IW-Trends 3/2020 30 Jahre Wiedervereinigung - Vierteljahresschrift zur empirischen Wirtschaftsforschung, Jg. 47 - Institut der deutschen Wirtschaft
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Vierteljahresschrift zur empirischen Wirtschaftsforschung, Jg. 47 IW-Trends 3/2020 30 Jahre Wiedervereinigung Klaus-Heiner Röhl Institut der deutschen Wirtschaft
Vorabversion aus: IW-Trends, 47. Jg. Nr. 3 Herausgegeben vom Institut der deutschen Wirtschaft Köln e. V. Verantwortliche Redakteure: Prof. Dr. Michael Grömling, Telefon: 0221 4981-776 Holger Schäfer, Telefon: 030 27877-124 groemling@iwkoeln.de · schaefer.holger@iwkoeln.de · www.iwkoeln.de Die IW-Trends erscheinen viermal jährlich, Bezugspreis € 50,75/Jahr inkl. Versandkosten. Rechte für den Nachdruck oder die elektronische Verwertung erhalten Sie über lizenzen@iwkoeln.de. ISSN 0941-6838 (Printversion) ISSN 1864-810X (Onlineversion) © 2020 Institut der deutschen Wirtschaft Köln Medien GmbH Postfach 10 18 63, 50458 Köln Konrad-Adenauer-Ufer 21, 50668 Köln Telefon: 0221 4981-452 Fax: 0221 4981-445 iwmedien@iwkoeln.de www.iwmedien.de
IW-Trends 3/2020 Wiedervereinigung 30 Jahre Wiedervereinigung: Ein differenziertes Bild Klaus-Heiner Röhl, September 2020 Zusammenfassung Auch 30 Jahre nach der Wiedervereinigung gibt es große wirtschaftliche Differenzen zwischen dem westlichen und östlichen Landesteil. Ostdeutschland erreichte zuletzt durchschnittlich knapp 70 Prozent des westdeutschen Bruttoinlandspro- dukts je Einwohner, mit Berlin sind es rund drei Viertel des Westniveaus. Ein höheres Konvergenzniveau ergibt sich auf Basis des IW-Einheitsindexes. Die Angleichung bei wichtigen Kriterien wie der Wirtschaftsleistung und der Arbeitslosenquote setzt sich fort. Bei den verfügbaren Einkommen ist die Lücke zum Westen wegen der Transferleistungen deutlich niedriger. Die beiden stärksten Bundesländer im Osten, Brandenburg und Sachsen, haben bereits das Saarland als Bundesland im Westen mit dem geringsten verfügbaren Einkommen überholt. Die regionale Betrachtung zeigt eine Reihe von Boom-Regionen in Ostdeutschland, die räumliche Differen- zierung nimmt damit zu. Angesichts der Raumstruktur mit fehlenden Ballungszen- tren, Großunternehmen und forschungsstarken Branchen erscheint zwar eine Angleichung an die Wirtschaftsleistung der schwächeren westdeutschen Flächen- länder als realistisch, der westdeutsche Durchschnitt dürfte jedoch außer Reich- weite bleiben. Die im Vergleich ungünstigere Demografie wird zu einer großen Herausforderung für den weiteren „Aufbau Ost“ werden. Stichwörter: Ostdeutschland, Konvergenz, Regionalentwicklung JEL-Klassifikation: E69, O11, R11, R58 DOI: 10.2373/1864-810X.20-03-06 93
IW-Trends 3/2020 Wiedervereinigung 30 Jahre „Aufbau Ost“ Am 3. Oktober dieses Jahres bricht bereits das vierte Jahrzehnt an, seitdem die beiden vormaligen deutschen Staaten wiedervereinigt wurden. Da die DDR insge- samt 40 Jahre als eigenständiger Staat existierte, stellt sich die Frage, warum in den vergangenen 30 Jahren keine vollständige Angleichung bei wichtigen ökono- mischen und sozialen Kriterien zu verzeichnen war. Obwohl die Annäherung der Wirtschaftskraft an das westdeutsche Niveau bis heute nicht zum Stillstand gekom- men ist (Abbildung 1), sieht es derzeit nicht so aus, als würde sich die verbleibende Lücke beim Bruttoinlandsprodukt (BIP) je Einwohner von gut einem Viertel – ohne Berücksichtigung Berlins sind es sogar 30 Prozent – in den kommenden zehn bis 20 Jahren vollständig schließen. Vielmehr scheinen die wirtschaftsschwächeren Flächenländer in Westdeutschland – Schleswig-Holstein, Rheinland-Pfalz und das Saarland – die Zielmarke zu bilden, gegen die die ostdeutsche Wirtschaftsleistung langsam konvergiert. Im Jahr 2019 erreichten die fünf ostdeutschen Flächenländer im Durchschnitt ein BIP je Einwoh- Konvergenz der Wirtschaftskraft in Ost- und Westdeutschland Abbildung 1 Nominales BIP je Einwohner in Ostdeutschland; Westdeutschland = 100 Westdeutschland Ostdeutschland ohne Berlin Ostdeutschland mit Berlin 2-Prozent-Konvergenz 100 90 80 70 60 50 40 30 20 10 0 1991 1993 1995 1997 1999 2001 2003 2005 2007 2009 2011 2013 2015 2017 2019 Quellen: VGR der Länder; Institut der deutschen Wirtschaft Abbildung 1: http://dl.iwkoeln.de/index.php/s/kgMJ3esk5G5KQ6y 94
IW-Trends 3/2020 Wiedervereinigung ner von 30.027 Euro; mit Berlin waren es 32.721 Euro. Der Durchschnitt für die drei genannten West-Bundesländer lag hingegen bei 34.974 Euro je Einwohner. Für eine vollständige Konvergenz zu den drei West-Bundesländern mit der niedrigsten Wirtschaftskraft ist damit noch eine Lücke in Höhe von 6,4 Prozent zu überwinden, ohne Berlin sind es 14 Prozent. Etwas besser sieht es im Bereich der verfügbaren Einkommen je Einwohner aus, wo Brandenburg (20.475 Euro) und Sachsen (20.335 Euro) im Jahr 2018 das Saarland bereits überholten und nur noch wenig hinter Niedersachsen lagen. In dem folgenden Beitrag wird zunächst auf Basis des IW-Einheitsindexes und anschließend auf Basis von vielfältigen Indikatoren der Aufholprozess der ostdeut- schen Bundesländer (ohne Berlin) zum westdeutschen Durchschnitt im Verlauf der vergangenen drei Dekaden dokumentiert. Danach wird auf die strukturellen Grün- de eingegangen, warum eher die schwächeren West-Flächenländer das Ziel des weiteren Konvergenzprozesses darstellen könnten. Konvergenz im Spiegel des IW-Einheitsindexes Um den Stand des Aufbaus Ost und den Konvergenzerfolg umfassend beurteilen zu können, ist die Angleichung des BIP je Einwohner nicht ausreichend. Aus diesem Grund hat das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) einen Einheitsindex entwickelt, der aus sieben gleichgewichteten Einzelindikatoren besteht (Röhl, 2014). Dabei werden neben der gesamten Wirtschaftsleistung je Einwohner als ein Indikator für das Wohlstandsniveau die Arbeitsproduktivität (nominale Bruttowertschöpfung je Erwerbstätigen), der Kapitalstock je Einwohner als Indikator für die Kapitalaus- stattung, der Anteil des FuE-Personals an den Erwerbstätigen als eine Messgröße für den technischen Fortschritt sowie die Erwerbsbeteiligung, die Arbeitslosigkeit und die Selbstständigenquote als Indikatoren für den Angleichungsstand beim Einsatz des Faktors Arbeit und beim Aufbau einer mittelständischen Unterneh- menslandschaft verwendet. Abbildung 2 zeigt, dass der IW-Einheitsindex bis 1997 bereits auf 65 Prozent des westdeutschen Niveaus anstieg, danach stagnierte er jedoch bis zum Jahr 2000. Im Zeitraum 2001 bis 2006 gelang erneut ein deutlicher Konvergenzschritt, der in eine kurze Stagnation in der Hochphase des Vorkrisenbooms 2007 mündete. Die- ser Boom begünstigte Westdeutschland über die steigenden Exporte. Mit der Fi- 95
IW-Trends 3/2020 Wiedervereinigung Konvergenz auf Basis des IW-Einheitsindexes Abbildung 2 Werte des IW-Einheitsindexes1) für Ostdeutschland mit Basis Westdeutschland = 100 100 90 80 76 70 60 50 40 30 20 10 0 1991 1993 1995 1997 1999 2001 2003 2005 2007 2009 2011 2013 2015 2017 2019 1) Komposit-Index für die Komponenten BIP je Einwohner, Produktivität, Kapitalstock, FuE-Personal, Erwerbsbe- teiligung, Arbeitslosigkeit und Selbstständigkeit; Kapitalstock: Werte für 2018 und 2019 geschätzt; FuE-Personal: Wert für 2019 geschätzt; Ostdeutschland ohne Berlin. Quellen: BA; VGR der Länder; Institut der deutschen Wirtschaft Abbildung 2: http://dl.iwkoeln.de/index.php/s/L7yWtJ9XpB6ynLX nanzmarkt- und Wirtschaftskrise 2009 stieg der Einheitsindex wieder und erreichte 73 Prozent des Westniveaus. In den letzten fünf Jahren stieg er auf zuletzt 76,5 Prozent an. Der Befund eines angeblichen Scheiterns des Aufbaus Ost, das teilwei- se beklagt und als Grund für Radikalisierungstendenzen im Wahlverhalten in den ostdeutschen Ländern herangezogen wird (vgl. Schnabl/Sepp, 2020, 398), kann angesichts der anhaltenden Konvergenzfortschritte zumindest für die hier verwen- deten wirtschaftlichen Kernkriterien zurückgewiesen werden. Anhaltende Konvergenzfortschritte Wie Abbildung 1 und 2 zeigen, gibt es bezogen auf das nominale BIP je Einwohner und eines breiter angelegten Komposit-Indexes anhaltende Konvergenzfortschrit- te. Als Referenz dient dabei jeweils der – ebenfalls ansteigende – westdeutsche Vergleichswert. In Abbildung 1 wird auch die sogenannte Barro-Konvergenz als hypothetisches Vergleichsmaß dargestellt. Barro (1994) ermittelte empirisch eine durchschnittliche Verringerung des wirtschaftlichen Abstands zweier Regionen mit einer unterschiedlichen Wirtschaftskraft in der Ausgangssituation um 2 Prozent 96
IW-Trends 3/2020 Wiedervereinigung pro Jahr. Voraussetzung hierfür ist, dass die Barrieren für Güter, Arbeitskräfte und Kapital aufgehoben wurden – wie es für Ost- und Westdeutschland mit der Verei- nigung der Fall war. Über den Gesamtzeitraum seit 1991 weist der tatsächliche Konvergenzprozess eine stärkere Angleichung an Westdeutschland auf, als es die 2-Prozent-Regel gemäß Barro erwarten ließe. Dies liegt jedoch ausschließlich an der schnellen Konvergenz bis 1997. Nach einer längeren Stagnationsphase in der Angleichung – wobei die Wirtschafts entwicklung positiv blieb – hat der Konvergenzprozess seit 2009 wieder etwas Fahrt aufgenommen. Die jeweiligen Anstiege der Konvergenz beim BIP je Einwohner in den Jahren 2009 und 2019 zeigen, dass Ostdeutschland immer dann stärker auf- holen kann, wenn Industrie und Exporte in Deutschland eine Schwächephase durchlaufen. Der Grund dafür ist, dass exportstarke Branchen wie Autoindustrie und Maschinenbau in westdeutschen Regionen konzentriert sind. Schwächeln diese Industriebranchen etwa infolge einer Abkühlung der Weltwirtschaft, dann gelingt der stärker binnenwirtschaftlich ausgerichteten ostdeutschen Wirtschaft eher ein Aufholen. Die Auswirkungen der Corona-Krise auf den Konvergenzprozess bleiben abzuwarten. Da neben der Industrie auch binnenorientierte Sektoren stark betroffen sind, ist a priori nur schwer eine Aussage darüber zu treffen, ob die ost- deutsche Wirtschaft stärker oder schwächer als die westdeutsche betroffen sein wird. Einen ersten Hinweis kann die Inanspruchnahme von Kurzarbeitergeld liefern, die in den West-Ländern mit 51 Prozent der Betriebe im April 2020 höher ausfiel als in den Ost-Ländern mit 44 Prozent (Link/Sauer, 2020). Die Tabelle zeigt neben einer Reihe von anderen wichtigen Wirtschaftsdaten, dass die Haushaltsnettoeinkommen, Arbeitskosten und Produktivität bereits seit 2005 nahe bei 80 Prozent des westdeutschen Werts lagen. Getrieben durch hohe Trans- ferleistungen erreichte das Haushaltsnettoeinkommen schon 1995 dieses Niveau, während die Produktivität erst später zu den Einkommen und Arbeitskosten auf- holte. Seit dies auf gesamtwirtschaftlicher Ebene nahezu erreicht ist, liegen die Lohnstückkosten als Quotient von Arbeitsproduktivität und Arbeitskosten nur noch geringfügig über dem westdeutschen Niveau. Der Schuldenstand je Einwohner der Ost-Bundesländer übertraf 2005 den der westdeutschen Flächenländer noch deutlich. Bis 2019 war er durch erfolgreiche 97
IW-Trends 3/2020 Wiedervereinigung Indikatoren zur wirtschaftlichen Konvergenz von Ost und West Tabelle Werte für Ostdeutschland: Westdeutschland = 100 1991 1995 2000 2005 2010 2015 2019 Einwohner 25 23 23 22 21 20 20 BIP je Einwohner1) 33 59 60 66 67 67 69 Haushaltsnettoeinkommen 54 79 80 79 77 78 787) Arbeitskosten1): Entgelt je Arbeitnehmer 49 74 77 78 80 79 82 Produktivität1): reales BIP je Erwerbstätigen 42 65 69 78 75 77 80 Lohnstückkosten1) 119 114 112 101 106 102 102 Investitionen je Einwohner 66 149 110 77 83 67 696) Ausrüstungsinvestitionen je Einwohner 62 106 97 64 87 62 616) Bauinvestitionen je Einwohner 70 176 122 98 80 73 786) Kapitalstock je Einwohner 38 50 64 71 77 77 785) Kapitalstock je Beschäftigten 40 56 73 82 87 89 895) Exportquote1) 52 40 56 63 67 64 70 FuE-Personalintensität1) 49 42 422) 353) 43 42 446) Patente je Einwohner1) 23 27 27 26 28 22 227) Erwerbsbeteiligung1) 96 92 88 87 89 87 86 Selbstständigenquote1) 50 72 84 96 104 107 108 Arbeitslosenquote1) 207 180 239 202 188 166 138 Schuldenstand der Länder je Einwohner4) 0 74 107 116 98 86 85 1) Ohne Berlin. 2) 1999. 3) 2004. 4) Ohne Stadtstaaten. 5) 2016. 6) 2017. 7) 2018. Quellen: BA; BMF; DIW (SOEP); DPMA; Statistisches Bundesamt; Stifterverband; VGR der Länder; Institut der deutschen Wirtschaft Tabelle: http://dl.iwkoeln.de/index.php/s/FmeWSeRzLdtLCdx Konsolidierungsbemühungen auf 85 Prozent abgesunken. Dies ist aufgrund der nun ausgelaufenen Zahlungen aus dem Solidarpakt II an die Ost-Länder allerdings auch notwendig. Beschäftigung und Arbeitsmarkt Die Tabelle zeigt, dass die Erwerbsbeteiligung zuletzt bei 86 Prozent des westdeut- schen Niveaus lag. Bei der Erwerbsbeteiligung wird die Anzahl der Erwerbstätigen mit Wohnort in den ostdeutschen Ländern auf die dort lebende Bevölkerung im Erwerbsalter bezogen. Nach den starken Rückgängen in den 1990er Jahren wurden im Jahr 2010 wieder 89 Prozent des Westniveaus erreicht. Ein Grund für den aktu- ellen Rückschritt ist auch die wachsende Erwerbsbeteiligung von Frauen und Äl- teren in Westdeutschland. In den letzten 15 Jahren ist die Erwerbsbeteiligung 98
IW-Trends 3/2020 Wiedervereinigung deutschlandweit gestiegen (Burda/Seele, 2017), besonders stark war die Zunahme jedoch im Westen. Verringert wird die Relation zudem durch eine stärkere Inan- spruchnahme der abschlagsfreien Rente mit 63 Jahren in Ostdeutschland. Die Werte für Ostdeutschland lagen 2018 mit 43,5 Prozent deutlich über jenen im Westen mit 30 Prozent (Wenig, 2019). Hinzu kam die wachsende Anzahl der Aus- pendler (BA, 2013 bis 2019). Rechnet man diese hinzu, ist die ostdeutsche Erwerbs- beteiligung höher. Der Anteil der Selbstständigen an den Erwerbstätigen ist im Osten seit 2010 höher als im Westen. Die Beschäftigung hat sich seit dem Trendbruch 2005 nach den Agenda-Reformen deutschlandweit sehr positiv entwickelt. In den westdeutschen Bundesländern war die Entwicklung aber noch günstiger als in Ostdeutschland. Wie Abbildung 3a zeigt, konnten die fünf Flächenländer im Osten erst 2019 mit 4,65 Millionen sozi- alversicherungspflichtig Beschäftigten wieder fast das Beschäftigungsniveau von 1999 erreichen. Aufgrund des Beschäftigungsbooms in der Hauptstadt entwickelte sich die ostdeutsche Beschäftigung deutlich besser, wenn Berlin in die Betrachtung einbezogen wird: Der Anstieg von 1999 bis 2019 betrug dann 6,3 Prozent auf zuletzt 6,18 Millionen Beschäftigte. Getragen wurde das deutsche „Arbeitsmarktwunder“ (Burda/Seele, 2017) jedoch von den westdeutschen Bundesländern, wo die Be- schäftigung gleichzeitig um gut 26 Prozent zunahm. Spiegelbildlich zum Anstieg der Beschäftigung ist die Arbeitslosigkeit in Deutsch- land in den letzten 15 Jahren kräftig gefallen (Abbildung 3b). Trotz gleicher Grund- tendenz in beiden Landesteilen haben sich hierbei deutliche Ost-West-Unterschiede herauskristallisiert: Obwohl in Ostdeutschland der Beschäftigungsaufbau sehr viel verhaltener verlief als im Westen, fiel die Abnahme der Arbeitslosigkeit kräftiger aus, als es in Westdeutschland der Fall war. Die Arbeitslosigkeit war in Ostdeutsch- land nach 1990 zunächst von einem schrittweisen Anstieg bis auf fast 19 Prozent im Jahr 2005 geprägt. Boomphasen wie in den Jahren 1995 und 2000 bewirkten nur temporäre Rückgänge. Mit den Arbeitsmarktreformen der Agenda 2010 (Fit- zenberger, 2009) setzte ein kräftiger Rückgang auf rund 13 Prozent im Jahr 2008 ein. Die Finanz- und Wirtschaftskrise 2009 bewirkte eine kurze Stagnation auf diesem Niveau, aber anders als frühere Rezessionen keinen erneuten Anstieg. Seit 2010 fällt die Arbeitslosigkeit kontinuierlich, aber nicht mehr so schnell wie im Zeitraum 2006 bis 2008. Die Ost-Flächenländer haben im Jahr 2019 mit einem Wert 99
IW-Trends 3/2020 Wiedervereinigung Arbeitsmarktentwicklung in Ost- und Westdeutschland Abbildung 3 a) Anzahl der Erwerbstätigen1); Index 1999 = 100 Deutschland Westdeutschland Ostdeutschland mit Berlin Ostdeutschland ohne Berlin 130 125 120 115 110 105 100 95 90 85 80 1999 2001 2003 2005 2007 2009 2011 2013 2015 2017 2019 b) Arbeitslosenquote2) in Prozent 20,0 18,0 16,0 14,0 12,0 10,0 8,0 6,0 4,0 2,0 0,0 1993 1995 1997 1999 2001 2003 2005 2007 2009 2011 2013 2015 2017 2019 1) Sozialversicherungspflichtig Beschäftigte. 2) Arbeitslosenquote bezogen auf alle zivile Erwerbspersonen. 1992 und 1993 für Ost- und Westdeutschland anhand der Arbeitslosenquote für abhängige zivile Erwerbspersonen geschätzt. Quellen: BA; Institut der deutschen Wirtschaft Abbildung 3: http://dl.iwkoeln.de/index.php/s/8jwSN2GS3dwfQGC von 6,4 Prozent bereits die westdeutsche Arbeitslosenquote aus dem Jahr 2015 unterschritten und eine Fortsetzung der Arbeitsmarktkonvergenz ist absehbar. 100
IW-Trends 3/2020 Wiedervereinigung Demografie als Belastungsfaktor Die Einwohnerrelation Ostdeutschlands zu Westdeutschland sank kräftig von einem Viertel kurz nach der Vereinigung auf nur noch 21 Prozent im Jahr 2010. Seither kam es zu einer Stabilisierung des Verhältnisses bei einem Fünftel (Tabelle). Der Hintergrund hierfür ist der Geburtenrückgang in Ostdeutschland und die starke Abwanderung von netto etwa 1,3 Millionen Menschen. Die Abwanderung ist seit 2013 fast zum Stillstand gekommen. Eine geringere Zuwanderung aus dem Ausland und schwächer besetzte Jahrgänge, die derzeit Kinder bekommen, bewirken trotz des ausgeglichenen Ost-West-Wanderungssaldos eine weiterhin ungünstigere demografische Entwicklung in Ostdeutschland. Die aufgezeigten Unterschiede in der Entwicklung von Beschäftigung und Arbeits- losigkeit in Ost- und Westdeutschland haben vor allem demografische Gründe. Das ostdeutsche Arbeitskräftepotenzial schrumpft bereits seit mehreren Jahren, wäh- rend das westdeutsche und gesamtdeutsche Arbeitskräftepotenzial in den letzten fünf Jahren aufgrund der kräftigen Zuwanderung gestiegen ist und erst mit der beginnenden Verrentung der Babyboomer-Jahrgänge spürbar abnehmen wird (Klinger/Fuchs, 2020). Die Anzahl der Erwerbspersonen in den ostdeutschen Län- dern wird von rund 8 Millionen Personen im Jahr 2020 bis 2030 auf voraussichtlich knapp 7 Millionen sinken. Im Jahr 2050 wird sie je nach Stärke der Zuwanderung nur noch 5 bis 5,5 Millionen betragen (Fuchs et al., 2015, 35 f.). Die Schrumpfung des Erwerbspersonenpotenzials hat zwar zur Verminderung der Arbeitslosigkeit maßgeblich beigetragen, sie entwickelt sich zukünftig aber zur Achillesferse für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung. Die schrittweise Einführung der Rente mit 67 Jahren kann diesen Effekt nicht kompensieren, zumal sich wie bereits ange- sprochen in Ostdeutschland ein größerer Teil der Beschäftigten für die abschlags- freie Rente mit 63 Jahren (bis 2026 ansteigend auf 65 Jahre) entscheidet. Gründe für den anhaltenden Rückstand Bei den Gründen für den noch immer ausgeprägten Rückstand der Wirtschaftskraft gegenüber Westdeutschland kann zwischen Faktoren, die durch staatliche Maß- nahmen und Marktkräfte schrittweise abgebaut werden (können), und solchen, für die dies möglicherweise nicht der Fall ist, unterschieden werden (Übersicht). Diese Argumente werden im Folgenden beleuchtet. 101
IW-Trends 3/2020 Wiedervereinigung Erklärungen für die Unterschiede in der Übersicht ost- und westdeutschen Wirtschaftskraft Durch Marktkräfte und staatliche Dauerhaft wirksame, schwer Maßnahmen beeinflusste Faktoren beeinflussbare Faktoren • Kapitalausstattung • Branchen- und Größenstruktur • Bildung und Ausbildung • Unternehmenszentralen und Führungsfunktionen • Forschung und Innovation • Raumstruktur Quelle: Institut der deutschen Wirtschaft Kapitalausstattung: Zu Beginn des Vereinigungsprozesses bildete der obsolete Kapitalstock der DDR ein zentrales Hemmnis für die Konvergenz. Maschinen und Gebäude waren vielfach technisch verschlissen, aber auch dort, wo dies nicht der Fall war, waren sie aufgrund der veränderten Faktorpreise nach der Einführung der D-Mark oft nicht mehr wirtschaftlich nutzbar (Leipold, 1993, 31). Durch die investi- tionsorientierte Förderpolitik der letzten 30 Jahre (Röhl, 2019) und die hohen In- vestitionen in die öffentliche Infrastruktur konnte dieser Rückstand zu einem er- heblichen Teil wettgemacht werden. Die Angleichung der Kapitalausstattung er- reicht aber noch nicht 100 Prozent (Tabelle). Die Tabelle zeigt auch die im Vergleich zum Westen inzwischen wieder niedrigere Investitionstätigkeit: Die Investitionen je Einwohner erzielten Mitte der 1990er Jahre mit fast 150 Prozent des Westwerts ihr Maximum, seither sind sie relativ gesehen rückläufig. Dass die Investitionen 2017 (aktuellster Wert) insgesamt nur rund 70 Prozent und die Ausrüstungsinve- stitionen sogar nur 61 Prozent des westdeutschen Niveaus erreichen, kann als Warnsignal für die weitere Konvergenz gewertet werden. Letzteres kann mit dem geringeren Industriebesatz (s. u.) zusammenhängen. Zudem gibt es in der Kapital- ausstattung innovationsstarker und produktiver Unternehmen Defizite aufgrund der unterschiedlichen Wirtschaftsstruktur. Bildung und Ausbildung: Während die Arbeitskräfte in Ostdeutschland zum Zeit- punkt der Wiedervereinigung formal ein höheres Qualifikationsniveau aufwiesen, als es durchschnittlich im Westen der Fall war (Gropp/Heimpold, 2019, 475), wur- den viele der vor 1990 erworbenen Qualifikationen unter den Bedingungen der Marktwirtschaft entwertet. Hierzu zählen zum Beispiel Studienabschlüsse in Poli- tik und Ökonomie oder die Ausbildung zum Textilfacharbeiter/-facharbeiterin, die mit dem Einbruch der Textilindustrie kaum noch gefragt war. Aber auch Teile der 102
IW-Trends 3/2020 Wiedervereinigung in weiter nachgefragten Studiengängen und Ausbildungen erworbenen Qualifika- tionen erwiesen sich als überholt, während andere – etwa der Umgang mit mo- dernen Informations- und Kommunikationstechnologien – zunächst fehlten. In den vergangenen 30 Jahren konnte dieses Bildungs-Mismatch durch neu in den Arbeitsmarkt eintretende Ausbildungs- und Hochschulabsolventen sowie Nach- qualifizierungen weitgehend beseitigt werden. Forschung und Innovation: Die aus Forschung und Entwicklung (FuE) stammen- den Innovationen stellen in entwickelten Volkswirtschaften eine wichtige Triebfe- der des Wachstums dar. Die geringe FuE-Personalintensität und ihre schwächere Entwicklung in Ostdeutschland können ebenfalls als ein Hindernis für die Konver- genz angesehen werden: Mit 44 Prozent des westdeutschen Werts gab es zuletzt einen signifikanten Rückstand bei der FuE-Personalintensität. Im Bereich der Pa- tentmeldungen ist die Situation noch ungünstiger. Hier wurde zuletzt ein Wert von 22 Prozent des westdeutschen Niveaus erreicht. Einer relativ guten Ausstattung mit universitären und außeruniversitären öffentli- chen Forschungseinrichtungen (Schnabl/Sepp, 2020, 409) steht ein stark ausge- prägter Rückstand im Bereich des FuE-Personals in den Unternehmen gegenüber. Es wird im Weiteren ausgeführt, dass dies überwiegend aus der Größen- und Branchenstruktur der ostdeutschen Wirtschaft resultiert (IWH, 2019). Durch öffent- liche Förderung konnte der Rückstand Ostdeutschlands in universitärer und insti- tutioneller Forschung zu einem erheblichen Teil wettgemacht werden. Dies gilt auch für die Innovationsaktivitäten kleiner und mittlerer Unternehmen (KMU) (IW Consult et al., 2012), nicht jedoch für die FuE-Abteilungen von Großunterneh- men. Im Jahr 2017 entfielen deutschlandweit 87 Prozent der internen FuE-Aufwen- dungen der Wirtschaft auf Unternehmen ab 500 Beschäftigten (Stifterverband, 2019). Die Konzentration der FuE-Leistungen der Wirtschaft auf in Ostdeutschland noch immer kaum vorhandene Großunternehmen stellt somit ein Konvergenz- hemmnis dar. Auch im Bereich innovativer Start-ups gibt es einen gravierenden Rückstand der fünf ostdeutschen Flächenländer (PWC et al., 2019, 26). Dies dürfte auch mit der Raumstruktur zusammenhängen, da Start-ups bevorzugt in den größten Metropolen gegründet werden. 103
IW-Trends 3/2020 Wiedervereinigung Branchen- und Größenstruktur: Auch 30 Jahre nach der Vereinigung gibt es in Ostdeutschland wenig eigenständige Großunternehmen, sondern überwiegend KMU, die durchschnittlich weniger produktiv sind. Dort arbeiten über 63 Prozent der Beschäftigten in Kleinbetrieben mit weniger als 50 Mitarbeitern und weitere 29 Prozent in mittelgroßen Betrieben mit 50 bis 249 Beschäftigten, aber weniger als 8 Prozent in großen Einheiten. In Letzteren sind in Westdeutschland 23 Prozent der Beschäftigten aktiv und nur knapp die Hälfte in Kleinbetrieben (Gropp/Heim- pold, 2019, 473). Allerdings besteht auch bei den KMU noch ein Produktivitätsrück- stand zum Westen. Dieser unterscheidet sich gravierend für Kleinbetriebe (bis zu 49 Beschäftigten), wo der Rückstand nur 10 Prozent beträgt, und mittelgroße Be- triebe (50 bis 249 Beschäftigten), in denen der Rückstand mit 25 Prozent sogar höher ist als in Großbetrieben mit 18 Prozent (Gropp/Heimpold, 2019, 473). Mit Blick auf die Wirtschaftsstruktur stellt die Industrie einen Wirtschaftssektor dar, der für das Gelingen des Aufbaus Ost entscheidend ist. Durch die hohe Bedeutung des Verarbeitenden Gewerbes für die deutsche Wirtschaft insgesamt und speziell für die wirtschaftsstarken Regionen in Süddeutschland ist eine Konvergenz über die Annäherung an wirtschafts- und industrieschwache westdeutsche Länder hi- naus schwer vorstellbar, solange der Anteil des Verarbeitenden Gewerbes an der ostdeutschen Wirtschaft signifikant niedriger ist. Wie Abbildung 4 zeigt, kam es im Anschluss an eine kräftige Deindustrialisierung in Ost- und Westdeutschland von Anfang bis Mitte der 1990er Jahre zu einer spürbaren strukturellen Konvergenz: Der Anteil des Verarbeitenden Gewerbes an der gesamtwirtschaftlichen Brutto- wertschöpfung in den fünf ostdeutschen Ländern stieg von nur 11 Prozent im Jahr 1993 auf über 19 Prozent im Jahr 2007. In Westdeutschland stagnierte der Indus- trieanteil in diesem Zeitraum unter leichten Schwankungen und er lag 2007 bei gut 24 Prozent. Nach dem Einbruch infolge der globalen Finanzmarktkrise 2009 vergrößerte sich der Abstand zum westdeutschen Wertschöpfungsanteil im Auf- schwung bis 2013 wieder. Bis 2015 konnten die ostdeutschen Länder noch einmal Konvergenzfortschritte im Industriebereich erzielen, seither ist der Industrieanteil in Ostdeutschland wieder rückläufig. 2019 kam es infolge der Konjunkturabschwä- chung in beiden Landesteilen zu einem vergleichbaren Rückgang des Wertschöp- fungsanteils des Verarbeitenden Gewerbes. Bezieht man Berlin in die Analyse ein, zeigt sich eine schwächere Entwicklung des industriellen Wertschöpfungsanteils in Ostdeutschland, da die Hauptstadt stark dienstleistungsorientiert ist. 104
IW-Trends 3/2020 Wiedervereinigung Entwicklung der Industrieanteile in Ost- und Westdeutschland Abbildung 4 Anteil des Verarbeitenden Gewerbes an der gesamtwirtschaftlichen Bruttowertschöpfung in Prozent Deutschland Westdeutschland Ostdeutschland mit Berlin Ostdeutschland ohne Berlin 30,0 25,0 20,0 15,0 10,0 5,0 0,0 1991 1993 1995 1997 1999 2001 2003 2005 2007 2009 2011 2013 2015 2017 2019 Quellen: VGR der Länder; Institut der deutschen Wirtschaft Abbildung 4: http://dl.iwkoeln.de/index.php/s/DDA4my3XeLJq3KN Für die nächsten Jahre sind Verschiebungen in der industriellen Raumstruktur Deutschlands aufgrund des Übergangs zur Elektromobilität denkbar. Diese Ent- wicklung kann Ostdeutschland begünstigen. Die auf Verbrennungsmotoren aus- gerichtete Zulieferindustrie hat ihre Schwerpunkte in westdeutschen Regionen, besonders in Baden-Württemberg und teilweise in Bayern sowie in Nordrhein-West- falen und Niedersachsen. Generell sind starke Industriecluster eher in Westdeutsch- land zu finden (Engels/Röhl, 2019, 27). Hier sind Schrumpfungsprozesse absehbar, die durch die Corona-Krise einen Vorzieh- und Verstärkungseffekt erfahren können. Demgegenüber finden viele Investitionen in die Elektromobilität in den Ost-Ländern statt, von der Fertigung des BMW-Elektromobils i3 in Leipzig und der kürzlich er- folgten Umstellung des VW-Werks in Zwickau auf Elektrofahrzeuge über die Ent- scheidung von Tesla für eine Fabrik in Grünheide in Brandenburg bis zu neuen Batteriewerken in Thüringen und Sachsen-Anhalt. 105
IW-Trends 3/2020 Wiedervereinigung Belastend für die weitere industrielle Entwicklung in Ostdeutschland könnte hin gegen der Ausstieg aus der Braunkohleverstromung bis 2038 sein, der in den be troffenen Revieren in Mitteldeutschland und in der Lausitz zum Verlust industriel ler Wertschöpfung und Arbeitsplätze führen kann (Röhl et al., 2020). Hier ist noch nicht sicher, ob die zugesagten Ausgleichsmaßnahmen des Bundes (vgl. BMWi, 2020) zur Schaffung neuer industrieller Wertschöpfung führen werden. Kritisiert wird eine starke Ausrichtung der geplanten Investitionen auf Behördenansied lungen und öffentliche Infrastruktur, weniger auf industrielle Unternehmensinves titionen (Röhl et al., 2020). Unternehmenszentralen und Führungsfunktionen: Große industrielle Arbeits stätten sind in Ostdeutschland oft nicht eigenständig, sondern Teil westdeutscher oder ausländischer Konzerne. Beispiele hierfür sind die Automobilindustrie und die großen Werke der Halbleiterindustrie in Dresden. Hieraus resultiert ein Mangel an Konzernzentralen und Forschungseinrichtungen der Wirtschaft – und deren statistisch erfasster Wertschöpfung. Der ostdeutsche Anteil an den Sitzen der Zentralen der 160 Unternehmen in den vier deutschen Aktienindizes Dax, MDax, SDax und TecDax liegt unter Einschluss Berlins bei 7 Prozent, jedoch ist dies auf neun Konzernsitze in der Hauptstadt zurückzuführen. Nur zwei Zentralen von Aktiengesellschaften, die in den vier Indizes gelistet sind, befinden sich in den ostdeutschen Bundesländern: Jenoptik und Carl Zeiss Meditec in Jena. Der Rück stand geht jedoch über die Konzernzentralen hinaus und betrifft Management funktionen generell (Gropp/Heimpold, 2019, 472). Dieser Mangel an Führungsfunk tionen senkt das Regionaleinkommen (Blum, 2007). Raumstruktur: Die fünf ostdeutschen Länder wiesen im Jahr 2019 mit 116 Ein wohnern pro Quadratkilometer eine erheblich niedrigere Siedlungsdichte auf als die West-Länder mit 268 Einwohnern pro Quadratkilometer. Dementsprechend lebt ein weit geringerer Anteil der Menschen in Ostdeutschland in Großstädten und in hoch verdichteten Räumen. Nach eigenen Berechnungen waren es im Jahr 2018 28,2 Prozent im Osten gegenüber 65,5 Prozent in Westdeutschland. Damit gibt es auch geringere Agglomerationseffekte, die sich in vielfältiger Weise steigernd auf die Wirtschaftskraft auswirken können (Glaeser, 2010; Hüther et al., 2019, 22 f.). Agglomerationszentren sind bevorzugte Standorte für Cluster innovativer Dienstleis tungen und Start-ups, die als Motoren der Wirtschaftsentwicklung zu selbst ver 106
IW-Trends 3/2020 Wiedervereinigung stärkenden Wachstumsprozessen in Ballungsräumen führen können und die den Ausgleichstendenzen durch Marktprozesse (Barro, 1994) zuwiderlaufen (Hüther et al., 2019, 26 f.). Zwar gibt es in den ostdeutschen Bundesländern wachsende Zentren wie Leipzig, Dresden, Erfurt-Jena oder Rostock (Oberst/Voigtländer, 2020), doch entfällt bezo- gen auf die Fläche und auf die Bevölkerung ein weit größerer Landesteil als in Westdeutschland auf periphere wirtschaftsschwache Regionen (Deutscher Bun- destag, 2017), was sich wiederum negativ auf die durchschnittliche Wirtschaftskraft auswirkt. Gropp und Heimpold (2019, 473) weisen zudem darauf hin, dass der ostdeutsche Produktivitätsrückstand zu den jeweiligen Raumtypen in Westdeutsch- land in städtischen Räumen mit über 17 Prozent höher ausfällt als in ländlichen mit gut 12 Prozent. Dies ist ein Hinweis darauf, dass in den oft kleineren städtischen Zentren Ostdeutschlands geringere Agglomerationseffekte wirken als in den west- deutschen, zu denen innovations- und wirtschaftsstarke Ballungszentren wie München, Frankfurt oder Düsseldorf zählen. Schnabl und Sepp (2020, 415) argumentieren in diesem Kontext, dass die Absen- kung der Finanzierungskosten des Staates auf nahezu null zu Ausgabensteigerungen genutzt wurden, was die wachsenden Städte und Ballungsräume in Westdeutsch- land bevorzugte, da es einen positiven Zusammenhang zwischen Bevölkerungs- dichte und Staatsausgaben gibt. Wirtschaftspolitische Empfehlungen Der noch bestehende Rückstand bei der ostdeutschen Wirtschaftskraft sollte nicht den Blick auf die Fortschritte verstellen, die in den vergangenen 30 Jahren beim Aufbau Ost erreicht wurden. Die Anzahl der ostdeutschen Kreisregionen, in denen die Lebensverhältnisse stark unterdurchschnittlich sind, hat sich seit dem Jahr 2000 von 48 auf 23 halbiert (Deutscher Bundestag, 2017). Eine neue Unternehmens- landschaft mit zahlreichen eigentümergeführten Unternehmen – die allerdings im Schnitt noch kleiner sind als ihre westdeutschen Pendants – ist entstanden (ZEW, 2019). Die ostdeutschen Länder sind weiterhin ein attraktiver Investitionsstandort für zukunftsorientierte Branchen, wie die Ansiedlungsentscheidung des Elektro- autobauers Tesla sowie mehrerer Fabriken zur Produktion von Batterien für die Elektromobilität zeigen. 107
IW-Trends 3/2020 Wiedervereinigung Trotzdem bleibt festzustellen, dass wegen der Struktur der ostdeutschen Unter- nehmenslandschaft mit einem Mangel an Großunternehmen und forschungsstar- ken Branchen sowie aufgrund der Raumstruktur eher die schwächeren West-Flä- chenländer und nicht der westdeutsche Durchschnitt das Ziel der Konvergenz bilden werden. Eine besondere Belastung für die weitere Entwicklung in Ost- deutschland geht von der Demografie aus, die aufgrund des schrumpfenden Er- werbspersonenpotenzials immer mehr zu einem Hemmschuh für den Arbeitsmarkt wird. Eine höhere Attraktivität für qualifizierte Zuwanderer aus dem Ausland wird daher zu einem bestimmenden Faktor für eine Fortsetzung der Konvergenz zu Westdeutschland (Gropp/Heimpold, 2019). Mehr Zuwanderung kann die Schrump- fung des Erwerbspersonenpotenzials zwar nicht verhindern, aber abmildern. Po- sitiv ist, dass aus den neuen EU-Mitgliedsländern bereits eine beachtliche arbeits- marktorientierte Zuwanderung nach Ostdeutschland zu beobachten ist (Geis- Thöne, 2020). Eine Empfehlung zur Förderung der Konvergenz ist neben einer besseren Willkom- menskultur für Zuwanderer die Modernisierung der Regionalförderung (Röhl, 2019). Die investitionsorientierte Förderpolitik der letzten 30 Jahre hat zwar deutliche Erfolge gezeigt, sie ist aber aufgrund ihrer Fixierung auf die Schaffung von Arbeits- plätzen kaum noch zielorientiert: Aufgrund des wachsenden Fachkräftemangels bei fortbestehender Produktivitätslücke auch auf betrieblicher Ebene ist zukünftig eine Ausrichtung der Regionalpolitik auf produktivitätssteigernde Investitionen und Innovationen anzustreben. Zum Teil ist diese Neuausrichtung bereits mit dem seit Anfang 2020 geltenden integrierten gesamtdeutschen Fördersystem, das auch innovationsorientierte Förderprogramme einbezieht, eingeleitet worden (Die Bundesregierung, 2020). Die Kriterien der regionalen Investitionszuschüsse, die weiterhin an die Schaffung von „Dauerarbeitsplätzen“ gekoppelt sind, wurden jedoch nicht geändert. Zudem sollten städtische Innovationssysteme und Start-ups in Ostdeutschland besser unterstützt werden, um den in urbanen Regionen be- sonders ausgeprägten Produktivitätsrückstand zum Westen zu verringern. 108
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IW-Trends 3/2020 Wiedervereinigung 30 Years of Reunification: A Complex Picture Even 30 years after reunification, there are still major economic differences between Germany’s western and eastern ‘halves’: the original ten states of the Federal Republic and the five which were until 1990 part of the communist Democratic Republic (without the eastern and western parts of the previously divided capital Berlin). Eastern Germany recently reached an average of just under 70 per cent of western Germany's gross domestic product per inhabitant. Including Berlin, brings it up to around three quar- ters of the level in the West. However, the German Economic Institute’s IW Unity Index suggests a higher level of convergence. The gap in core criteria such as economic output and the unemployment rate is continuing to narrow. Moreover, eastern disposable income is much closer to the West’s as a result of government transfers. The two strongest eastern states, Brandenburg and Saxony, have already over- taken the Saarland, the western state with the lowest disposable income. A regional analysis reveals a number of boom regions in eastern Germany, indicating an increase in spatial differentiation. Suffering from a lack of conurbations, large companies and research-heavy industries, eastern Germany can realistically expect to eventually match the economic performance of the weaker, more sparsely po- pulated states in the West. However, the overall western average is likely to remain out of reach. Eastern Germany’s comparatively unfavourable demography will become a major challenge in the ongoing project of „Rebuilding the East“. IW-Trends – Vierteljahresschrift zur empirischen Wirtschaftsforschung aus dem Institut der deutschen Wirtschaft Köln e.V., 47. Jahrgang, Heft 3/2020; ISSN 0941-6838 (Printversion); ISSN 1864-810X (Online- version). Rechte für den Nachdruck oder die elektronische Verwertung erhalten Sie über lizenzen@ iwkoeln.de © 2020, IW Medien GmbH, Köln 111
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