Internet-Phänomene des Runets - Parömiologische Eigenschaften der Blogosphäre Bachelorarbeit über das Thema - Russisch
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Bachelorarbeit über das Thema Internet-Phänomene des Runets Parömiologische Eigenschaften der Blogosphäre _____________________________________________________________ Dem Prüfungsamt bei der Johannes Gutenberg-Universität Mainz Vorgelegt von Rybalkina Marina Matrikel-Nr.: 9091472 Referentin: Prof. Dr. Birgit Menzel
Inhaltsverzeichnis Einleitung 3 1. Internet in Russland: Meilensteine der Entwicklung 4 1.1 Vom Pentagon in die ganze Welt: Die Entstehung des Internets 4 1.2 1990-1995: Putsch, Zerfall der UdSSR und Fido-Konferenzen 5 1.3 1995-2000: Netzjournalismus, Kommerzialisierung, Runet 6 1.4 Das Runet im 21. Jahrhundert: Blogs und soziale Netzwerke 8 2. Eigenschaften der computervermittelten Kommunikation 9 3. Internet als Raum der kulturellen Produktion 12 3.1 Netzkultur – die Kultur des Internets 12 3.2 Netlore – die Internetfolklore 13 4. Internet-Meme als Phänomene des Internets 14 4.1 Der Begriff Mem 14 4.2 Internet-Meme: Entstehung und Verbreitung 16 4.3 Probleme der Klassifikation der Internet-Meme 17 4.4 Funktion der Internet-Meme 18 5. Zur russischen Internetkultur 19 5.1 Linguistische und stilistische Besonderheiten der CMC im Runet 19 5.2 Der Padonki-Slang als Form der russischen Netlore 21 6. Exemplarische Untersuchung der Internet-Meme des Runtets 25 6.1 Methodologische Überlegungen 25 6.2 Das Internet-Mem kak strašno žit’ 26 6.3 Das Internet-Mem v Bobrujsk, žyvotnoe 32 6.4 Das Internet-Mem ja krevedko 36 6.5 Fazit 44 Schlussfolgerung 46 Literaturverzeichnis 48 Anhang 55 2
Einleitung Das Internet – ein neues Medium – spielt im öffentlichen und privaten Leben der Menschen weltweit eine immer größere Rolle. Als Synonym der Globalisierung hebt das Internet das Prinzip der geografischen Entfernung auf und erweitert die Möglichkeiten des Informationsaustausches erheblich. Das neue Medium sorgt für die Entstehung eines neuen kommunikativen Phänomens – der computervermittelten Kommunikation und bereichert dem Planeten um eine neue Sphäre – die virtuelle Blogosphäre*. Wie beeinflusst das Internet unsere Kultur und unseren Sprachgebrauch? Als eine Annäherung an diese komplexe Fragestellung wird in der vorliegenden Arbeit die russische Blogosphäre auf ihre Eigenschaft Parömien* hervorzubringen untersucht. Der erste Abschnitt gibt einen Überblick über die Entwicklung des Internets in Russland, der zweite erläutert die Besonderheiten der Kommunikation im Internet, die zur Entstehung eines neuen kulturellen Raums wesentlich beitragen. Die Eigenschaften der virtuellen Kultur werden im dritten Abschnitt dargestellt. Eine Ausprägung der Internet-Kultur – die Internet-Phänomene, auch Internet-Meme genannt, stehen im Mittelpunkt des vierten Abschnittes, wo ihre grundlegenden Entstehungs- und Verbreitungsmechanismen beschrieben werden sowie ein Versuch ihrer Klassifikation unternommen wird. Der fünfte Abschnitt widmet sich den Besonderheiten der russischen Internet- Kultur, die zahlreiche Meme hervorgebracht hat. Abschließend wird eine exemplarische Untersuchung an drei populären Internet-Memen des russischen Internets durchgeführt, in der besondere Aufmerksamkeit dem Prozess der Wortschöpfung in der Blogosphäre, den Eigenschaften der Internet-Parömien und ihrem Einfluss auf die Sprache gewidmet wird. Da die vorliegende Arbeit sich dem Thema Internet widmet und folglich zahlreiche Internet-Links enthält, empfiehlt es sich, sie auf einem mit dem Internet verbundenen Computer zu lesen. 3
„Medien speichern und überliefern Erfahrungen, Erkenntnisse, Wissensbestände, Ideen und Phantasien. Ohne Medien gäbe es keine Tradition“ (Kübler, 20). 1. Internet in Russland: Meilensteine der Entwicklung 1.1 Vom Pentagon in die ganze Welt: Die Entstehung des Internets Die Ursprünge des Internets 1 2, lassen sich in den USA zu der Zeit des Kalten Krieges finden: Als die Sowjetunion am vierten Oktober 1957 den ersten Erdsatelliten Sputnik um die Erde schickt, gründet das US-amerikanische Verteidigungsministerium die Advanced Research Projects Agency, eine Behörde, die im Jahr 1969 das ARPANET-Netz, den Vorläufer des Internet entwickelt (Gorny:2006, 70). Das primäre Ziel von ARPANET ist die Herstellung einer sicheren Vernetzung zwischen den führenden Forschungsstätten und Universitäten des Landes, die im Auftrag des amerikanischen Verteidigungsministeriums arbeiten (Glaser). In den nachfolgenden Jahren wird kontinuierlich an der Erweiterung von ARPANET gearbeitet, in den 70er Jahren wird das Netz auch für nicht militärische Zwecke freigegeben (Wetzstein, 25). Die erste internationale Verbindung stellt ARPANET 1973 zum University College London her (Dittmann, 110). Anfang der 80er Jahre spaltet sich das Military Net ab, für die restlichen Netze beginnt sich die Bezeichnung Internet durchzusetzen (Wetzstein, 25). Technische Neuerungen, wie die Entwicklung des E-Mail-Programms 3 im Jahre 1971 oder der Technologie der TCP/IP* Protokolle 4 1983, die eine universelle Datenvernetzung ermöglicht, stellen die Weichen für die erfolgreiche Verbreitung des Netzes. Zu Beginn der 90er Jahre wird das Internet über die Grenzen der Universitäten und Forschungsinstitute hinaus für alle Nutzer weltweit zugänglich: 1991 wird die Idee des auf der Hyper Text Markup Language (HTML)* basierten World Wide Webs* 5 vorgestellt, eines Internetdienstes, der das Surfen in seiner heutigen Form ermöglicht. Das Aufkommen von Mosaic, dem ersten WEB-Browser-Programm im Jahre 1993 1 Die Bezeichnung Internet, eine Wortkreuzung der englischen Wörte inter und network, kam in den 1970er Jahren auf (Oxford Dictionary). 2 Erläuterungen zu den mit den *markierten Fachbegriffen siehe Glossar im Anhang. 3 Das Programm wurde von dem US-amerikanischen Computerspezialisten Ray Tomilson entwickelt („Email Home“). 4 1983 von den amerikanischen Informatikern Robert E. Kahn und Vinton Cerf („Internet History“) entwickelt. Cerf wird oft als einer der Väter des Internet bezeichnet. Heute ist er Vizepräsident des Managementteams von Google (Dittmann, 110) 5 Von dem britischen Physiker und Computerspezialisten Tim Berners-Lee („Das Phänomen“). 4
revolutioniert das Netz – dank des einfachen und benutzerfreundlichen Interface entdecken die begeisterten Adapter der Computertechnologien das World Wide Web (Gorny:2006, 70-71). Das Internet-Zeitalter beginnt. 1.2 1990-1995: Putsch, Zerfall der UdSSR und Fido-Konferenzen In die Sowjetunion kommt das Internet im Jahr 1988, als die Mitarbeiter des .XUþDWRY-Instituts, der führenden Kernforschungstätte des Landes die Verbindung zu dem globalen Netz herstellen („Kak zaroždalsja“). Die Idee einer länderübergreifenden Vernetzung der Wissenschaftler, frei von geographischen und vor allem ideologischen Grenzen, ist in der akademischen Welt jedoch nicht neu. Noch in der Zeit des Kalten Krieges wird versucht eine Datenverbindung zwischen den Wissenschaftlern auf den beiden Seiten des Eisernen Vorhanges herzustellen 6. In den 70er und 80er Jahren entstehen in der Sowjetunion interne landesweite Computernetze: Die sowjetischen Forschungsstätten und Universitäten sind ab Ende der 1970er Jahre über das AKADEMSET-Netz miteinander verbunden (Dittmann, 110, 118). Eine dauerhafte Verbindung mit den Kollegen im Westen kommt jedoch erst zu Beginn der 1990er Jahre mit der Verbreitung des Internets zustande („Kak zaroždalsja“). Zunächst können die sowjetischen Wissenschaftler E-Mails mit Hilfe des Internets versenden, den ersten Zugang zu einem WWW-Server bekommen sie im Jahr 1993. Im September 1990 wird der Domain-Name .su registriert, das Domain .ru entsteht im Jahr 1994 („Internet v Rossii“). Bereits im Sommer 1991 gehen die ersten unabhängigen sowjetischen Nachrichtenagenturen, u.a. Interfaks und RIA Novosti, ins Netz, als einzige unzensierte Medien des Landes sorgen sie für eine unabhängige Berichterstattung während des Putsches im August 1991 („Kak zaroždalsja“). Anfang der 90er Jahre bleibt der Zugang zum Internet für die meisten Einwohner des krisengeschüttelten Russland unerschwinglich. Einer großen Popularität erfreut sich daher die kostengünstige Alternative zum Internet – das nichtkommerzielle Mailboxnetz* Fidonet*. Vor allem im Zeitraum zwischen 1990 und 1995 finden über das Fidonet zahlreiche Diskussionen statt, die als Fido-Konferenzen bekannt geworden sind. Es bilden sich unterschiedliche 6 Im Juli 1977 stellt das International Institute for Applied Systems Analysis (IIASA) in Laxenburg bei Wien eine Datenverbindung zwischen Österreich, Polen, der UdSSR und den USA her. Das Experiment wird jedoch aus technischen Gründen eingestellt (Dittmann, 106- 108). 5
Interessengruppen – die ersten Communities, russ. SRREãþHVWYD („Internet v Rossii“). Trotz der wirtschaftlichen Schwierigkeiten schreitet die Verbreitung des Internets in Russland voran. Es entstehen die ersten großformatigen Internetprojekte und -Ressourcen wie z.B. die 1994 gegründete Online- Bibliothek Biblioteka Maksima Moškova 7 oder die 1995 ins Leben gerufene Unterhaltungsseite Anekdoty iz Rossii 8. Im März 1995 erscheint die erste elektronische Version eines russischen Printmediums – der pädagogischen Zeitung 8þLWHO¶VNDMD*D]HWD – im Netz (Gorny). Die Vorstellung von dem Internet als einem freien und unabhängigen virtuellen Raum, so wie sie die von dem US-amerikanischen Literaten John Perry Barlow in seiner Declaration of Independence of Cybercpace 9 aus dem Jahr 1996 formuliert wird, findet offensichtlich in Russland, einem Land mit einer langen Samizdat 10-Tradition breite Unterstützung (Kuznecov, 11). Fast alle vorhandenen russischen sowie ausländischen Filme, Musiktitel und Bücher 11 können mittlerweile im Internet kostenlos heruntergeladen werden 12. 1.3 1995-2000: Netzjournalismus, Kommerzialisierung, Runet Der Netzjournalismus und die literarischen Sprachexperimente prägen das russische Internet von Mitte bis Ende der 90ger Jahre. Die ersten Internetzeitschriften – Naši Seti, 9HþHUQLM ,QWHUQHW, Zhurnal.ru erfreuen sich großer Beliebtheit, es entsteht sogar ein neuer journalistischer Beruf - der des Netzkolumnisten, russ. setevoj obožrevatel’, dessen Pionier Anton Nosik 13 wird. Man experimentiert mit dem kollektiven Schreiben literarischer Texte: So entstehen im Jahr 1995 der erste interaktive Hyper-Text-Roman POMAH und das Literaturspiel %XULPơ 14, außerdem findet der Wettbewerb der Netzliteratur TEHETA statt. Die kreativen Köpfe hinter diesen 7 www.lib.ru, heute eine Online-Bibliothek mit Kultstatus. 8 eine der populärsten russischen Internetseiten, 1. Platz in World Top 1000 am 06.02.98 (Gorny). 9 Den Text der Deklaration siehe unter (28.04.2011). 10 Samizdat (russ. Selbstverlag) – nicht systemkonforme Texte, die auf inoffiziellen Wegen verbreitet werden, um der Staatszensur zu entgehen. Dabei hat der Autor keinerlei Kontrolle über die Verbreitung seiner Texte (Pjatkovskij). 11 So stellen u.a. bedeutende moderne russischen Schriftsteller wie Viktor Pelevin und Vladimir Sorokin (27.04.2011) ihre Texte kostenfrei im Netz zur Verfügung. 12 Die neuesten Tendenzen zeigen, dass das Internet als Raum zu freien Meinungsäußerung von der staatlichen Zensur immer stärker eingegrenzt wird („Freedom House“). 13 Sein Blog im Livejournal: (27.04.2011). 14 Von dem franz. bouts-rimés, Dichten nach vorgegebenen Endreimen. 6
Internetprojekten sind: Nosik, Artemij Lebedev 15 'PLWULM ,FNRYLþ 16, Segej Kuznecov, Mikhail Jakubov 17, Evgenij Gornyj 18, Vadim Maslov, Dmitrij Manin, („Kak zaroždalsja“) Roman Lejbov 19 (Kuznecov, 14-15). Einige von ihnen genießen auch heute, vor allem als Blogger, großes Ansehen in dem russischsprachigen Netz. Ab 1995 beginnt in Russland die Kommerzialisierung des Internets: Die ersten Internetanbieter Cityline, Rossija Onlain werben um Kunden, 1996 entstehen die ersten russischen Suchmaschinen: Rambler, Aport, Yandex („Kak zaroždalsja“). In Sankt Petersburg wird das erste Internetcafé Russlands namens Tetris eröffnet. Eine der bemerkenswerten Contents-Seiten* des Runets ist die 1996 gegründete Ressource Russkij Žurnal, 20 deren Projekt Žurnal’nyj Zal, das die traditionsreichen russischen Printmedien, (die sogenannten tolstye žurnaly) auf seiner Internetplattform beherbergt, sich auch heute noch großer Beliebtheit erfreut. 1997 führt der Netzjournalist Raffi Aslanbekov 21 den Begriff Runet 22 ein, der seitdem zur Bezeichnung des russischsprachigen Internetsegments angewendet wird. Der erste kostenlose russische Email-Service Pochta.ru wird 1997 ins Leben gerufen (Gorny). Als 1998 die Zahl der russischen User die Millionenmarke erreicht, beginnt man in Russland das Internet als ein Massenphänomen zu bezeichnen (Gorny: 2006, 167). Mit der zunehmenden Verbreitung des Internets stirbt das Genre der Netzkolumnen allmählich aus, die Netzmagazine weichen den Internetzeitungen den Weg: Die erste Onlinezeitung Gazeta.ru wird 1999 unter Beteiligung einiger prominenter Internet-Persönlichkeiten – Lebedev, Moškov, 15 Sohn der Schriftstellerin Tatjana Tolstaja, Webdesigner, Weltreisender und Blogger mit Kultstatus im Runet, sein erstes Internetprojekt stammt aus dem Jahr 1996. Lebedevs Blog im Livejournal (27.04.2011). 16 Heute Vorsitzender des Redaktionsbeirates der 1998 gegründeten Ressource www.polit.ru. 17 Jakubov, ein Klassenkamerad von Lebedev, half Kuznecov, der berets seit 1992 eine eigene Emailadresse besaß, Lejbov und Gornyj den Zugang zum Internet zu bekommen (Kuznecov, 14-15). 18 Sein Blog im Livejournal (27.04.2011). 19 (27.04.2011). 20 < www.russ.ru> Zur Geschichte des Projekts siehe < http://magazines.russ.ru/novyi_mi/2006/3/ko18.html> (29.04.2011). 21 Das erste Mal In seiner Kolumne Mysli Velikogo Djadjuški erwähnt (27. 04.2011). 22 Eine Wortzusammensetzung aus dem Domainnnamen .ru und net, in Ablehnung an die Wortformation Internet. 7
und Nosik ins Leben gerufen. Ein weiteres großes Projekt ist der Online- Nachrichtendienst Lenta.ru, dessen Chefredakteur Nosik wird. Das Potenzial des Internet als eines effektiven Massenmediums wird auch im Kreml erkannt: Die Wahlkampagnie von Vladimir Putin im Jahr 2000 wird im Internet von der eigens dafür entwickelten Seite www.putin200.ru unterstützt. Ende 2000 zählt das Runet bereits mehr als sieben Millionen Nutzer („Kak zaroždalsja“). 1.4 Das Runet im 21. Jahrhundert: Blogs und soziale Netzwerke Im Jahr 2001 entdecken die russischen Internetnutzer die amerikanische Bloggerplattform Livejournal 23. Der LJ-Eintrag 24 Leibovs vom 01.02.2001, der zu den ersten russischsprachen Posts in Livejournal gehört, markiert die Geburtsstunde der russischen Blogosphäre. Seit 2003, als für alle Nutzer eine Registrierung ohne Einladung beim Livejournal möglich wird, entwickelt sich die Plattform zu einer der beliebtesten Internetressourcen Russlands: 2007 wird sie von der russischen Firma SUP Fabrik gekauft. Im Jahr 2009 eröffnet der russische Präsident Medvedev im LiveJournal seinen offiziellen Blog 25. 2010 ist Russisch im LJ nach Englisch die weitverbreitete Sprache 26. Eine solche Popularität lässt sich laut dem Runet-Forscher Eugene Gorny vor allem durch die vom Livejournal angebotene Funktion der Community-Buildung erklären. Diese wird von den russischen Nutzern, für die Freundschaft sowie die informellen Netzwerke eine übergeordnete Rolle spielen, besonders geschätzt (Gorny:2006, 252). Die besondere Popularität der ersten virtuellen Communities im Fido-Netz in Russland (Lurkmore, Fido) bestätigt diese These. Im Jahr 2005 beginnt mit dem Service Moj Krug die Verbreitung der sozialen Netzwerke* in Russland. Die heutigen Headliner sind Odnoklassniki.ru – 45 27Millionen Nutzer und Vkontakte.ru mit mehr als 100 28 Millionen registrierten Profilen im Jahre 2010. Beide Netzwerke gehen 2006 an Start (Golynko, 31). Die 2006 in den USA gegründete Mikroblogplattform Twitter gewinnt in Russland zunehmend an Popularität: Im Februar 2011 sind laut 23 Kurz LJ. 24 (27.04.2011). 25 (27.04.2011). 26 (27.04.2011). 27 (27.04.2011). 28 (27.04.2011). 8
Yandex 29 mehr als 500 000 russische Nutzer bei Twitter registriert. Seit Juni 2010 führt auch der russische Präsident Medvedev einen Miniblog 30. Seit 2006 finden Online-Konferenzen von Putin und Medvedev statt. Das Runet für sich zu erschließen, scheint der offiziellen Macht in Russland offensichtlich wichtig zu sein (Zvereva, 54-55). Ende 2010 verfügen mehr als 46 Millionen Russen (ca. 30% der Bevölkerung) über einen Internetzugang, fast 32 Millionen (mehr als 20% aller Bewohner) sind täglich online („Mir Interneta“, 2010), das Internet ist fester Bestandteil des Alltags für jeden fünften Russen geworden. Der durchschnittliche russische Internetnutzer ist ein 30-jähriger Großstadtbewohner. Das Runet umfasst im Jahr 2010 über 15 Millionen Internetseiten, was ca. 6.5% aller weltweit vorhandenen Seiten ausmacht („Skol’ko nas“). Anfang des 21. Jahrhunderts ist das Internet zu einem Massenmedium geworden, das in der zwischenmenschlichen Kommunikation eine immer größere Rolle spielt, vor allem durch Chats*, Blogs* und die sozialen Netzwerke*. Die wesentlichen Merkmale der Internetkommunikation werden im nachfolgenden Abschnitt erläutert. 2. Eigenschaften der computervermittelten Kommunikation Das Aufkommen des Internets erweiterte und vervielfältigte die traditionelle Auffassung von menschlicher Kommunikation als verbalem oder nonverbalem Informationsaustausch. In den letzten Jahrzehnten entstand ein neuer Kommunikationstyp – die computervermittelte Kommunikation, engl. CMC 31, die alle Formen der Kommunikation umfasst, die mittels Computer oder anderer digitaler Geräte, wie z. B. Smartphones oder iPads, zustande kommt (Kimpeler, 15). Im Gegensatz zu dem klassischen Sender-Empfänger-Modell mit direktem Face-to-Face-Kontakt* in kleinen Gruppen, ist im Internet die Anzahl der potenziellen Empfänger unbegrenzt (Burkhart, 410): Die Zahl der aktiven Kommunikationsteilnehmer kann dabei wesentlich geringer sein als die Zahl der passiven Beobachter der Kommunikation. Man unterscheidet zwischen der synchronen CMC, die in realer Zeit erfolgt, z.B. mittels Chat, ISQ*, MUD* und der asynchronen z.B. über E-Mail, 29 (27.04.2011). 30 Privater Miniblog von Medvedev , neben dem offiziellen Twitterakkaunt von Kreml. (27.04.2011). 31 weiter wird die englische Abkürzung CMC benutzt. 9
Homepages, Web-Foren*, Guest-Books*, die zeitversetzt zustande kommt (Wetzstein, 58). Entsprechend der Teilnehmeranzahl werden folgende Kategorien der CMC unterschieden: interpersonale One-to-One- Kommunikation*, z.B. Email, Videotelefonie, Internettelefonie, gruppenbezogene One-to-Many-Kommunikation* wie Mailinglisten*, Blogs, Chats und öffentliche Many-to-Many-Kommunikation, z.B. Web-Foren (Piwinger). Die spezifischen Eigenschaften der CMC, die sie von der Face-to-Face- Kommunikation oder der traditionellen schriftlichen Kommunikation unterscheiden, sind Forschungsgegenstand mehrerer wissenschaftlicher Disziplinen: Psychologie, Medienwissenschaft, Soziologie, Informatik, Linguistik, Kulturologie, Folkloristik. Folglich existieren unterschiedliche, zum Teil auch widersprüchliche Modelle, die Nutzung und Eigenschaften der CMC zu erklären versuchen (Sakschewski). Wie jede andere Kommunikation, führt die CMC zur Erschaffung einer virtuellen Realität, die, indem die Teilnehmer ihre spezifischen Wertvorstellungen an die Empfänger weitergeben, einerseits die objektive Wirklichkeit widerspiegelt und andererseits die subjektive Weltanschauung der Kommunikationsteilnehmer ausdrückt (Šabšin). In der vorliegenden Arbeit wird das Internet als ein soziokultureller Raum verstanden, in dem ein Austausch von Interessen sowie die Vermittlung von Werten und Wissen der Internetnutzer stattfindet. Eine Übersicht der wesentlichen psychologischen, sozialen und linguistischen Aspekte der CMC: 1. Eingeschränkte Sinnesempfindung. Trotz der kontinuierlichen technischen Fortentwicklung und der qualitativen Verbesserung der Audio- bzw. Videoübertagung, ist die sensorische Wahrnehmung, d.h. die visuellen, auditiven und räumlichen Eindrücke, wie Betonung, Intonation und taktile Kommunikation bei der CMC eingeschränkt oder bleibt ganz aus. Die Einschränkung der sensorischen Wahrnehmung macht sich vor allem in den textbasierten Objekten der CMC wie E- Mails, Chats und Blogs bemerkbar (Suler): Da die Sprache hier zu dem dominierenden Instrument der Artikulation wird (Gusejnov:2000), werden die fehlenden Sinneseindrücke durch die Herstellung einer gesteigerten expressiven Ebene ersetzt, die durch stilistische Mittel, wie der Gebrauch der mündlichen Sprache, der kreative Umgang mit der 10
Sprache (wie das Erschaffen von Neologismen) oder Elemente der nonverbalen Kommunikation wie Smileys und Emoticons*, zustande kommen (Suler). Die Kommunikation im Internet kann folglich als eine Mischform zwischen dem verbalen und nonverbalen Kommunikationsaustausch bezeichnet werden. 2. Anonymität. 32 Im virtuellen Raum kann die Kommunikation weitgehend anonym bleiben – jeder Teilnehmer entscheidet selbst, ob er erkannt werden möchte und bis zu welchem Grad. Für jeden Nutzer besteht außerdem die Möglichkeit mehrere imaginäre Identitäten zu besitzen. Die Folgen der Anonymität können in der Internetkommunikation negativ wie positiv sein: So kann sie durch Herabsetzung der Hemmschwelle zu Aggressivität und Mobbing führen (wie z. B. Trolling*). Andererseits lässt die Anonymität den sozialen Status der Teilnehmer unsichtbar werden, alle Nutzer sind gleichberechtigt. In diesem Zusammenhang spricht man von der Netzdemokratie. 3. Aufhebung der geografischen Entfernung. Die physische Entfernung der Kommunikationsteilnehmer ist in der CMC sekundär. Die gemeinsamen Interessen, und nicht die geografische Nähe, sind das verbindende Element von Mitgliedern der Internet-Communities und Nutzern der Themenforen. 4. Aufhebung der zeitlichen Grenzen. Die zeitliche Flexibilität kennzeichnet vor allem die asynchrone CMC, die mittels E-mails, Blogs und Foren stattfindet. Anders als bei einem Face-to-Face-Dialog, verfügen die Teilnehmer über mehr Zeit zur Reflexion. Auf der anderen Seite ist der Informationsaustausch im Internet schneller (Suler): Verglichen mit der traditionellen schriftlichen Kommunikation, verlangt die CMC besonders bei den synchronen Mitteln eine schnelle Reaktion, dies führt zur Vernachlässigung von Orthographie- und Zeichensetzungsregeln, zu kürzeren Sätzen und höherer Fehlertoleranz 1DLGLþ . 5. Soziale Vielfalt. Im Internet besteht die Möglichkeit, zu den Menschen aus unterschiedlichsten gesellschaftlichen Kreisen Kontakt aufzunehmen, und dazu mit den Hunderten von Nutzern zeitgleich zu kommunizieren – eine Situation, die für viele 32 In der Regel ist die Kommunikation in den sozialen Netzwerken weitgehend öffentlich. 11
Kommunikationsteilnehmer im realen Leben kaum möglich ist (Suler). Die Internetkommunikation ist polythematisch, inoffiziell und vor allem interaktiv, denn die Rückmeldungen der Rezipienten werden in der Regel innerhalb kürzester Zeit empfangen (Kakorina, 559). 6. Festhaltbarkeit. Der Verlauf der Internetkommunikation wird mittels Computer protokolliert, die gespeicherten Daten können folglich jederzeit zurückverfolgt werden (Suler). Ferner ist es möglich, die gespeicherten Protokolle zu ändern bzw. zu löschen, somit kann die Vergangenheit beliebig verändert und ergänzt werden. 33 Die dargestellten Eigenschaften ermöglichen ein besseres Verständnis der Bedingungen, unter denen die CMC zustande kommt. Der nächste Abschnitt ist der Internetkultur gewidmet, zu deren Entstehung die CMC erheblich beiträgt. 3. Internet als Raum der kulturellen Produktion 3.1 Netzkultur – die Kultur des Internets Der Begriff Kultur bezeichnet alles, was vom Menschen geschaffen wurde (Brockhaus Enzyklopädie, Kultur). Folglich umfasst dieser auch die kulturellen Praktiken und Handlungen der Internetnutzer (Gorny:2006,16). Nach der Definition von Pierre Levy ist die Internetkultur ein „Set of technologies (material and inmaterial), practices, attitudes, modes of thoughts and values that develop along with the growth oft the cyberspase“ (Lévy, Introduction). Zu den Objekten der Internetkultur gehören nach dieser Definition die sozialen Netzwerke, Spiele, Chats, verschiedene Internetdienste, Blogs, Internet- Subkulturen, Internet-Slangs, Internet-Hypes und andere Manifestationen menschlicher Handlungen im Netz. Der Prozess des Informationsaustausches, der mittels der CMC in dem soziokulturellen Raum des Internets stattfindet, ist gleichzeitig ein Prozess der kulturellen Produktion “Technological systems are socially produced. Social production is culturally informed. The Internet is no exception. The culture of the producers of the Internet shaped the medium” 34 (Zitat nach Gorny:2006, 17). Die Informationsübertragung im Netz vollzieht sich wie in den modernen Printmedien und im Fernsehen nach dem Clusterprinzip, sie wird also wie ein Mosaik, wie ein Patchwork dargeboten und nicht systematisch und linear nach 33 Für diesen Hinweis bedankt sich die Verfasserin Herrn Michail Bezrodnyj. 34 Castells, Manuel. The Internet Galaxy: Reflections on the Internet, Business and Society Oxford University Press, 2002. 12
dem hierarchischen Pyramidenprinzip eingeordnet, sodass die Visualität dieser einzelnen Informationscluster ihre Textualität überwiegt. Die Dominanz des Visuellen einerseits und die Elemente des Mündlichen andererseits sorgen dafür, dass der Internetkultur zwangsläufig etwas „Witziges“ anhaftet (Gusejnov:2000). Die Netzkultur ist eine auf Intertextualität* (Kargin, 15), und vor allem auf Hypertextualität 35 basierende Kultur. Alle Texte sind ein Teil eines globalen Hypertextes*, der mittels neuer Texte ständig ergänzt und verändert wird: Die Texte formen, wie etwa ein unterschwelliges Zitat einen weiteren Text, das Ganze ist also ein dauerhafter Kreationsprozess. Jeder Internetnutzer kann zu dem kreativen Schaffen beitragen. Dieser Prozess ist, bedingt durch die Eigenschaften der CMC, schnell und global (Petrova, 218). Im Internet findet also ständig ein Prozess kultureller Produktion statt. Das Ergebnis ist die einzigartige Netzkultur, deren charakteristische Eigenschaften durch die Besonderheiten der CMC bedingt sind: Interaktivität, Intertextualität, Hypertextualität, Visualität, Expressivität, Anonymität und Humor. 3.2 Netlore – die Internetfolklore Die Produkte dieses kollektiven Schaffens der Internetnutzer sind vielfältig: Als Geschichten, Gestalten, Gedichte, Neologismen, Netzjargons, Foto- und Videomontage können sie textbasierte, auditive, visuelle oder gemischte Formen einnehmen. Das Internet spielt hier eine genre-konstruierende Rolle (Burkhart). Um die kreativen Produkte der Netzkultur zu beschreiben, wird in Analogie zum Begriff Folklore, der die überlieferte Volkskunst (Brockhaus Enzyklopädie) bezeichnet, der relativ neuer Begriff Netlore für die Bezeichnung von „Folklore transmitted by the means of the Internet“ (Emery) verwendet. Durch folgende wesentliche Eigenschaften der Netlore 36 lässt sich ihre Zuordnung zur Folklore begründen: - kollektive Autorschaft: die gemeinsame Entwicklung der Narrative* 37 (Kargin, 14); 35 Für diesen Hinweis ist die Verfasserin Herrn Gusejnov dankbar. 36 Netlore ist keine spezifisch russische Erscheinung, sondern ein internationales Phänomen. 37 Ein Beispiel der kollektiven Textproduktion ist die Webseite (27.04.2011). 13
- Inhaltliche und strukturelle Analogien: Witze, Zeitgenössische sagenhafte Geschichten í Großstadtlegenden, Gruselgeschichte für Kinder; - Für die Volkstradition typische, oft körperliche, teilweise obszöne Elemente, die sich auch in der Netlore u.a. im Internetjargon manifestieren; - hohe Diversität der Publikations- und Kommunikationsformen: Foren, Webpages, Mailing-Lists*, Weblogs. Proliferation der Kreation und der Variationen der folkloristischen Figuren* (Burkhart, 409); - Elemente der mündlichen Kommunikation: „spontane Schriftsprache“ (Kargin, 14); - Traditionalität – Anspielungen auf Märchen: Wie die mythologisierte Figur des Bären Medved 38, die gewisse Ähnlichkeiten mit der russischen folkloristischen Märchenfigur des Bären besitzt (Burkhart, 417); Anpassung der Sprichwörter und Aphorismen an die Realität der Computerwelt: :HE åLYL ZHE XþLV¶ statt YHN åLYL ZHN XþLV¶ Die Vorstellungen der traditionellen Kultur behalten auch in der modernen Internetkultur ihre Geltung (Kargin, 14). Die Träger, Urheber und Rezipienten der Netlore sind in Russland in erster Linie die jungen Großstadtbewohner, d.h. die aktiven Internetnutzer. Da es sich dabei vor allem um die berufstätigen Intellektuellen handelt, wird Netlore auch als Bürofolklore bezeichnet (Burkhart, 408). Eine der bemerkenswerten Erscheinungen der neuen Internetkultur sind die als Internet-Hypes oder Internet-Meme bezeichneten Phänomene. Ihre Klassifikation, Entstehung und Verbreitungsmechanismen sind die Themen des nächsten Abschnitts. 4. Internet-Meme als Phänomene des Internets 4.1 Der Begriff Mem Die Etymologie des Wortes Mem geht auf das Englische memory sowie auf das Griechische mneme „Gedächtnis, Erinnerung“ zurück (Gusejnov, lenta.ru: Ɇɟɦ). Als Mem wird „eine kulturelle Grundeinheit oder Gedächtniseinheit bezeichnet, die sich in Form eines Schlagwortes, einer politischen oder 38 Der Bär Medved ist eine populäre Figur der russischen Netlote, dazu siehe den Artikel „Grüße von den Bären“ von Henrike Schmidt und < http://www.netlore.ru/effekd-medveda> (23.04.2011). 14
religiösen Anschauung, einer Mode o.Ä. auf den Menschen als eine Art Wirt überträgt und von diesem in einem Prozess der Imitation verinnerlicht und an andere weiter gegeben wird“ (Duden, Das große Fremdwörterbuch, Mem). Der Begriff Mem wurde von dem britischen Evolutionsbiologen Richard Dawkins 39 geprägt, der es als Pendant zum biologischen Gen betrachtet. Die auf dem Konzept des Mems basierende Wissenschaft Memetik 40 versucht durch Anleihen an die Biologie die kulturelle Evolution zu erklären, wobei die Kultur als ihr Nährboden verstanden wird, in dem Meme entstehen, kopiert werden und später zugrunde gehen (Ksenofontova, 286). Mit dem Aufkommen des Internets wurden die im Netz „grassierenden Gerüchten und Moden“ (Burkhard, S.411) Internet-Meme, auch Internet- Phänomene, Internet-Hypes oder Internet-Mode genannt. Die digitalen Meme übertragen nicht nur Informationen, sondern auch Trends, z.B. bestimmte Erzählstrategien, wie den lakonischer Stil der Twitter-Messages (Duden, Das neue Wörterbuch der Szenesprachen). Die Variabilität der Internet-Meme ist hoch 41: als solche können Fotos, Videos 42, folkloristische Figuren sowie Sprachklischees bezeichnet werden, die sich im Internet vor in den digitalen Computernetzwerken spontan ausbreiten. Abbildung 1. Die Eule O Rly?, eins der weltweit bekanntesten Internet-Meme. 43, die Aufnahme eines Auftritts des VRZMHWLVFKHQ6lQJHUVƠGXDUG&KLO¶GHU]XHLQHP9LGHR-Mem geworden ist. Da die Verbreitung der Meme über das Medium Internet sehr schnell erfolgt, werden sie oft Mediaviren 44 genannt. Die vorliegende Arbeit befasst sich mit 39 In seiner Monografie The Selfish Gene. Oxford University Press 1976. 40 „Als wissenschaftliche Disziplin ist Memetik jedoch umstritten, denn auf Grund der Vorstellung von der Ganzheit und organischen Entwicklung der menschlichen Kultur lässt sich diese in den Bereich der Esoterik einordnen“ (Burkhart, S.411). 41 Eine umfassende Datenbank der Internet-Meme ist die Ressource (28.04.2011). 42 So wurde der sowjetische Schlager -DRþHQ¶UDGYHG¶MDQDNRQHFYR]YUDãDMXV¶GRPRM von Eduard Chil’ zu einem Mem (28.04.2011). 43 Das Sprachklischee O Rly (engl. O, really?) wird als Reaktion auf eine dumme, uninspirierte, banale Äußerung verwendet (Knowyourmeme/O Rly). 15
den textbasierten Memen– den Internet-Sprachklischees* 45. Der Begriff Mem wird in der vorliegenden Arbeit synonymisch zu der Bezeichnung Internet- Sprachklischee verwendet. 4.2 Internet-Meme: Entstehung und Verbreitung Die Internet-Meme können ihren Ursprung unmittelbar im Internet haben, vor allem auf den Image-Boards*, Contents-Homepages der Subkulturen*, Foren und in der Blogosphäre, aber auch in den traditionellen Medien, wie Film, Literatur, Printmedien, Fernsehen. Ein witziger Rechtschreibfehler – RþHSMDWND statt RSHþMDWNDoder ein komisch klingender Satz – Menja interesujut tol’ko myši (Ksenofontova, 287), ein Kommentar afftar žžot, ein prägnante Aussage einer öffentlichen Person, wie die Phrase von Putin 0RþLW YVRUWLUH 46 können unter bestimmten Bedingungen zu einem Internet-Mem werden 47. Findet eine Informationseinheit Verbreitung, weil sie als unterhaltsam und/oder als ein passendes Sprachklischee, empfunden wird, oder wenn es als ein Standartkommentar Verwendung findet, werden sie zu einem Internet-Mem. Hierzu sei angemerkt, dass bei weitem nicht alle humorvollen und geistreichen Kreationen der Internetkultur zu Memen werden. Die Frage, warum eine Informationseinheit zu einem Mem wird, und eine andere dagegen nicht, ist sehr komplex, sie bedarf weiterer interdisziplinärer Forschung. Die Verbreitungsmechanismen der Internet-Meme in der virtuellen Welt lassen sich mit der Verbreitung semantischer Neuerungen in den traditionellen kommunikativen Gruppen (Fritz, 51) vergleichen: Diese etablieren sich zunächst innerhalb enger Netzwerke, im Internet sind dies u.a. Foren, wo die Sprachklischees als Zeichen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Sprechereinheit dienen. Im Internet ist die Anzahl der Kommunizierenden durch die Aufhebung der zeitlichen und geografischen Grenzen in der Regel hoch, die Interaktivität und die Möglichkeit, die Informationen zu kopieren, zu 44 Mehr zum Thema in: Media Virus: Hidden Agendas in Poular Cultures von Douglas Rushkoff, 1994. 45 Zu den Sprach-Klischees aus dem Bereich Werbung und Fernsehen sind einige Arbeiten veröffentlicht worden, siehe z.B. Hars, Wolfgang. Nichts ist unmöglich. Lexikon der Werbesprueche. Muenchen, Piper, 1999. 46 Diese Bedrohung an die tschetschenischen Terroristen sprach Putin während einer Presse- Konferenz in Astana September 1999. (20.04.2011). 47 Zur Verbreitung der genannten Meme im der Blogosphäre siehe:
verlinken* und oder zu re-posten*, stellen die Weichen für eine äußerst schnelle Verbreitung der Meme. Auch die Top-Blogger, die gemessen an der Zahl ihrer Leser durchaus mit den traditionellen Printmedien mithalten können 48 tragen enorm zur direkten Verbreitung einiger Meme bei. Die mediale Realisierung 49 eines Internet-Mems vollzieht sich oft auch außerhalb des Netzes: So kommen diese in der Werbung 50, in der mündlichen Sprache 51 in der Musik 52 und in der Literatur 53 vor. Zunächst ein Novum, ein kreatives und witziges Wortspiel spricht ein neues Mem blitzschnell Tausende von Internetnutzern an. Durch die unzähligen Wiederholungen büßt es jedoch schnell seine Witzigkeit ein, die zum großen Teil auf dem Effekt der Einmaligkeit und Neuheit beruht, und wird zu einer Banalität. Es kommt aber schnell aus der Mode und gerät in Vergessenheit, wobei es durch die fast unbegrenzte Speicherkapazität des Internets immer abrufbar 54 bleibt. 4.3 Probleme der Klassifikation der Internet-Meme Für die Sprachwissenschaft sind die Internet-Sprachklischees eine neue Erscheinung, daher herrscht bezüglich ihrer Klassifikation noch keine Einigkeit (Gusejnov, lenta.ru: Ɇɟɦ). Da sie solche phraseologischen Merkmale wie Reproduzierbarkeit (sie bilden also eine neue semantische Einheit, ein Lexem, das sich nicht jedes Mal neu bilden lässt), Stabilität der Wortverbindungen, (ihre Abwandlung ist nur begrenzt möglich) und Idiomatizität (die Bedeutung lässt sich nicht aus den einzelnen Wörtern allein erklären) besitzen, werden sie zu den Phraseologismen* oder Idiomen (Lenk) (Burger, 61-62), den festen lexikalischen Einheiten gezählt. Wenn ihr Ursprung bzw. der Autor bekannt ist, werden sie als geflügelte Worte* bezeichnet, oder als Zitat, wenn das Phrasem* anonymisiert ist (Krugosvet, Fraseologija). 48 285580 tägliche Abrufe des Top-Bloggers drugoi, , $XIODJHGHU=HLWXQJ9HþHUQMDMD0RVNYD 300 0000 Exemplare, davon 150 000 Exemplare in Moskau, (23.04.2011). 49 Diesen Ausdruck verwenden Burkhart und Schmid im Hinblick auf die Verbreitung der Meme in den Medien. 50 die Firma Contex benennt ihr Produkt nach dem berühmtesten Mem des Runets Preved (23.04.2011). 51 (Krongauz,Video), Beobachtungen der Verfasserin. 52 „Oj kak graždane strašno žit“ in dem Lied Nasekomye der russischen Band NOM (23.04.2011). 53 (23.04.2011). 54 Einige Datenbänke der Internet-Meme sind unter: http://lurkmore.ru/, http://knowyourmeme.com, http://www.netlore.ru/, http://www.dipity.com/tatercakes/Internet_Memes zu finden. 17
Die Internet-Sprachklischees können in das Konzept der Präzedenztexte 55 eingeordnet werden: Als solche werden demzufolge alle Texte bezeichnet, die für ein Individuum von emotionaler sowie kognitiver Bedeutung sind, und in seiner individuellen Sprache immer wieder reproduziert werden, andererseits aber im Umfeld des Individuums allgemein bekannt und erkennbar sind. Zu solchen Texten werden einige Werke der klassischen russischen und sowjetischen Literatur und Filme gezählt sowie die Folklore: Parömien, darunter geflügelte Worte*, Film- oder Buchzitate oder Äußerungen berühmter Persönlichkeiten (Karaulov, 217), die Eingang in die Sprache gefunden haben, wie z.B. prägnante 6SUFKH YRQ 3XWLQ *RUEDþsY RGHU GLH Stalinismen (Gusejnov:2004 Band 2, 130), gezählt. Hierbei ist zu bemerken, dass der Aspekt der allgemeinen Bekanntheit im Falle der Internet-Meme überwiegend die Internet-Community umfasst. Sind die Internet-Sprachklischees eine Unterart der Phraseologismen oder handelt es sich um einen grundlegend neuen Typ fester lexikalischer Verbindungen, die sich auf Grund ihrer prinzipiell neuen Entstehung- und Verbreitungsmechanismen von den traditionellen, nicht virtuellen Phraseologismen unterscheiden und eine neue Art der Internet- Phraseologismen bilden (Gusejnov, Lenta.ru/Mem)? Um diese Frage annähernd beantworten zu können, wird im Abschnitt 6 der vorliegenden Arbeit die Verwendungsfrequenz von drei in der Blogosphäre häufig verwendeten traditionellen Phraseologismen mit drei Internetparömien verglichen 56. 4.4 Funktion der Internet-Meme Ähnlich wie Teenager ihren eigenen Jugendslang verwenden, um sich von den Erwachsenen abzugrenzen, benutzen die aktiven User die Internet- Sprachklischees, um ihre Zugehörigkeit zu einer Internet-Community zu signalisieren. Als Sprachklischees und Träger bestimmter kultureller Codes bieten die Internet-Meme eine günstige Ausdrucksmöglichkeit, und so bereichern sie die Sprache. Andererseits ist bei der Verwendung der Sprachklischees der individuelle Ausdruck stark eingeschränkt, und die kognitive Funktion der Sprache unterdrückt (Gusejnov:2009, 286), die Rolle 55 Nach Karaulov Jurij, 5XVVNLM-D]\NLMD]\NRYDMDOLþQRVW¶, 2002. 56 Siehe Abschnitt 6.1 der vorliegenden Arbeit. 18
eines Individuums wird auf bloße Mem-Reproduktion reduziert. Der Mensch wird zu einem Membot* (Ksenofontova, 287) degradiert. Die wesentlichen Merkmale der vielseitigen Kultur des Runets, die zahlreiche Mems hervorgebrach hat, sollen deren im nachfolgenden Abschnitt erläutert werden. 5. Zur russischen Internetkultur 5.1 Linguistische und stilistische Besonderheiten der CMC im Runet Das Internet bietet allen die Möglichkeit eines von den sozialen Rangordnungen und Normen, zeitlichen und temporalen Bedingungen freien Informationsaustausches, bei dem die Sprache zum dominierenden, teilweise einzigen Instrument der Kommunikation wird und spezifische, nur im Netz vorhandene Eigenschaften bekommt. Obwohl der klassische Briefwechsel Genre in seiner traditionellen, d.h. rein schriftlichen Form in der moderneren Welt zweifellos ausstirbt, geht heute ein beachtlicher Teil unserer Kommunikation in den Bereich des Schriftlichen über (Krongauz, Video): ein Chat erstsetzt eine Face-to-Face-Gespräch, eine E-Mail einen Anruf. Diese neue Schriftlichkeit besitzt, wie bereits in Abschnitt 2 erwähnt, Elemente der gesprochenen Sprache, welche die expressive Ebene des Textes erweitern. Die Sprache der russischen Internetnutzer ist im Wesentlichen durch folgende linguistische und stilistische Besonderheiten gekennzeichnet: 1. Erratische Semantik 57. Neologismen, die mittels absichtlicher Verzerrung der Orthografie im Hinblick auf die fiktive Anpassung an die tatsächliche Aussprache oft eine neue Bedeutung bekommen (Gusejnov:2005) – Errative, z.B. afftar statt avtor. An dieser Stelle muss angemerkt werden, dass außer der bewussten Verzerrung der Orthographie ist im Netz eine unbewusste, auf Grund fehlender Grundlagenkenntnisse der Rechtschreibung entstehende Verzerrung, ebenfalls weit verbreitet ist. Ein Grund dafür ist das sinkende Niveau des Schulunterrichtes in Russland sowie – im Gegensatz zu den strengen Regelungen der Zensur in der Sowjetunion – durch die unzureichende Redaktionsarbeit oft fehlerhafte Sprache der Medien, die für viele Russen heute jedoch als Orientierung dient 1DLGLþ . Das 57 Der Begriff Errativ wurde von G. Gusejnov in dem Artikel „Berloga Vebloga. Vvedenie v HUUDWLþHVNXMXVHPDQWLNX³2005 geprägt. 19
Bloggen hat eine noch nie da gewesene Anzahl von Amateurtexte für die breite Öffentlichkeit zugänglich gemacht, folglich sinkt das sprachliche Niveau der Autoren, während die Variabilität und die Akzeptanz der Fehler seitens Leser steigt. 2. Verbreitung des Computerslangs, der Jargonismen, und des Mat. Allgemeine Liberalisierung des Stils (Krongauz, Video). 3. Syntaktische Vereinfachung: Die Spezifika der CMC – hohe Geschwindigkeit der Kommunikation und Expressivität – bedingen die Veränderung des Satzbaus – mit der Tendenz zur Vereinfachung: die Sätze werden kürzer, wobei die Nebensätze, Gerundial- und Partizipialkonstruktionen oft wegfallen, eine Vernachlässigung der Satzzeichen ist zu beobachten 1DLGLþ . 4. Gebrauch von Symbolen – mathematischen Zeichen, Ikonen í @, Emoticons (-), Gebrauch von Zahlen als phonethischer Symbole z.B. Ɉ für opjat’, 4to für þWR. Vermischung der lateinischen und kyrillischen Schriftí web-ɞɢɡɚɣɧ; Tastatur-Calque: das Verwenden des russischen Tastatur-Layouts für lateinische Buchstaben, z.B. Ɂɕ. statt PS., und umgekehrt, z.B. lytdybr statt ɞɧɟɜɧɢɤ (0HþNRYVNDMD2). 5. Wortschöpfung, spielerischer Umgang mit der Sprache: Akronyme*, wie z.B. ɂɆɏɈ (die kyrillische Wiedergabe des englischen In My Humble Opinion); Literative 58 ídas Durchstreichen des Geschriebenen, als eine Art vermeintlicher Selbstzensur 59, (Krongauz, „Jazyk i kommunikacija“), zu Erzielung eines komischen oder verfremdenden Effekts. Äskhrophemismen 60 - wenn die Lexeme paronymisch* in ein Schimpfwort oder eine Beleidigung umgewandelt werden (Gusejnov: 2000): z.B. polit.sru statt polit.ru. Neologismen und Sprachklischees, die in den kommunikativen Gruppen im Internet kanonisiert und ggf. weiterentwickelt werden: Wie der populäre Internetgruß preved 61 statt des standardsprachlichen privet, oder sein Derivativ í das Internet- Sprachklischee preved, medved! 58 Der Begriff wurde von G. Gusejnov eingeführt (Gusejnov:2009, 281). 59 Beispiel eines Literatives in einem Posting:„ɉɨɥɚɝɚɸɷɬɨɬɜɨɩɪɨɫɧɟɦɟɲɚɥɨɛɵ ɩɪɨɹɫɧɢɬɶɍɠɲɢɛɤɨɨɧɛɨɥɟɡɧɟɧɞɥɹɪɭɫɫ ɪɨɫɫɢɣɫɤɨɝɨɨɛɳɟɫɬɜɚ³ http://dno.ru/have_fun/books/113299/>. 20.04.2011. 60 Der Begriff wurde von G. Gusejnov geprägt. 61 Hier wird nicht das orthographische Prinzip verletzt, sondern die sprachliche Norm. 20
6. Verbreiteter Gebrauch von Interjektionen, Lautmalerei*, Gebrauch von GROSSBUCHSTABEN als Ersatz der Stimmmodulation der (Krongauz, „Jazyk i kommunikacija“). Folgende Merkmale der mündlichen Sprache weist die Sprache der Internetnutzer auf: Sie ist flüchtig, locker, enthält Slang und Mat, die traditionell für die mündliche Sprache charakteristisch sind. Andererseits ist die Sprache fixiert, die Kommunikationsteilnehmer sind im Normalfall geografisch voneinander getrennt, die Textstruktur ist mittels Hypertexten – Intertextuell und nicht linear. Folglich kann die Sprache der Internetnutzer als eine Zwischenform des mündlichen und schriftlichen Artikulationsmodus bezeichnet werden (Lutovinova, 64-65). Die Entwicklungen der letzten Jahre zeigen, dass das Verfassen der eigenen und Kommentieren der fremden Texte zum dominierenden schriftlichen Mittel der Kreativität und Kommunikation im Internet geworden sind: Die führenden Postings* in den Blogs* umfassen stilistisch folgende Textsorten: Kommentare, Erzählungen, Witze (Gusejnov:2005) (Krongauz, Video). Die kreative Textproduktion im Runet wurde weitgehend von dem antiorthografischen Padonki-Slang* beeinflusst, dessen grundlegende Charakteristika und Entstehungsgeschichte im nachfolgenden Abschnitt erläutert werden. 5.2 Der Padonki-Slang als Form der russischen Netlore Der Padonki-Slang, der auch Olbanskij, Albaskij, Jezyk Padonkaff, Orfoart oder Setevoj Novojaz genannt wird, ist für den russischen Internetdiskurs zu Beginn des 21. Jahrhunderts kennzeichnend. Kennzeichnend für diesen Internetslang ist, wie bereits einige seiner Bezeichnungen vermuten lassen, seine erratische Semantik: padonki statt podonki, kamitet statt komitet, fsë statt vsë. Dabei ist die Verzerrung der Orthographie eher systematisch als willkürlich 62: - Aufhebung des phonetischen Prinzips: statt ɢ L wird nach den Zischlauten ž, š ein ɵ \ geschrieben: žyzn’ statt žizn’, statt ɭ (u) schreibt man ɸ (ju) þMXYLFKD statt þXYLFKD; - Präpositionen und verneinende Partikel werden zusammengeschrieben: ftopky statt v topku, [negative Wertung des Textes] niasilil statt ne osilil [der Text ist langweilig]; 62 vgl. Zvereva, S.63, Šapovalova, Gusejnov 2005. 21
- Die Verben in der dritten Person Präsens werden verändert: -ɬɫɹ (tsja) wird durch -ɰɰɚ (-cca) ersetzt: prucca 63 etc. (Šapovalova, 293); - Wortschöpfungen („Ironische Grammatik“ (Zubova)): Experimente mit dem grammatischen Geschlecht. Die Substantive im Maskulinum oder Femininum werden ins Neutrum umgewandelt: medved’ in medvedko, devuška in devuško, wobei andere Wortarten substantiviert werden, wie z.B. das Wort preved, die zum prevedko wird. Die Systematik der Deviation zeigt, dass dem Padonki-Slang eine gewisse metasprachliche Reflexion anhaftet, welche die Kenntnis der russischen Grammatik- und der Rechtschreibregeln sowie die Beherrschung der unterschiedlichen sprachlichen Register voraussetzt: So schreibt Dmitrij Sokolovskij, im Internet unter dem Nick Udaff bekannt, einer der aktiven Entwickler des Slangs in seiner Monographie Biblija Padonkov: „Nastojašij padonak 64 možet izdeYDW¶VMDQDGRUIRJUDILHMNDNFKRþet, no sgorit so styda, esli postavit zapjatuju ne tam, gde nužno“ (Sokolovskij, 48). Der exzessive Gebrauch von Mat sowie die überwiegend profane, teilweise obszöne Thematik, der s.g. PTU 65-Stail 66 der Kreatiffs 67, im Padonki-Slang verfassten Texte, gehören ebenfalls zu den typischen charakteristischen Eigenschaften des Slangs. Die erratische Semantik ist keineswegs ein Novum der Internetsprache: Ähnliche Experimente mit der Orthografie finden sich z.B. in zaumnyj jazyk 68 í der Sprache der russischen Futuristen in den 1910-20er Jahren oder in den orthographischen Scherzen 69 des Moskauer Philologen Dmitrij Ušakov und seiner Kollegen in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts. Die Bezeichnung Albanskij wird für den Internetslang vermutlich seit 2004 70 verwendet (Krongauz:2008). 63 Mehr zu den Regeln des Padonki-Slang siehe u.a Šapovalova, Sokolivskij S.49. 64 Angehöriger der Padonki-Subkultur, die sich des Slangs aktiv bedienen. 65 PTU – eine Art Berufsschule in der UdSSR und dem heutigen Russland, die man ohne das erreichen der mittleren Reife (vgl. Hauptschulabschluss in Deutschland) besuchen kann. Der Begriff konnotiert stark mit dem Milieu der bildungsfremden Jugendlichen. 66 Ein von Padonki verwendender Begriff (Sokolovskij, 20). 67 „Kreatiffs sind sind von Padonki geschaffene, ins Internet gestellte und zum Feedback einladende Kommunikate (Texte, Bilder, Videos)“ sowie die „Oberbezeichnung für die russische Netzfolklore und Amateurkunst im Ganzem“ (Burkhard, 413). 68 Der russLVFKH)XWXULVW,OMD=GDQHYLþ Künstlername Il’jazd) schrieb seine Dramenreihe $VVDDEOLþ¶MDin der von ihm entwickelten Sprache, die er olbanskij yazyk nannte (Skoromnyj). 69 Die darin bestanden, ein Wort aus der Sicht der Rechtschreibung möglichst falsch zu schreiben, z.B ozperand für aspirant (Krongauz, 2008). 70 als ein amerikanischer LJ-User über den Post (24.03.2011) in der russischen Sprache fragte, was für eine Sprache dies sei, bekam er die Antwort – albanski (Krongauz 2008). 22
Warum konnte die obszöne, antiorthografische Sprache so viele Anhänger im Runet finden? Ein kurzer Exkurs in die Kulturgeschichte Russlands nach 1990 könnte diesen Sachverhalt klären. Nach dem Zerfall der Sowjetunion befand sich das Land in einer besonderen kulturellen Situation: Als in der in der Literatur und in dem öffentlichen Diskurs die Liberalisierung des Mat (Zvereva, 51-52) stattfindet. Die in der offiziellen Kultur tabuisierte Sprache wird nun als Zeichen der Freiheit in allen Bereichen des kulturellen Lebens 71 verstanden, sie gilt als Protest gegen die kodifizierte literarische Sprachnorm des sowjetischen Regime mit seinen verlogenen Sprachklischees, seinem militaristischen Pseudooptimismus, und seiner Manipulierung des Massenbewusstseins (1DLGLþ). Die expressiven und obszönen Elemente der Sprache finden darüber hinaus im neuen Medium Internet, wo sie auf die von John Barlow entwickelten Ideen von Unabhängigkeit des Internets stoßen 72, ihre Verbreitung (Zvereva, 51-52). Die ersten Seiten, die eine Möglichkeit zu der tabufreien Selbstexpression bieten, sind die www.Fuck.ru und www.fuckru.net 73, heute hält die von Sokolovskij 2001 (Sololovskij, 28) ins Leben gerufene Plattform www.udaff.com 74 in dem Bereich führende Position. Auf der Grundlage des bei den Fido-Konferenzen entstandenen Wortschatzes (Sokolovskij, 8) entwickelt sich der Slang im Laufe der Zeit zunächst in den genannten Internet-Plattformen weiter, wo allen Nutzern, die sich selbst als Padonki bezeichnen, die Möglichkeit geboten wird, ihre Texte, die so genannten Kreatiffs zu veröffentlichen, sowie fremde Texte zu kommentieren (Zvereva, 54). Die in den Ressourcen verwendende Sprache bietet mit ihrer Expressivität, ihrem Humor, dem spielerischen Umgang mit Worten ein an die Gegebenheiten der CMC angepasstes Instrument der Kreativität und Kommunikation 75 (Zvereva, 79). Zunächst ein Zeichen der Zugehörigkeit zu der männlich dominierten und homophoben Padonki- Community, die sich als eine Gegenkultur* betrachtet und der überwiegend junge Intellektuelle angehören (Sokolovskij, 20, 25), verbreitet sich der Padonki-Slang über die Grenze des Portals Udaff.com hinaus: Als 2003 71 z.B. die Texte von V.Sorokin oder die Subkultur der Mit’ki. 72 “We are creating a world where anyone, anywhere may express his or her beliefs, no matter how singular, without fear of being coerced into silence or conformity“ (Barlow). 73 Beide Seiten existieren heute nicht mehr. 74 Ca. 21 000 Besucher am Tag (Zum Vergleich hat Vkontakte 22 000 000 Besucher). Statistik von . Stand 4.03.2011. 75 Wobei es durchaus vorstellbar ist, dass einige Nutzer mittels der antiorthografischen Sprache eigenes Unwissen zu tarnen versuchen. 23
Tausende neuer User Zugang zu dem Blog-Service LiveJournal erhalten, wo einige Padonki zu den Top-Bloggern 76zählen, übernehmen sie schnell diese neue, kreative, pragmatische Sprache. In den Jahren 2004 bis 2007 erreicht die Popularität der Sprache, die auch außerhalb des Internets bekannt wird 77, ihren Höhepunkt: So ist während der Internet-Pressekonferenz von Vladimir Putin am 06.07.2007 HLQHGHUSRSXOlUVWHQ)UDJHÄ35(9('9ODGLPLU9ODGLPLURYLþ, kak vy otnosites’ k MEDVEDY?“ im Padonki-Slang formuliert (Zvereva, 54- 55). Eine wichtige Funktion des Slangs ist die kritische wie kreative Reflexion über die sprachliche Globalisierung (Burkhart, 413). Die demonstrative Ablehnung grammatischer Regeln sowie die bewusste Wahl trivialer Themen könnte als ein Protest gegen die Regeln der „heuchlerischen“ (Sokolovskij, 10) offiziellen Kultur interpretiert werden (Zvereva, 51), als „VUHGVWYR UD]YHQþDQLMD ofizial’nych dogm“ (Šapovalova). N. Šapovalova betrachtet den Padonki-Slang als ein „ästhetisches Underground“ (Šapovalova) und vergleicht das Netzphänomen mit der archaischen Witzkultur 78 des Mittelalters. Das Spielerische, Vulgäre, das in jedem soziokulturellen Raum vorhanden sei, blühe besonders in den Krisenzeiten auf. Sie sieht in dem beschriebenen Phänomen als eine Quintessenz der sozialen Entwicklungen in Russland (Šapovalova). Heute ist der Padonki-Slang zu einem Massenphänomen geworden und kann nicht mehr mit der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Subkultur in Verbindung gebracht werden (Zvereva, 78, Gusejnov 79). Seit 2006 ist eine Verminderung des allgemeinen Interesses an den antiorthografischen Sprachexperimenten zu verzeichnen. 80 Die langfristigen Folgen dieser Sprachspiele werden von den Fachleuten unterschiedlich gesehen: Vera Zvereva glaubt, dass sich dadurch die Praktik des legitimen spielerischen Umgangs mit der Sprache sowie die Akzeptanz bewusster Änderungen der Sprachnormen gefestigt habe (Zvereva, 78), Maksim Krongauz billigt die Liberalisierung der Norm im Rahmen der Sprachexperimente, fügt jedoch hinzu, dass die Abweichung von der Norm vor 76 Der Blog von Sokolovskij im Livejournal (20.03.2011). 77 So kommt z.B. der Slang im Roman von Vladimir Pelevin (2005) Šlem Užasa: Kreatiff o Tessee i Minotavre. 78 Nach M. Bachtins. Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur (1965). 79 Für diesen Hinweis bin ich Herrn Gusejnov dankbar. 80 Darüber sind sich mehrere Forscher des Runets einig: Krongauz, Gusejnov, Zvereva. 24
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