf den oben erwähnten Entscheid der Weko i.S. II. 2. a), Kommentierung des Urteils BVGer vom 18. Dezember 2018, B-831/2011, «SIX Group AG/SIX Payment Services gegen Wett- «Veterinärmedizinische Tests/Migros»,45 in welchem festgestellt bewerbskommission» und Rn 805 ff. des Urteils. wurde, dass die marktbeherrschende Stellung der Migros 43 Vgl. oben, Fn 13 f. «ermöglicht» habe, den Missbrauch auf einem anderen Markt 44 Vgl. oben, Fn 9 f. und Fn 16. 45 S. oben, Fn 15. durchzuführen. Der gleiche Entscheid schliesst aus diesem 46 A MSTUTZ /C ARRON (Fn. 5), KG 7 N 21. Siehe auch BVGer vom 18. De- «Ermöglichen» denn auch explizit auf eine Kausalität zwi- zember 2018, B-831/2011, «SIX Group AG/SIX Payment Services ge- schen der Marktstellung und dem missbräuchlichen Verhal- gen Wettbewerbskommission», Rn 1055: «Den Gegenstand des allgemei- nen Tatbestandsmerkmals der Wettbewerbsverfälschung bildet das Ausmass ten (Rn 78). Ob ein «Ermöglichen» in jedem Fall auch eine der potenziellen oder tatsächlichen nachteiligen Einwirkungen auf den be- Ursache oder eben eine Kausalität bedeuten muss, ist wohl stehenden (Rest-)Wettbewerb auf den massgeblichen Märkten durch die diskussionswürdig. Es ist daher durchaus möglich, dass wir Ablehnungshandlung des marktbeherrschenden Unternehmens» (Hervor- hebung durch den Verf.). es bezüglich der Kausalität mit einem begrifflichen Problem 47 BVGer vom 18. Dezember 2018, B-831/2011, «SIX Group AG/SIX Pay- zu tun haben. In jedem Fall scheint es aber sachlogisch zu ment Services gegen Wettbewerbskommission», Rn 1126. © 2021 sic! Stiftung, Bern / Helbing Lichtenhahn Verlag, Basel Alle Rechte vorbehalten. Jede Verwertung in anderen als in den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der schriftlichen Zustimmung des Verlages. sic! 6 | 2021 Tous droits réservés. Toute représentation ou reproduction, intégrale ou partielle, faite sans le consentement préalable de la maison d’édition, est interdite. Auch auf www.legalis.ch und swisslex.ch / Également sur www.legalis.ch et swisslex.ch
FORUM – ZUR DISKUSSION | A DISCUTER seits stellt das gleiche Urteil nur zwei Randziffern später fest, III. Bewertung nach EU- Recht dass die «von einem bestimmten wirtschaftlichen Verhalten aus- 1. Die Bedeutung des EU-Rechts für die gehende Behinderung von anderen Wettbewerbsteilnehmern [...] schweizerische Kartellrechtspraxis demzufolge grundsätzlich anhand von dessen Geeignetheit für eine nachteilige Einwirkung auf den Wettbewerb zu beurteilen Die WEKO orientiert sich in ihrer Praxis stark an der EU-Pra- [ist].»48 Weiter stellt das Bundesverwaltungsgericht fest, dass xis und Rechtsprechung.55 Dies nicht zuletzt auch deshalb, die nachteilige Einwirkung auf den Wettbewerb nicht nur weil sich der Schweizer Gesetzgeber bei der Ausgestaltung rein hypothetischer Natur sein darf, es aber andererseits des Kartellgesetzes stark vom EU-Kartellrecht inspirieren auch nicht erforderlich sei, dass tatsächlich ein Schaden ein- liess. Die Bestimmungen zu den unzulässigen Wettbewerbs- tritt. Es sei bereits ausreichend, wenn eine potenzielle Schä- abreden (Artikel 5 KG und Artikel 101 AEUV) weisen die- digung nachgewiesen werde.49 Schliesslich bestimmt es, selbe Grundstruktur auf. Das Bundesgericht hielt mit Bezug dass als Beweismass der Wahrscheinlichkeitsbeweis aus- auf vertikale Abreden (Artikel 5 Abs. 4 KG) ausdrücklich reiche.50 fest, dass der Gesetzgeber eine materiell identische Regelung Das ein Jahr später ergangene Urteil des Bundesgerichts treffen wollte.56 Das EU-Kartellrecht gilt auch bei der Be- stellt demgegenüber klar, dass die Beispieltatbestände in urteilung von Horizontalabreden als Orientierungshilfe.57 Abs. 2 von Artikel 7 KG keine per se Missbräuche indizieren Auch bei der Ausgestaltung der Bestimmungen zum Miss- und daher die konkrete Behinderung oder Benachteiligung brauch einer marktbeherrschenden Stellung (Artikel 7 KG) von dritten Marktteilnehmern «herauszuarbeiten» ist.51 Da- orientierte sich der Schweizer Gesetzgeber am EU-Kartell- mit dürfte die Aussage des Bundesverwaltungsgerichts, wo- recht.58 Das Bundesgericht hielt im oben mehrfach zitierten nach für die Beispielstatbestände in Artikel 7 Abs. 2 KG Urteil i.S. «Swisscom gegen Weko i.S. Preispolitik ADSL» denn keine Schädigungstheorie untersucht werden müsse und auch explizit fest, dass für die Auslegung von Artikel 7 KG Artikel 7 KG ein Gefährdungsdelikt darstelle,52 relativiert und an den Nachweis der Kausalität zwischen dem Miss- brauch und der Wettbewerbsbeeinträchtigung bzw. dem 48 BVGer vom 18. Dezember 2018, B-831/2011, «SIX Group AG/SIX Pay- Nachweis der schädlichen Auswirkungen höhere Anforde- ment Services gegen Wettbewerbskommission», Rn 1128. 49 BVGer vom 18. Dezember 2018, B-831/2011, «SIX Group AG/SIX Pay- rungen gestellt werden. ment Services gegen Wettbewerbskommission», Rn 1203 ff. Ob damit künftig der tatsächliche Eintritt von wett- 50 BVGer vom 18. Dezember 2018, B-831/2011, «SIX Group AG/SIX Pay- bewerbsschädlichen Wirkungen nachgewiesen werden muss, ment Services gegen Wettbewerbskommission», Rn 1214 ff. 51 BGE 146 II 217 ff. E. 4.2, «Swisscom AG und Swisscom (Schweiz) AG ist unklar. Hingegen gibt es gute Gründe dafür, dass bei gegen Wettbewerbskommission i.S. Preispolitik Swisscom ADSL». Anwendung des Wahrscheinlichkeitsbeweises im Zu- 52 Vgl. dazu auch BANGERTER (Fn. 38), N 19, 21, 62, 68 f. sammenhang mit der Kausalität zwischen Missbrauch und 53 Zur Begründung seiner Feststellung, wonach für einen rechtsgenüg- lichen Nachweis von kartellrechtlichen Tatbestandsmerkmalen bei Wettbewerbsbeeinträchtigung, hypothetische Kausalzusam- «Vorliegen der Wettbewerbskomplexität» das Beweismass der überwie- menhänge, sofern nicht bloss theoretischer Natur, zu berück- genden Wahrscheinlichkeit genüge, stellt es fest: «Denn im Rahmen sichtigen sind. Dies wird bereits vom Bundesverwaltungs- einer Prüfung von einzelnen Tatbeständen des Kartellgesetzes sind vielfach Einschätzungen mit einzubeziehen, die sich auf zukünftige oder alternativ gericht selber in seinem Urteil i.S. «SIX» bestätigt.53 Auch in denkbare Ereignisse oder Auswirkungen beziehen»(BVGer vom 18. De- der Rechtsprechung, auf welche das Bundesverwaltungs- zember 2018, B-831/2011, «SIX Group AG/SIX Payment Services ge- gericht verweist, wird darauf hingewiesen, «dass mit zuneh- gen Wettbewerbskommission», Rz 1219 f.). 54 BVGer vom 14. September 2015, B-7633/2009, «Swisscom AG und mender Komplexität auch die Anzahl aller denkbaren Varianten Swisscom (Schweiz) AG gegen Wettbewerbskommission i.S. ADSL eines Geschehensablaufs unweigerlich um ein Vielfaches zu- II», Rn 163. Vgl. auch BVGer vom 18. Dezember 2018, B-831/2011, nimmt».54 Ob in diesem Zusammenhang die Weko bei der «SIX Group AG/SIX Payment Services gegen Wettbewerbskommis- sion», Rn 1220. Siehe auch den BGE 121 III 358 ff., auf den trotz des- Prüfung von Auswirkungen auf den Wettbewerb eines be- sen zivilrechtliche Natur ebenfalls verwiesen wird und in dessen E. 5 stimmten Marktes aufgrund des Untersuchungsgrundsatzes die Vorinstanz aufgefordert wird, die Grundlagen zur Beurteilung des auch kontrafaktische Szenarien zu berücksichtigen hat, ergibt hypothetischen Kausalverlaufs besser abzuklären. Ebenso das BGE 107 II 269 ff. E. 1b, welches ebenfalls die überwiegende Wahrschein- sich wohl nur aus dem konkreten Einzelfall. Auch unter Be- lichkeit für einen bestimmten Kausalverlauf als genügend erachtet. rücksichtigung des verlangten Wahrscheinlichkeitsbeweises Anders verhält es sich, wenn nach den besonderen Umständen des sollte aber die Berücksichtigung von kontrafaktischen Szena- Falles weitere Möglichkeiten bestehen, die neben der behaupteten Ur- sachenfolge ebenso ernst in Frage kommen oder sogar näher liegen. rien mit der neuesten Rechtsprechung des Bundesgerichts i.S. 55 Vgl. S. BANGERTER /B. Z IRLICK , in: R. Zäch/R. Arnet/M. Baldi/R. Kiener/ «ADSL», die eine strengere Betrachtungsweise bezüglich des O. Schaller/F. Schraner/A. Spühler (Hg.), KG. Kommentar zum Bun- Nachweises der Wettbewerbsverfälschung zeigt, zumindest desgesetz über Kartelle und andere Wettbewerbsbeschränkungen, Zü- rich 2018, KG 5 N 41. dann gewährleistet sein, wenn diese im Kausalverlauf ver- 56 Vgl. BGE 143 II 297 ff. E. 6.2.3, «Gaba», s. auch E. VII der Weko-Ver- nünftigerweise nicht ausgeschlossen werden können. tikalbekanntmachung. 57 A. H EINEMANN, Das Gaba-Urteil des Bundesgerichts: Ein Meilenstein des Kartellrechts, ZSR 2018, 112. 58 Vgl. BGE 139 I 72 ff. E. 8.2.3, «Publigroupe SA und Mitb. gegen Wett- bewerbskommission» und BGE 146 II 217, «Swisscom AG und Swiss- com (Schweiz) AG gegen Wettbewerbskommission i.S. Preispolitik Swisscom ADSL»; Botschaft zu einem Bundesgesetz über Kartelle und andere Wettbewerbsbeschränkungen vom 23. November 1994 (Bot- schaft KG), BBl 1995 I 468 ff., 494 und 531. © 2021 sic! Stiftung, Bern / Helbing Lichtenhahn Verlag, Basel sic! 6 | 2021 Alle Rechte vorbehalten. Jede Verwertung in anderen als in den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der schriftlichen Zustimmung des Verlages. Tous droits réservés. Toute représentation ou reproduction, intégrale ou partielle, faite sans le consentement préalable de la maison d’édition, est interdite. 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Philipp Zurkinden | Robert Klotz Die Berücksichtigung von Kausalitäten und kontrafaktischen Szenarien auf die Literatur und Praxis zu Artikel 102 AEUV zurück- den Erläuterungen zu den Prioritäten der Kommission bei gegriffen werden könne.59 der Anwendung von Artikel 102 AEUV auf Fälle von Behin- Im Gegensatz zur zuvor beschriebenen wettbewerb- derungsmissbrauch durch marktbeherrschende Unterneh- lichen Durchsetzungspraxis in der Schweiz befassen sich men. Darin stellte sie erstmals die Regel auf, dass bei jedem die Europäische Kommission («Kommission») und die EU- einzelnen Verfahren die tatsächliche Situation auf dem rele- Gerichte ausdrücklich mit dem kontrafaktischen Szenario. vanten Markt mit einer kontrafaktischen Fallkonstellation, Daher wird zunächst separat auf die Frage eingegangen, in- in der das marktbeherrschende Unternehmen nicht auf die wieweit das kontrafaktische Szenario nach EU-Recht Berück- fragliche Verhaltensweise zurückgreift, verglichen werden sichtigung findet (s. unten, 2.). Im Anschluss wird auf das muss.66 Erfordernis einer Kausalbeziehung zwischen Marktbeherr- Auch in den Leitlinien für die nationalen Gerichte zur schung und Missbrauchsverhalten sowie zwischen Miss- Schätzung des auf den mittelbaren Abnehmer abgewälzten brauchsverhalten und Wettbewerbsschädigung im EU-Recht Preisaufschlags greift die Kommission auf die Erstellung näher eingegangen (s. unten, 3.). von kontrafaktischen Szenarien zurück. Sie stellt dort ver- schiedene Methoden und Techniken vor, um kontrafakti- sche Szenarien anzufertigen. Sie erklärt darin ausdrücklich, 2. Berücksichtigung von kontrafaktischen Szenarien dass kontrafaktische Szenarien von den Wirtschaftswissen- nach EU-Recht schaften und der Rechtsprechung entwickelt wurden, um Der EuGH berücksichtigte das kontrafaktische Szenario be- die Auswirkungen einer vermuteten Zuwiderhandlung ge- reits im Jahr 1966 im Urteil «Société Technique Minière». gen die Wettbewerbsvorschriften von anderen Faktoren zu Darin wies er darauf hin, dass sich eine wettbewerbs- isolieren, die sich ebenfalls auf den beobachteten Markt beschränkende Vereinbarung nach Artikel 101 AEUV aus auswirken können.67 der Gesamtheit oder einem Teil der Bestimmungen der Ver- Auch die neuere EU-Rechtsprechung verlangt, dass die einbarung selbst ergeben müsse. «Damit die Vereinbarung Behörde kontrafaktische Vorbringen der Parteien zu prüfen vom Verbot erfasst wird, müssen Voraussetzungen vorliegen, aus hat, wenn das betreffende Unternehmen sich darauf beruft. denen sich insgesamt ergibt, dass der Wettbewerb tatsächlich So stellte der EuGH in der Sache Intel im Jahr 2017 fest, spürbar verhindert, eingeschränkt oder verfälscht worden ist. dass, «wenn das betroffene Unternehmen im Verwaltungsver- Hierbei ist auf den Wettbewerb abzustellen, wie er ohne die strei- fahren, gestützt auf Beweise, geltend macht, dass sein Verhalten tige Vereinbarung bestehen würde.»60 nicht geeignet gewesen sei, den Wettbewerb zu beschränken und Die Prüfung des kontrafaktischen Szenarios ist heute insbesondere die beanstandeten Verdrängungswirkungen zu er- bei der Anwendung von Artikel 101 und 102 AEUV gängige zeugen», die Kommission nicht nur verpflichtet ist, das Aus- Praxis.61 Dies war nicht immer der Fall, denn zunächst be- mass der beherrschenden Stellung des Unternehmens auf rücksichtigten die Kommission und die EU-Gerichte allein dem massgeblichen Markt und den Umfang der Markt- bestimmte, als wettbewerbswidrig eingestufte Verhaltens- erfassung durch die beanstandete Praxis, sondern auch weisen (sog. form-based approach) und stellten die Frage das Vorliegen einer eventuellen Strategie zur Verdrängung nach den wettbewerblichen Auswirkungen der fraglichen der mindestens ebenso leistungsfähigen Wettbewerbers zu Handlung auf das konkrete Marktumfeld zurück.62 prüfen.68 Problematisch war dabei jedoch, dass viele als miss- Ebenso führte der EuGH in der Rechtssache Generics bräuchlich eingestufte Verhaltensweisen auch wettbewerbs- (UK) aus, dass bei der Beurteilung der Auswirkungen einer fördernd wirken können.63 Bei der Analyse des fraglichen Verhaltens wurden daher zunehmend die konkreten Markt- 59 BGE 146 II 217 ff. E. 4.3, «Swisscom AG und Swisscom (Schweiz) AG umstände berücksichtigt, und zwar durch die Erstellung gegen Wettbewerbskommission i.S. Preispolitik Swisscom ADSL» mit eines kontrafaktischen Szenarios. In der Praxis der Kommis- Verweisung auf weitere Rechtsprechung. sion erfolgte dies zunächst im Rahmen der Fusionskon- 60 EuGH vom 30. Juni 1966, C-56/65, «Société Technique Minière», 303 f. trolle. In ihren Leitlinien zur Bewertung horizontaler Zu- 61 Vgl. unten. sammenschlüsse führte die Kommission aus, dass in den 62 EuGH vom 13. Februar 1979, 85/76, «Hoffmann-La Roche», Rn 89; meisten Fällen die zum Zeitpunkt des Zusammenschlusses EuG vom 17. Dezember 2003, T-219/99, «British Airways», Rn 293. 63 Die Zukunft der Missbrauchsaufsicht in einem ökonomisierten Wett- vorherrschenden Wettbewerbsbedingungen der Vergleichs- bewerbsrecht, Tagung des Arbeitskreises Kartellrecht, 20.9.2007, Hin- massstab zur Bewertung der Auswirkungen einer Fusion tergrundpapier des BKartA, 5. sind. «Unter besonderen Umständen kann die Kommission je- 64 Leitlinien zur Bewertung horizontaler Zusammenschlüsse, ABl. 2004, C 31/5, Rn 9. doch zukünftige Änderungen im Markt berücksichtigen, die mit 65 Vgl. Entscheidung der Kommission vom 28. August 2009 zur Feststel- einiger Sicherheit erwartet werden können.»64 Sie prüft in ihren lung der Vereinbarkeit eines Zusammenschlusses mit dem Gemein- fusionskontrollrechtlichen Freigabebeschlüssen daher re- samen Markt und dem EWR-Abkommen, Sache COMP/M.5440 – Lufthansa/Austrian Airlines, Rn 57 ff. gelmässig das kontrafaktische Szenario (ex-ante Betrach- 66 Mitteilung der Kommission, Erläuterungen zu den Prioritäten bei der tung).65 Anwendung von Artikel 82 des EG-Vertrags auf Fälle von Behin- Sodann war auch in der nachträglichen Wettbewerbs- derungsmissbrauch durch marktbeherrschende Unternehmen, ABI. vom 24. Februar 2009, Nr. C 45, 7, Rn 21. aufsicht eine Verlagerung hin zum Auswirkungsgrundsatz 67 Abl. vom 9. August 2019, Nr. C 267, 4, Rn. 85 ff. (sog. effects-based approach) zu beobachten, beginnend mit 68 EuGH, NZKart 2017, 525 ff., «Intel». © 2021 sic! Stiftung, Bern / Helbing Lichtenhahn Verlag, Basel Alle Rechte vorbehalten. 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