KIELER KONJUNKTUR-BERICHTE - Weltwirtschaft im Winter 2021 - Kiel Institute for the World ...

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KIELER KONJUNKTURBERICHTE NR. 85 (2021|Q4)

KIELER
KONJUNKTUR-
BERICHTE

Weltwirtschaft
im Winter 2021

Abgeschlossen am 15. Dezember 2021
                                     © Birgit Wolfrath – IfW Kiel

                                                                       Nr. 85 (2021|Q4)
Klaus-Jürgen Gern, Stefan Kooths, Jan Reents
und Ulrich Stolzenburg

                                                                          Forschungszentrum
                                                                    Konjunktur und Wachstum
                                                                                       1
KIELER KONJUNKTURBERICHTE NR. 85 (2021|Q4)

      EXPANSION VORÜBERGEHEND GEDÄMPFT

      Klaus-Jürgen Gern, Jan Reents, Stefan Kooths und Ulrich Stolzenburg

      Die Erholung der Weltwirtschaft hat nach der          Die Erholung der Weltwirtschaft vom
      Jahresmitte an Fahrt verloren. In vielen Teilen       coronabedingten Einbruch ist inzwischen
      der Welt bremsten erneut zunehmende Corona-           stockend und ungleichmäßig. Die Weltpro-
      Infektionen die wirtschaftliche Aktivität, Lie-       duktion stieg im Verlauf des Jahres 2021 zwar
      ferengpässe behinderten den Aufschwung der            weiter deutlich, doch war die Dynamik insgesamt
      Industrieproduktion, und die chinesische Wirt-        nur noch moderat. Die auf der Basis von Kauf-
      schaft scheint aus dem Tritt geraten zu sein. Die     kraftparitäten berechnete Weltproduktion stieg
      Unsicherheit über die Auswirkungen der neuen          insgesamt im dritten Quartal sogar recht kräftig
      Omikron-Variante des Coronavirus auf die Kon-         (Abbildung 1), weil sich die wirtschaftliche Aktivi-
      junktur sind groß. Wir rechnen damit, dass die        tät in Indien von den Auswirkungen eines massi-
      wirtschaftliche Aktivität in den nächsten Monaten     ven Lockdowns erholte, der im Frühjahr ange-
      merklich gedämpft wird, im weiteren Verlauf des       sichts einer dramatischen Covid-19-Welle ver-
      Jahres 2022 die weltwirtschaftliche Erholung          hängt worden war. In der übrigen Welt
      sich aber wieder durchsetzt. Für das kommende         schwächte sich die Konjunktur hingegen nach
      Jahr erwarten wir einen Zuwachs der Weltpro-          der Jahresmitte spürbar ab. Diese Tendenz zeigt
      duktion (gemessen auf Basis von Kaufkraftpari-        sich deutlich anhand des IfW-Indikators für die
      täten) um 4,5 Prozent, nach einem Zuwachs um          weltwirtschaftliche Aktivität, der auf der Basis
      5,7 Prozent in diesem Jahr. Damit haben wir un-       von Stimmungsindikatoren aus 42 Ländern be-
      sere Septemberprognose um 0,5 (2022) bzw.             rechnet wird.
      0,2 Prozentpunkte (2021) reduziert. Für das Jahr
                                                             Abbildung 1:
      2023 haben wir unsere Erwartung hingegen               Weltwirtschaftliche Aktivität
      leicht von 3,8 auf 4 Prozent angehoben. Die In-
      flation dürfte derzeit ihren Höhepunkt erreicht                Prozent                                           Index
                                                              9,0                                                              102
      haben und im Prognosezeitraum deutlich zu-                                                Bruttoinlandsprodukt
      rückgehen, was vor allem an der Energiepreis-           7,0
      komponente liegt. Der zugrundeliegende Preis-                                                                            101
      auftrieb dürfte über den gesamten Prognosezeit-         5,0

      raum deutlich höher bleiben als vor der Krise.
                                                              3,0                                                              100

                                                              1,0
                                                                                                                               99
                                                              -1,0

                                                              -3,0             IfW-Indikator (rechte Skala)                    98

                                                              -5,0
                                                                                                                               97
                                                              -7,0

                                                              -9,0                                                             96
                                                                  2007 2009 2011 2013 2015 2017 2019 2021

                                                             Quartalsdaten; saisonbereinigt; Indikator be-rechnet auf Basis
                                                             von Stimmungsindikatoren aus 42 Ländern; Bruttoinlands-
                                                             produkt: preisbereinigt,    Veränderung      gegenüber    dem
                                                             Vorquartal, 46 Länder, gewichtet nach Kaufkraftparität.

                                                             Quelle: OECD, Main Economic Indicators; nationale Quellen;
      Kasten 1: Zur Verlangsamung der Konjunktur in China    Berechnungen des IfW Kiel.

                                                                                                                                     2
KIELER KONJUNKTURBERICHTE NR. 85 (2021|Q4)

      Die Covid-19-Pandemie beeinflusst die wirt-                      In den fortgeschrittenen Volkswirtschaften
      schaftliche Aktivität immer noch spürbar. Al-                    hat sich die Konjunktur zuletzt spürbar abge-
      lerdings verlaufen die Infektionswellen immer                    schwächt. Der Anstieg der gesamtwirtschaftli-
      weniger synchron (Abbildung 2). Auch sind die                    chen Produktion in der Gruppe der fortgeschrit-
      wirtschaftlichen Auswirkungen unterschiedlich;                   tenen Volkswirtschaften verringerte sich im drit-
      vor allem in den Ländern mit einer hohen Impf-                   ten Quartal 2021 deutlich auf 0,9 Prozent, nach
      quote werden inzwischen auch höhere Inziden-                     1,7 Prozent im Quartal zuvor (Abbildung 3).
      zen toleriert, ohne dass Eindämmungsmaßnah-                      Dämpfend wirkte das wieder verstärkte Infekti-
      men ergriffen werden, die die Konjunktur stark                   onsgeschehen, während das zweite Quartal da-
      dämpfen. Im Sommer führte ein verstärktes In-                    von geprägt gewesen war, dass pandemiebe-
      fektionsgeschehen vor allem in vielen asiati-                    dingte Beschränkungen vor dem Hintergrund
      schen Ländern zu deutlichen Bremsspuren in                       sinkender Inzidenzen gelockert wurden und sich
      der Konjunktur, während die Auswirkungen auf                     die wirtschaftliche Aktivität in den besonders be-
      die Produktion in den Vereinigten Staaten und in                 troffenen Dienstleistungsbereichen wieder er-
      Europa zumeist gering waren. Neben den Belas-                    holte. Angesichts der inzwischen verfügbaren
      tungen durch die Pandemie – diesbezüglich ha-                    Möglichkeit zur Impfung und vielerorts bereits
      ben sich mit dem Auftreten der neuen Virusvari-                  recht hoher Impfquoten wurde aber in den meis-
      ante Omikron in Südafrika zuletzt neue Risiken                   ten Ländern auf einschneidende neuerliche Ein-
      ergeben – haben dabei auch anhaltende Lie-                       dämmungsmaßnahmen zunächst verzichtet; le-
      ferengpässe, welche die Warenproduktion be-                      diglich in Japan ging das Bruttoinlandsprodukt
      schränken, und der erheblich verstärkte Inflati-                 spürbar zurück. In den Vereinigten Staaten und
      onsdruck den Ausblick getrübt.                                   in Westeuropa verringerte sich die Mobilität der
                                                                       Menschen – ein Indikator für die Auswirkungen
                                                                       der Pandemie auf die wirtschaftliche Aktivität in
       Abbildung 2:                                                    kontaktintensiven Dienstleistungsbereichen –
       Neuinfektionen pro Million Einwohner
                                                                       hingegen kaum oder sie erhöhte sich sogar wei-
                                                       Europa          ter (Abbildung 4). Maßgeblich für den deutlich
             Anzahl/Tag                                Nordamerika
       600                                             Südamerika
                                                                       verlangsamten Produktionsanstieg in den Verei-
                                                       Indien          nigten Staaten – auf 0,5 Prozent von 1,6 Prozent
                                                       Thailand
                                                       Südafrika
                                                                       im Vorquartal – waren hingegen wohl das Nach-
       500                                                             lassen des fiskalischen Impulses, der insbeson-
                                                                       dere den privaten Konsum im ersten Halbjahr
                                                                       kräftig angeregt hatte, zunehmende Probleme
       400                                                             bei der Beschaffung von Vorprodukten in der In-
                                                                       dustrie sowie die Auswirkungen eines Hurrikans,
                                                                       die insbesondere die Ölförderung längere Zeit
       300                                                             stark beeinträchtigte. Im Vereinigten Königreich
                                                                       verringerte sich die Zuwachsrate der gesamt-
                                                                       wirtschaftlichen Produktion zwar ebenfalls deut-
       200                                                             lich, sie blieb aber mit 1,3 Prozent recht hoch. Im
                                                                       Euroraum setzte sich die Erholung von dem im
                                                                       Winterhalbjahr 2020/21 verzeichneten pande-
       100                                                             miebedingten Produktionsrückgang sogar fast
                                                                       unvermindert fort. Hier waren die Infektionszah-
                                                                       len allerdings zumeist erst relativ spät wieder ge-
         0                                                             stiegen. Während die Inzidenzen in den Verei-
         1.3.20     1.7.20    1.11.20   1.3.21     1.7.21    1.11.21
                                                                       nigten Staaten und in Asien im Herbst wieder ge-
       Tagesdaten. Bestätigte Neuinfektionen pro eine Million
                                                                       sunken sind, sind sie in Europa inzwischen auf
       Einwohner, täglicher Durchschnittswert im 7-Tages-Zeitraum.     einem so hohen Niveau, dass in vielen Ländern
       Quelle: Our World in Data.                                      neuerliche Eindämmungsmaßnahmen ergriffen
                                                                       worden sind und für das vierte Quartal mit deut-

                                                                                                                             3
KIELER KONJUNKTURBERICHTE NR. 85 (2021|Q4)

      Abbildung 3:                                                           lichen konjunkturellen Bremswirkungen zu rech-
      Gesamtwirtschaftliche Entwicklung in den G7-Län-                       nen ist.
      dern
              Prozent
                                                                             In den Schwellenländern ist das Bild differen-
       12
                                                                             ziert, zumeist hat sich der Produktionsan-
       10                                                                    stieg im Sommer aber ebenfalls vermindert.
        8
                           BIP                                               Während sich die indische Wirtschaft vom im
        6                  Inländische Verwendung                            Frühjahr verzeichneten neuerlichen pandemie-
        4
                                                                             bedingten Einbruch erholte, erhöhten sich in vie-
                                                                             len anderen asiatischen Schwellenländern mit
        2
                                                                             Ausbreitung der Delta-Variante die Infektions-
        0
                                                                             zahlen stark und es kam damit verbunden zu
       -2                                                                    deutlichen Rückgängen der wirtschaftlichen Ak-
       -4                                                                    tivität. In China, wo die Regierung eine strikte
       -6                                                                    Null-Covid-Politik verfolgt, wurden regional zum
       -8
                                                                             Teil empfindliche Eindämmungsmaßnahmen er-
                                                                             griffen, deren Auswirkungen über die internatio-
      -10
                                                                             nalen Lieferketten zeitweise weltweit spürbar
      -12
            2012         2014      2016         2018          2020
                                                                             waren. Darüber hinaus wurde die Konjunktur in
                                                                             China durch Probleme in der Energieversorgung
      Quartalsdaten; preis- und saisonbereinigt; Veränderung gegen-
      über dem Vorquartal; G7: Vereinigte Staaten, Japan, Kanada,            gebremst. In den vergangenen Monaten wurden
      Deutschland, Frankreich, Italien und Vereinigtes Königreich.           immer wieder Unternehmen gezwungen, die
      Quelle: OECD, Main Economic Indicators; Berechnungen des               Produktion herunterzufahren, um den Stromver-
                                                                             brauch zu drosseln. Schließlich belasteten Zah-
                                                                             lungsschwierigkeiten großer Unternehmen der
      Abbildung 4:                                                           Immobilienwirtschaft die wirtschaftliche Stim-
      Mobilität in ausgewählten Ländern                                      mung und die Aktivität im Wohnungsbau (Kas-
                                                                             ten 1). In Lateinamerika ist die Konjunktur ge-
               Prozent
                                                                             spalten. Während in den Andenländern Chile,
                                                                             Peru und Kolumbien die Wirtschaft weiter kräftig
         0
                                                                             expandierte, ging die Produktion in den großen
                                                                             Ländern Brasilien und Mexiko – und wohl auch
                                                                             in Argentinien – zurück, wobei dies lediglich in
       -20
                                                                             Mexiko maßgeblich auf die Pandemie zurückzu-
                                                                             führen war. In Brasilien und Argentinien war hin-
                                                                             gegen wesentlich, dass die Agrarproduktion dür-
       -40
                                                                             rebedingt zurückging und der private Konsum
                                                                             dadurch gebremst wurde, dass stark steigende
                                                                             Preise die Kaufkraft reduzierten.
       -60
                                                                             Lieferengpässe bremsen Welthandel und In-
                                                       Euroraum              dustrieproduktion. Die globale Industriepro-
                                                       UK
       -80                                             USA                   duktion hatte sich sehr rasch von dem tiefen Ein-
                                                       Indien
                                                       Lateinamerika
                                                                             bruch zu Beginn der Pandemie erholt. Bereits im
                                                                             Herbst 2020 wurde das Vorkrisenniveau wieder
      -100                                                                   überschritten, wozu beitrug, dass die Erspar-
             1.1   1.4     1.7   1.10     1.1    1.4    1.7     1.10   1.1
                                                                             nisse durch geringere Ausgaben für Dienstleis-
      Tagesdaten. Einzelhandel und Freizeiteinrichtungen,
      Abweichung ggü. gleichem Wochentag im Zeitraum Januar bis
                                                                             tungen nun zu einem Teil für Warenkäufe ver-
      Februar 2020.                                                          wendet wurden. Seit Beginn dieses Jahres steigt
      Quelle: Google Covid-19 Mobility Report.                               die Industrieproduktion aber in der Tendenz
                                                                             weltweit nicht mehr. Während sie in den fortge-
                                                                             schrittenen Volkswirtschaften bis zur Mitte des
                                                                             Jahres noch leicht zulegte, war sie in den

                                                                                                                                 4
KIELER KONJUNKTURBERICHTE NR. 85 (2021|Q4)

      Schwellenländern, die in der Regel eine dynami-                         Kapazitätsprobleme im Logistiksystem, insbe-
      schere Industrieproduktion aufweisen, sogar                             sondere im Seeverkehr. Sie äußern sich nicht
      rückläufig (Abbildung 5); ein ähnliches Bild zeigt                      nur in drastisch gestiegenen Frachtraten, son-
      sich für den weltweiten Warenhandel. Die                                dern auch darin, dass seit Beginn des Jahres der
      Schwäche im Verarbeitenden Gewerbe ist frei-                            Anteil der Fracht, die sich auf Schiffen befindet,
      lich nicht nachfragebedingt, sondern wohl we-                           die nicht in Fahrt sind, stark gestiegen ist (Abbil-
      sentlich auf zunehmende Lieferengpässe zu-                              dung 6). Vielfach sind die Produktionskapazitä-
      rückzuführen.1 Hierzu beigetragen haben                                 ten aber schlicht nicht in der Lage, den hohen
                                                                              Bedarf zu befriedigen. So leidet insbesondere
          Abbildung 5:                                                        die Automobilindustrie zunehmend unter Lie-
          Weltweite Industrieproduktion nach Ländergruppen                    ferengpässen etwa bei Halbleitern, deren Her-
          und Regionen
                                                                              steller derzeit nicht in der Lage sind, alle Bestel-
           140
                  2012=100                                                    lungen in den üblichen Fristen zu befriedigen.
                         Industrieländer
                         Entwicklungs-und Schwellenländer
                                                                              Weltweit ist die Autoproduktion in diesem Jahr
           130
                         Welt                                                 bis zum Herbst um rund 30 Prozent gesunken,
           120                                                                mit zum Teil erheblichen Auswirkungen auf die
           110                                                                gesamtwirtschaftliche Produktion (OECD 2021,
           100
                                                                              Box 1.1).

            90
                                                                               Abbildung 6:
            80                                                                 Blockierte Schiffskapazität
              2012        2014       2016         2018       2020
                                                                                     Prozent
           120                                                                  16
                           Fortgeschrittene Volkswirtschaften
           110
                                                                                14

           100
                                                                                12
             90
                                                                                10
             80              Euroraum
                             Vereinigte Staaten
             70                                                                  8
                             Japan

             60
                                                                                 6
               2012       2014        2016          2018     2020

                                                                                 4
                            Entwicklungs- und Schwellenländer

           180               Asien                                               2
                             Mittel-und Osteuropa
           160
                             Lateinamerika                                       0
                             China                                                2015    2016   2017   2018    2019   2020    2021
           140
                                                                               Monatsdaten. Anteil an Waren, die sich global auf wartenden
           120                                                                 Containerschiffen befinden.

           100                                                                 Quelle: Berechnungen von Vincent Stamer (IfW Kiel) mit
                                                                               Daten Fleetmon.com.
            80

            60
              2012       2014        2016         2018      2020              Die Inflation in den fortgeschrittenen Volks-
                                                                              wirtschaften hat sich stark erhöht. Die Infla-
          Monatsdaten; preis- und saisonbereinigt. Letzter Wert: Sept. 2021   tion hat im Verlauf des Jahres 2021 kräftig ange-
          Quelle: CPB, World Trade Monitor; Berechnungen des IfW Kiel.        zogen und ist im Herbst in vielen Ländern so
                                                                              hoch wie seit mehreren Jahrzehnten nicht mehr.
                                                                              In den G7-Ländern lag sie im Oktober bei 4,5

      1 Vgl. Beckmann et al. (2021) für eine Analyse der Lie-                 zwischen Auftragseingängen und Produktion im Ver-
      ferengpässe in Deutschland, wo die Diskrepanz                           arbeitenden Gewerbe besonders ausgeprägt ist.

                                                                                                                                             5
KIELER KONJUNKTURBERICHTE NR. 85 (2021|Q4)

      Prozent (Abbildung 7). Im November dürfte sie                       ein übliches Niveau aufzufüllen, so dass mit auf-
      weiter auf über 5 Prozent geklettert sein. Damit                    kommenden Zweifeln an der Versorgungssi-
      hat sie freilich ihren Höhepunkt wohl erreicht. Ab                  cherheit die Preise explodierten. Zuletzt kletter-
      Dezember wird der Beitrag der Energiekompo-                         ten sie nach einer kurzen Phase mit wieder rück-
      nente zur Inflation, der sich zuletzt auf knapp die                 läufigen Notierungen auf neue Höchststände.
      Hälfte belief, deutlich zurückgehen, zum einen,                     Die hohen Gaspreise strahlten auch auf den Öl-
      weil die Ölnotierungen zuletzt etwas gesunken                       preis aus, der im November auf rund 85 Dollar je
      sind, vor allem aber, weil der Ölpreis im Ver-                      Barrel der Sorte Brent stieg, das höchste Niveau
      gleichsmonat des Vorjahres nicht mehr so nied-                      seit 2014 (Abbildung 8). Die Nachricht über das
      rig war. Allerdings ist inzwischen auch die Kern-                   Aufkommen der neuen Virusvariante Omikron
      rate der Inflation im Verlauf dieses Jahres stark                   ließ dann aber die Notierungen deutlich sinken,
      gestiegen, die ohne Berücksichtigung der Ener-                      weil negative Auswirkungen auf die Konjunktur
      gie- und der Nahrungsmittelpreise ermittelt wird                    und insbesondere den Luftverkehr befürchtet
      und die zugrundeliegende Inflationstendenz da-                      wurden, der gerade erst zur Erholung ansetzte.
      her besser widerspiegelt als die Rate mit diesen                    Inzwischen liegt der Ölpreis wieder bei etwa 75
      volatilen Komponenten. Sie liegt inzwischen fast                    Dollar, ähnlich hoch wie im Sommer und nur we-
      überall höher als das Inflationsziel der Noten-                     nig höher als vor einem Jahr. Für die kommen-
      bank. Lediglich in Japan ist der Preisauftrieb im-                  den Monate rechnen wir damit, dass die Ölnach-
      mer noch sehr niedrig.                                              frage pandemiebedingt gedämpft sein wird. Da-
                                                                          nach dürfte die weltweite Ölförderung voraus-
       Abbildung 7:
       Verbraucherpreise in den fortgeschrittenen Volks-                  sichtlich wieder hinter dem Verbrauch zurück-
       wirtschaften                                                       bleiben, so dass die Preise tendenziell anziehen
        5   Prozent                      Verbraucherpreise insgesamt      werden, bevor die Aufgabe der Förderreduzie-
                                         Kernindex                        rung in der OPEC+, die für den August 2022 vor-
        4                                                                 gesehen ist, sowie eine anziehende Förder-
                                                                          menge außerhalb des Kartells für eine wieder
        3                                                                 reichliche Ölversorgung und voraussichtlich et-
                                                                          was nachgebende Preise sorgen werden. Für
        2                                                                 die Gaspreise zeichnet sich derzeit zwar noch

        1                                                                  Abbildung 8:
                                                                           Rohstoffpreise
        0
                                                                                 2015=100                                   US-Dollar
                                                                           240                                                          150
                                                                                              Rohstoffpreise ohne Energie
       -1
                                                                                              Ölpreis (rechte Skala)
         2012         2014      2016       2018       2020
                                                                           200                                                          125
       Monatsdaten; Veränderung gegenüber dem Vorjahr der Ver-
       braucherpreise in den Vereinigten Staaten, im Euroraum, in Japan
       und im Vereinigten Königreich, gewichtet mit dem Brutto-            160                                                          100
       inlandsprodukt zu Preisen und Wechselkursen von 2020; Kern-
       index: Verbraucherpreise ohne Energie und Nahrungsmittel.
                                                                           120                                                          75
       Quelle: OECD, Main Economic Indicators; Berechnungen des IfW
       Kiel.
                                                                            80                                                          50

      Die Energiepreise haben kräftig zugelegt und                          40                                                          25

      dürften im Prognosezeitraum nur langsam
      sinken. In den vergangenen Monaten war das                             0                                                          0
                                                                              2012    2014     2016    2018    2020     2022
      Geschehen an den Energiemärkten von einem
      drastischen Anstieg des Gaspreises gekenn-                           Monatsdaten; Rohstoffpreise: HWWI-Index auf US-Dollarbasis;
                                                                           Ölpreis: Spotpreis Sorte Brent. Grau schattiert: Prognose des
      zeichnet, der in Europa besonders ausgeprägt                         IfW Kiel.
      war. Hier waren die Lieferungen aus Russland                         Quelle: International Petroleum Exchange          via   Refinitiv
      im Sommer nicht ausreichend gewesen, um die                          Datastream; HWWI, Rohstoffpreisindex.

      Lagerbestände vor der Heizsaison wieder auf

                                                                                                                                               6
KIELER KONJUNKTURBERICHTE NR. 85 (2021|Q4)

      keine Entspannung ab; die Preise an den Ter-            sind, wird nun der Schwerpunkt auf öffentliche
      minmärkten lassen aber erwarten, dass das ge-           Investitionen und Programme gelegt, die das
      genwärtige Niveau nicht dauerhaft sein wird.            Ziel haben, strukturellen Herausforderungen wie
                                                              dem Klimawandel oder der demografischen Al-
      Die Geldpolitik wird allmählich gestrafft. Die
                                                              terung zu begegnen. Insgesamt sind so die fis-
      großen Notenbanken in den fortgeschrittenen
                                                              kalischen Bremseffekte, die vom Auslaufen der
      Volkswirtschaften haben auf den starken An-
                                                              im Zusammenhang mit der Pandemie geschlos-
      stieg der Inflation bisher zwar noch nicht mit
                                                              senen Stützungsprogramme ausgehen, mode-
      Maßnahmen reagiert. Die US-Fed und die Bank
                                                              rat, und die Politik dürfte bei möglichen Konsoli-
      von England haben die Märkte aber darauf ein-
                                                              dierungsschritten vorsichtig agieren, um die wirt-
      gestellt, dass sie ihre Politik früher straffen könn-
                                                              schaftliche Erholung nicht zu gefährden. Im Eu-
      ten, als bisher beabsichtigt. Mit ersten Zinserhö-
                                                              roraum trägt dazu bei, dass die Fiskalregeln
      hungen ist für das erste Halbjahr 2022 zu rech-
                                                              auch im Jahr 2022 ausgesetzt bleiben. Allge-
      nen, sofern die Wirtschaft nicht durch den Pan-
                                                              mein hilft zudem, dass die Finanzierungsbedin-
      demieverlauf erneut destabilisiert wird. In den
                                                              gungen weiterhin sehr günstig sind.
      Vereinigten Staaten wird zunächst das Volumen
      der Anleihekäufe deutlich reduziert werden; die
      Bank von England hat angekündigt, die Reinves-           Abbildung 9:
      tition von auslaufenden Staatsanleihen bei ei-           Geldpolitik in Schwellenländern
      nem Leitzinsniveau von 0,5 Prozent (derzeit 0,1
      Prozent) einzustellen. Im Euroraum ist eine Leit-          15
                                                                                 Diffusionsindex
      zinsanhebung hingegen noch nicht in Sicht. Zu-                             Gleitender Durchschnitt (3 Monate)
      nächst soll mit dem Auslaufen des Pandemie-                10
      Sonderprogramms zum Kauf von Anleihen im
                                                                                                  Restriktivere Geldpolitik
      März die Liquiditätszufuhr verringert werden. In            5
      Japan, wo die Inflation allerdings auch noch
      niedrig ist, zeichnet sich noch kein Ende der ext-
                                                                  0
      rem lockeren Geldpolitik ab. Kleinere Notenban-
      ken – etwa in Australien, Neuseeland, Korea und
      Osteuropa (Polen, Tschechien, Ungarn) – haben              -5

      auf die wirtschaftliche Erholung und die höhere
      Inflation hingegen schon reagiert und ihre Zin-           -10
      sen zum Teil sogar bereits mehrfach angeho-                                          Expansivere Geldpolitik
      ben. Vor allem in den Schwellenländern ist be-            -15
      reits seit Mitte des Jahres ein Zinserhöhungszyk-            2007 2009 2011 2013 2015 2017 2019 2021
      lus in Gang gekommen, um einem Abwärtsdruck              Monatsdaten. Der Diffusionsindex entspricht der Anzahl der
      auf die Wechselkurse zu begegnen und die In-             Zentralbanken, die in einem gegebenen Monat die Zinsen
                                                               erhöhten minus der Anzahl der Zentralbanken, die in einem
      flationsdynamik zu bremsen. (Abbildung 9).               gegebenen      Monat    die    Zinsen     senkten.    Enthaltene
                                                               Schwellenländer:    Argentinien,    Brasilien,   Chile,   China,
      Die Finanzpolitik stützt die Konjunktur vor-             Indonesien, Indien, Kolumbien, Mexiko, Malaysia, Peru,
                                                               Philippinen, Russland, Südafrika, Thailand, Türkei.
      erst weiter. In den fortgeschrittenen Volkswirt-
                                                               Quelle: Bank of International Settlements (BIS); Berechnungen
      schaften – und in geringerem Umfang auch in              des IfW Kiel.
      vielen Schwellenländern – wurden im vergange-
      nen Jahr umfangreiche Mehrausgaben und
      Steuerstundungen beschlossen, um die wirt-
      schaftlichen Folgen der Pandemie und der zu ih-
      rer Bekämpfung ergriffenen Maßnahmen zu mil-
      dern. Angesichts immer neuer Infektionswellen
      wurden auch im laufenden Jahr fiskalische Stüt-
      zungsprogramme wirksam. Während die Auf-
      wendungen zur Finanzierung pandemiebeding-
      ter Lasten mit fortschreitender Normalisierung
      der wirtschaftlichen Aktivität deutlich rückläufig

                                                                                                                                  7
KIELER KONJUNKTURBERICHTE NR. 85 (2021|Q4)

      Ausblick: Erholung der Weltkonjunktur                             gangenen Monaten als immer stärkerer Brems-
      vorübergehend gedämpft                                            faktor erwiesen, sie dürften aber im Verlauf des
                                                                        kommenden Jahres mit zunehmender Anpas-
      Pandemie und Lieferengpässe werden die
                                                                        sung der Produktionskapazitäten und der Wert-
      Konjunktur auch im kommenden Jahr dämp-
                                                                        schöpfungsketten allmählich überwunden wer-
      fen, aber an Einfluss verlieren. Die Dynamik
                                                                        den. Alles in allem erwarten wir für das kom-
      der weltweiten Konjunkturerholung hat sich im
                                                                        mende Jahr einen Zuwachs der Weltproduktion
      Jahr 2021 als Folge von neuen Covid-19-Schü-
                                                                        (gemessen auf Basis von Kaufkraftparitäten) um
      ben und Problemen in den Lieferketten deutlich
                                                                        4,5 Prozent, nach einem Zuwachs um 5,7 Pro-
      verlangsamt. Wir rechnen damit, dass es auch in
                                                                        zent in diesem Jahr (Tabelle 1). Im Vergleich zu
      den kommenden Monaten zu neuen Infektions-
                                                                        unserer Septemberprognose haben wir damit
      wellen kommen wird, zumal eine neue, noch-
                                                                        unsere Erwartung für 2022 um 0,5 Prozent-
      mals deutlich ansteckendere Variante aufgetre-
                                                                        punkte und für 2021 um 0,2 Prozentpunkte redu-
      ten ist. Die konjunkturellen Auswirkungen dürf-
                                                                        ziert. Für das Jahr 2023 haben wir hingegen
      ten aber mit der Zeit immer geringer werden, weil
                                                                        leicht von 3,8 auf 4 Prozent nach oben revidiert.
      entweder die Impfquoten hoch sind oder ein ho-
                                                                        Auf der Basis von Marktwechselkursen ergeben
      her Anteil der Bevölkerung bereits in Kontakt mit
                                                                        sich Veränderungsraten der globalen Produktion
      dem Virus gekommen ist und die gesundheitli-
                                                                        von 5,6 Prozent in diesem und 4,4 bzw. 3,7 Pro-
      chen Folgen dadurch begrenzt sind. So dürfte
                                                                        zent in den nächsten beiden Jahren. Für den
      die Annäherung an ein Normalniveau der Ge-
                                                                        weltweiten Warenhandel rechnen wir trotz der
      schäftstätigkeit in den Bereichen, die in der bis-
                                                                        nur schwachen Zunahme im Verlauf für dieses
      herigen gesamtwirtschaftlichen Erholung noch
                                                                        Jahr mit einem Zuwachs um mehr als 9 Prozent.
      zurückhängen, wie Tourismus, Reiseverkehr
                                                                        Im kommenden Jahr dürfte sich der Anstieg aber
      und Unterhaltungsgewerbe, im Prognosezeit-
                                                                        auf lediglich 2,2 Prozent belaufen, für das Jahr
      raum weiter fortschreiten, wenngleich vermutlich
                                                                        2023 rechnen wir mit einer Zunahme um 3,5 Pro-
      langsamer und weniger stetig als bislang erwar-
                                                                        zent.
      tet. Die Lieferengpässe haben sich in den ver-

      Tabelle 1:
      Bruttoinlandsprodukt und Verbraucherpreise in der Welt
                                                Gewicht               Bruttoinlandsprodukt               Verbraucherpreise
                                                                    2020 2021 2022 2023              2020 2021 2022 2023
      Weltwirtschaft                                     100         -3,1     5,7     4,5  4,0        3,2     4,5    5,0   3,8
      darunter
      Fortgeschrittene Länder                            44,5        -4,7     5,0     3,8     2,9      0,8     3,1     3,6     2,1
      China                                              18,7         2,3     7,8     4,1     4,9      2,5     1,0     2,3     2,3
      Lateinamerika                                       6,5        -6,8     6,6     3,3     3,1      8,1    11,3    11,0     7,8
      Indien                                              7,7        -7,0     7,6    11,7     7,9      6,6     5,2     4,9     4,2
      Ostasiatische Schwellenländer                       5,0        -4,5     2,9     6,1     6,4      1,1     2,1     2,9     2,4
      Russland                                            3,1        -2,4     3,7     3,1     2,5      2,6     5,9     4,9     4,7
      Afrika                                              2,9        -0,9     3,4     3,3     4,0      0,0     7,9     9,8     9,2

      Nachrichtlich:
      Welthandelsvolumen (Waren)                                       9,4    9,4      2,2    3,5
      Weltwirtschaft (gewichtet gemäß Brut-
      toinlandsprodukt im Jahr 2020 in US-                            -3,8    5,6      4,4    3,7    2,4      4,0      4,4      3,2
      Dollar)
      Prozent. Gewicht: gemäß Bruttoinlandsprodukt im Jahr 2020 nach Kaufkraftparität. — Bruttoinlandsprodukt, Verbraucher-
      preise: Veränderungen gegenüber dem Vorjahr; Ostasiatische Schwellenländer: Thailand, Malaysia, Indonesien und Philippi-
      nen; Fortgeschrittene Länder: Die Werte stimmen nicht notwendigerweise mit denen in Tabelle 3 überein, da der Länderkreis
      hier breiter gefasst ist und ein anderes Konzept bei der Gewichtung verwandt wird.
      Quelle: IMF, International Financial Statistics; OECD, Main Economic Indicators; Berechnungen des IfW Kiel; grau hinterlegt:
      Prognose des IfW Kiel

                                                                                                                                      8
KIELER KONJUNKTURBERICHTE NR. 85 (2021|Q4)

      In den Vereinigten Staaten bleiben die Kon-                       anvisierte Volumen ist mit 2.200 Mrd. US-Dollar
      junktur kräftig und die Inflation über dem No-                    deutlich größer. In welchem Umfang und in wel-
      tenbankziel. Die Verlangsamung des gesamt-                        cher Form dieses Programm letztlich beschlos-
      wirtschaftlichen Produktionsanstiegs auf ledig-                   sen wird, ist aber unsicher. Angesichts einer
      lich 0,5 Prozent im dritten Quartal war offenbar                  Teuerungsrate, die im November mit 6,8 Prozent
      wesentlich temporären Faktoren geschuldet. Für                    auf den höchsten Wert seit 30 Jahren gestiegen
      das vierte Quartal zeichnet sich eine deutlich                    ist, hat die Notenbank signalisiert, ihr Anleihe-
      stärkere Expansion ab. Sowohl der private Kon-                    kaufprogramm schneller zurückzufahren als bis-
      sum als auch der Außenhandel legten im Okto-                      lang vorgesehen. Sie wird aber wohl trotzdem
      ber kräftig zu, die Sparquote fiel im November                    noch bis weit in das kommende Jahr hinein zu-
      mit 7,3 Prozent erstmals wieder auf das Vorkri-                   sätzliche Anleihen auf ihre Bilanz nehmen und
      senniveau, was auf einen abermals kräftigen pri-                  voraussichtlich nicht vor Mitte des nächsten Jah-
      vaten Konsum schließen lässt, und die Einkaufs-                   res damit beginnen, den Leitzins allmählich an-
      managerindizes deuten sowohl für das Verarbei-                    zuheben. Damit wirkt die Geldpolitik auch im
      tende Gewerbe als auch für die Dienstleister auf                  Prognosezeitraum expansiv. Bei alledem rech-
      eine verstärkte Expansion hin. So dürfte sich der                 nen wir für 2022 mit einem Zuwachs des Brutto-
      Anstieg des Bruttoinlandsprodukts im laufenden                    inlandsprodukts um 4,4 Prozent, im Jahr 2023
      Jahr insgesamt auf 5,6 Prozent belaufen. Die Fi-                  dürfte er mit 2,9 Prozent zwar deutlich kleiner,
      nanzpolitik bleibt expansiv ausgerichtet, obwohl                  aber immer noch höher liegen als die Wachs-
      der Anfang November im Kongress beschlos-                         tumsrate des Produktionspotenzials (Tabelle 2).
      sene „Infrastructure Investment and Jobs Act“,                    Die Arbeitslosigkeit dürfte weiter sinken und am
      mit Ausgaben in Höhe von 1.200 Milliarden US-                     Ende des Prognosezeitraums wieder in etwa so
      Dollar über einen Zehnjahreszeitraum – dies                       niedrig sein wie vor der Pandemie. Die steigende
      entspricht auf ein Jahr gerechnet etwa 0,5 Pro-                   gesamtwirtschaftliche       Kapazitätsauslastung
      zent des Bruttoinlandsprodukt – gemessen an                       wird dazu beitragen, dass die Preissteigerung
      den Programmen der vergangenen beiden                             trotz im Prognosezeitraum fortfallender Inflati-
      Jahre relativ geringe Impulse setzt. Über ein wei-                onsimpulse von den Energiepreisen höher bleibt
      teres Fiskalpaket, das „Build Back Better“-Pro-                   als von der Notenbank angestrebt.
      gramm, wird derzeit noch verhandelt. Das

      Tabelle 2:
      Bruttoinlandsprodukt, Verbraucherpreise, und Arbeitslosenquote in den fortgeschrittenen Volkswirtschaften 2020–
      2023
                              Gewicht     Bruttoinlandsprodukt         Verbraucherpreise           Arbeitslosenquote
                                      2020 2021 2022 2023 2020 2021 2022 2023 2020 2021 2022 2023
      Europäische Union          36,0   -6,0     5,0    3,5    3,2  0,7      2,8   3,1     2,2   7,5    7,4    6,6   6,2
       Euroraum                  29,2   -6,4     5,0    3,5    3,1  0,3      2,5   2,8     1,9   7,8    7,6    6,9   6,5
       Schweden                   1,0   -3,1     4,7    4,3    2,8  0,7      2,5   2,8     2,0   8,3    8,8    7,4   6,6
       Polen                      2,3   -2,5     5,3    4,2    3,8  3,6      5,1   5,7     3,9   3,2    3,5    3,0   2,8

      Vereinigtes König-
                                    5,6    -9,7    6,9     4,5    1,9     0,9    2,4     4,1    2,5    4,5    4,5    4,3    4,2
      reich
      Schweiz                       1,1    -2,5    3,6     3,1    1,7     -0,7   0,6     1,0    1,0    4,8    5,1    4,8    4,6
      Norwegen                      0,6    -0,8    4,0     3,7    1,6      1,3   3,0     1,8    1,8    4,4    4,9    4,6    4,4

      Vereinigte Staaten           37,3    -3,4    5,6     4,4    2,9     1,2    4,7     5,0    2,4    8,1    5,4    3,8    3,5
      Kanada                        3,4    -5,3    4,6     3,6    2,8     0,7    3,4     3,1    2,5    9,5    7,6    6,5    6,2

      Japan                         9,6    -4,7    1,5     2,8    2,0     0,0    -0,2    1,0    0,4    2,8    2,8    2,5    2,4
      Südkorea                      4,0    -0,9    3,9     3,6    3,3     0,5     2,5    2,2    1,8    4,0    3,6    3,2    3,0
      Australien                    2,3    -2,4    4,2     3,4    3,1     0,9     2,8    2,7    2,3    6,5    5,1    4,7    4,3

      Aufgeführte Länder          100,0     -4,9    5,1    4,0    3,0    0,9     3,3     3,8     2,2   6,7    5,8     4,9    4,6
      Prozent. Gewicht gemäß Bruttoinlandsprodukt im Jahr 2020 in US-Dollar. — Bruttoinlandsprodukt: preisbereinigt, Verände-
      rung gegenüber dem Vorjahr. — Verbraucherpreise: Veränderung gegenüber dem Vorjahr, Europäische Union und Norwe-
      gen: harmonisierter Verbraucherpreisindex (HVPI). — Arbeitslosenquote: standardisiert nach dem ILO-Konzept. Ländergrup-
      pen gewichtet auf der Grundlage der Erwerbspersonenzahl von 2020.
      Quelle: Eurostat, VGR; OECD, Main Economic Indicators; IMF World Economic Outlook Database; Statistics Canada, Cana-
      dian Economic Account; grau hinterlegt: Prognose des IfW Kiel.

                                                                                                                                   9
KIELER KONJUNKTURBERICHTE NR. 85 (2021|Q4)

      Nach einem Rückschlag im Winterhalbjahr              als im Euroraum, die gesamtwirtschaftliche Pro-
      wird die Erholung im Euroraum im Frühjahr            duktion lag im dritten Quartal 2021 noch rund 2
      wieder Fahrt aufnehmen. Nach zwei Quartalen          Prozent unter dem Vorkrisenniveau. Nach der
      mit kräftigen Anstiegen um jeweils über 2 Pro-       Jahresmitte verlangsamte sich die zuvor kräftige
      zent war das Produktionsniveau im dritten Quar-      wirtschaftliche Expansion deutlich, obwohl die
      tal nur noch 0,3 Prozent geringer als zum Jah-       Eindämmungsmaßnahmen im Juli weitgehend
      resende 2019. Angesichts der Wucht der aktuel-       aufgehoben wurden („Freedom Day“). Während
      len Corona-Welle in Europa sind erneut Eindäm-       sich die Aktivität im Dienstleistungsbereich trotz
      mungsmaßnahmen beschlossen und die Kon-              wieder stark gestiegenen Infektionszahlen wei-
      summöglichkeiten insbesondere des ungeimpf-          ter erholte, ging die Produktion in der Industrie
      ten Bevölkerungsteils eingeschränkt worden. Mit      und im Bau zurück. Über die weltweit spürbaren
      dem Auftauchen von Omikron hat sich die Unsi-        Lieferengpässe bei Rohstoffen und Vorproduk-
      cherheit über die weitere wirtschaftliche Entwick-   ten hinaus machte sich insbesondere ein gravie-
      lung zusätzlich erhöht. Vor diesem Hintergrund       render Mangel an Lastwagenfahrern bemerkbar,
      dürfte die Erholung in den besonders belasteten      der zeitweise zu erheblichen logistischen Prob-
      kontaktintensiven Dienstleistungsbereichen ei-       lemen führte und wohl auch eine Folge des
      nen Rückschlag erleiden. Für das vierte Quartal      Brexit ist, der die Besetzung von Stellen mit Ar-
      2021 und das erste Quartal 2022 erwarten wir         beitsmigranten stark erschwert hat. Arbeitskräf-
      jeweils einen leichten Rückgang der gesamtwirt-      temangel ist insgesamt zunehmend ein restrin-
      schaftlichen Produktion, zumal die Liefereng-        gierender Faktor für die britische Wirtschaft; die
      pässe derzeit die industrielle Aktivität deutlich    Zahl der offenen Stellen ist im Herbst auf ein Re-
      beeinträchtigen. Diese dürften sich im kommen-       kordniveau gestiegen. Für das vierte Quartal
      den Jahr jedoch allmählich auflösen und kräftige     zeichnet sich eine weitere Zunahme der gesamt-
      Wertschöpfungszuwächse im Verarbeitenden             wirtschaftlichen Produktion um rund 1 Prozent
      Gewerbe im Jahresverlauf ermöglichen. Nach           ab. In den kommenden Monaten könnte aber die
      einem Zuwachs um 5,0 Prozent im Jahr 2021            Pandemie wieder stärker dämpfend wirken, da
      wird das Bruttoinlandsprodukt im kommenden           angesichts der rasch steigenden Zahl von Infek-
      Jahr wohl um 3,5 Prozent steigen und im Jahr         tionen mit der Omikron-Variante erneut Eindäm-
      2023 um 3,1 Prozent. Für das Jahr 2022 bedeu-        mungsmaßnahmen beschlossen worden sind.
      tet dies eine Abwärtsrevision gegenüber der          Gleichzeitig laufen einige fiskalische Stützungs-
      Prognose vom September um fast einen Pro-            maßnahmen aus. Dennoch dürfte das Bruttoin-
      zentpunkt; die vollständige wirtschaftliche Erho-    landsprodukt im Jahr 2022 mit 4,5 Prozent ge-
      lung verschiebt sich somit erneut zeitlich nach      genüber dem Vorjahr nochmals kräftig steigen.
      hinten. Die Verbraucherpreise liegen derzeit vor     Für 2023 erwarten wir dann nur noch eine Zu-
      allem aufgrund kräftig gestiegener Energie-          nahme um 1,9 Prozent. Bremsend dürfte im
      preise um fast 5 Prozent höher als vor einem         Prognosezeitraum wirken, dass sich die Wirt-
      Jahr. Im kommenden Jahr wird der Preisdruck          schaft nach dem Ausscheiden aus dem Europä-
      vonseiten der Energiepreise abflauen, dafür          ischen Binnenmarkt im Außenhandel neu aus-
      dürfte sich der Preisauftrieb bei Industriegütern    richten muss. Auch dürfte die Geldpolitik spürbar
      verstärken. So wird die Verbraucherpreisinfla-       gestrafft werden, um die Inflation zu bremsen.
      tion im kommenden Jahr voraussichtlich mit 2,8       Die Bank von England hat die Erwartung ge-
      Prozent nochmals deutlich über dem Inflations-       weckt, dass in Kürze die Zinsen angehoben wer-
      ziel liegen. Die Erwerbslosenquote lag im Okto-      den und der Bestand an Anleihen in der Zentral-
      ber mit 7,3 Prozent auf dem Vorkrisenniveau und      bank in absehbarer Zeit reduziert wird.
      dürfte im Prognosezeitraum auf das geringste
                                                           In den übrigen Ländern der EU steigt die Pro-
      Niveau seit Bestehen der Währungsunion zu-
                                                           duktion trotz Pandemie und Lieferengpässen
      rückgehen.
                                                           kräftig. In den EU-Ländern außerhalb des Eu-
      Die britische Wirtschaft wird weiter durch die       roraums erholt sich die Konjunktur vergleichs-
      Pandemie und die Auswirkungen des Brexits            weise stetig. In der Regel blieb der Produktions-
      belastet. Die wirtschaftliche Erholung ist im Ver-   anstieg auch im dritten Quartal kräftig. Ausnah-
      einigten Königreich weniger weit fortgeschritten     men sind Rumänien und Bulgarien, wo das

                                                                                                                10
KIELER KONJUNKTURBERICHTE NR. 85 (2021|Q4)

      Gesundheitssystem durch Corona-Infektionen            nur langsam wieder an Fahrt gewinnt. Mit 4,1
      besonders beansprucht wurde, und Ungarn, wo           bzw. 4,9 Prozent wird das Bruttoinlandsprodukt
      die Industrieproduktion im Sog der Liefereng-         in den kommenden beiden Jahren Zuwachsra-
      pässe in der Automobilindustrie besonders stark       ten verzeichnen, die noch deutlich unter den im
      zurückging. Für das Winterhalbjahr rechnen wir        längerfristigen Vergleich bereits niedrigen Wer-
      mit einer zwar vorübergehend gebremsten,              ten liegen, die vor der Corona-Krise verzeichnet
      gleichwohl insgesamt weiter zunehmenden ge-           wurden. Die Verbraucherpreise in China steigen
      samtwirtschaftlichen Expansion. Dämpfend wirkt        im Prognosezeitraum nur moderat, auch weil die
      neben den Auswirkungen der Pandemie auch              Energiepreise auf Verbraucherseite – in stärke-
      der Kaufkraftentzug durch die in den mittel- und      rem Maße als anderswo – staatlich reguliert
      osteuropäischen Ländern besonders hohe Infla-         sind.
      tion. Bei einem kräftigen Lohnwachstum wird
                                                            Omikron könnte die weltwirtschaftliche Erho-
      sich aber der konsumgetragene Aufschwung mit
                                                            lung stark bremsen. Ein großer Unsicherheits-
      Abklingen des energiepreisbedingten Inflations-
                                                            faktor für die Prognose bleibt die Entwicklung der
      schubs im Verlauf des kommenden Jahres wie-
                                                            Pandemie. Mit dem Auftreten der Omikron-Vari-
      der durchsetzen. Hinzu kommen erhebliche zu-
                                                            ante, die besonders ansteckend ist und gegen
      sätzliche EU-Mittel, die eine Zunahme der Inves-
                                                            die die verfügbaren Impfstoffe offenbar weniger
      titionen finanzieren helfen. So dürfte die Produk-
                                                            wirksam sind, hat sich das Risiko neuerlicher
      tion in den kommenden beiden Jahren kräftig
                                                            Konjunktureinbrüche durch Infektionsschutz-
      steigen (Tabelle 8.1 im Anhang). Auf den erhöh-
                                                            maßnahmen und Verhaltensanpassungen deut-
      ten Inflationsdruck haben die Zentralbanken der
                                                            lich erhöht. Auch wenn es nicht zu einer weltwei-
      mittel- und osteuropäischen Länder bereits mit
                                                            ten Rückkehr in den Lockdown kommt, könnten
      Zinsanhebungen reagiert. Eine weitere Straffung
                                                            Normalisierungsschritte wie die Öffnung der
      der Geldpolitik ist wahrscheinlich, dürfte aber an-
                                                            Landesgrenzen für den Tourismus und die Wie-
      gesichts der weiter extrem niedrigen Zinsen im
                                                            deraufnahme von Geschäftsreisen zurückge-
      Euroraum moderat ausfallen.
                                                            nommen oder weiter in die Zukunft verschoben
      Die Immobilienkrise und lokale Covid-Aus-             werden. Dabei besteht die Gefahr, dass die wirt-
      brüche drücken den Zuwachs des Bruttoin-              schaftlichen Strukturen in den besonders be-
      landsprodukts in China unter 5 Prozent. Die           troffenen Dienstleistungsbereichen im Zuge im-
      Konjunktur in China wird derzeit von verschiede-      mer neuer Geschäftseinbrüche auch längerfris-
      nen Faktoren gedämpft, die wohl nur nach und          tig Schaden nehmen, zumal die fiskalischen Ka-
      nach überwunden werden. Während die Ener-             pazitäten, um wirksam gegenzusteuern, in man-
      giekrise durch die Mobilisierung zusätzlicher         chen Ländern möglicherweise bereits ausgereizt
      Brennstoffmengen und verbesserte Anreize zur          sind.
      Elektrizitätsproduktion offenbar bereits abklingt,
                                                            Die Straffung der Geldpolitik in den fortge-
      werden Maßnahmen zur Eindämmung lokaler
                                                            schrittenen Volkswirtschaften birgt Risiken
      Covid-19-Ausbrüche wohl noch längere Zeit im-
                                                            für die Erholung in den Schwellenländern.
      mer wieder spürbare konjunkturelle Bremsef-
                                                            Die Konjunktur in den Schwellenländern litt zu-
      fekte zur Folge haben. Die Konsolidierung im Im-
                                                            letzt vor allem unter den Auswirkungen der Pan-
      mobiliensektor dürfte sogar über den gesamten
                                                            demie. Die finanziellen Rahmenbedingungen
      Prognosezeitraum die gesamtwirtschaftliche
                                                            waren indes zumeist weiter günstig. Auch hohe
      Produktion dämpfen. Um die Konjunktur zu stüt-
                                                            Rohstoffpreise sind für viele Schwellenländer ein
      zen, sollen Geld- und Fiskalpolitik expansiver
                                                            stimulierender Faktor. So erwarten wir für die
      ausgerichtet werden. So hat die Zentralbank im
                                                            kommenden beiden Jahre eine recht kräftige Er-
      Dezember beschlossen, den Mindestreserve-
                                                            holung der Konjunktur in dieser Ländergruppe
      satz um 50 Basispunkte zu senken. Darüber hin-
                                                            (Tabelle 8.3 im Anhang). Allerdings hat die Aus-
      aus sollen kleine und mittelständische Unterneh-
                                                            sicht auf eine anstehende Straffung der Geldpo-
      men unterstützt werden, etwa indem Kreditver-
                                                            litik in den Vereinigten Staaten die Wechsel-
      gabebedingungen gelockert sowie Steuern und
                                                            kurse der meisten Länder unter Druck gesetzt.
      Gebühren reduziert werden. Alles in allem rech-
                                                            Viele Notenbanken haben inzwischen ihre Zin-
      nen wir damit, dass die chinesische Konjunktur
                                                            sen erhöht, zum Teil deutlich, um Kapital-

                                                                                                                 11
KIELER KONJUNKTURBERICHTE NR. 85 (2021|Q4)

      abflüsse zu vermeiden und den aus der Abwer-
      tung resultierenden Inflationsdruck zu begren-
      zen. Im Zuge von Zinsanhebungen der US-No-
      tenbank könnten sich die finanziellen Rahmen-
      bedingungen für die Schwellenländer weiter ver-
      engen und eine konjunkturell unangemessen
      restriktive Geldpolitik notwendig werden, um den
      Außenwert zu stabilisieren und eine Situation zu
      vermeiden, wie sie gerade in der Türkei beo-
      bachtet werden kann, wo sich der Außenwert der
      Währung im freien Fall befindet.

                                                         12
KIELER KONJUNKTURBERICHTE NR. 85 (2021|Q4)

        Kasten 1:
        Zur Verlangsamung der Konjunktur in China

            Die Expansion der chinesischen Wirtschaft ist im dritten Quartal 2021 fast zum Stillstand gekommen.
        Die Produktion legte gegenüber dem Vorquartal lediglich um 0,2 Prozent zu, im Vorjahresvergleich betrug
        der Zuwachs 4,9 Prozent. Dies war nicht nur erheblich weniger als in den beiden Vorquartalen, deren hohe
        Zuwachsraten von 18,3 Prozent bzw. 7,9 Prozent allerdings wesentlich auf den Basiseffekt des Corona-
        bedingten Einbruchs der Produktion im ersten Halbjahr 2020 zurückzuführen waren, sondern liegt auch
        unter jenem Wachstumstempo, das vor der Krise verzeichnet wurde. Maßgeblich für die Schwäche im
        dritten Quartal waren zum einen Faktoren, die voraussichtlich temporärer Natur sind, insbesondere eine
        Krise in der Energieversorgung, produktionsbeschränkende Maßnahmen im Zuge der strikten No-Covid-
        Politik und globale Lieferkettenprobleme. Zum anderen weisen die finanziellen Schwierigkeiten im Immo-
        biliensektor auf Probleme hin, die die Konjunktur in China noch längere Zeit belasten dürften.

        Corona-Pandemie
           Die chinesische Regierung verfolgt weiterhin eine No-Covid-Strategie und setzt bei Ausbrüchen auf
        strenge lokale Restriktionen zur Bekämpfung des Virus. Einreisen nach China sind nach wie vor nur mit
        Sondererlaubnis und anschließender Quarantäne möglich. Die Anzahl an internationalen Flugverbindun-
        gen liegt derzeit bei nur 2,2 Prozent der internationalen Verbindungen von 2019. Lokale Corona-Ausbrüche
        haben in der Vergangenheit immer wieder zu weitreichenden Abriegelungen und auch zu Produktionsbe-
        schränkungen bis hin zur Stilllegung ganzer Betriebe geführt. Eine Änderung der Strategie ist bislang nicht
        absehbar und Corona-Maßnahmen werden daher auch weiterhin die chinesische Wirtschaft und ihre au-
        ßenwirtschaftlichen Beziehungen beeinflussen.

        Energiekrise
            In China kam es seit März zu Engpässen in der Elektrizitätsversorgung. In vielen Regionen wurde Strom
        rationiert oder zeitweise abgeschaltet, wovon nicht zuletzt das Produzierende Gewerbe betroffen war. Die
        Probleme rührten daher, dass die Energienachfrage infolge der wirtschaftlichen Erholung zunahm, wäh-
        rend gleichzeitig die Stromproduktion reduziert wurde – eine Folge von Mangel an Kohle und Chinas zent-
        ral gesteuerter Energiepolitik.
            Kohle ist der wichtigste Energieträger in der chinesischen Stromversorgung; 2020 wurden daraus knapp
        zwei Drittel der Elektrizität gewonnen. Die Gründe für den Mangel an verfügbarer Kohle im laufenden Jahr
        sind vielfältig. Die heimische Produktion wurde durch Überschwemmungen in wichtigen Abbauregionen
        und Stilllegungen von Minen aufgrund schlechter Umwelt- und Arbeitsbedingungen beeinträchtigt. Interna-
        tionale Importe wurden durch ein von der Regierung verordnetes Importverbot australischer Kohle behin-
        dert. Hinter den Problemen in der Energieversorgung stehen aber auch strukturelle Ursachen. Die Strom-
        preise in China sind staatlich gedeckelt. Der aufgrund
        des knappen Angebots stark gestiegene Preis für Abbildung K1-1
        Kohle (Abbildung K1-1) konnte daher nicht an die Preisentwicklung für Kohle in China
        Verbraucher weitergegeben werden, so dass Betrei-
        ber von Kohlekraftwerken vielerorts nur mit Verlust              Yuan / t
        produzieren konnten und die Produktion entspre- 2500
        chend reduzierten. Gleichzeitig stellte der gedeckelte
        Strompreis für Abnehmer auch keinen Anreiz dar, 2000
        den Verbrauch zu reduzieren und die Versorgungssi-
        tuation nachfrageseitig zu entlasten
                                                                   1500
            Hinzu kommt, dass China anstrebt, die CO2-Emis-
        sionen langfristig zu reduzieren. Dies hat dazu beige-
        tragen, dass die Kohleabbaukapazitäten in der jün- 1000
        geren Vergangenheit weniger rasch gestiegen sind
        als zuvor. Darüber hinaus haben die einzelnen Pro-          500
        vinzen von der Zentralregierung Emissionsvorgaben
        erhalten, die dazu führten, dass die Produktion in be-
        sonders energieintensiven Betrieben in einigen Regi-          0
                                                                       2017       2018        2019        2020        2021
        onen zeitweise eingeschränkt oder ausgesetzt
        wurde, um Emissionen zu reduzieren und die Vorga-          Tagesdaten. Letzter Wert: 13. Dez. 2021.
        ben einzuhalten. Betroffen waren etwa die Stahl-,          Quelle: National Bureau of Statistics of China via Refinitiv.
        Aluminium-, Glas- oder Zementindustrien.

                                                                                                                                   13
KIELER KONJUNKTURBERICHTE NR. 85 (2021|Q4)

        Reform des Strommarktes
            Mitte Oktober kündigte die chinesische National Development and Reform Commission (NDRC), das
        oberste Wirtschaftsplanungs-Gremium des Landes, umfassende Maßnahmen zur Behebung der Energie-
        krise an. Auf kurze Sicht bietet die Reform Anreize für Kohlekraftwerksbetreiber, die Produktion zu erhö-
        hen, während langfristig die Abhängigkeit von Kohle reduziert werden soll.
             Kurzfristig soll die Versorgungssituation dadurch verbessert werden, dass sowohl die Kohleförderung
        im Inland als auch die Einfuhren ausgeweitet werden. Gleichzeitig werden die Anreize zur Stromproduktion
        durch eine Flexibilisierung des Strommarktes verbessert. Abnehmer müssen den Strom zukünftig am
        Strommarkt zu Marktpreisen einkaufen, die in Abhängigkeit von Angebot und Nachfrage steigen und fallen
        können. Der Strompreis für gewerbliche und industrielle Abnehmer wird zwar auch weiterhin zentral be-
        stimmt, kann zukünftig aber um bis zu 20 Prozent statt bisher 10 Prozent vom vorgegebenen Preis abwei-
        chen. Für besonders energieintensive gewerbliche und industrielle Abnehmer entfällt die Preisvorgabe
        vollständig. Hierdurch wird den Kraftwerksbetreibern die Möglichkeit gegeben, höhere Produktionskosten
        an die Abnehmer weiterzureichen und somit ein Anreiz geschaffen, die Auslastung der Kohlekraftwerke
        wieder zu erhöhen. Private Haushalte und landwirtschaftliche Betriebe sind von dieser Regelung ausge-
        nommen und können unverändert Elektrizität zu einem regulierten Preis beziehen (Lantau Group 2021).
            Um die Kohleförderung kurzfristig auszuweiten, wurden Genehmigungen zur Inbetriebnahme von 153
        stillgelegten Minen mit einer Kapazität von jährlich 220 Millionen Tonnen erteilt (reichlich 5 Prozent der
        Produktion im Jahr 2020). Darüber hinaus wurden beschleunigte Genehmigungsverfahren für die Erweite-
        rung von 38 bestehenden Minen beschlossen (China Daily, 2021). Diese Maßnahmen zeigen bereits deut-
        lich Wirkung: Im Oktober wurde die Kohleproduktion in China erheblich ausgeweitet und stieg im Vergleich
        zum September um knapp 7 Prozent auf 357 Millionen Tonnen. Kohleimporte, die allerdings nur einen
        Bruchteil der inländischen Produktion ausmachen, zeigten zuletzt ebenfalls einen deutlichen Aufwärts-
        trend. Darüber hinaus deckelte die NDRC den einheimischen Kohlpreis bei 1200 Yuan pro Tonne (Reuters,
        2021). An den Terminbörsen ging der Kohlepreis inzwischen stark zurück, und auch die Weltmarktnotie-
        rungen gaben im Vergleich zu den Mitte Oktober erreichten Höchstständen deutlich nach. Der Preis der
        am Zhengzhou Commodity Exchange gehandelten Kohle-Futures lag zuletzt mit 989 Yuan (137 Euro,
        Stand: 10.12.2021) je Tonne 57 Prozent unter dem Rekordpreis vom 19 Oktober 2021 (2301 Yuan, 310
        Euro).
            Für 2022 wird die NDRC für die heimische Kohle voraussichtlich einen Referenzpreis von 700 Yuan
        vorgegeben, mit einer erlaubten Preisspanne von 550 bis 850 Yuan. Gleichzeitig werden nationale Kohle-
        produzenten dazu angehalten, langfristige Liefervereinbarungen mit Kraftwerksbetreibern abzuschließen,
        die wiederum ihren Kohlebedarf weitgehend durch diese langfristigen Lieferkontrakte abdecken sollen.
        Kohleimporte sind von dieser Verpflichtung ausgenommen (Reuters, 2021a).
         Abbildung K1-2
         Kohleproduktion und Kohleimport in China

                Mio. t                                                         Mio. t
          360                                                             50

          340                                                             40

          320                                                             30

          300                                                             20

          280                                                             10

          260                                                              0
             2017        2018        2019        2020         2021          2017        2018      2019       2020      2021

          Nationale Kohleproduktion: Monatsdaten. Letzer Wert:           Kohleimporte: Monatsdaten, Volumen. Letzter Wert:
          Oktober 2021. Offizielle Statistik enthällt keine Aufteilung   Novemeber 2021.
          zwischen Daten für Januar und Februar (Neujahrsfest).
                                                                         Quelle: National Bureau of Statistics of China, CEIC Data.
          Quelle: National Bureau of Statistics of China, CEIC data.

           Auf längere Sicht ist es zudem bedeutsam, dass Kohlekraftwerke zukünftig nicht mehr über garantierte
        Stromabnahmemengen verfügen und dazu verpflichtet werden, ihre Produktion auf dem Strommarkt an-
        zubieten. Kohlekraftwerke verlieren hierdurch ihre Einspeiseprivilegien und müssen fortan in den Wettbe-
        werb mit anderen Energielieferanten treten. Die Anreize, die in der Vergangenheit zu einem rapiden Aus-
        bau an Kohlekraftwerkskapazitäten geführt haben, werden hierdurch reduziert und insbesondere ältere,

                                                                                                                                      14
KIELER KONJUNKTURBERICHTE NR. 85 (2021|Q4)

        weniger effiziente Kohlekraftwerke könnten durch diese Veränderung vom Markt verdrängt werden, wenn
        ausreichend erneuerbare Energie zur Verfügung steht.
            Das Risiko von Versorgungsengpässen bleibt jedoch vorerst bestehen, insbesondere wenn der Winter
        ungewöhnlich kalt werden sollte, wie derzeit prognostiziert wird. Die Versorgung von Haushalten mit Strom
        und Fernwärme wird auch weiter priorisiert werden, so dass Energieengpässe die Produktion von indust-
        riellen und gewerblichen Abnehmern auch in den kommenden Monaten beeinträchtigen könnten. Insbe-
        sondere die Versorgung der energieintensiven Industrien kann noch nicht als gesichert gelten.

        Immobiliensektor
            Auch zunehmende Nervosität am Immobilienmarkt trägt zu der konjunkturellen Verlangsamung in China
        bei. Evergrande, ein mit 300 Mrd. US-Dollar verschuldeter Immobilienentwickler, ist mit einer akuten Liqui-
        ditätsschwäche konfrontiert. Seit September konnte das Unternehmen mehrere Zinszahlungsfristen für
        seine in US-Dollar denominierten Anleihen nicht einhalten. Ein Zahlungsausfall wurde zunächst durch die
        Begleichung der Außenstände innerhalb der gesetzlichen Nachfristen abgewendet, aber Mitte Dezember
        geriet das Unternehmen erneut mit Zinszahlungen in Höhe von 82,5 Million US-Dollar in Verzug und wurde
        daraufhin von der Ratingagentur Fitch auf „restricted default“ herabgestuft. Dabei ist Evergrande kein Ein-
        zelfall, auch andere chinesische Immobilienkonzerne, wie beispielsweise Kaisa Group oder Fantasia Hol-
        ding, hatten Probleme, ihren Zahlungsverpflichtungen nachzukommen.
            Der Immobiliensektor repräsentiert gut ein Viertel des chinesischen Bruttoinlandsprodukts und war in
        der Vergangenheit der wichtigste Wachstumstreiber für die chinesische Wirtschaft (Rogoff und Yang, 2021,
        Euler Hermes, 2021). Das rapide Wachstum des Immobiliensektors und die hohen Verschuldungsgrade
        der Immobilienkonzerne haben die chinesische Regierung dazu bewegt, im August 2020 Maßnahmen in
        Form der so genannten „three red lines“ – Schwellenwerte für drei Finanzkennzahlen (Verschuldung zu
        Bilanzsumme, Nettoverschuldung zu Eigenkapital und Barbestand zu kurzfristigen Verbindlichkeiten) –
        einzuführen, um den Verschuldungsgrad der Unternehmen zu begrenzen. Darüber hinaus wurde Anfang
        2021 eine Obergrenze für Immobilienkredite für Kreditinstitute eingeführt, welche die Finanzierungsmög-
        lichkeiten für Immobilienkonzerne weiter einschränkte.
            Die Änderungen in der Regulierung und die durch die Evergrande-Krise verursachten Unsicherheiten
        haben sich bereits erkennbar auf den Immobilienmarkt ausgewirkt. Verkäufe neuer Immobilien lagen im
        Oktober 23 Prozent unter dem Vorjahreswert, Bauaufträge gingen im Vergleich zum Vorjahr um 13,5 Pro-
        zent zurück, und neue Aufträge für Wohnprojekte fielen im Oktober im Vergleich zum Vorjahr um 33 Pro-
        zent (Reuters, 2021b). Auch der Ankauf von Grundstücken durch Immobilienkonzerne ist stark gesunken
        und Grundstücke wurden vermehrt von staatlichen Unternehmen angekauft. Die Immobilienpreise gehen
        zum ersten Mal seit 2015 zurück.

        Einfluss auf die Konjunktur
           Die genannten Belastungsfaktoren haben die chinesische Wirtschaft im Jahr 2021 deutlich gebremst.
        Während die Probleme in der Energieversorgung und die resultierenden Einschränkungen der Produktion
        zunächst einmal überwunden zu sein scheinen, werden Corona-Maßnahmen und die Konsolidierung des
        Immobiliensektors auch über 2021 hinaus die wirtschaftliche Aktivität in Chinas belasten. Ein Festhalten
        an der No-Covid-Politik könnte angesichts der deutlich ansteckenderen Omikron-Variante – eine erste In-
        fektion mit diesem Virus-Typ wurde bereits gemeldet – sogar zu deutlich schärferen Einschränkungen füh-
        ren als im vergangenen Jahr. Für die Prognose haben wir unterstellt, dass der konjunkturelle Einfluss der
        Pandemie ab 2023 nachlässt, weil es gelingt, die gesundheitlichen Folgen einer Ausbreitung des Virus
        durch Impfprogramme soweit zu reduzieren, dass die restriktive Corona-Politik gelockert werden kann. Die
        Korrektur im Immobiliensektor dürfte hingegen über den gesamten Prognosezeitraum bremsen und trägt
        maßgeblich dazu bei, dass die vor der Krise erreichte Expansionsrate der chinesischen Wirtschaft auch
        2023 nicht wieder erreicht wird. Ein Einbruch am Immobilienmarkt bildet ein Risiko für die Prognose und
        würde wohl auch die Konjunktur in der übrigen Welt spürbar dämpfen (Deutsche Bundesbank 2021).

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      Datenanhang

      INHALT
      1. Weltkonjunktur.............................................................................................. 17
      2. Vereinigte Staaten ......................................................................................... 18
      3. Japan .............................................................................................................. 19
      4. Euroraum ....................................................................................................... 20
      5. Vereinigtes Königreich ................................................................................... 21
      6. China .............................................................................................................. 22
      7. Übrige Schwellenländer................................................................................. 23
      8. Tabellenanhang ............................................................................................. 24
      Literatur ............................................................................................................... 26

                                                                                                                                     16
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      1. Weltkonjunktur

      Abbildung 1.1:                                                         Abbildung 1.2:
      Weltwirtschaftliche Aktivität                                          Weltweite Industrieproduktion nach Ländergruppen und
                                                                             Regionen
             Prozent                                           Index
       9,0                                                             102            2012=100
                                        Bruttoinlandsprodukt                  140
                                                                                            Industrieländer
       7,0                                                                                  Entwicklungs-und Schwellenländer
                                                                       101    130
                                                                                            Welt
       5,0
                                                                              120
       3,0                                                             100
                                                                              110
       1,0
                                                                       99     100
      -1,0
                                                                               90
      -3,0             IfW-Indikator (rechte Skala)                    98
                                                                               80
      -5,0                                                                       2012        2014        2016         2018      2020
                                                                       97
      -7,0                                                                    120
                                                                                               Fortgeschrittene Volkswirtschaften

      -9,0                                                             96     110
          2007 2009 2011 2013 2015 2017 2019 2021

       Quartalsdaten; saisonbereinigt; Indikator be-rechnet auf Basis         100
       von Stimmungsindikatoren aus 42 Ländern; Bruttoinlands-
       produkt: preisbereinigt, Veränderung gegenüber dem
       Vorquartal, 46 Länder, gewichtet nach Kaufkraftparität.                  90
       Quelle: OECD, Main Economic Indicators; nationale Quellen;
       Berechnungen des IfW Kiel.                                               80               Euroraum
                                                                                                 Vereinigte Staaten
                                                                                70
                                                                                                 Japan

      Abbildung 1.3:                                                            60
      Welthandel                                                                  2012       2014         2016          2018    2020

              2012=100
       140
                        Welthandel insgesamt                                                   Entwicklungs- und Schwellenländer
                        Industrieländer
                        Entwicklungs-und Schwellenländer
                                                                              180                Asien
       120                                                                                       Mittel-und Osteuropa
                                                                              160
                                                                                                 Lateinamerika
                                                                                                 China
                                                                              140
       100
                                                                              120

                                                                              100
        80
                                                                               80

                                                                               60
        60                                                                       2012       2014         2016         2018      2020
          2007   2009     2011   2013    2015    2017   2019    2021

      Monatsdaten; preis- und saisonbereinigt.
                                                                             Monatsdaten; preis- und saisonbereinigt. Letzter Wert: Sept. 2021.
      Quelle: CPB, World Trade Monitor; Berechnungen des IfW Kiel.
                                                                             Quelle: CPB, World Trade Monitor; Berechnungen des IfW Kiel.

                                                                                                                                                  17
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