Kollaterale Depriorisierung - Konrad-Adenauer-Stiftung

 
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IMPULSE

           Kollaterale
         Depriorisierung
          Zur Priorisierung überlebenswichtiger medizinischer Ressourcen

EVA WINKLER
Geboren 1971 in Mannheim,
Altstipendiatin der Journalistischen      Professorin an der Medizinischen
Nachwuchsförderung der Konrad-            Fakultät und der Fakultät für
Adenauer-Stiftung, Heisenberg-            Mathematik und Informatik, Ruprecht-
professorin für Translationale Medizi-    Karls-Universität Heidelberg.
nische Ethik an der Ruprecht-Karls-
Universität Heidelberg und Oberärztin     MICHAEL BAUMANN
am Nationalen Centrum für Tumor-          Geboren 1962 in Westerstede, Mitglied
erkrankungen, Universitätsklinikum        des Kuratoriums der Konrad-Adenauer-
Heidelberg.                               Stiftung, Professor für Radioonkologie,
                                          Technische Universität Dresden,
LENA MAIER-HEIN                           Honorarprofessor der Ruprecht-Karls-
Geboren 1980 in Hamburg, Leiterin         Universität Heidelberg, Wissenschaft-
der Abteilung Computer-assistierte        liches Mitglied des Stiftungsvorstandes
Medizinische Interventionen am            und Vorstandsvorsitzender des
Deutschen Krebsforschungszentrum,         Deutschen Krebsforschungszentrums.

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In der zweiten Welle der Corona-Pan-                zu dem Thema auch nicht von Triage,
demie waren aufgrund der großen An-                 sondern von Priorisierungs- oder Zutei-
zahl beatmungspflichtiger Patienten mit              lungsentscheidungen unter Knappheits-
COVID-19 die Intensivbetten in den meis-            bedingungen. Pandemiepläne teilen die
ten Bundesländern zu über achtzig Pro-              Knappheit nach einem Ampelsystem in
zent belegt. Was im Frühjahr 2020 ein               mindestens drei Phasen ein, für die jeweils
entferntes Szenario war – illustriert mit           eigene Zuteilungsprinzipien gelten (siehe
den tragischen Berichten aus Bergamo –,             Seite 58).
wurde Monate später auch ein Thema für                   In der ersten Phase ist eine normale,
die Ärzteteams in Deutschland: entschei-            patientenzentrierte Versorgung noch mög-
den zu müssen, wer eine intensivmedizi-             lich. In Phase 2 ist der Mangel an Kapazi-
nische Versorgung erhält, wenn die Kapa-            täten an einem Standort durch lokale oder
zitäten nicht für alle reichen. „Triage“ ist        überregionale Umverteilung noch kom-
der Begriff, der dafür oftmals verwendet            pensierbar. Bei weiterer Verknappung
wird. Er kommt eigentlich aus der Kriegs-           werden in Phase 2 nach dem Prinzip der
und Katastrophenmedizin und meint die               Dringlichkeit und in Phase 3 bei nicht
Stratifizierung der Opfer nach Dringlich-            kompensierbarem Mangel Fälle mit glei-
keit und Überlebenschancen.                         cher Dringlichkeit nach dem Prinzip der
                                                    höheren Überlebenswahrscheinlichkeit
                                                    priorisiert.
STETIG KNAPPER                                           Zum Verfahren und zu den Kriterien
WERDENDE RESSOURCEN                                 für Priorisierungsentscheidungen wurden
                                                    bereits im März 2020 klinisch-ethische
                                                    Empfehlungen gemeinsam von medizini-
Die Ethik verortet diese Entscheidungen,            schen Fachgesellschaften veröffentlicht.2
in denen nur einer von mehreren Patien-             Das wesentliche Priorisierungskriterium
ten versorgt werden kann, unter die tragi-          ist dabei die klinische Erfolgsaussicht der
schen Entscheidungen, bei denen es keine            Intensivtherapie mit Blick auf eine höhere
befriedigende Lösung gibt.1 Schlecht ist            Überlebenswahrscheinlichkeit. Umgesetzt
der Ruf der Triage auch in der Medizin-             werden soll es nach dem Mehr-Augen-
ethik, weil sie den Prinzipien ärztlicher           Prinzip und nach Prüfung medizinischer
Ethik zuwiderläuft. Ärzte und Ärztin-               Indikatoren, die mit einer schlechten Er-
nen sind in ihrem Handeln primär dem                folgsaussicht intensivmedizinischer Maß-
Wohl des einzelnen Patienten verpflichtet.           nahmen vergesellschaftet sind. Das Mehr-
Unter Triage-Bedingungen sind sie je-               Augen-Prinzip soll eine unabhängige und
doch gezwungen, sich – je nach Zutei-               gleiche Beurteilung gleichgelagerter Fälle
lungsprinzip – gegen den einen und für              garantieren und kann in Form von Triage-
einen anderen Patienten zu entscheiden.             Teams oder Triage-Konferenzen umge-
     Unter Pandemiebedingungen tritt                setzt werden. Diese Teams überblicken den
der Mangel nicht wie beim Katastrophen-             Priorisierungsprozess, erhalten die Daten
fall unmittelbar ein, sondern die Ressour-          aller Patienten und weisen mancherorts
cen werden über Wochen stetig knapper.              auch anhand von Punktesystemen den
Daher sprechen die Orientierungshilfen              Patienten bestimmte Prioritätslevel zu.

57         Nr. 567, März/April 2021, 66. Jahrgang
Impulse

                                         Leitende Prinzipien bei
                                         Behandlungs entscheidungen
 Phase 1    Kapazitäten reichen aus      Patientenzentrierte Versorgung:
                                         – Indikation
                                         – Patientenwille
 Phase 2    Kapazitäten werden           Priorisierung nach Dringlichkeit:
            knapp, können aber durch     – Akut lebensbedrohlich Erkrankte werden
            lokale oder überregionale      vorrangig behandelt
            Verteilung kompensiert       – Verschiebung operativer Eingriffe, wo
            werden                         ohne relevante Auswirkung auf die Prognose
                                           möglich
 Phase 3    Kapazitäten reichen          Priorisierung nach Überlebenswahrscheinlichkeit
            nicht mehr aus, um alle      bei gleicher Dringlichkeit
            intensivpflichtigen          – Priorisierung der Patienten mit besseren
            Patienten zu versorgen         kurz- und mittelfristigen Erfolgsaussichten
                                           im Sinne der höheren Überlebens-
                                           wahrscheinlichkeit
                                         – Alter, sozialer Status, vorbestehende
                                           Erkrankung, Behinderung(en) stellen per
                                           se kein Aus- oder Einschlusskriterium dar

Gegen die Verwendung einiger der disku-        gänge der Phasen gesteuert und kommuni-
tierten Indikatoren und die alleinige Ver-     ziert werden. In Phase 2, in der bei knapper
wendung des Effizienzkriteriums haben          werdenden Kapazitäten nach Dringlich-
Menschen mit Behinderung im Juli 2020          keit priorisiert wird, ist es zum Beispiel
Verfassungsbeschwerde eingelegt. Beson-        ethisch problematisch, die Behandlung
ders strittig ist, ob sehr große Unterschie-   von Patienten – etwa mit einer noch lokal
de in den Überlebenschancen zwischen           begrenzten Tumorerkrankung – zu ver-
den Patienten in Behandlung und den            schieben. Diese Patienten sind zwar nicht
noch unbehandelten Patienten ein legiti-       akut durch ihre Krankheit bedroht, haben
mer Grund zur Beendigung der Intensiv-         jedoch durch eine Verschiebung oder gar
therapie der ersten zugunsten der letzte-      einen Verzicht auf wesentliche Schritte
ren sein darf. Es ist also notwendig und       der Behandlung ein relevantes Risiko für
absehbar, dass ähnlich wie bei der Dis-        eine Verschlechterung ihrer Prognose.
kussion um gerechte Verteilungskriterien       Um das zu verhindern, hat etwa die Deut-
bei der Organtransplantation um die rich-      sche Gesellschaft für Allgemein- und Vis-
tige Gewichtung von Dringlichkeit, Er-         zeralchirurgie in ihren Empfehlungen zur
folgsaussicht und Chancengleichheit ge-        Priorisierung von Operationen bei begrenz-
rungen wird.                                   ter Operationskapazität Tumor patienten
     Ethisch relevant und bislang wenig        direkt nach Notfalleingriffen gelistet. 3
diskutiert ist auch die Frage, wie die Über-   Dennoch birgt die psychologische Macht

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Kollaterale Depriorisierung, Eva Winkler, Lena Maier-Hein, Michael Baumann

des Prinzips der Akutrettung (Rule of Res-            durch das Robert Koch-Institut (RKI)
cue) das Risiko, dass Patienten aus dem               veröffentlicht werden, liegen die RKI-
Blick geraten, die ebenfalls lebensbedroh-            Registerzahlen zu Krebserkrankungen erst
lich erkrankt sind, aber nicht sofort an ih-          mit monate-, meist sogar mit jahrelangem
rer Erkrankung versterben.                            Verzug vor. Da Krebs in aller Regel nicht
     Genau solche kollateralen Depriori-              innerhalb kurzer Zeit zum Tode führt und
sierungsprozesse medizinischer Kapazitä-              sich die Neuerkrankungs- und Sterberaten
ten haben während der COVID-Pandemie                  nur langsam über Jahre ändern, ist die
weltweit in vielen Ländern stattgefunden.             Krebsregistrierung in Deutschland bis-
Dies geschieht im Wesentlichen unbe-                  lang zwar wissenschaftlich nicht optimal,
merkt von Medien und Öffentlichkeit und               aber für viele Belange ausreichend ge-
auch ohne umfassende politische und me-               wesen. Während der COVID-Pandemie
dizinische Debatte über die Parameter ei-             reicht die öffentliche Krebsstatistik in
ner solchen Priorisierung.                            Deutschland jedoch nicht aus, um beur-
                                                      teilen zu können, ob und wie stark Dia-
                                                      gnose und Behandlung von Krebs einge-
VORGEHEN BEI                                          schränkt sind.
KREBSPATIENTEN                                             Zur kollateralen Depriorisierung
                                                      kommt die nicht unbegründete Angst von
                                                      Krebspatienten hinzu, aufgrund einer Im-
Patienten mit anderen lebensbedrohli-                 munsuppression einen schwereren Verlauf
chen Krankheiten, darunter Krebs, muss-               einer COVID-Erkrankung zu erleiden.
ten hinnehmen, dass Kapazitäten des Ge-               Auch kann der Wunsch, das Gesundheits-
sundheitswesens durch die zunehmende                  wesen in Krisenzeiten nicht zusätzlich zu
Zahl von Patienten mit schweren Verläu-               belasten, dazu führen, dass Früherken-
fen einer COVID-Erkrankung reduziert                  nungsuntersuchungen nicht wahrgenom-
und zum Teil ausschließlich für COVID-                men oder Symptome, die auf eine Krebs-
Patienten reserviert wurden. Semiquan-                erkrankung hinweisen, nicht rechtzeitig
titative Erhebungen einer gemeinsamen                 abgeklärt werden. Derzeit erkranken al-
Taskforce des Deutschen Krebsforschungs-              lein in Deutschland Jahr für Jahr etwa
zentrums, der Deutschen Krebshilfe und                500.000 Menschen neu an Krebs, 210.000
der Deutschen Krebsgesellschaft ergaben               Patienten versterben daran. Dies ist auch
schon in der ersten Pandemiewelle deut-               im Vergleich zur COVID-Erkrankung
liche, wenn auch meist noch nicht flächen-             eine beträchtliche Sterberate. Verzögerun-
deckende und akut bedrohliche Ein-                    gen von Krebsbehandlungen sowie Verän-
schränkungen der Versorgung krebs-                    derungen der Behandlungsqualität kön-
kranker Patienten.4 In der zweiten Welle              nen sich schnell zu großen Effekten be-
kam es in vielen Regionen zu gravierende-             züglich Sterblichkeit und Lebensqualität
ren Einschränkungen, zum Beispiel Ver-                auswirken. Für Deutschland werden wir
schiebungen von Operationen. Zum ge-                  hierzu erst viel zu spät, in einigen Jahren,
nauen Ausmaß gibt es noch keine aktuellen             über gesicherte wissenschaftliche Daten
öffentlichen Zahlen. Im Gegensatz zu                  verfügen. Modellrechnungen zu anderen
SARS-CoV-2-Infektionen, die täglich                   Ländern, darunter Großbritannien und

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Impulse

den USA, gehen jedoch von einer besorg-         der Pandemie ist, dass, wenn im Gegen-
niserregenden Zahl zusätzlicher Krebs-          satz zu COVID keine aktuellen Daten zur
todesfälle innerhalb der nächsten fünf          Inzidenz und Behandlung vorliegen, eine
Jahre aus.5                                     evidenzbasierte Diskussion und Steue-
     Für eine gesellschaftliche Debatte zu      rung von Kapazitäten und eine Abschät-
ethischen Grundsätzen und politischen           zung der Effekte von Maßnahmen nahe-
Konsequenzen lassen sich bereits jetzt we-      zu unmöglich sind. Hier gebieten somit
sentliche Beobachtungen festhalten. Die         nicht länger nur abstrakt-wissenschaft-
Fokussierung der gesamten Gesellschaft          liche, sondern handfeste ethische und
auf nur eine lebensbedrohliche Erkran-          gesundheitspolitische Argumente, dass
kung birgt ein erhebliches Risiko, dass die     die Krankheits- und Ressourcenregistrie-
Überlebenschance von Patienten mit an-          rung in Deutschland zügig und umfas-
deren Erkrankungen unbemerkt kollate-           send verbessert wird und aktuelle Daten
ral geschmälert wird. Das Risiko ist umso       öffentlich zur Verfügung gestellt und ana-
stärker, je mehr die politischen Entschei-      lysiert werden.
der, das Gesundheitswesen, aber auch die
Medien, den Blick auf die neue Gefahr
verengen. Wichtige Lösungsansätze, die          DATENWISSENSCHAFTEN
auch andere Erkrankungen einbeziehen,           ALS GROSSES POTENZIAL
können dadurch übersehen werden. Zum
Beispiel wäre es für viele Krebspatienten
während der Pandemie relativ problemlos         Vor dem Hintergrund der ethischen Fra-
möglich gewesen, an geeigneten Krebs-           gen und dem in Artikel 3 Grundgesetz
zentren in anderen, nicht so stark von          festgeschriebenen Anspruch auf Gleich-
COVID betroffenen Regionen Deutsch-             behandlung bieten Datenwissenschaften
lands operiert zu werden.                       ein großes Potenzial für die Bewältigung
     Zu fragen ist, ob dies den Patienten       der nicht trivialen Priorisierungsaufgaben.
bei verschobenen Operationen systema-           Mit ihnen ließen sich aus patientenindi-
tisch angeraten wurde und ob entspre-           viduellen Parametern (etwa Alter, Komor-
chende überregionale Netzwerke, wie sie         biditäten, also weiteren, neben der Grund-
bei COVID entstanden sind, auch für an-         erkrankung vorhandenen Krankheits -
dere Krankheiten etabliert wurden. Gibt         bildern) patientenindividuelle Modelle
es politische Initiativen für eine überregio-   berechnen, die in Abhängigkeit von einer
nale Optimierung der Nutzung knapper            medizinischen Intervention den nötigen
Behandlungskapazitäten lebensgefährlich         Ressourcenbedarf (etwa Intensiv-/Beat-
erkrankter Patienten, unabhängig davon,         mungszeit, Laborkapazitäten, Personal-
ob der Tod wie bei COVID sehr schnell           bedarf) sowie das zu erwartende Behand-
oder erst mit einer Verzögerung wie bei         lungsergebnis abschätzen könnten. Alle
Krebs eintritt? Gibt es hierzu einen ausrei-    zugrunde gelegten Parameter müssen da-
chenden öffentlichen Diskurs in Politik,        bei klar definiert, messbar und gesell-
Medizin und Medien?                             schaftlich konsentiert sein.
     Eine weitere Schlussfolgerung aus              In einem ersten Schritt könnten
den Erfahrungen mit Krebspatienten in           derartige Modelle als Grundlage eines

60         Die Politische Meinung
Kollaterale Depriorisierung, Eva Winkler, Lena Maier-Hein, Michael Baumann

evidenzbasierten Entscheidungsprozesses               Langfristig müssen datengestützte pati-
fungieren und auch für eine bessere re-               entenindividuelle Modelle nicht nur für
gionale und überregionale Ressourcen-                 COVID, sondern für viele verschiedene
planung genutzt werden. So könnten bei-               Erkrankungen entwickelt werden, um
spielsweise kollektive Pauschalbestim-                auch im Vergleich von Betroffenen unter-
mungen (zum Beispiel die Zielvorgabe,                 schiedlicher Erkrankungen untereinander
einen festgelegten Anteil der Intensivbet-            differenzierter entscheiden zu können
ten für COVID-Patienten freizuhalten)                 und eine unausgesprochene Depriorisie-
durch situationsadaptive, lokale Richt-               rung ganzer Patientengruppen zu verhin-
linien ersetzt werden. Perspektivisch                 dern. Die unabdingbare Grundlage aller
könnte die modellbasierte Entscheidungs-              durch Datenwissenschaften erzeugten
findung durch ihre Unterstützung bei der               Modelle und ihrer Qualität bilden dabei
Verwirklichung des Effizienz- und Gleich-             stets belastbare Daten selbst. Deren Erfas-
heitsgrundsatzes auch das in Krisenzeiten             sung geht naturgemäß mit einigen Her-
ohnehin physisch wie psychisch geforderte             ausforderungen einher. So müssen Daten
Personal entlasten. Dabei müsste klar defi-            aus unterschiedlichen Informationsquel-
niert sein, welche Metrik(en) (zum Beispiel           len zunächst einmal bereitgestellt und
Sterblichkeit, qualitätskorrigierte Lebens-           zusammengeführt werden, was mit der
jahre et cetera) durch den datengetriebe-             Überwindung großer infrastruktureller
nen Algorithmus optimiert werden sollen.              und regulatorischer Hürden einhergeht.
                                                           Die Erfassung von Ressourcen und
                                                      Ergebnissen stellt eine weitere Hürde
HÜRDEN ÜBERWINDEN                                     dar – Langzeitbehandlungsergebnisse lie-
                                                      gen meist nicht vor, Ressourcen können
                                                      erfahrungsgemäß schwer quantifizierbar
Aus der Notwendigkeit der Wahl einer                  sein. Eine unausgewogene Verfügbarkeit
Metrik sowie der mittelbaren Abhängig-                von Daten (zum Beispiel das Vorliegen
keit individueller Menschenleben von die-             vergleichsweise weniger klinischer Ver-
ser Wahl würde sich wiederum eine Reihe               laufsdaten zu COVID in jüngeren Bevöl-
weiterführender ethischer Streitpunkte                kerungsgruppen) kann zu Verzerrungen
ableiten, die in einer gesellschaft lichen            im Datenbild führen, die wiederum die
Debatte geklärt werden müssten. Bei Zu-               Zuverlässigkeit resultierender Modelle ne-
grundelegung des akuten Überlebens als                gativ beeinflussen können. Erschwerend
Zielmetrik blieben beispielsweise Lang-               käme bei der Modellentwicklung hinzu,
zeitüberleben und Gesamtprognose in der               dass sowohl Kosten als auch patienten-
Zusammenschau weiterer patientenindi-                 individueller Nutzen von schwer bis nicht
vidueller Erkrankungen unberücksichtigt               zu modellierenden äußeren Faktoren ab-
(siehe oben). Erste Ansätze zur KI-basier-            hängen können, wie etwa dem Erfah-
ten Triage wurden bereits publiziert, al-             rungslevel des ärztlichen Personals. Sol-
lerdings beschränken sie sich noch auf                che verborgenen Variablen müssten auf-
verhältnismäßig einfach zu erfassende                 gedeckt sowie der Umgang mit Fällen, die
Patientenparameter, Ressourcen oder Er-               signifikant von den Trainingsdaten ab-
gebnisse.6 7 8                                        weichen, definiert werden.

61           Nr. 567, März/April 2021, 66. Jahrgang
Kollaterale Depriorisierung, Eva Winkler, Lena Maier-Hein, Michael Baumann

Für die Bewältigung der aktuellen COVID-                        und der Akademie für Ethik in der Medizin (AEM),
                                                                www.divi.de/empfehlungen/publikationen/
Pandemie ist aufgrund der bislang lücken-
                                                                viewdocument/3436/covid-19-ethik-empfehlung-v2
haften medizinischen Datenlage nur von                          [letzter Zugriff: 26.01.2021].
einer geringen Unterstützung durch die-                     3
                                                                COVID-19: Empfehlungen der Deutschen Gesell-
sen modernen Forschungsansatz, der                              schaft für Allgemein- und Viszeralchirurgie (DGAV),
                                                                www.awmf.org/fileadmin/user_upload/
Ethik, Medizin, Politik- und Datenwissen-                       Stellungnahmen/Medizinische_Versorgung/DGAV_
schaften zusammenführt, auszugehen.                             COVID_Empfehlung2.pdf [letzter Zugriff: 26.01.2021].
Umso wichtiger ist es jedoch, dass bereits                  4
                                                                Stefan Fröhling / Volker Arndt: „Versorgung von
                                                                Krebspatienten: Corona-Effekt in der Onkologie“,
jetzt systematisch die vielfältige, zuverläs-
                                                                in: Deutsches Ärzteblatt, Nr. 46/2020, 13.11.2020,
sige und schnelle Erfassung von patien-                         www.aerzteblatt.de/archiv/216717/Versorgung-von-
ten- sowie ressourcenbezogenen Daten                            Krebspatienten-Corona-Effekt-in-der-Onkologie
                                                                [letzter Zugriff: 26.01.2021].
aus unterschiedlichen Quellen optimiert
                                                            5
                                                                Camille Maringe / James Spicer / Melanie Morris /
wird, damit auf dieser Grundlage in Zu-                         Arnie Purushotham / Ellen Nolte / Richard Sullivan /
kunft hochqualitative Modelle zu einer                          Bernard Rachet / Ajay Aggarwal: „The impact of the
evidenzbasierten, optimalen medizini-                           COVID-19 pandemic on cancer deaths due to delays
                                                                in diagnosis in England, UK: a national, population-
schen Versorgung der Bevölkerung beitra-                        based, modelling study“, in: The Lancet Oncology,
gen können.                                                     21. Jg., Nr. 8, 01.08.2020, www.thelancet.com/
                                                                journals/lanonc/article/PIIS1470-2045(20)30388-0/
                                                                fulltext [letzter Zugriff: 26.01.2021].
Der Beitrag entstand mit Unterstützung der                  6
Mitarbeiterin Minu D. Tizabi.                                   Wenhua Liang / Jianhua Yao / Ailan Chen et al.:
                                                                „Early triage of critically ill COVID-19 patients using
                                                                deep learning“, in: Nature Communications, Nr. 11,
                                                                3542/2020, 15.07.2020, www.nature.com/articles/
                                                                s41467-020-17280-8 [letzter Zugriff: 26.01.2021].
1                                                           7
    Guido Calabresi / Philipp Bobbitt: Tragic Choices.          Logan Ryan / Carson Lam / Samson Mataraso /
    The Conflicts Society Confronts in the Allocation           Angier Allen / Abigail Green-Saxena / Emily Pellegrin /
    of Tragically Scarce Resources, Norton & Company,           Jana Hoffman / Christopher Barton / Andrea McCoy /
    New York 1978.                                              Ritankar Das: „Mortality prediction model for the
2
    Entscheidungen über die Zuteilung intensivmedi-             triage of COVID-19, pneumonia, and mechanically
    zinischer Ressourcen im Kontext der COVID-19-               ventilated ICU patients: A retrospective study“, in:
    Pandemie (Version 2). Klinisch-ethische Empfeh-             Annals of Medicine and Surgery, 59. Jg., November
    lungen der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung         2020, www.sciencedirect.com/science/article/pii/
    für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI), der Deut-          S2049080120303496 [letzter Zugriff: 26.01.2021].
                                                            8
    schen Gesellschaft für Interdisziplinäre Notfall- und       Guangyao Wu / Pei Yang / Yuangliang Xie et al.:
    Akutmedizin (DGINA), der Deutschen Gesellschaft             „Development of a Clinical Decision Support
    für Anästhesiologie und Intensivmedizin (DGAI),             System for Severity Risk Prediction and Triage
    der Deutschen Gesellschaft für Internistische               of COVID-19 Patients at Hospital Admission: an
    Intensivmedizin und Notfallmedizin (DGIIN), der             International Multicenter Study“, in: European
    Deutschen Gesellschaft für Neurointensiv- und               Respiratory Journal, Jg. 56, Nr. 2/2020, 15.08.2020,
    Notfallmedizin (DGNI), der Deutschen Gesellschaft           https://erj.ersjournals.com/content/erj/early/
    für Pneumologie und Beatmungsmedizin (DGP), der             2020/06/25/13993003.01104-2020.full.pdf [letzter
    Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP)           Zugriff: 26.01.2021].

62              Die Politische Meinung
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