Internet-Phänomene des Runets - Parömiologische Eigenschaften der Blogosphäre Bachelorarbeit über das Thema - Russisch

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Internet-Phänomene des Runets - Parömiologische Eigenschaften der Blogosphäre Bachelorarbeit über das Thema - Russisch
Bachelorarbeit über das Thema

        Internet-Phänomene des Runets
   Parömiologische Eigenschaften der Blogosphäre

_____________________________________________________________

                         Dem Prüfungsamt
           bei der Johannes Gutenberg-Universität Mainz
                           Vorgelegt von
                         Rybalkina Marina
                       Matrikel-Nr.: 9091472
                 Referentin: Prof. Dr. Birgit Menzel
Internet-Phänomene des Runets - Parömiologische Eigenschaften der Blogosphäre Bachelorarbeit über das Thema - Russisch
Inhaltsverzeichnis

Einleitung                                                            3
1. Internet in Russland: Meilensteine der Entwicklung                 4
1.1 Vom Pentagon in die ganze Welt: Die Entstehung des Internets      4
1.2 1990-1995: Putsch, Zerfall der UdSSR und Fido-Konferenzen         5
1.3 1995-2000: Netzjournalismus, Kommerzialisierung, Runet            6
1.4 Das Runet im 21. Jahrhundert: Blogs und soziale Netzwerke         8
2. Eigenschaften der computervermittelten Kommunikation               9
3. Internet als Raum der kulturellen Produktion                      12
3.1 Netzkultur – die Kultur des Internets                            12
3.2 Netlore – die Internetfolklore                                   13
4. Internet-Meme als Phänomene des Internets                         14
4.1 Der Begriff Mem                                                  14
4.2 Internet-Meme: Entstehung und Verbreitung                        16
4.3 Probleme der Klassifikation der Internet-Meme                    17
4.4 Funktion der Internet-Meme                                       18
5. Zur russischen Internetkultur                                     19
5.1 Linguistische und stilistische Besonderheiten der CMC im Runet   19
5.2 Der Padonki-Slang als Form der russischen Netlore                21
6. Exemplarische Untersuchung der Internet-Meme des Runtets          25
6.1 Methodologische Überlegungen                                     25
6.2 Das Internet-Mem kak strašno žit’                                26
6.3 Das Internet-Mem v Bobrujsk, žyvotnoe                            32
6.4 Das Internet-Mem ja krevedko                                     36
6.5 Fazit                                                            44
Schlussfolgerung                                                     46
Literaturverzeichnis                                                 48
Anhang                                                               55

                                            2
Internet-Phänomene des Runets - Parömiologische Eigenschaften der Blogosphäre Bachelorarbeit über das Thema - Russisch
Einleitung

Das Internet – ein neues Medium – spielt im öffentlichen und privaten Leben
der Menschen weltweit eine immer größere Rolle. Als Synonym der
Globalisierung hebt das Internet das Prinzip der geografischen Entfernung auf
und erweitert die Möglichkeiten des Informationsaustausches erheblich. Das
neue Medium sorgt für die Entstehung eines neuen kommunikativen
Phänomens – der computervermittelten Kommunikation und bereichert dem
Planeten um eine neue Sphäre – die virtuelle Blogosphäre*.
Wie beeinflusst das Internet unsere Kultur und unseren Sprachgebrauch? Als
eine Annäherung an diese komplexe Fragestellung wird in der vorliegenden
Arbeit   die    russische   Blogosphäre       auf    ihre    Eigenschaft   Parömien*
hervorzubringen untersucht.
Der erste Abschnitt gibt einen Überblick über die Entwicklung des Internets in
Russland, der zweite erläutert die Besonderheiten der Kommunikation im
Internet, die zur Entstehung eines neuen kulturellen Raums wesentlich
beitragen. Die Eigenschaften der virtuellen Kultur werden im dritten Abschnitt
dargestellt. Eine Ausprägung der Internet-Kultur – die Internet-Phänomene,
auch Internet-Meme genannt, stehen im Mittelpunkt des vierten Abschnittes,
wo   ihre      grundlegenden   Entstehungs-         und     Verbreitungsmechanismen
beschrieben werden sowie ein Versuch ihrer Klassifikation unternommen wird.
Der fünfte Abschnitt widmet sich den Besonderheiten der russischen Internet-
Kultur, die zahlreiche Meme hervorgebracht hat. Abschließend wird eine
exemplarische Untersuchung an drei populären Internet-Memen des russischen
Internets durchgeführt, in der besondere Aufmerksamkeit dem Prozess der
Wortschöpfung in der Blogosphäre, den Eigenschaften der Internet-Parömien
und ihrem Einfluss auf die Sprache gewidmet wird.
Da die vorliegende Arbeit sich dem Thema Internet widmet und folglich
zahlreiche Internet-Links enthält, empfiehlt es sich, sie auf einem mit dem
Internet verbundenen Computer zu lesen.

                                          3
Internet-Phänomene des Runets - Parömiologische Eigenschaften der Blogosphäre Bachelorarbeit über das Thema - Russisch
„Medien speichern und überliefern Erfahrungen, Erkenntnisse, Wissensbestände,
                    Ideen und Phantasien. Ohne Medien gäbe es keine Tradition“ (Kübler, 20).

1. Internet in Russland: Meilensteine der Entwicklung
        1.1 Vom Pentagon in die ganze Welt: Die Entstehung des Internets

Die Ursprünge des Internets 1 2, lassen sich in den USA zu der Zeit des Kalten
Krieges finden: Als die Sowjetunion am vierten Oktober 1957 den ersten
Erdsatelliten Sputnik um die Erde schickt, gründet das US-amerikanische
Verteidigungsministerium die Advanced Research Projects Agency, eine
Behörde, die im Jahr 1969 das ARPANET-Netz, den Vorläufer des Internet
entwickelt (Gorny:2006, 70). Das primäre Ziel von ARPANET ist die
Herstellung      einer     sicheren      Vernetzung       zwischen       den     führenden
Forschungsstätten und Universitäten des Landes, die im Auftrag des
amerikanischen       Verteidigungsministeriums           arbeiten    (Glaser).     In    den
nachfolgenden Jahren wird kontinuierlich an der Erweiterung von ARPANET
gearbeitet, in den 70er Jahren wird das Netz auch für nicht militärische Zwecke
freigegeben (Wetzstein, 25). Die erste internationale Verbindung stellt
ARPANET 1973 zum University College London her (Dittmann, 110). Anfang
der 80er Jahre spaltet sich das Military Net ab, für die restlichen Netze beginnt
sich die Bezeichnung Internet durchzusetzen (Wetzstein, 25). Technische
Neuerungen, wie die Entwicklung des E-Mail-Programms 3 im Jahre 1971 oder
der Technologie der TCP/IP* Protokolle 4 1983, die eine universelle
Datenvernetzung ermöglicht, stellen die Weichen für die erfolgreiche
Verbreitung des Netzes. Zu Beginn der 90er Jahre wird das Internet über die
Grenzen der Universitäten und Forschungsinstitute hinaus für alle Nutzer
weltweit zugänglich: 1991 wird die Idee des auf der Hyper Text Markup
Language (HTML)* basierten World Wide Webs* 5 vorgestellt, eines
Internetdienstes, der das Surfen in seiner heutigen Form ermöglicht. Das
Aufkommen von Mosaic, dem ersten WEB-Browser-Programm im Jahre 1993
1
  Die Bezeichnung Internet, eine Wortkreuzung der englischen Wörte inter und network, kam
in den 1970er Jahren auf (Oxford Dictionary).
2
  Erläuterungen zu den mit den *markierten Fachbegriffen siehe Glossar im Anhang.
3
  Das Programm wurde von dem US-amerikanischen Computerspezialisten Ray Tomilson
entwickelt („Email Home“).
4
  1983 von den amerikanischen Informatikern Robert E. Kahn und Vinton Cerf („Internet
History“) entwickelt. Cerf wird oft als einer der Väter des Internet bezeichnet. Heute ist er
Vizepräsident des Managementteams von Google (Dittmann, 110)
5
  Von dem britischen Physiker und Computerspezialisten Tim Berners-Lee („Das Phänomen“).
                                                 4
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revolutioniert das Netz – dank des einfachen und benutzerfreundlichen
Interface entdecken die begeisterten Adapter der Computertechnologien das
World Wide Web (Gorny:2006, 70-71). Das Internet-Zeitalter beginnt.

        1.2 1990-1995: Putsch, Zerfall der UdSSR und Fido-Konferenzen

In die Sowjetunion kommt das Internet im Jahr 1988, als die Mitarbeiter des
.XUþDWRY-Instituts, der führenden Kernforschungstätte des Landes die
Verbindung zu dem globalen Netz herstellen („Kak zaroždalsja“). Die Idee
einer länderübergreifenden Vernetzung der Wissenschaftler, frei von
geographischen und vor allem ideologischen Grenzen, ist in der akademischen
Welt jedoch nicht neu. Noch in der Zeit des Kalten Krieges wird versucht eine
Datenverbindung zwischen den Wissenschaftlern auf den beiden Seiten des
Eisernen Vorhanges herzustellen 6. In den 70er und 80er Jahren entstehen in der
Sowjetunion       interne    landesweite      Computernetze:        Die     sowjetischen
Forschungsstätten und Universitäten sind ab Ende der 1970er Jahre über das
AKADEMSET-Netz miteinander verbunden (Dittmann, 110, 118). Eine
dauerhafte Verbindung mit den Kollegen im Westen kommt jedoch erst zu
Beginn der 1990er Jahre mit der Verbreitung des Internets zustande („Kak
zaroždalsja“). Zunächst können die sowjetischen Wissenschaftler E-Mails mit
Hilfe des Internets versenden, den ersten Zugang zu einem WWW-Server
bekommen sie im Jahr 1993.
Im September 1990 wird der Domain-Name .su registriert, das Domain .ru
entsteht im Jahr 1994 („Internet v Rossii“). Bereits im Sommer 1991 gehen die
ersten unabhängigen sowjetischen Nachrichtenagenturen, u.a. Interfaks und
RIA Novosti, ins Netz, als einzige unzensierte Medien des Landes sorgen sie
für eine unabhängige Berichterstattung während des Putsches im August 1991
(„Kak zaroždalsja“).
Anfang der 90er Jahre bleibt der Zugang zum Internet für die meisten
Einwohner des krisengeschüttelten Russland unerschwinglich. Einer großen
Popularität erfreut sich daher die kostengünstige Alternative zum Internet – das
nichtkommerzielle Mailboxnetz* Fidonet*. Vor allem im Zeitraum zwischen
1990 und 1995 finden über das Fidonet zahlreiche Diskussionen statt, die als
Fido-Konferenzen bekannt geworden sind. Es bilden sich unterschiedliche

6
 Im Juli 1977 stellt das International Institute for Applied Systems Analysis (IIASA) in
Laxenburg bei Wien eine Datenverbindung zwischen Österreich, Polen, der UdSSR und den
USA her. Das Experiment wird jedoch aus technischen Gründen eingestellt (Dittmann, 106-
108).
                                                  5
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Interessengruppen – die ersten Communities, russ. SRREãþHVWYD („Internet v
Rossii“).
Trotz der wirtschaftlichen Schwierigkeiten schreitet die Verbreitung des
Internets in Russland voran. Es entstehen die ersten großformatigen
Internetprojekte und -Ressourcen wie z.B. die 1994 gegründete Online-
Bibliothek Biblioteka Maksima Moškova 7 oder die 1995 ins Leben gerufene
Unterhaltungsseite Anekdoty iz Rossii 8. Im März 1995 erscheint die erste
elektronische Version eines russischen Printmediums – der pädagogischen
Zeitung 8þLWHO¶VNDMD*D]HWD – im Netz (Gorny).
Die Vorstellung von dem Internet als einem freien und unabhängigen virtuellen
Raum, so wie sie die von dem US-amerikanischen Literaten John Perry Barlow
in seiner Declaration of Independence of Cybercpace 9 aus dem Jahr 1996
formuliert wird, findet offensichtlich in Russland, einem Land mit einer langen
Samizdat 10-Tradition      breite   Unterstützung       (Kuznecov,      11).    Fast   alle
vorhandenen russischen sowie ausländischen Filme, Musiktitel und Bücher 11
können mittlerweile im Internet kostenlos heruntergeladen werden 12.

        1.3 1995-2000: Netzjournalismus, Kommerzialisierung, Runet

Der Netzjournalismus und die literarischen Sprachexperimente prägen das
russische Internet von Mitte bis Ende der 90ger Jahre. Die ersten
Internetzeitschriften – Naši Seti, 9HþHUQLM ,QWHUQHW, Zhurnal.ru erfreuen sich
großer Beliebtheit, es entsteht sogar ein neuer journalistischer Beruf - der des
Netzkolumnisten, russ. setevoj obožrevatel’, dessen Pionier Anton Nosik 13
wird. Man experimentiert mit dem kollektiven Schreiben literarischer Texte:
So entstehen im Jahr 1995 der erste interaktive Hyper-Text-Roman POMAH
und das Literaturspiel %XULPơ 14, außerdem findet der Wettbewerb der
Netzliteratur     TEHETA        statt.   Die     kreativen     Köpfe      hinter    diesen

7
  www.lib.ru, heute eine Online-Bibliothek mit Kultstatus.
8
  eine der populärsten russischen Internetseiten, 1. Platz in World Top 1000 am 06.02.98
(Gorny).
9
  Den Text der Deklaration siehe unter  (28.04.2011).
10
   Samizdat (russ. Selbstverlag) – nicht systemkonforme Texte, die auf inoffiziellen Wegen
verbreitet werden, um der Staatszensur zu entgehen. Dabei hat der Autor keinerlei Kontrolle
über die Verbreitung seiner Texte (Pjatkovskij).
11
   So stellen u.a. bedeutende moderne russischen Schriftsteller wie Viktor Pelevin
 und Vladimir Sorokin  (27.04.2011)
ihre Texte kostenfrei im Netz zur Verfügung.
12
   Die neuesten Tendenzen zeigen, dass das Internet als Raum zu freien Meinungsäußerung von
der staatlichen Zensur immer stärker eingegrenzt wird („Freedom House“).
13
   Sein Blog im Livejournal:  (27.04.2011).
14
   Von dem franz. bouts-rimés, Dichten nach vorgegebenen Endreimen.
                                                6
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Internetprojekten sind: Nosik, Artemij Lebedev 15 'PLWULM ,FNRYLþ 16, Segej
Kuznecov, Mikhail Jakubov 17, Evgenij Gornyj 18, Vadim Maslov, Dmitrij
Manin, („Kak zaroždalsja“) Roman Lejbov 19 (Kuznecov, 14-15). Einige von
ihnen genießen auch heute, vor allem als Blogger, großes Ansehen in dem
russischsprachigen Netz.
Ab 1995 beginnt in Russland die Kommerzialisierung des Internets: Die ersten
Internetanbieter Cityline, Rossija Onlain werben um Kunden, 1996 entstehen
die ersten russischen Suchmaschinen: Rambler, Aport, Yandex („Kak
zaroždalsja“). In Sankt Petersburg wird das erste Internetcafé Russlands
namens Tetris eröffnet.
Eine der bemerkenswerten Contents-Seiten* des Runets ist die 1996
gegründete Ressource Russkij Žurnal, 20 deren Projekt Žurnal’nyj Zal, das die
traditionsreichen russischen Printmedien, (die sogenannten tolstye žurnaly) auf
seiner Internetplattform beherbergt, sich auch heute noch großer Beliebtheit
erfreut.
1997 führt der Netzjournalist Raffi Aslanbekov 21 den Begriff Runet 22 ein, der
seitdem zur Bezeichnung des russischsprachigen Internetsegments angewendet
wird. Der erste kostenlose russische Email-Service Pochta.ru wird 1997 ins
Leben gerufen (Gorny).
Als 1998 die Zahl der russischen User die Millionenmarke erreicht, beginnt
man in Russland das Internet als ein Massenphänomen zu bezeichnen (Gorny:
2006, 167). Mit der zunehmenden Verbreitung des Internets stirbt das Genre
der   Netzkolumnen         allmählich     aus,    die    Netzmagazine       weichen      den
Internetzeitungen den Weg: Die erste Onlinezeitung Gazeta.ru wird 1999 unter
Beteiligung einiger prominenter Internet-Persönlichkeiten – Lebedev, Moškov,

15
   Sohn der Schriftstellerin Tatjana Tolstaja, Webdesigner, Weltreisender und Blogger mit
Kultstatus im Runet, sein erstes Internetprojekt  stammt aus dem Jahr
1996. Lebedevs Blog im Livejournal (27.04.2011).
16
   Heute Vorsitzender des Redaktionsbeirates der 1998 gegründeten Ressource www.polit.ru.
17
   Jakubov, ein Klassenkamerad von Lebedev, half Kuznecov, der berets seit 1992 eine eigene
Emailadresse besaß, Lejbov und Gornyj den Zugang zum Internet zu bekommen (Kuznecov,
14-15).
18
   Sein Blog im Livejournal  (27.04.2011).
19
    (27.04.2011).
20
  < www.russ.ru> Zur Geschichte des Projekts siehe <
http://magazines.russ.ru/novyi_mi/2006/3/ko18.html> (29.04.2011).
21
   Das erste Mal In seiner Kolumne Mysli Velikogo Djadjuški erwähnt
(27.
04.2011).
22
    Eine Wortzusammensetzung aus dem Domainnnamen .ru und net, in Ablehnung an die
Wortformation Internet.
                                                   7
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und Nosik ins Leben gerufen. Ein weiteres großes Projekt ist der Online-
Nachrichtendienst Lenta.ru, dessen Chefredakteur Nosik wird.
Das Potenzial des Internet als eines effektiven Massenmediums wird auch im
Kreml erkannt: Die Wahlkampagnie von Vladimir Putin im Jahr 2000 wird im
Internet von der eigens dafür entwickelten Seite www.putin200.ru unterstützt.
Ende 2000 zählt das Runet bereits mehr als sieben Millionen Nutzer („Kak
zaroždalsja“).

         1.4 Das Runet im 21. Jahrhundert: Blogs und soziale Netzwerke

Im Jahr 2001 entdecken die russischen Internetnutzer die amerikanische
Bloggerplattform Livejournal 23. Der LJ-Eintrag 24 Leibovs vom 01.02.2001, der
zu den ersten russischsprachen Posts in Livejournal gehört, markiert die
Geburtsstunde der russischen Blogosphäre. Seit 2003, als für alle Nutzer eine
Registrierung ohne Einladung beim Livejournal möglich wird, entwickelt sich
die Plattform zu einer der beliebtesten Internetressourcen Russlands: 2007 wird
sie von der russischen Firma SUP Fabrik gekauft. Im Jahr 2009 eröffnet der
russische Präsident Medvedev im LiveJournal seinen offiziellen Blog 25. 2010
ist Russisch im LJ nach Englisch die weitverbreitete Sprache 26. Eine solche
Popularität lässt sich laut dem Runet-Forscher Eugene Gorny vor allem durch
die vom Livejournal angebotene Funktion der Community-Buildung erklären.
Diese wird von den russischen Nutzern, für die Freundschaft sowie die
informellen Netzwerke eine übergeordnete Rolle spielen, besonders geschätzt
(Gorny:2006,      252).    Die    besondere     Popularität     der   ersten       virtuellen
Communities im Fido-Netz in Russland (Lurkmore, Fido) bestätigt diese
These.
Im Jahr 2005 beginnt mit dem Service Moj Krug die Verbreitung der sozialen
Netzwerke* in Russland. Die heutigen Headliner sind Odnoklassniki.ru –
45 27Millionen Nutzer und Vkontakte.ru mit mehr als 100 28 Millionen
registrierten Profilen im Jahre 2010. Beide Netzwerke gehen 2006 an Start
(Golynko, 31). Die 2006 in den USA gegründete Mikroblogplattform Twitter
gewinnt in Russland zunehmend an Popularität: Im Februar 2011 sind laut

23
   Kurz LJ.
24
    (27.04.2011).
25
    (27.04.2011).
26
    (27.04.2011).
27
    (27.04.2011).
28
    (27.04.2011).
                                               8
Yandex 29 mehr als 500 000 russische Nutzer bei Twitter registriert. Seit Juni
2010 führt auch der russische Präsident Medvedev einen Miniblog 30. Seit 2006
finden Online-Konferenzen von Putin und Medvedev statt. Das Runet für sich
zu erschließen, scheint der offiziellen Macht in Russland offensichtlich wichtig
zu sein (Zvereva, 54-55).
Ende 2010 verfügen mehr als 46 Millionen Russen (ca. 30% der Bevölkerung)
über einen Internetzugang, fast 32 Millionen (mehr als 20% aller Bewohner)
sind täglich online („Mir Interneta“, 2010), das Internet ist fester Bestandteil
des Alltags für jeden fünften Russen geworden. Der durchschnittliche russische
Internetnutzer ist ein 30-jähriger Großstadtbewohner. Das Runet umfasst im
Jahr 2010 über 15 Millionen Internetseiten, was ca. 6.5% aller weltweit
vorhandenen Seiten ausmacht („Skol’ko nas“).
Anfang des 21. Jahrhunderts ist das Internet zu einem Massenmedium
geworden, das in der zwischenmenschlichen Kommunikation eine immer
größere Rolle spielt, vor allem durch Chats*, Blogs* und die sozialen
Netzwerke*. Die wesentlichen Merkmale der Internetkommunikation werden
im nachfolgenden Abschnitt erläutert.

2. Eigenschaften der computervermittelten Kommunikation
Das Aufkommen des Internets erweiterte und vervielfältigte die traditionelle
Auffassung von menschlicher Kommunikation als verbalem oder nonverbalem
Informationsaustausch. In den letzten Jahrzehnten entstand ein neuer
Kommunikationstyp – die computervermittelte Kommunikation, engl. CMC 31,
die alle Formen der Kommunikation umfasst, die mittels Computer oder
anderer digitaler Geräte, wie z. B. Smartphones oder iPads, zustande kommt
(Kimpeler, 15). Im Gegensatz zu dem klassischen Sender-Empfänger-Modell
mit direktem Face-to-Face-Kontakt* in kleinen Gruppen, ist im Internet die
Anzahl der potenziellen Empfänger unbegrenzt (Burkhart, 410): Die Zahl der
aktiven Kommunikationsteilnehmer kann dabei wesentlich geringer sein als
die Zahl der passiven Beobachter der Kommunikation.
Man unterscheidet zwischen der synchronen CMC, die in realer Zeit erfolgt,
z.B. mittels Chat, ISQ*, MUD* und der asynchronen z.B. über E-Mail,

29
    (27.04.2011).
30
  Privater Miniblog von Medvedev , neben dem
offiziellen Twitterakkaunt von Kreml. (27.04.2011).
31
   weiter wird die englische Abkürzung CMC benutzt.
                                                 9
Homepages, Web-Foren*, Guest-Books*, die zeitversetzt zustande kommt
(Wetzstein, 58). Entsprechend der Teilnehmeranzahl werden folgende
Kategorien       der       CMC        unterschieden:      interpersonale         One-to-One-
Kommunikation*,            z.B.       Email,        Videotelefonie,         Internettelefonie,
gruppenbezogene One-to-Many-Kommunikation* wie Mailinglisten*, Blogs,
Chats und öffentliche Many-to-Many-Kommunikation, z.B. Web-Foren
(Piwinger).
Die spezifischen Eigenschaften der CMC, die sie von der Face-to-Face-
Kommunikation          oder     der    traditionellen    schriftlichen      Kommunikation
unterscheiden,     sind       Forschungsgegenstand         mehrerer       wissenschaftlicher
Disziplinen:     Psychologie,         Medienwissenschaft,         Soziologie,     Informatik,
Linguistik, Kulturologie, Folkloristik. Folglich existieren unterschiedliche, zum
Teil auch widersprüchliche Modelle, die Nutzung und Eigenschaften der CMC
zu erklären versuchen (Sakschewski).
Wie jede andere Kommunikation, führt die CMC zur Erschaffung einer
virtuellen     Realität,      die,    indem     die     Teilnehmer        ihre   spezifischen
Wertvorstellungen an die Empfänger weitergeben, einerseits die objektive
Wirklichkeit widerspiegelt und andererseits die subjektive Weltanschauung der
Kommunikationsteilnehmer ausdrückt (Šabšin). In der vorliegenden Arbeit
wird das Internet als ein soziokultureller Raum verstanden, in dem ein
Austausch von Interessen sowie die Vermittlung von Werten und Wissen der
Internetnutzer stattfindet.
Eine Übersicht der wesentlichen psychologischen, sozialen und linguistischen
Aspekte der CMC:
    1. Eingeschränkte           Sinnesempfindung.         Trotz     der     kontinuierlichen
       technischen Fortentwicklung und der qualitativen Verbesserung der
       Audio- bzw. Videoübertagung, ist die sensorische Wahrnehmung, d.h.
       die visuellen, auditiven und räumlichen Eindrücke, wie Betonung,
       Intonation und taktile Kommunikation bei der CMC eingeschränkt oder
       bleibt ganz aus. Die Einschränkung der sensorischen Wahrnehmung
       macht sich vor allem in den textbasierten Objekten der CMC wie E-
       Mails, Chats und Blogs bemerkbar (Suler): Da die Sprache hier zu dem
       dominierenden Instrument der Artikulation wird (Gusejnov:2000),
       werden die fehlenden Sinneseindrücke durch die Herstellung einer
       gesteigerten expressiven Ebene ersetzt, die durch stilistische Mittel, wie
       der Gebrauch der mündlichen Sprache, der kreative Umgang mit der
                                               10
Sprache (wie das Erschaffen von Neologismen) oder Elemente der
           nonverbalen Kommunikation wie Smileys und Emoticons*, zustande
           kommen (Suler). Die Kommunikation im Internet kann folglich als eine
           Mischform         zwischen              dem      verbalen        und         nonverbalen
           Kommunikationsaustausch bezeichnet werden.
       2. Anonymität. 32         Im     virtuellen       Raum    kann      die    Kommunikation
           weitgehend anonym bleiben – jeder Teilnehmer entscheidet selbst, ob er
           erkannt werden möchte und bis zu welchem Grad. Für jeden Nutzer
           besteht außerdem die Möglichkeit mehrere imaginäre Identitäten zu
           besitzen.       Die        Folgen       der    Anonymität         können          in    der
           Internetkommunikation negativ wie positiv sein: So kann sie durch
           Herabsetzung der Hemmschwelle zu Aggressivität und Mobbing führen
           (wie z. B. Trolling*). Andererseits lässt die Anonymität den sozialen
           Status    der    Teilnehmer          unsichtbar       werden,     alle      Nutzer     sind
           gleichberechtigt. In diesem Zusammenhang spricht man von der
           Netzdemokratie.
       3. Aufhebung der geografischen Entfernung. Die physische Entfernung
           der Kommunikationsteilnehmer ist in der CMC sekundär. Die
           gemeinsamen Interessen, und nicht die geografische Nähe, sind das
           verbindende Element von Mitgliedern der Internet-Communities und
           Nutzern der Themenforen.
       4. Aufhebung        der        zeitlichen      Grenzen.    Die      zeitliche     Flexibilität
           kennzeichnet vor allem die asynchrone CMC, die mittels E-mails,
           Blogs und Foren stattfindet. Anders als bei einem Face-to-Face-Dialog,
           verfügen die Teilnehmer über mehr Zeit zur Reflexion. Auf der anderen
           Seite ist der Informationsaustausch im Internet schneller (Suler):
           Verglichen mit der traditionellen schriftlichen Kommunikation,
           verlangt die CMC besonders bei den synchronen Mitteln eine schnelle
           Reaktion, dies führt zur Vernachlässigung von Orthographie- und
           Zeichensetzungsregeln, zu kürzeren Sätzen und höherer Fehlertoleranz
            1DLGLþ .
       5. Soziale Vielfalt. Im Internet besteht die Möglichkeit, zu den Menschen
           aus      unterschiedlichsten            gesellschaftlichen        Kreisen         Kontakt
           aufzunehmen, und dazu mit den Hunderten von Nutzern zeitgleich zu
           kommunizieren               –       eine       Situation,        die        für        viele
32
     In der Regel ist die Kommunikation in den sozialen Netzwerken weitgehend öffentlich.
                                                11
Kommunikationsteilnehmer im realen Leben kaum möglich ist (Suler).
        Die Internetkommunikation ist polythematisch, inoffiziell und vor allem
        interaktiv, denn die Rückmeldungen der Rezipienten werden in der
        Regel innerhalb kürzester Zeit empfangen (Kakorina, 559).
     6. Festhaltbarkeit. Der Verlauf der Internetkommunikation wird mittels
        Computer protokolliert, die gespeicherten Daten können folglich
        jederzeit zurückverfolgt werden (Suler). Ferner ist es möglich, die
        gespeicherten Protokolle zu ändern bzw. zu löschen, somit kann die
        Vergangenheit beliebig verändert und ergänzt werden. 33
Die dargestellten Eigenschaften ermöglichen ein besseres Verständnis der
Bedingungen, unter denen die CMC zustande kommt. Der nächste Abschnitt ist
der Internetkultur gewidmet, zu deren Entstehung die CMC erheblich beiträgt.

3. Internet als Raum der kulturellen Produktion
        3.1 Netzkultur – die Kultur des Internets

Der Begriff Kultur bezeichnet alles, was vom Menschen geschaffen wurde
(Brockhaus Enzyklopädie, Kultur). Folglich umfasst dieser auch die kulturellen
Praktiken und Handlungen der Internetnutzer (Gorny:2006,16). Nach der
Definition von Pierre Levy ist die Internetkultur ein „Set of technologies
(material and inmaterial), practices, attitudes, modes of thoughts and values
that develop along with the growth oft the cyberspase“ (Lévy, Introduction). Zu
den Objekten der Internetkultur gehören nach dieser Definition die sozialen
Netzwerke, Spiele, Chats, verschiedene Internetdienste, Blogs, Internet-
Subkulturen, Internet-Slangs, Internet-Hypes und andere Manifestationen
menschlicher Handlungen im Netz. Der Prozess des Informationsaustausches,
der mittels der CMC in dem soziokulturellen Raum des Internets stattfindet, ist
gleichzeitig ein Prozess der kulturellen Produktion “Technological systems are
socially produced. Social production is culturally informed. The Internet is no
exception. The culture of the producers of the Internet shaped the medium” 34
(Zitat nach Gorny:2006, 17).
Die Informationsübertragung im Netz vollzieht sich wie in den modernen
Printmedien und im Fernsehen nach dem Clusterprinzip, sie wird also wie ein
Mosaik, wie ein Patchwork dargeboten und nicht systematisch und linear nach
33
 Für diesen Hinweis bedankt sich die Verfasserin Herrn Michail Bezrodnyj.
34
  Castells, Manuel. The Internet Galaxy: Reflections on the Internet, Business and Society
Oxford University Press, 2002.
                                             12
dem hierarchischen Pyramidenprinzip eingeordnet, sodass die Visualität dieser
einzelnen Informationscluster ihre Textualität überwiegt. Die Dominanz des
Visuellen einerseits und die Elemente des Mündlichen andererseits sorgen
dafür, dass der Internetkultur zwangsläufig etwas „Witziges“ anhaftet
(Gusejnov:2000).
Die Netzkultur ist eine auf Intertextualität* (Kargin, 15), und vor allem auf
Hypertextualität 35 basierende Kultur. Alle Texte sind ein Teil eines globalen
Hypertextes*, der mittels neuer Texte ständig ergänzt und verändert wird: Die
Texte formen, wie etwa ein unterschwelliges Zitat einen weiteren Text, das
Ganze ist also ein dauerhafter Kreationsprozess. Jeder Internetnutzer kann zu
dem kreativen Schaffen beitragen. Dieser Prozess ist, bedingt durch die
Eigenschaften der CMC, schnell und global (Petrova, 218).
Im Internet findet also ständig ein Prozess kultureller Produktion statt. Das
Ergebnis ist die einzigartige Netzkultur, deren charakteristische Eigenschaften
durch die Besonderheiten der CMC bedingt sind: Interaktivität, Intertextualität,
Hypertextualität, Visualität, Expressivität, Anonymität und Humor.

        3.2 Netlore – die Internetfolklore

Die Produkte dieses kollektiven Schaffens der Internetnutzer sind vielfältig:
Als Geschichten, Gestalten, Gedichte, Neologismen, Netzjargons, Foto- und
Videomontage können sie textbasierte, auditive, visuelle oder gemischte
Formen einnehmen. Das Internet spielt hier eine genre-konstruierende Rolle
(Burkhart).
Um die kreativen Produkte der Netzkultur zu beschreiben, wird in Analogie
zum     Begriff     Folklore,     der    die   überlieferte     Volkskunst       (Brockhaus
Enzyklopädie) bezeichnet, der relativ neuer Begriff Netlore für die
Bezeichnung von „Folklore transmitted by the means of the Internet“ (Emery)
verwendet. Durch folgende wesentliche Eigenschaften der Netlore 36 lässt sich
ihre Zuordnung zur Folklore begründen:
      - kollektive Autorschaft: die gemeinsame Entwicklung der Narrative* 37
        (Kargin, 14);

35
   Für diesen Hinweis ist die Verfasserin Herrn Gusejnov dankbar.
36
   Netlore ist keine spezifisch russische Erscheinung, sondern ein internationales Phänomen.
37
   Ein Beispiel der kollektiven Textproduktion ist die Webseite 
(27.04.2011).
                                                13
- Inhaltliche      und   strukturelle    Analogien:     Witze,    Zeitgenössische
        sagenhafte Geschichten í Großstadtlegenden, Gruselgeschichte für
        Kinder;
     - Für die Volkstradition typische, oft körperliche, teilweise obszöne
        Elemente, die sich auch in der Netlore u.a. im Internetjargon
        manifestieren;
     - hohe Diversität der Publikations- und Kommunikationsformen: Foren,
        Webpages, Mailing-Lists*, Weblogs. Proliferation der Kreation und der
        Variationen der folkloristischen Figuren* (Burkhart, 409);
     - Elemente der mündlichen Kommunikation: „spontane Schriftsprache“
        (Kargin, 14);
     - Traditionalität – Anspielungen auf Märchen: Wie die mythologisierte
        Figur des Bären Medved 38, die gewisse Ähnlichkeiten mit der
        russischen folkloristischen Märchenfigur des Bären besitzt (Burkhart,
        417); Anpassung der Sprichwörter und Aphorismen an die Realität der
        Computerwelt: :HE åLYL ZHE XþLV¶ statt YHN åLYL ZHN XþLV¶ Die
        Vorstellungen der traditionellen Kultur behalten auch in der modernen
        Internetkultur ihre Geltung (Kargin, 14).
Die Träger, Urheber und Rezipienten der Netlore sind in Russland in erster
Linie die jungen Großstadtbewohner, d.h. die aktiven Internetnutzer. Da es sich
dabei vor allem um die berufstätigen Intellektuellen handelt, wird Netlore auch
als Bürofolklore bezeichnet (Burkhart, 408).
Eine der bemerkenswerten Erscheinungen der neuen Internetkultur sind die als
Internet-Hypes       oder     Internet-Meme      bezeichneten      Phänomene.        Ihre
Klassifikation, Entstehung und Verbreitungsmechanismen sind die Themen des
nächsten Abschnitts.

4. Internet-Meme als Phänomene des Internets
        4.1 Der Begriff Mem

Die Etymologie des Wortes Mem geht auf das Englische memory sowie auf das
Griechische mneme „Gedächtnis, Erinnerung“ zurück (Gusejnov, lenta.ru:
Ɇɟɦ). Als Mem wird „eine kulturelle Grundeinheit oder Gedächtniseinheit
bezeichnet, die sich in Form eines Schlagwortes, einer politischen oder

38
  Der Bär Medved ist eine populäre Figur der russischen Netlote, dazu siehe den Artikel
„Grüße von den Bären“ von Henrike Schmidt und < http://www.netlore.ru/effekd-medveda>
(23.04.2011).
                                             14
religiösen Anschauung, einer Mode o.Ä. auf den Menschen als eine Art Wirt
überträgt und von diesem in einem Prozess der Imitation verinnerlicht und an
andere weiter gegeben wird“ (Duden, Das große Fremdwörterbuch, Mem).
Der Begriff Mem wurde von dem britischen Evolutionsbiologen Richard
Dawkins 39 geprägt, der es als Pendant zum biologischen Gen betrachtet. Die
auf dem Konzept des Mems basierende Wissenschaft Memetik 40 versucht
durch Anleihen an die Biologie die kulturelle Evolution zu erklären, wobei die
Kultur als ihr Nährboden verstanden wird, in dem Meme entstehen, kopiert
werden und später zugrunde gehen (Ksenofontova, 286).
Mit dem Aufkommen des Internets wurden die im Netz „grassierenden
Gerüchten und Moden“ (Burkhard, S.411) Internet-Meme, auch Internet-
Phänomene, Internet-Hypes oder Internet-Mode genannt. Die digitalen Meme
übertragen nicht nur Informationen, sondern auch Trends, z.B. bestimmte
Erzählstrategien, wie den lakonischer Stil der Twitter-Messages (Duden, Das
neue Wörterbuch der Szenesprachen).
Die Variabilität der Internet-Meme ist hoch 41: als solche können Fotos,
Videos 42, folkloristische Figuren sowie Sprachklischees bezeichnet werden, die
sich im Internet vor in den digitalen Computernetzwerken spontan ausbreiten.

Abbildung 1. Die Eule O Rly?, eins der weltweit bekanntesten Internet-Meme. 43, die Aufnahme eines
Auftritts des VRZMHWLVFKHQ6lQJHUVƠGXDUG&KLO¶GHU]XHLQHP9LGHR-Mem geworden ist.

Da die Verbreitung der Meme über das Medium Internet sehr schnell erfolgt,
werden sie oft Mediaviren 44 genannt. Die vorliegende Arbeit befasst sich mit

39
   In seiner Monografie The Selfish Gene. Oxford University Press 1976.
40
    „Als wissenschaftliche Disziplin ist Memetik jedoch umstritten, denn auf Grund der
Vorstellung von der Ganzheit und organischen Entwicklung der menschlichen Kultur lässt sich
diese in den Bereich der Esoterik einordnen“ (Burkhart, S.411).
41
   Eine umfassende Datenbank der Internet-Meme ist die Ressource
 (28.04.2011).
42
   So wurde der sowjetische Schlager -DRþHQ¶UDGYHG¶MDQDNRQHFYR]YUDãDMXV¶GRPRM von
Eduard Chil’ zu einem Mem 
(28.04.2011).
43
   Das Sprachklischee O Rly (engl. O, really?) wird als Reaktion auf eine dumme, uninspirierte,
banale Äußerung verwendet (Knowyourmeme/O Rly).
                                               15
den textbasierten Memen– den Internet-Sprachklischees* 45. Der Begriff Mem
wird in der vorliegenden Arbeit synonymisch zu der Bezeichnung Internet-
Sprachklischee verwendet.

        4.2 Internet-Meme: Entstehung und Verbreitung

Die Internet-Meme können ihren Ursprung unmittelbar im Internet haben, vor
allem auf den Image-Boards*, Contents-Homepages der Subkulturen*, Foren
und in der Blogosphäre, aber auch in den traditionellen Medien, wie Film,
Literatur, Printmedien, Fernsehen.
Ein witziger Rechtschreibfehler – RþHSMDWND statt RSHþMDWNDoder ein komisch
klingender Satz – Menja interesujut tol’ko myši (Ksenofontova, 287), ein
Kommentar afftar žžot, ein prägnante Aussage einer öffentlichen Person, wie
die Phrase von Putin 0RþLW YVRUWLUH 46 können unter bestimmten Bedingungen
zu einem Internet-Mem werden 47. Findet eine Informationseinheit Verbreitung,
weil sie als unterhaltsam und/oder als ein passendes Sprachklischee,
empfunden wird, oder wenn es als ein Standartkommentar Verwendung findet,
werden sie zu einem Internet-Mem. Hierzu sei angemerkt, dass bei weitem
nicht alle humorvollen und geistreichen Kreationen der Internetkultur zu
Memen werden. Die Frage, warum eine Informationseinheit zu einem Mem
wird, und eine andere dagegen nicht, ist sehr komplex, sie bedarf weiterer
interdisziplinärer Forschung.
Die Verbreitungsmechanismen der Internet-Meme in der virtuellen Welt lassen
sich mit der Verbreitung semantischer Neuerungen in den traditionellen
kommunikativen Gruppen (Fritz, 51) vergleichen: Diese etablieren sich
zunächst innerhalb enger Netzwerke, im Internet sind dies u.a. Foren, wo die
Sprachklischees als Zeichen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten
Sprechereinheit dienen. Im Internet ist die Anzahl der Kommunizierenden
durch die Aufhebung der zeitlichen und geografischen Grenzen in der Regel
hoch, die Interaktivität und die Möglichkeit, die Informationen zu kopieren, zu
44
   Mehr zum Thema in: Media Virus: Hidden Agendas in Poular Cultures von Douglas
Rushkoff, 1994.
45
   Zu den Sprach-Klischees aus dem Bereich Werbung und Fernsehen sind einige Arbeiten
veröffentlicht worden, siehe z.B. Hars, Wolfgang. Nichts ist unmöglich. Lexikon der
Werbesprueche. Muenchen, Piper, 1999.
46
   Diese Bedrohung an die tschetschenischen Terroristen sprach Putin während einer Presse-
Konferenz in Astana September 1999.
 (20.04.2011).
47
  Zur Verbreitung der genannten Meme im der Blogosphäre siehe:
verlinken* und oder zu re-posten*, stellen die Weichen für eine äußerst
schnelle Verbreitung der Meme. Auch die Top-Blogger, die gemessen an der
Zahl ihrer Leser durchaus mit den traditionellen Printmedien mithalten
können 48 tragen enorm zur direkten Verbreitung einiger Meme bei.
Die mediale Realisierung 49 eines Internet-Mems vollzieht sich oft auch
außerhalb des Netzes: So kommen diese in der Werbung 50, in der mündlichen
Sprache 51 in der Musik 52 und in der Literatur 53 vor.
Zunächst ein Novum, ein kreatives und witziges Wortspiel spricht ein neues
Mem blitzschnell Tausende von Internetnutzern an. Durch die unzähligen
Wiederholungen büßt es jedoch schnell seine Witzigkeit ein, die zum großen
Teil auf dem Effekt der Einmaligkeit und Neuheit beruht, und wird zu einer
Banalität. Es kommt aber schnell aus der Mode und gerät in Vergessenheit,
wobei es durch die fast unbegrenzte Speicherkapazität des Internets immer
abrufbar 54 bleibt.

        4.3 Probleme der Klassifikation der Internet-Meme

Für die Sprachwissenschaft sind die Internet-Sprachklischees eine neue
Erscheinung, daher herrscht bezüglich ihrer Klassifikation noch keine Einigkeit
(Gusejnov, lenta.ru: Ɇɟɦ). Da sie solche phraseologischen Merkmale wie
Reproduzierbarkeit (sie bilden also eine neue semantische Einheit, ein Lexem,
das sich nicht jedes Mal neu bilden lässt), Stabilität der Wortverbindungen,
(ihre Abwandlung ist nur begrenzt möglich) und Idiomatizität (die Bedeutung
lässt sich nicht aus den einzelnen Wörtern allein erklären) besitzen, werden sie
zu den Phraseologismen* oder Idiomen (Lenk) (Burger, 61-62), den festen
lexikalischen Einheiten gezählt. Wenn ihr Ursprung bzw. der Autor bekannt ist,
werden sie als geflügelte Worte* bezeichnet,               oder als     Zitat, wenn das
Phrasem* anonymisiert ist (Krugosvet, Fraseologija).

48
  285580 tägliche Abrufe des Top-Bloggers drugoi,
, $XIODJHGHU=HLWXQJ9HþHUQMDMD0RVNYD 300
0000 Exemplare, davon 150 000 Exemplare in Moskau, 
(23.04.2011).
49
   Diesen Ausdruck verwenden Burkhart und Schmid im Hinblick auf die Verbreitung der
Meme in den Medien.
50
   die Firma Contex benennt ihr Produkt nach dem berühmtesten Mem des Runets Preved
 (23.04.2011).
51
   (Krongauz,Video), Beobachtungen der Verfasserin.
52
   „Oj kak graždane strašno žit“ in dem Lied Nasekomye der russischen Band NOM
 (23.04.2011).
53
    (23.04.2011).
54
   Einige Datenbänke der Internet-Meme sind unter: http://lurkmore.ru/,
http://knowyourmeme.com, http://www.netlore.ru/,
http://www.dipity.com/tatercakes/Internet_Memes zu finden.
                                              17
Die Internet-Sprachklischees können in das Konzept der Präzedenztexte 55
eingeordnet werden: Als solche werden demzufolge alle Texte bezeichnet, die
für ein Individuum von emotionaler sowie kognitiver Bedeutung sind, und in
seiner individuellen Sprache immer wieder reproduziert werden, andererseits
aber im Umfeld des Individuums allgemein bekannt und erkennbar sind. Zu
solchen Texten werden einige Werke der klassischen russischen und
sowjetischen Literatur und Filme gezählt sowie die Folklore: Parömien,
darunter geflügelte Worte*, Film- oder Buchzitate oder Äußerungen berühmter
Persönlichkeiten (Karaulov, 217), die Eingang in die Sprache gefunden haben,
wie z.B. prägnante 6SUFKH YRQ 3XWLQ *RUEDþsY RGHU GLH Stalinismen
(Gusejnov:2004 Band 2, 130), gezählt. Hierbei ist zu bemerken, dass der
Aspekt der allgemeinen Bekanntheit im Falle der Internet-Meme überwiegend
die Internet-Community umfasst.
Sind die Internet-Sprachklischees eine Unterart der Phraseologismen oder
handelt es sich um einen grundlegend neuen Typ fester lexikalischer
Verbindungen, die sich auf Grund ihrer prinzipiell neuen Entstehung- und
Verbreitungsmechanismen                von     den      traditionellen,     nicht     virtuellen
Phraseologismen           unterscheiden        und     eine     neue      Art   der    Internet-
Phraseologismen bilden (Gusejnov, Lenta.ru/Mem)? Um diese Frage
annähernd beantworten zu können, wird im Abschnitt 6 der vorliegenden
Arbeit die Verwendungsfrequenz von drei in der Blogosphäre häufig
verwendeten traditionellen Phraseologismen mit drei Internetparömien
verglichen 56.

           4.4 Funktion der Internet-Meme

Ähnlich wie Teenager ihren eigenen Jugendslang verwenden, um sich von den
Erwachsenen abzugrenzen, benutzen die aktiven User die Internet-
Sprachklischees, um ihre Zugehörigkeit zu einer Internet-Community zu
signalisieren. Als Sprachklischees und Träger bestimmter kultureller Codes
bieten die Internet-Meme eine günstige Ausdrucksmöglichkeit, und so
bereichern sie die Sprache. Andererseits ist bei der Verwendung der
Sprachklischees der individuelle Ausdruck stark eingeschränkt, und die
kognitive Funktion der Sprache unterdrückt (Gusejnov:2009, 286), die Rolle

55
     Nach Karaulov Jurij, 5XVVNLM-D]\NLMD]\NRYDMDOLþQRVW¶, 2002.
56
     Siehe Abschnitt 6.1 der vorliegenden Arbeit.
                                                 18
eines Individuums wird auf bloße Mem-Reproduktion reduziert. Der Mensch
wird zu einem Membot* (Ksenofontova, 287) degradiert.
Die wesentlichen Merkmale der vielseitigen Kultur des Runets, die zahlreiche
Mems hervorgebrach hat, sollen deren im nachfolgenden Abschnitt erläutert
werden.

5. Zur russischen Internetkultur
        5.1 Linguistische und stilistische Besonderheiten der CMC im
Runet

Das Internet bietet allen die Möglichkeit eines von den sozialen
Rangordnungen und Normen, zeitlichen und temporalen Bedingungen freien
Informationsaustausches, bei dem die Sprache zum dominierenden, teilweise
einzigen Instrument der Kommunikation wird und spezifische, nur im Netz
vorhandene Eigenschaften bekommt. Obwohl der klassische Briefwechsel
Genre in seiner traditionellen, d.h. rein schriftlichen Form in der moderneren
Welt zweifellos ausstirbt, geht heute ein beachtlicher Teil unserer
Kommunikation in den Bereich des Schriftlichen über (Krongauz, Video): ein
Chat erstsetzt eine Face-to-Face-Gespräch, eine E-Mail einen Anruf. Diese
neue Schriftlichkeit besitzt, wie bereits in Abschnitt 2 erwähnt, Elemente der
gesprochenen Sprache, welche die expressive Ebene des Textes erweitern.
Die Sprache der russischen Internetnutzer ist im Wesentlichen durch folgende
linguistische und stilistische Besonderheiten gekennzeichnet:
     1. Erratische     Semantik 57.    Neologismen,       die   mittels    absichtlicher
        Verzerrung der Orthografie im Hinblick auf die fiktive Anpassung an
        die tatsächliche Aussprache oft eine neue Bedeutung bekommen
        (Gusejnov:2005) – Errative, z.B. afftar statt avtor. An dieser Stelle
        muss angemerkt werden, dass außer der bewussten Verzerrung der
        Orthographie ist im Netz eine unbewusste, auf Grund fehlender
        Grundlagenkenntnisse der Rechtschreibung entstehende Verzerrung,
        ebenfalls weit verbreitet ist. Ein Grund dafür ist das sinkende Niveau
        des Schulunterrichtes in Russland sowie – im Gegensatz zu den
        strengen Regelungen der Zensur in der Sowjetunion – durch die
        unzureichende Redaktionsarbeit oft fehlerhafte Sprache der Medien, die
        für viele Russen heute jedoch als Orientierung dient 1DLGLþ . Das
57
  Der Begriff Errativ wurde von G. Gusejnov in dem Artikel „Berloga Vebloga. Vvedenie v
HUUDWLþHVNXMXVHPDQWLNX³2005 geprägt.
                                            19
Bloggen hat eine noch nie da gewesene Anzahl von Amateurtexte für
        die breite Öffentlichkeit zugänglich gemacht, folglich sinkt das
        sprachliche Niveau der Autoren, während die Variabilität und die
        Akzeptanz der Fehler seitens Leser steigt.
     2. Verbreitung des Computerslangs, der Jargonismen, und des Mat.
        Allgemeine Liberalisierung des Stils (Krongauz, Video).
     3. Syntaktische Vereinfachung: Die Spezifika der CMC – hohe
        Geschwindigkeit der Kommunikation und Expressivität – bedingen die
        Veränderung des Satzbaus – mit der Tendenz zur Vereinfachung: die
        Sätze werden kürzer, wobei die Nebensätze, Gerundial- und
        Partizipialkonstruktionen oft wegfallen, eine Vernachlässigung der
        Satzzeichen ist zu beobachten 1DLGLþ .
     4. Gebrauch von Symbolen – mathematischen Zeichen, Ikonen í @,
        Emoticons (-), Gebrauch von Zahlen als phonethischer Symbole z.B.
        Ɉ für opjat’, 4to für þWR. Vermischung der lateinischen und
        kyrillischen Schriftí web-ɞɢɡɚɣɧ; Tastatur-Calque: das Verwenden
        des russischen Tastatur-Layouts für lateinische Buchstaben, z.B. Ɂɕ.
        statt PS., und umgekehrt, z.B. lytdybr statt ɞɧɟɜɧɢɤ (0HþNRYVNDMD2).
     5. Wortschöpfung, spielerischer Umgang mit der Sprache: Akronyme*,
        wie z.B. ɂɆɏɈ (die kyrillische Wiedergabe des englischen In My
        Humble Opinion); Literative 58 ídas Durchstreichen des Geschriebenen,
        als eine Art vermeintlicher Selbstzensur 59, (Krongauz, „Jazyk i
        kommunikacija“), zu Erzielung eines komischen oder verfremdenden
        Effekts. Äskhrophemismen 60 - wenn die Lexeme paronymisch* in ein
        Schimpfwort oder eine Beleidigung umgewandelt werden (Gusejnov:
        2000): z.B. polit.sru statt polit.ru. Neologismen und Sprachklischees,
        die in den kommunikativen Gruppen im Internet kanonisiert und ggf.
        weiterentwickelt werden: Wie der populäre Internetgruß preved 61 statt
        des standardsprachlichen privet, oder sein Derivativ í das Internet-
        Sprachklischee preved, medved!

58
   Der Begriff wurde von G. Gusejnov eingeführt (Gusejnov:2009, 281).
59
   Beispiel eines Literatives in einem Posting:„ɉɨɥɚɝɚɸɷɬɨɬɜɨɩɪɨɫɧɟɦɟɲɚɥɨɛɵ
ɩɪɨɹɫɧɢɬɶɍɠɲɢɛɤɨɨɧɛɨɥɟɡɧɟɧɞɥɹɪɭɫɫ ɪɨɫɫɢɣɫɤɨɝɨɨɛɳɟɫɬɜɚ³
http://dno.ru/have_fun/books/113299/>. 20.04.2011.
60
   Der Begriff wurde von G. Gusejnov geprägt.
61
   Hier wird nicht das orthographische Prinzip verletzt, sondern die sprachliche Norm.
                                                20
6. Verbreiteter Gebrauch von Interjektionen, Lautmalerei*, Gebrauch von
           GROSSBUCHSTABEN                als    Ersatz    der      Stimmmodulation      der
           (Krongauz, „Jazyk i kommunikacija“).
Folgende Merkmale der mündlichen Sprache weist die Sprache der
Internetnutzer auf: Sie ist flüchtig, locker, enthält Slang und Mat, die
traditionell für die mündliche Sprache charakteristisch sind. Andererseits ist die
Sprache fixiert, die Kommunikationsteilnehmer sind im Normalfall geografisch
voneinander getrennt, die Textstruktur ist mittels Hypertexten – Intertextuell
und nicht linear. Folglich kann die Sprache der Internetnutzer als eine
Zwischenform          des    mündlichen         und   schriftlichen    Artikulationsmodus
bezeichnet werden (Lutovinova, 64-65).
Die Entwicklungen der letzten Jahre zeigen, dass das Verfassen der eigenen
und Kommentieren der fremden Texte zum dominierenden schriftlichen Mittel
der Kreativität und Kommunikation im Internet geworden sind: Die führenden
Postings*       in    den    Blogs*     umfassen      stilistisch    folgende    Textsorten:
Kommentare, Erzählungen, Witze (Gusejnov:2005) (Krongauz, Video).
Die kreative Textproduktion im Runet wurde weitgehend von dem
antiorthografischen         Padonki-Slang*        beeinflusst,      dessen      grundlegende
Charakteristika und Entstehungsgeschichte im nachfolgenden Abschnitt
erläutert werden.

           5.2 Der Padonki-Slang als Form der russischen Netlore

Der Padonki-Slang, der auch Olbanskij, Albaskij, Jezyk Padonkaff, Orfoart
oder Setevoj Novojaz genannt wird, ist für den russischen Internetdiskurs zu
Beginn des 21. Jahrhunderts kennzeichnend.
Kennzeichnend für diesen Internetslang ist, wie bereits einige seiner
Bezeichnungen vermuten lassen, seine erratische Semantik: padonki statt
podonki, kamitet statt komitet, fsë statt vsë. Dabei ist die Verzerrung der
Orthographie eher systematisch als willkürlich 62:
       - Aufhebung des phonetischen Prinzips: statt ɢ L  wird nach den
           Zischlauten ž, š ein ɵ \ geschrieben: žyzn’ statt žizn’, statt ɭ (u)
           schreibt man ɸ (ju) þMXYLFKD statt þXYLFKD;
       - Präpositionen und verneinende Partikel werden zusammengeschrieben:
           ftopky statt v topku, [negative Wertung des Textes] niasilil statt ne osilil
           [der Text ist langweilig];

62
     vgl. Zvereva, S.63, Šapovalova, Gusejnov 2005.
                                               21
- Die Verben in der dritten Person Präsens werden verändert: -ɬɫɹ (tsja)
        wird durch -ɰɰɚ (-cca) ersetzt: prucca 63 etc. (Šapovalova, 293);
     - Wortschöpfungen („Ironische Grammatik“ (Zubova)): Experimente mit
        dem grammatischen Geschlecht. Die Substantive im Maskulinum oder
        Femininum werden ins Neutrum umgewandelt: medved’ in medvedko,
        devuška in devuško, wobei andere Wortarten substantiviert werden, wie
        z.B. das Wort preved, die zum prevedko wird.
Die Systematik der Deviation zeigt, dass dem Padonki-Slang eine gewisse
metasprachliche Reflexion anhaftet, welche die Kenntnis der russischen
Grammatik- und der Rechtschreibregeln sowie die Beherrschung der
unterschiedlichen sprachlichen Register voraussetzt: So schreibt Dmitrij
Sokolovskij, im Internet unter dem Nick Udaff bekannt, einer der aktiven
Entwickler des Slangs in seiner Monographie Biblija Padonkov: „Nastojašij
padonak 64 možet izdeYDW¶VMDQDGRUIRJUDILHMNDNFKRþet, no sgorit so styda, esli
postavit zapjatuju ne tam, gde nužno“ (Sokolovskij, 48).
Der exzessive Gebrauch von Mat sowie die überwiegend profane, teilweise
obszöne Thematik, der s.g. PTU 65-Stail 66 der Kreatiffs 67, im Padonki-Slang
verfassten Texte, gehören ebenfalls zu den typischen charakteristischen
Eigenschaften des Slangs.
Die erratische Semantik ist keineswegs ein Novum der Internetsprache:
Ähnliche Experimente mit der Orthografie finden sich z.B. in zaumnyj jazyk 68
í der Sprache der russischen Futuristen in den 1910-20er Jahren oder in den
orthographischen Scherzen 69 des Moskauer Philologen Dmitrij Ušakov und
seiner Kollegen in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts. Die Bezeichnung
Albanskij wird für den Internetslang vermutlich seit 2004 70 verwendet
(Krongauz:2008).

63
   Mehr zu den Regeln des Padonki-Slang siehe u.a Šapovalova, Sokolivskij S.49.
64
   Angehöriger der Padonki-Subkultur, die sich des Slangs aktiv bedienen.
65
   PTU – eine Art Berufsschule in der UdSSR und dem heutigen Russland, die man ohne das
erreichen der mittleren Reife (vgl. Hauptschulabschluss in Deutschland) besuchen kann. Der
Begriff konnotiert stark mit dem Milieu der bildungsfremden Jugendlichen.
66
   Ein von Padonki verwendender Begriff (Sokolovskij, 20).
67
   „Kreatiffs sind sind von Padonki geschaffene, ins Internet gestellte und zum Feedback
einladende Kommunikate (Texte, Bilder, Videos)“ sowie die „Oberbezeichnung für die
russische Netzfolklore und Amateurkunst im Ganzem“ (Burkhard, 413).
68
   Der russLVFKH)XWXULVW,OMD=GDQHYLþ Künstlername Il’jazd) schrieb seine Dramenreihe
$VVDDEOLþ¶MDin der von ihm entwickelten Sprache, die er olbanskij yazyk nannte (Skoromnyj).
69
   Die darin bestanden, ein Wort aus der Sicht der Rechtschreibung möglichst falsch zu
schreiben, z.B ozperand für aspirant (Krongauz, 2008).
70
   als ein amerikanischer LJ-User über den Post
 (24.03.2011) in der russischen Sprache fragte,
was für eine Sprache dies sei, bekam er die Antwort – albanski (Krongauz 2008).
                                               22
Warum konnte die obszöne, antiorthografische Sprache so viele Anhänger im
Runet finden? Ein kurzer Exkurs in die Kulturgeschichte Russlands nach 1990
könnte diesen Sachverhalt klären.
Nach dem Zerfall der Sowjetunion befand sich das Land in einer besonderen
kulturellen Situation: Als in der in der Literatur und in dem öffentlichen
Diskurs die Liberalisierung des Mat (Zvereva, 51-52) stattfindet. Die in der
offiziellen Kultur tabuisierte Sprache wird nun als Zeichen der Freiheit in allen
Bereichen des kulturellen Lebens 71 verstanden, sie gilt als Protest gegen die
kodifizierte literarische Sprachnorm des sowjetischen Regime mit seinen
verlogenen Sprachklischees, seinem militaristischen Pseudooptimismus, und
seiner Manipulierung des Massenbewusstseins (1DLGLþ). Die expressiven und
obszönen Elemente der Sprache finden darüber hinaus im neuen Medium
Internet, wo sie auf die von John Barlow entwickelten Ideen von
Unabhängigkeit des Internets stoßen 72, ihre Verbreitung (Zvereva, 51-52). Die
ersten Seiten, die eine Möglichkeit zu der tabufreien Selbstexpression bieten,
sind die www.Fuck.ru und www.fuckru.net 73, heute hält die von Sokolovskij
2001 (Sololovskij, 28) ins Leben gerufene Plattform www.udaff.com 74 in dem
Bereich führende Position. Auf der Grundlage des bei den Fido-Konferenzen
entstandenen Wortschatzes (Sokolovskij, 8) entwickelt sich der Slang im Laufe
der Zeit zunächst in den genannten Internet-Plattformen weiter, wo allen
Nutzern, die sich selbst als Padonki bezeichnen, die Möglichkeit geboten wird,
ihre Texte, die so genannten Kreatiffs zu veröffentlichen, sowie fremde Texte
zu kommentieren (Zvereva, 54). Die in den Ressourcen verwendende Sprache
bietet mit ihrer Expressivität, ihrem Humor, dem spielerischen Umgang mit
Worten ein an die Gegebenheiten der CMC angepasstes Instrument der
Kreativität und Kommunikation 75 (Zvereva, 79). Zunächst ein Zeichen der
Zugehörigkeit zu der männlich dominierten und homophoben Padonki-
Community, die sich als eine Gegenkultur* betrachtet und der überwiegend
junge Intellektuelle angehören (Sokolovskij, 20, 25), verbreitet sich der
Padonki-Slang über die Grenze des Portals Udaff.com hinaus: Als 2003

71
   z.B. die Texte von V.Sorokin oder die Subkultur der Mit’ki.
72
   “We are creating a world where anyone, anywhere may express his or her
 beliefs, no matter how singular, without fear of being coerced into silence
 or conformity“ (Barlow).
73
   Beide Seiten existieren heute nicht mehr.
74
   Ca. 21 000 Besucher am Tag (Zum Vergleich hat Vkontakte 22 000 000 Besucher). Statistik
von . Stand 4.03.2011.
75
   Wobei es durchaus vorstellbar ist, dass einige Nutzer mittels der antiorthografischen Sprache
eigenes Unwissen zu tarnen versuchen.
                                                23
Tausende neuer User Zugang zu dem Blog-Service LiveJournal erhalten, wo
einige Padonki zu den Top-Bloggern 76zählen, übernehmen sie schnell diese
neue, kreative, pragmatische Sprache. In den Jahren 2004 bis 2007 erreicht die
Popularität der Sprache, die auch außerhalb des Internets bekannt wird 77, ihren
Höhepunkt: So ist während der Internet-Pressekonferenz von Vladimir Putin
am 06.07.2007 HLQHGHUSRSXOlUVWHQ)UDJHÄ35(9('9ODGLPLU9ODGLPLURYLþ,
kak vy otnosites’ k MEDVEDY?“ im Padonki-Slang formuliert (Zvereva, 54-
55).
Eine wichtige Funktion des Slangs ist die kritische wie kreative Reflexion über
die sprachliche Globalisierung (Burkhart, 413). Die demonstrative Ablehnung
grammatischer Regeln sowie die bewusste Wahl trivialer Themen könnte als
ein Protest gegen die Regeln der „heuchlerischen“ (Sokolovskij, 10) offiziellen
Kultur interpretiert werden (Zvereva, 51), als „VUHGVWYR UD]YHQþDQLMD
ofizial’nych dogm“ (Šapovalova).
N.     Šapovalova     betrachtet     den    Padonki-Slang       als    ein   „ästhetisches
Underground“ (Šapovalova) und vergleicht das Netzphänomen mit der
archaischen Witzkultur 78 des Mittelalters. Das Spielerische, Vulgäre, das in
jedem soziokulturellen Raum vorhanden sei, blühe besonders in den
Krisenzeiten auf. Sie sieht in dem beschriebenen Phänomen als eine
Quintessenz der sozialen Entwicklungen in Russland (Šapovalova).
Heute ist der Padonki-Slang zu einem Massenphänomen geworden und kann
nicht mehr mit der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Subkultur in
Verbindung gebracht werden (Zvereva, 78, Gusejnov 79). Seit 2006 ist eine
Verminderung des allgemeinen Interesses an den antiorthografischen
Sprachexperimenten zu verzeichnen. 80
Die langfristigen Folgen dieser Sprachspiele werden von den Fachleuten
unterschiedlich gesehen: Vera Zvereva glaubt, dass sich dadurch die Praktik
des legitimen spielerischen Umgangs mit der Sprache sowie die Akzeptanz
bewusster Änderungen der Sprachnormen gefestigt habe (Zvereva, 78),
Maksim Krongauz billigt die Liberalisierung der Norm im Rahmen der
Sprachexperimente, fügt jedoch hinzu, dass die Abweichung von der Norm vor

76
   Der Blog von Sokolovskij im Livejournal  (20.03.2011).
77
   So kommt z.B. der Slang im Roman von Vladimir Pelevin (2005) Šlem Užasa: Kreatiff o
Tessee i Minotavre.
78
   Nach M. Bachtins. Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur (1965).
79
   Für diesen Hinweis bin ich Herrn Gusejnov dankbar.
80
   Darüber sind sich mehrere Forscher des Runets einig: Krongauz, Gusejnov, Zvereva.
                                             24
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