"Ist jetzt alles wieder normal?" Ehrenamtliche Mitarbeit in der Stadtbibliothek Melle in Zeiten der Coronapandemie
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BIBLIOTHEK – Forschung und Praxis 2021; 45(1): 96–102 Ulrike Koop* „Ist jetzt alles wieder normal?“ Ehrenamtliche Mitarbeit in der Stadtbibliothek Melle in Zeiten der Coronapandemie Eine Zwischenbetrachtung https://doi.org/10.1515/bfp-2020-0111 1 Ehrenamtliche Mitarbeit in der Zusammenfassung: Der Artikel beschreibt den Umfang Stadtbibliothek Melle und die Organisation ehrenamtlicher Mitarbeit in einer Mittelstadtbibliothek sowie deren (bisherige) Veränderung Die Stadt Melle ist eine größere Mittelstadt im südlichen durch die Coronapandemie. Kreis Osnabrück. Im Projekt „Wegweiser-Kommune“ der Bertelsmann-Stiftung wird sie zu dem Typ 1 „Stabile länd- Schlüsselwörter: Ehrenamt; Freiwilliges Engagement; Öf- liche Städte und Gemeinden“ gezählt. Mit 603 von fentliche Bibliothek; Coronapandemie 2 900 Kommunen ist dies die größte Gruppe.2 Vor der Coro- napandemie waren der Schuldenstand und die Arbeits- “Is Everything Back to Normal Now?”–Voluntary Work in losenquote unterdurchschnittlich, ansonsten ist die Stadt the Melle Public Library in Times of the Corona Pandemic unauffällig. An interim review Der Vorläufer der Stadtbibliothek Melle wurde 1870 Abstract: The article describes the scope and organization gegründet. Am 1. Mai 2020 hätte die Stadtbibliothek das of voluntary work in a medium-sized public library and 150-jährige Jubiläum feiern können. Die Leitung der Stadt- how it has changed (so far) due to the corona pandemic. bibliothek erfolgte traditionell ehrenamtlich meist durch Lehrer, Rektoren, aber auch Polizisten. Nach langjährigem Keywords: Volunteering; civic involvement; public library; Ringen, maßgeblich vorangetrieben durch einen eigens zu corona pandemic diesem Zweck gegründeten Förderverein, erfolgte 2001 eine grundlegende Neuausrichtung der Bibliothek. Um- Basierend auf langjähriger Tradition engagieren sich seit zug, Neueinrichtung und Umstrukturierung bildeten einen fast zwanzig Jahren Ehrenamtliche in der Stadtbibliothek Meilenstein in der Bibliotheksgeschichte. Das Bibliotheks- Melle (Niedersachsen). Die Coronapandemie hat die Ge- konzept sah eine umfangreiche ehrenamtliche Mitarbeit wohnheiten und das Gefüge in der Stadtbibliothek abrupt unter – erstmalig – hauptamtlicher fachlicher Leitung vor.3 verändert. Im Folgenden werden der Umfang und die Or- Die Stadtbibliothek Melle hat sich in den Folgejahren zu ganisation ehrenamtlicher Arbeit in der Stadtbibliothek einer sehr stark genutzten Einrichtung entwickelt, die in Melle dargestellt. Diese Darstellung basiert im Wesentli- der Stadtgesellschaft, der Verwaltung und Lokalpolitik chen auf einem Vortrag für die Jahrestagung der AG der weithin anerkannt ist. Freundeskreise.1 Im Anschluss werden die bisherigen Ver- Im Folgenden werden einige Aspekt ehrenamtlicher änderungen durch die Coronaepidemie beschrieben. Die Mitarbeit nur ansatzweise behandelt. Die Stadt Melle war Darstellung und die Einschätzungen basieren größtenteils vor der Gemeindegebietsreform ein Landkreis. Daraus auf den langjährigen Erfahrungen der Autorin als Leiterin ergibt sich immer noch eine starke Identität der heutigen der Stadtbibliothek Melle. Stadtteile. Sichtbar auch darin, dass in den Stadtteilen acht Bibliotheken – fünf kommunale und drei Katho- lische Öffentliche Büchereien – unterhalten bzw. maß- geblich unterstützt werden. Diese Bibliotheken bilden mit 1 Koop (2017b). 2 Große Starmann und Klug (2016). *Kontaktperson: Dr. Ulrike Koop, u.koop@stadtbibliothek-melle.de 3 Klaassen und Koop (2002). Open Access. © 2021 Ulrike Koop, publiziert von De Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.
„Ist jetzt alles wieder normal?“ 97 der Stadtbibliothek Melle als größtem Bibliotheksstand- und ein Einblick in den Medienmarkt, die Medienverbu- ort kein Bibliothekssystem und keinen Verbund. Diese chung, der Geschäftsgang mit Lieferkontrolle, technischer Eigenständigkeit ist (politisch) gewünscht. Die Produkt- Bearbeitung und Fremddatenergänzung u. ä. Gesamtziel verantwortung liegt zwar bei der Leitung der Stadtbib- ist es, den Freiwilligen u. a. einen umfassenden Einblick zu liothek Melle, die damit einhergehende Ergebnis- und vermitteln. Ressourcenverantwortung kann jedoch praktisch nicht Jede Ehrenamtliche hat wöchentlich eine sogenannte wahrgenommen werden, da die Rolle der Bibliothekslei- „feste Schicht“ im Umfang von 3,5 Stunden. Die wöchentli- tung sich auf eine auf Anforderung beratende Funktion che Regelmäßigkeit erleichtert die Planung für beide Sei- beschränkt.4 Das Ehrenamt in den Ortsteilbibliotheken ten. Bisher war es Ziel, dienstags bis freitags in drei Schich- wird hier nur am Rande behandelt. Unberücksichtigt ten je zwei Personen und samstags zwei Ehrenamtliche bleiben die Honorarkräfte, die die Veranstaltungsreihe einzusetzen, das sind 92,5 Wochenstunden. Während der „LOSlesen – Leseförderung von Anfang an“ und die Mär- Anwesenheit der Ehrenamtlichen ist immer mindestens chenstube des Stadtmarketingvereins durchführen. Beide eine hauptamtliche Kraft anwesend. In einem monatlichen Veranstaltungsreihen finden in der Stadtbibliothek Melle Dienstplan werden vorab gemeldete Abwesenheiten be- statt und sind identitätsprägend für die Bibliothek. Nicht rücksichtigt. Bei spontaneren Abwesenheiten müssen die als offizielle Ehrenamtliche zählen Helfer und Helferin- Ehrenamtlichen sich selber um eine Vertretung bemühen. nen bei der Veranstaltungsreihe „Film-Café“, das bis zu Viele Jahre war es üblich, dass die Ehrenamtlichen sich achtmal im Winterhalbjahr stattfindet. weitgehend selbstorganisiert gegenseitig vertreten. Eine In der Stadtbibliothek Melle engagieren sich 25 bis hohe zeitliche und sachliche Verlässlichkeit ist für die 30 Ehrenamtliche. Ihr VZÄ beträgt ca. 2,50. Mit allen Eh- Ausübung des Ehrenamtes unerlässlich. Jährliche Be- renamtlichen ist ein Vertrag abgeschlossen, in dem u. a. sprechungen und Bibliotheksbesichtigungen fördern die eine Aufwandsentschädigung und eine einmonatige Kün- Gemeinschaft und informieren über Entwicklungen im Bi- digungsfrist vereinbart sind. Obgleich im Laufe der Jahre bliothekswesen. mehrere Herren im Team waren, sind zurzeit nur Damen Die Ehrenamtlichen übernehmen Aufgaben im lau- tätig. Die Aufnahme der ehrenamtlichen Tätigkeit geht fenden Bibliotheksbetrieb wie die Medienverbuchung, oft mit Lebensumbrüchen einher, z. B. Eintritt in den Einstellarbeiten und Regalkontrolle, Lieferkontrolle, tech- Ruhestand, Verlust, Erwerbsunfähigkeit u. ä. Für die Stadt- nische Medienbearbeitung, Fremddatenergänzung, Bear- bibliothek ist dies eine Chance für einen Bindungsaufbau. beitung von Löschungen bzw. Löschlisten etc. Einige Eine hohe Verbleibquote belegt dies: Elf Damen sind seit Damen haben Spezialaufgaben übernommen wie die Zeit- 2002, also seit mehr als 18 Jahren im Team. Einhergehend schriftenbearbeitung, Mitarbeit in der Erwerbung, Mithilfe mit dem überwiegend langjährigen Engagement ist ein bei Veranstaltungen, Blumenpflege. Kundenanmeldung steigender Altersdurchschnitt. Betrug dieser 2004 noch und -beratungen etc. liegen hingegen in den Händen der 54 Jahre5 liegt er Ende 2019 bei 65 Jahren. Eine ehrenamtli- Angestellten. che Tätigkeit erfordert Einkommen, also einen gewissen Um den Qualitätsstandard in der Bibliothek zu hal- finanziellen Spielraum, Bildung und Gesundheit.6 Den- ten, ist ein hoher, dauerhafter Betreuungsaufwand nötig.7 noch bestehen vielfach Einschränkungen durch Krankhei- Trotz zahlreicher Bibliotheksbesichtigungen ist vielfach ten oder Krankheitsfolgen bzw. Behinderungen (s. u. Coro- ein festes klassisches Bibliotheksbild vorherrschend. Dies narisikogruppen). Die Motivation für das Engagement liegt wird z. B. in Diskussionen deutlich, von wem und wie die in der Regel auf sozialer Ebene: Kontakte zu knüpfen und Bibliothek zu benutzen ist („Schutz der Romanleser vor zu pflegen sowie eine sinnvolle Aufgabe zu haben stehen jugendlichen Smartphone-Nutzern“). In der Bibliotheks- im Mittelpunkt. Altruistische Motive spielen selten eine verwaltung müssen Kompromisse gemacht werden, damit Rolle. die Ehrenamtlichen mitarbeiten können. Der Qualitäts- Die mehrmonatige Einarbeitung neuer Ehrenamtlicher standard ist dann der kleinste gemeinsame Nenner. Mit erfolgt seit mehreren Jahren nach einem entsprechenden zunehmendem Alter der Ehrenamtlichen gewinnt an Be- Plan. Zu den Themen gehören die Regalordnung ein- deutung, dass die Gesundheit eine wesentliche Vorausset- schließlich des dahinterliegenden Bibliothekskonzeptes zung für freiwilliges Engagement im Rentenalter darstellt.8 4 Koop (2017a) 185 f. 5 Haye (2008) 40. 7 Kooperation von Haupt- und Ehrenamtlichen (2015) 17 f. 6 Mergenthaler et al. (2020) 46, 48. 8 Mergenthaler et al. (2020) 48.
98 Ulrike Koop Ein Beendigungsmanagement bzw. eine „Verabschie- ist, Öffnungszeiten von 35 Wochenstunden anzubieten.16 dungskultur“9 besteht nur in Ansätzen. Dazu kommen noch Sonderöffnungszeiten, z. B. an Offe- Problematisch ist der steigende Altersdurchschnitt. nen Sonntagen, Stadtfesten etc. Rund ein Drittel der ver- Neue Ehrenamtliche zu gewinnen und einzubinden wird fügbaren Gesamtarbeitszeit wird durch Ehrenamtliche er- zunehmend schwieriger. Der demografische Wandel, u. a. bracht. mit längeren Zeiten der Berufstätigkeit, macht sich be- Der Erfolg der Bibliothek basiert maßgeblich auf dem merkbar. Freiwilliges Engagement und Erwerbstätigkeit Engagement der Ehrenamtlichen. In der Folge sind drei scheinen schwierig vereinbar.10 Es zeigt sich, dass es gera- zusätzliche Stellen geschaffen worden.17 Der Personal- de bei älteren Menschen, die sich häufig freiwillig engagie- schlüssel wurde von 1,75 VZÄ (2001), auf 4,8 VZÄ/5 Per- ren, zu einer gewissen Zeitkonkurrenz zwischen dieser sonen (2020) erhöht. Tätigkeit und der fortgeführten Erwerbstätigkeit kommen Das Alter wird als vielfältiger Lebensabschnitt mit kann.11 Dabei steht die ehrenamtliche Tätigkeit zusätzlich großem Potenzial u. a. für die Gesellschaft betrachtet.18 Die zur Erwerbstätigkeit und bei Rentnern auch in „Konkur- Ehrenamtlichen bringen zusätzliches Fachwissen und In- renz“ zu anderen informellen Tätigkeiten. Rund ein Drittel teressen mit in den Bibliotheksalltag. Die externen Impul- der Altersrentnerinnen und Altersrentner betreuen oder se bereichern die Bibliothek und vermindern einen Tun- beaufsichtigen eigene Kinder oder Enkel. „Junge Alte“ nelblick. Da viele Ehrenamtliche parallel zur oder kurz unterstützen vielfach noch ihre Kinder in deren Kernphase nach Beendigung der Berufstätigkeit ihre Tätigkeit aufneh- des Familienlebens, z. B. bei der Kinderbetreuung, bei men, kommt der Bibliothek ein Reichtum an Berufserfah- Fahrdiensten etc.12 In dieser Phase – die „jungen Alten“ rung zugute. Den Ehrenamtlichen gemeinsam ist ein ho- bezeichnen Personen in der Nachberufsphase, um die 60– hes Verantwortungsbewusstsein. Ein Zitat illustriert den 64 Jahre bis ca. 70 Jahre, die selbstständig und sehr aktiv Spagat zwischen Verantwortung im Beruf und im Ehren- sind13 – ist auch das zivilgesellschaftliche Engagement in amt: „Ich arbeite verantwortungsbewusst, aber nicht mehr Vereinen, Initiativen u. a. hoch.14 Zu berücksichtigen wird verantwortlich.“ Die Ehrenamtlichen wollen in der Bib- zukünftig eine deutliche Zunahme des Anteils von älteren liothek arbeiten, sie müssen es nicht. Da sie neben der Zweiverdienerhaushalten und des damit einhergehenden ehrenamtlichen Tätigkeit viele andere soziale und gesell- Wandels des Ruhestandsübergangs hin zu einem stärker schaftliche Kontakte haben, sind sie in besonderer Weise paarbezogenen Prozess sein.15 Botschafter der Bibliothek. In der Stadtbibliothek Melle ist eine sinkende Bereit- schaft zu langjährigen Bindungen zu beobachten. Die eh- renamtliche Tätigkeit wird kürzer ausgeübt. Ebenso sinkt 2 Coronapandemie das Commitment. Das Engagement sinkt, die Bereitschaft, Vertretungen zu übernehmen oder sich bei Sonderauf- Während der Coronapandemie hat sich die öffentliche gaben einzubringen, lässt nach. Aufmerksamkeit auf das Engagement in der Nachbar- Um die Leistungsfähigkeit der Bibliothek trotz nach- schaft, im Gesundheitssystem, in der Pflege oder auf die lassenden ehrenamtlichen Engagements zu gewährleis- Versorgung von armen oder obdachlosen Menschen ge- ten, ist seit mehreren Jahren die Umstellung auf RFID- richtet.19 Das freiwillige Engagement in vielen Kultur- und gestützte Medienverbuchung und -sicherung geplant. Bis- Bildungseinrichtungen war dagegen schlagartig nicht her musste die Umstellung mehrfach wegen fehlender per- mehr möglich. soneller Ressourcen verschoben werden. Der Beginn der Gemäß einer Allgemeinverfügung des Landes Nieder- Medienkonvertierung sollte – mit tatkräftiger Unterstüt- sachen vom 16.03.2020 mussten ab diesem Zeitpunkt die zung der Ehrenamtlichen – eigentlich 2020 beginnen. Bibliotheken sofort geschlossen bleiben. Den Nachteilen und Schwierigkeiten gegenüber steht, Die Kommunikation mit den Ehrenamtlichen basiert dass es nur durch die Mithilfe der Ehrenamtlichen möglich auf persönlichen Kontakt. Dieser Kommunikationsweg war plötzlich abgeschnitten. Nicht alle Ehrenamtlichen sind per E-Mail zu erreichen. Die Nutzung von Messenger- 9 Kooperation von Haupt- und Ehrenamtlichen (2015) 41. Diensten ist auf dienstlichen Geräten nicht gestattet bzw. 10 Mergenthaler et al. (2020) 47. 11 Mergenthaler et al. (2020) 48. 12 Bendel (2015) 160, Mergenthaler et al. (2020) 52. 16 Dienstag-Freitag 11–19 Uhr, Samstag 11–14 Uhr. 13 Bendel (2015) 156, 171. 17 Kooperation von Haupt- und Ehrenamtlichen (2015) 16. 14 Bendel (2015) 160. 18 Mergenthaler et al. (2020) 10. 15 Mergenthaler et al. (2020) 12. 19 Klein (2020) 1.
„Ist jetzt alles wieder normal?“ 99 nicht möglich. Telefonate mit allen Ehrenamtlichen ber- dieser Kontakte ist in der bisherigen Zusammenarbeit bei- gen die Gefahr uneinheitlicher Informationsweitergabe. spiellos. Zudem ist der Zeitaufwand sehr hoch, was gerade in der Bei den Planungen und Überlegungen, wann und un- ersten Zeit der Schließung kaum leistbar war. Gegen Seri- ter welchen Bedingungen die Ehrenamtlichen in der Stadt- enanrufe sprach auch eine gewisse Anrufkultur oder -kon- bibliothek Melle wieder eingesetzt werden können, steht vention. Telefonanrufe mit allen Ehrenamtlichen wurden der Schutz vor einer Infektion im Mittelpunkt. Von 25 Eh- von der Leitung bisher im Wesentlichen bei der Überbrin- renamtlichen gehören 21 zu Risikogruppen – aufgrund von gung von eiligen, unaufschiebbaren personellen Nach- Alter, schweren Vorerkrankungen, als Betreuende etc., zu- richten geführt. mindest im Hinblick auf den Einsatz im direkten Publi- Anlass zu einigen Kontakten oder Gesprächen boten kumskontakt. zum einem die – in diesem Jahr per Post verschickten – Zum Zweiten bestand die Befürchtung, dass sich Eh- Aufmerksamkeiten zu Ostern und zum anderen die per E- renamtliche während der langen Zwangspause umorien- Mail versandte Erinnerung an das entfallene Bibliotheks- tieren oder neue Schwerpunkte setzen, da sich die Bin- jubiläum. Die Gestaltung des Informationsflusses muss dung löst. Tatsächlich war die Coronapause der Auslöser jedoch insgesamt als überwiegend nicht gelungen angese- für vier Kündigungen des ehrenamtlichen Engagements. hen werden. Die Unterbrechung machte diesen Ehrenamtlichen deut- Einige Ehrenamtliche hatten vorgeschlagen, während lich, dass andere Schwerpunkte wichtiger (geworden) sind der Schließungszeit Sonderaufgaben wie Bestandsumstel- oder dass die Arbeit weniger vermisst wurde als vermutet. lungen und Umsystematisierungen, die schon lange an- Weitere Hinderungsgründe für eine Fortsetzung der hängig sind, zu übernehmen. Diese Angebote mussten freiwilligen Tätigkeit könnten kurz- oder mittelfristig die abgelehnt werden, da die Stadtverwaltung strenge Limitie- Beanspruchung bei der Betreuung/Pflege oder finanzielle rungen in Bezug auf Personalanwesenheiten gesetzt hat- Zwänge sein: Tagespflegen und Einrichtungen für Men- te.20 Unter dem Aspekt der Bindung an die Bibliothek und schen mit Behinderungen sind bzw. waren geschlossen, Motivation war diese notwendige Zurückweisung kontra- z. T. länger als viele andere Einrichtungen. Während im produktiv. öffentlichen Gespräch hauptsächlich Kitas stehen, werden Mit Inkrafttreten der Niedersächsischen Verordnung diese Einrichtungen kaum beachtet. Die Pflege und Be- zum Schutz vor Neuinfektionen mit dem Coronavirus am treuung wird auf oft weibliche Angehörige zurückdele- 20.04.2020 waren die angeordneten Bibliotheksschließun- giert. Arbeitslosigkeit oder Kurzarbeit der Ehrenamtlichen gen aufgehoben.21 Nach fünf Wochen Schließung durfte oder deren häuslicher Gemeinschaft in Folge der Corona- die Stadtbibliothek Melle ab dem 21. April wieder für das krise könnten die Aufnahme einer bezahlten Erwerbs- Publikum öffnen. Kurz gesagt, besteht das Hygiene-Kon- arbeit oder einen Minijob wichtiger werden lassen als eine zept aus den vier Säulen: Abstand, Alltagsmasken, Hygie- ehrenamtliche Tätigkeit. Ein Ehrenamt muss man sich (fi- ne, Lüften. Die Öffnungszeiten wurden schrittweise von nanziell) leisten können. zunächst zwölf Wochenstunden über 24 Wochenstunden Für die Ehrenamtlichen, die ihre Tätigkeit i. d. R. hoch- auf die regulären 35 Wochenstunden erweitert. Erst der motiviert wieder aufgenommen haben, ergaben sich un- Einsatz der Ehrenamtlichen ab dem 30.06.2020 ermöglich- erwartete Schwierigkeiten und Belastungen. Beispielweise te diese regulären Öffnungszeiten. Alle Veranstaltungen wurde unterschätzt, dass die akustische Verständigung wurden mindestens bis zum Ende der niedersächsischen durch die Infektionsschutzwand an der Verbuchungs- Sommerferien abgesagt. Die Ortsteilbibliotheken, die voll- theke und Masken erheblich erschwert ist. Besonders bei ständig ehrenamtlich betreut werden, waren zwölf Wo- Senioren mit einer altersbedingten (leichten) Schwerhörig- chen bis zum 14.06.2020 geschlossen. Bei der Schließung keit treten vermehrt Probleme durch Missverständnisse und den Planungen zur Wiederöffnung der Ortsbiblio- auf. theken, einschließlich der Erstellung und Umsetzung der Im Alltagsleben gibt es i. d. R. keine Erinnerungsanker Hygiene-Konzepte, fand eine intensive Beratung und Un- für bibliothekarische Tätigkeiten. Bekannt ist daher, dass terstützung durch die Stadtbibliothek statt. Der Umfang schon bei der mehrmonatigen Einarbeitung oder bei län- geren Krankheiten/Urlauben, Regelungen, z. B. zur Regal- ordnung oder im Kundenservice, vergessen oder schlecht erinnert werden. Dieses Problem wurde auch durch die 20 Gestattete Personalstärke vor Ort in Stufen von ein Drittel der angestellten Personen, über die Hälfte, zu zwei Drittel bis hin zu lange Coronapause der Ehrenamtlichen aufgeworfen und Vollbesetzung. führte zu einem deutlich erhöhten Betreuungs- und Ge- 21 Land Niedersachsen (17.04.2020) § 13, § 1, Abs. 2. sprächsbedarf. Es ist ein hohes Reflexionsvermögen und
100 Ulrike Koop Selbstbewusstsein erforderlich, um zu erkennen und an- theke. Die Übernahme anderer Tätigkeiten ist eine Be- zusprechen, dass Abläufe etc. nicht mehr erinnert werden schäftigung, wenn keine Kunden zu bedienen sind. Mit oder prophylaktisch durchzugehen sind. Die Notwendig- weniger Verbuchung(splätzen) scheint die eigene Anwe- keit der Wiedereinarbeitung nach längerer Abwesenheit senheit beliebiger zu sein und die Wichtigkeit der zuver- fördert nicht die Motivation. lässigen und verbindlichen Anwesenheit wird angezwei- An der Ausleihtheke wäre es sinnvoll gewesen, dass felt. Langjährige Vereinbarungen zu Vertretungen werden hauptamtliche und ehrenamtliche Mitarbeiterinnen ne- ignoriert. Gleichzeitig sinkt die Bereitschaft, sich gegen- beneinander arbeiten, um einen Blick auf die Verbuchung seitig zu vertreten. zu haben bzw. schnell um einen Blick gebeten zu werden. Auf der anderen Seite stehen Ehrenamtliche, die gera- Mit der Arbeit auf Distanz fehlt diese Möglichkeit der Rück- de durch die coronabedingten Veränderungen besonders versicherung für die Ehrenamtlichen. motiviert sind und gern die Bibliothek aufsuchen. Durch Um die Mindestabstände für Mitarbeiter und Biblio- die Reduktion sozialer Begegnungen und kultureller An- thekskunden einzuhalten, musste ein Verbuchungsplatz gebote entstehen Zeitfenster, die gern mit der freiwilli- abgebaut werden. Da nur noch ein Verbuchungsplatz gen Tätigkeit gefüllt werden. Die Folgen der sozialen Ein- genutzt werden kann, hat das Arbeitstempo zur Ver- schränkungen können so gemildert werden. meidung von Warteschlangen an Bedeutung gewonnen. Die ehrenamtliche Tätigkeit lebt davon, dass diese Ungewohnt und frustrierend für viele Ehrenamtliche ist Freude bereitet. Motivation und Sinnstiftung ergeben diese Betonung der Geschwindigkeit bei der Medienver- sich u. a. durch die Zufriedenheit und die Freude an der buchung. Zwar ist dieser Aspekt eigentlich nicht neu, aber Tätigkeit. Die Ehrenamtlichen haben sozusagen die „Kün- die Relevanz in der jetzigen Situation deutlich höher. Zu- digung immer dabei“. Diese Motivation wird durch die dem greifen die Hauptamtlichen früher ein, um Schlan- Coronaregeln (Abstand, Einzelarbeit) teilweise negativ be- genbildungen schnell abzuarbeiten. Die Akzeptanz dieser einflusst. Die Relevanz der ehrenamtlichen Tätigkeit deut- Maßnahmen ist oft gering, da die Unterschiede nicht gese- lich zu machen, ist zurzeit eine zentrale Führungsaufga- hen werden. Als hilfreich hat sich erwiesen, zu kommuni- be. Sollte es zu Mittelkürzungen für zivilgesellschaftliches zieren, dass in der Phase der reduzierten Öffnungszeiten Engagement in der Nach-Corona-Phase kommen, wird es und großem Publikumsandrang über drei Stunden hinweg umso wichtiger sein, dass die öffentlichen Verwaltungen bis zu 2 300 Verbuchungen getätigt wurden (durchschnitt- die Wertschätzung ausdrücken.22 lich 11–12 Medien pro Minute). Das Arbeiten auf Distanz ist ungewohnt und von den Ehrenamtlichen auch nicht gewollt. Zum Teil sind lang- 3 Ausblick jährige Gewohnheiten, z. B. des Hand-in-Hand-Arbeitens, nicht mehr möglich. Auch fehlen Kommunikationsmög- Bereits seit 2013 ist die Stadtbibliothek bestrebt, die Me- lichkeiten, da im Thekenbereich aufgrund der räumlichen dienverbuchung und -sicherung auf RFID-Technologie Enge nur eine Ehrenamtliche arbeiten darf. Die Möglich- umzustellen. Stand zunächst der Ersatz einer abgängigen keiten, Kontakte mit anderen Ehrenamtlichen oder Kun- Mediensicherung im Vordergrund, ist in den Folgejahren den zu pflegen, ist jedoch ein wichtiger Motivator für die die Reaktion auf die Veränderungen des ehrenamtlichen freiwillige Tätigkeit. Engagements das Hauptargument geworden. Aus internen Ein Faktor für die Zufriedenheit mit dem ehrenamtli- Dokumenten sind die Argumentationslinien ersichtlich: chen Engagement entsteht auch durch die persönlichen Ausgangssituation und Handlungsbedarf für die Ein- Kontakte der Ehrenamtlichen untereinander bei der Ar- führung der RFID-Technologie: beit. Die Coronaregeln erfordern jedoch Abstand und Ein- 1. Veränderung des ehrenamtlichen Engagements: zelarbeit. Einzelarbeit in Büros wurde bislang z. T. explizit – Bereitschaft zu und Dauer des ehrenamtlichen abgelehnt („alleine bin ich schon zu Hause“, „dann kann Engagements sinkt ich ebenso zu Hause arbeiten“ u. ä.). Negative Auswirkun- – bei gleichzeitig steigender Komplexität der Anfor- gen auf die Zufriedenheit sind spürbar. derungen Die Nutzung der Stadtbibliothek hat noch nicht wieder – bei z. Zt. 22 Ehrenamtlichen sind die Hälfte 70 Jah- das Niveau der Vor-Corona-Zeit erreicht. Weniger Publi- re und älter kumsbetrieb und weniger Einsatz an der Verbuchungsthe- ke lässt die freiwillige Arbeit scheinbar weniger wichtig erscheinen. Einige Ehrenamtliche messen die Notwendig- keit ihrer Mitarbeit (nur) am Dienst an der Verbuchungs- 22 Klein (2020) 1.
„Ist jetzt alles wieder normal?“ 101 2. Steigende Anforderungen an Serviceleistungen (s. u.) Dennoch ist eine (emotionale) Bindung an die Verbuchung im Zuge von Digitalisierung und unter Berücksichti- meist (noch) recht stark, d. h. der Sinn der eigenen Mit- gung des demografischen Wandels arbeit wird in und bei der Medienverbuchung gesehen. 3. Elektromagnetische Sicherung ist auslaufende Tech- Die Coronakrise mit den erzwungenen, sehr plötzli- nologie; Modernisierungsstau chen Veränderungen in den Tätigkeitsfeldern nimmt die Veränderungen durch die anstehende RFID-Umstellung Nutzen und Wirkungszielbeitrag des RFID-Einsatzes: abrupt vorweg. Es wird interessant sein zu beobachten, 1. Gewährleistung der bestehenden Öffnungszeiten trotz wie sich dies auf das die Akzeptanz des RFID-Projektes veränderten oder verlagerten ehrenamtlichen Engage- auswirken wird. ments Insgesamt scheinen die Veränderungen in den Mög- 2. Serviceverbesserungen unter der strategischen Aus- lichkeiten zur Wahrnehmung des freiwilligen Engage- richtung Stärkung der Bibliothek als sozialem Ort: ments für diejenigen Ehrenamtlichen unproblematischer – Ausbau der Veranstaltungsarbeit zu sein, die vielfältigere Aufgaben z. B. im Geschäftsgang – Stärkung der Benutzerinformation und -beratung wahrnehmen oder wahrzunehmen bereit sind. Ehrenamt- – Optimierung des Geschäftsganges liche, die sich überwiegend oder nahezu ausschließlich – Serviceoptimierung bei der Medienverbuchung bei der Medienverbuchung einbringen, haben größere (Reduktion Wartezeiten, erhöhte Diskretion, ergo- Schwierigkeiten, sich der neuen Situation anzupassen. Ihr nomischeres Arbeiten für Mitarbeiter), Einsatz von Verbleib wird auch davon abhängen, ob sie bereit sind, Selbstverbuchungsstationen (Rückgabe und/oder sich für neue Arbeiten zu interessieren. Aufgabe der Bib- Ausleihe) liotheksleitung wird es sein, neue Tätigkeitsfelder zu er- öffnen, deren Relevanz darzustellen und die bleibende mittel- oder langfristig zusätzliche Services: Bedeutung des Ehrenamtes zu betonen und die Ehrenamt- – Rückgabeautomaten und/oder Ausleihautomaten lichen zu motivieren. in/vor der Bibliothek oder an anderen Orten – Erweiterung der Bibliotheksöffnungszeiten mit personalfreien oder -armen Zeitkorridoren (Selbst- Literaturverzeichnis bedienung; mittel- bis langfristig), dadurch Unter- stützung von Familien (Zeitplanung) und indivi- Bendel, Klaus (Hrsg.) (2015): Soziologie für Soziale Arbeit. 1. Aufl. dueller Bildungsprozesse (Zeitsouveränität) Baden-Baden: Nomos (Studienkurs Soziale Arbeit, Bd. 1). 3. Mediensicherung: Kostenersparnis, Zukunftssiche- Große Starmann, Carsten; Klug, Petra (2016): Typ1: Stabile ländliche Städte und Gemeinden. Bertelsmann Stiftung. Verfügbar unter rung http://www.wegweiser-kommune.de/documents/10184/33037 /Demographietyp+1.pdf/1d38cb8b-cc67-4fec-9207-9acb2ac46 Bereits 2005 wurden die Verbuchungsträger für Medien b9e/Demographietyp+1.pdf.pdf. und Bibliotheksausweise von Spot-Codes auf Barcodes Haye, Sandra (2008): Erfolgsmodell oder Mogelpackung ? Ehrenamt- konvertiert. Die damaligen guten Erfahrungen mit der Kon- liche MitarbeiterInnen in öffentlichen Bibliotheken – Erfah- rungen und Perspektiven. Zugl.: Hamburg, Hochsch. für Ange- vertierung durch die Ehrenamtlichen waren Anlass, auch wandte Wissenschaften, Diplomarbeit, 2004. Saarbrücken: für die Durchführung der RFID-Konvertierung die Ehren- VDM Verlag Dr. Müller. amtlichen einzuplanen. Die Realisierung des RFID-Projek- Klaassen, Ute; Koop, Ulrike (2002): Bibliothek – Bibliothekspolitik – tes musste aus personellen Gründen seit Jahren verscho- Von der Wiederauferstehung einer Bibliothek – Die Entwicklung ben werden, obgleich die Relevanz, insbes. im Hinblick der Stadtbibliothek Melle. In: Buch und Bibliothek : Medien, auf das ehrenamtliche Engagement, zugenommen hat. Kommunikation, Kultur ; Fachzeitschrift des BIB, Berufsverband Information Bibliothek e.V., 54 (4), 263–65. Die Umstellung auf RFID-gestützte Verbuchung wur- Klein, Ansgar (2020): Verwaltung und Zivilgesellschaft in der de auf mehreren Mitarbeiterbesprechungen thematisiert. Corona-Krise. Verfügbar unter https://www.dbb.de/teaserde Die jährlichen Fortbildungsfahrten führen seit einigen tail/artikel/verwaltung-und-zivilgesellschaft-in-der-corona- Jahren zu Bibliotheken, die RFID einsetzen.23 Die RFID- krise.html. Einführung und damit Veränderungen im Tätigkeitsprofil Koop, Ulrike (2017a): Wertzumessung für Öffentliche Bibliotheken: Einwohner und Politiker monetarisieren den Wert der Stadtbiblio- sollten bzw. könnten den Ehrenamtlichen bewusst sein. thek Melle. Dissertation, Humboldt-Universität zu Berlin. Verfüg- bar unter https://edoc.hu-berlin.de/handle/18452/18795#. Koop, Ulrike (2017b): Ehrenamt in der Stadtbibliothek Melle. 6. 23 Stadtbibliotheken in Deventer (NL), Paderborn, Garbsen, Biele- Jahrestagung der AG der Freundeskreise, 07.10.2017 in Frankfurt feld, Diepholz, Hamm, GWLB Hannover u. a. a. M. (unveröffentl. Manuskript).
102 Ulrike Koop Kooperation von Haupt- und Ehrenamtlichen als Gestaltungsaufgabe Dr. Ulrike Koop (2015): Ein Leitfaden für die Praxis auf der Grundlage der Ergeb- Stadtbibliothek Melle nisse der Studie „Kooperation von Haupt- und Ehrenamtlichen in Weststr. 2 Pflege, Sport und Kultur“. Verfügbar unter https://www.bmfsfj.d D-49324 Melle e/blob/94176/11267bd21daff5b30dd44dcf967cd280/koopera tion-von-haupt-und-ehrenamtlichen-als-gestaltungsaufgabe- u.koop@stadtbibliothek-melle.de leitfaden-data.pdf. Land Niedersachsen (2020): Niedersächsische Verordnung zum Schutz vor Neuinfektionen mit dem Corona-Virus. Mergenthaler, Andreas; Konzelmann, Laura; Cihlar, Volker; Micheel, Frank; Schneider, Norbert F. (2020): Vom Ruhestand zu (Un-) Ruheständen: Ergebnisse der Studie „Transitions and Old Age Potential“ (TOP) von 2013 bis 2019. Verfügbar unter https://ww w.bib.bund.de/Publikation/2020/pdf/Vom-Ruhestand-zu-Un- Ruhestaenden.pdf?__blob=publicationFile&v=8.
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