ÖKONOMISIERUNG SCHULISCHER BILDUNG - STUDIEN - TIM ENGARTNER ANALYSEN UND ALTERNATIVEN - Presseportal
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STUDIEN TIM ENGARTNER ÖKONOMISIERUNG SCHULISCHER BILDUNG ANALYSEN UND ALTERNATIVEN
TIM ENGARTNER ÖKONOMISIERUNG SCHULISCHER BILDUNG ANALYSEN UND ALTERNATIVEN Studie im Auftrag der Rosa-Luxemburg-Stiftung
TIM ENGARTNER ist Professor für Didaktik der Sozialwissenschaften an der Goethe-Universität Frankfurt am Main, Direktor der Akademie für Bildungsforschung und Lehrerbildung (ABL) sowie Vorsitzender der Gesellschaft für sozioökonomische Bildung und Wissenschaft (GSÖBW). Er forscht zu Konzeptionen sozioökonomischer Bildung, zu Einstellungen von Lernenden sowie zum Wandel von Staatlichkeit. DANKSAGUNG Ich danke Stefanie Ehmsen, Laura Emmerling, Rosemarie Hein, Karl-Heinz Heinemann, Steffen Kludt, Lisa-Marie Schröder sowie Simon Spengler für ihre wertvollen Anregungen, die an vielen Textstellen eine Schärfung der Argumentation ermöglicht haben. Als schlicht herausragend ist schließlich das von Kyra Sell vorgenommene Lektorat zu würdigen. IMPRESSUM STUDIEN 6/2020 wird herausgegeben von der Rosa-Luxemburg-Stiftung V. i. S. d. P.: Gabriele Nintemann Franz-Mehring-Platz 1 · 10243 Berlin · www.rosalux.de ISSN 2194-2242 · Redaktionsschluss: April 2020 Illustration Titelseite: Frank Ramspott/iStockphoto Lektorat: TEXT-ARBEIT, Berlin Layout/Herstellung: MediaService GmbH Druck und Kommunikation Gedruckt auf Circleoffset Premium White, 100 % Recycling
Inhalt INHALT Vorwort 5 Zusammenfassung 6 1 Einleitung 7 2 Grundannahmen und Fragestellungen der Studie 9 3 Verschärfung sozialer Ungleichheiten durch das Schulsystem 11 3.1 Wettbewerbsorientierte Profilierung im Zeitalter der Schulautonomie 12 3.2 Boom der Privatschulen – Segregation der Schülerschaft 14 3.3 Bildung nach Schulschluss – oder: Der wachsende Markt privater Nachhilfeanbieter 18 4 Lobbyismus an Schulen und in der Schulpolitik 22 4.1 Lobbyismus zugunsten der «reinen» Marktwirtschaft mittels Unterrichtsmaterialien 24 4.2 Curriculare Expansion und inhaltliche Verkürzung ökonomischer Bildung 27 4.3 Kommerzielle Anbieter von Lehrkräftefort- und -weiterbildungen 30 5 «Digital Turn» im Klassenzimmer: Wie Digitalkonzerne den digitalen Wandel nutzen 33 5.1 Amazon: zwischen Schreibwettbewerben und Lesefreuden 33 5.2 Apple: iPads, Classroom-Apps und Education Pricing 34 5.3 Facebook: Bildungspolitik und personalisierte Lehrpläne 35 5.4 Google: YouTube, Google Docs und Google Expeditions 36 5.5 Microsoft: Programmierkenntnisse zur Codierung des Lebens 37 5.6 Schleichende Werbung in Zeiten digitaler Euphorie 38 6 Alternativen zur Ökonomisierung schulischer Bildung – oder: Wie Schule gelingen kann 41 7 Schulpolitische Forderungen 47 Literatur 50
Vorwort VORWORT Liebe Leserin, lieber Leser, am 12. Juni 2008 die «Bildungsrepublik Deutschland» beim Thema schulische Bildung glauben alle, Bescheid ausrief, die Bildung zur entscheidenden Zukunftsfrage zu wissen, und reden mit. Entweder ist die eigene erklärte und «Wohlstand für alle» als «Bildung für al- Schulzeit noch nicht lange her, die Wahl der Schule für le» apostrophierte. Zweifelsfrei ist die Bedeutung von die Kinder oder Enkelkinder steht gerade an oder die Bildung kaum zu überschätzen. Bildung verspricht Sprösslinge gehen bereits zur Schule. Bildung ist ein Selbstverwirklichung im Privaten und Beruflichen, er- zentrales gesellschaftliches Thema, das regelmäßig in- möglicht Orientierung in einer komplexen Welt und tensive öffentliche Debatten auslöst. Die Perspektiven lässt sich längst nicht mehr auf Information und Wis- und Interessenlagen dabei sind unterschiedlich: Eltern sensvermittlung reduzieren. Das beim «Bildungs- wollen natürlich immer die beste schulische Bildung gipfel» im Jahr 2008 formulierte Ziel, die Quote der für ihr Kind, Lehrermangel und ausfallende Schulstun- Schulabgänger*innen ohne Abschluss von seinerzeit den sind dabei das Haupthindernis. Lehrer*innen füh- 7,4 Prozent auf vier Prozent bis zum Jahr 2015 zu hal- len sich überlastet und nicht wertgeschätzt. Die Bun- bieren, war ein Schritt in die richtige Richtung. Dieses desländer pochen auf ihre Bildungshoheit, auch wenn Ziel ist allerdings bis heute nicht erreicht: 2015 zeigte das föderale Bildungssystem immer wieder an seine sich zwar ein leichter Rückgang auf bis zu 5,7 Prozent, Grenzen stößt. Die Bundesregierung setzt Milliarden allerdings stieg die Quote bis 2019 wieder auf 6,8 Pro- von Euro ein, damit Schulen Anschluss an die digita- zent an, das heißt, sie liegt aktuell beinahe beim Aus- le Welt finden und das deutsche Bildungssystem zu- gangswert. kunftsfähig wird. Neben der Frage, wie erfolgreich die amtierende Ob Deutschland den Testlauf «Homeschooling» wäh- Bundesregierung jenseits ihrer Ankündigungen ist, rend der flächendeckenden Schulschließungen auf- lassen sich zahlreiche weitere stellen: Welche Schwä- grund der Corona-Pandemie besteht, werden die kom- chen weist das staatliche Schulsystem auf? Wie lässt menden Monate zeigen. Gerade das Lernen und Lehren sich der nach wie vor maßgeblich von der sozioökono- im virtuellen Klassenzimmer muss gut vorbereitet sein – mischen Herkunft abhängige Bildungserfolg erklären? pädagogisch und technisch. Eins ist klar: Die Digitalisie- Warum treten immer mehr private Akteure auf dem rung der Bildungswelt im Einklang mit dem «DigitalPakt Feld der schulischen Bildung in Erscheinung? Und wa- Schule» wird weiter voranschreiten, der Einfluss der rum nimmt inzwischen jedes vierte Kind private Nach- führenden Internetkonzerne auf den milliardenschwe- hilfe in Anspruch? Welche Rolle spielen Unternehmen, ren «Bildungsmarkt» wachsen. Dem dürfen wir nicht Stiftungen und arbeitgebernahe Initiativen bei der Ent- tatenlos zusehen. Gleichzeitig müssen wir neben den wicklung schulischer Bildung? Welche privaten Anbie- technischen Ausstattungsproblemen der Schulen und ter halten Lehrerfort- und -weiterbildungen vor? Und dem unzureichenden Personalschlüssel einen medial, wie konnte es zur Stärkung ökonomischer Bildung bei gesellschaftlich und politisch vielfach ausgeblendeten einer gleichzeitigen Schwächung der politischen Bil- Mangel des deutschen Schulsystems im Blick behalten: dung kommen? die mangelnde Bildungsgerechtigkeit. Die in unserem Die vorliegende Studie beleuchtet die Ökonomisie- Schulsystem angelegte Verfestigung sozialer Ungleich- rung schulischer Bildung, analysiert Ursachen und heiten verschärft sich in Krisenzeiten. Wird das Klas- Mängel, zeigt aber zugleich auch Alternativen auf. Eins senzimmer digital aufgerüstet, fehlen gerade Kindern wird deutlich: Die zunehmende Ökonomisierung wird aus sozial benachteiligten und migrantischen Familien die Chancengerechtigkeit in der Bildung nicht verbes- die grundlegenden Voraussetzungen für «Homeschoo- sern. ling». Bei einer entsprechenden Grundausstattung für Ich danke dem Autor der Studie, Tim Engartner, für alle schafft die Digitalisierung aber auch völlig neue seine engagierte Arbeit und der Landesstiftung Nord- Möglichkeiten für die Aneignung von Wissen und die rhein-Westfalen für die Unterstützung der Studie. Gestaltung von Kommunikation. Es war Bundeskanzlerin Angela Merkel, die bei ihrer Ihre Dagmar Enkelmann Rede zum 60. Geburtstag der sozialen Marktwirtschaft Berlin, April 2020 5
Zusammenfassung ZUSAMMENFASSUNG Es ist hinlänglich bekannt, dass ökonomische Begrün- der auf Arbeitsmarktrelevanz zielenden Berufsorien- dungs-, Entscheidungs- und Handlungslogiken im hie- tierung als Ausdruck der Ökonomisierungstendenzen sigen Schulwesen Platz gegriffen haben. Aber längst im Schulsystem zu deuten sind. Zwar kann die Frage, beschränkt sich die Ökonomisierung schulischer Bil- wie es ausgerechnet im Land der Dichter*innen und dung nicht mehr auf das Sponsoring von Schulfes- Denker*innen zu einer derart radikalen Abkehr von All- ten durch Unternehmen oder den bundesweit anhal- gemeinbildungsansprüchen kommen konnte, nach tenden Boom von Privatschulen. Nahezu unbemerkt wie vor nicht erschöpfend beantwortet werden. Es von der medialen Öffentlichkeit wartet inzwischen ei- wird jedoch deutlich, dass der Epochenbruch in un- ne Vielzahl unternehmensnaher Stiftungen mit Lehrer- serem Bildungsverständnis seinen Ausgangspunkt in fort- und -weiterbildungen auf, die mit den Angeboten der flächendeckenden Einführung zentraler Schulleis- von Hochschulen, Ministerien und ihnen nachgeord- tungsvergleiche wie PISA, IGLU und TIMSS findet.1 neten Einrichtungen konkurrieren. Wenigstens zwei Wie nicht nur die beiden Interviews mit einer Schul- Dutzend Schulbuchverlage, Stiftungen und Verbän- leiterin und einem Schulleiter in dieser Publikation de – darunter der Bundesverband deutscher Banken, zeigen, unterliegt das Schulsystem auch deshalb im- der Verband der Chemischen Industrie, aber auch die mer häufiger dem Primat der Ökonomie, weil Kinder, Wissensfabrik als Zusammenschluss von mehr als Jugendliche und junge Erwachsene durch die gesell- 140 Unternehmen – halten Weiterbildungsmöglichkei- schaftliche Erwartungshaltung darin gebremst wer- ten vor. Ausgehöhlt wird das staatliche Schulsystem den, sich um ihrer selbst willen zu bilden. So zeigt die überdies durch den wachsenden «Bildungsmarkt» der vorliegende Untersuchung anhand von 59 geforderten Nachhilfeinstitute, deren Wirkmächtigkeit sich daran und teilweise neu eingeführten Unterrichtsfächern, ablesen lässt, dass inzwischen jedes vierte schulpflich- dass Schul-, Bildungs- und Kultusministerien inzwi- tige Kind Nachhilfe erhält. Die vorliegende Studie zeigt, schen Anwendbarkeit, Verwertbarkeit und Arbeits- dass der Aufstieg dieser außerschulischen Lernorte marktkompatibilität von Bildung vielfach zum Maßstab einerseits in dem Versagen des staatlichen Schulsys- schulischer Lehr- und Lernprozesse erklärt haben. In- tems begründet liegt, andererseits aber auch mit den wieweit Privatschulen, Nachhilfeinstitute und digitale ausgesprochen vielfältigen Angebotsstrukturen der In- Bildungsangebote die gesellschaftliche Spaltung ver- stitute zu erklären ist. tiefen und verfestigen, wird im Einklang mit verschie- Ferner belegt die Studie, dass Bund und Länder den denen empirisch fundierten Erkenntnissen aufgezeigt. Digitalkonzernen mit dem 2019 verabschiedeten «Digi- Die Studie beleuchtet insofern nicht nur Gesetzmä- talPakt Schule» ausgesprochen lukrative Absatzmärk- ßigkeiten und Glaubensbekenntnisse, die der Ökono- te geschaffen haben. Es wird deutlich, dass Google, misierung schulischer Bildung hierzulande den Weg Apple, Microsoft und Samsung vergleichsweise we- geebnet haben, sondern analysiert zugleich deren Ur- nig Widerstände auf dem Weg in die Klassenzimmer sachen, wie zum Beispiel die chronische Unterfinan- zu überwinden hatten, während zum Beispiel der von zierung des Schulsystems, die ihren Niederschlag in Amazon angebotene «Kindle Storyteller Kids»-Schreib- baufälligen Schulgebäuden ebenso findet wie in dem wettbewerb in einigen Bundesländern verboten wur- grassierenden Mangel an (professionell ausgebilde- de. Es kann nachgewiesen werden, dass die Digitali- ten) Lehrkräften. Die Gefahren, die uns daraus erwach- sierung der Schulen bislang eher von ökonomischen sen, dass wir Bildung mit individuellen Preisen statt mit Interessen als von pädagogischen Konzepten geprägt gesellschaftlichen Werten belegen, sind vielfältig. Ei- ist, weshalb abzuwarten bleibt, ob das milliarden- nigen dieser Gefahren – wie etwa denen, die mit der schwere Programm Lehrenden und Lernenden das Unterfinanzierung des staatlichen Schulsystems so- Lehren und Lernen wirklich erleichtern wird. wie mit der Digitalisierung schulischer Bildung durch Anhand ausgewählter bildungspolitischer Diskurse Google & Co. verbunden sind – wird in der vorliegen- zeigt die Studie, dass die Debatte um «Schulzeitver- den Studie nachgegangen, wobei die Kritik am Status kürzung» nach den Vorgaben des achtjährigen Gym- quo – sofern möglich – mit Positivbeispielen konstruk- nasiums (G8), die Expansion ökonomischer Bildung tiv gewendet wird und schließlich in acht schulpoliti- in den Stundentafeln und die curriculare Aufwertung schen Forderungen kulminiert. 1 Die Abkürzungen stehen für Programme for International Student Assessment (PISA), Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung (IGLU) und Trends in Inter- national Mathematics and Science Study (TIMSS). 6
Einleitung 1 EINLEITUNG «Das Übergreifen von Märkten und marktorientiertem Denken auf Aspekte des Lebens, die bislang von Normen außerhalb des Marktes gesteuert wurden, ist eine der bedeutsamsten Entwicklungen unserer Zeit.» Michael J. Sandel (2012: 14) Nachdem die Ökonomisierung als Signatur unserer verständnis Bahn gebrochen, das von Anwendbarkeit, Zeit zunächst im Bahn-, Post-, Renten- und Gesund- Verwertbarkeit und Passfähigkeit gekennzeichnet ist heitssektor als vormals sakrosankten Feldern der öf- (vgl. weiterführend Sander 2019). «Humboldt ade!» – fentlichen Daseinsvorsorge Platz gegriffen hatte, so könnte die Kurzformel für den Abgesang auf eine verfing sie vor knapp zwei Jahrzehnten auch im Bil- Bildung lauten, die immer häufiger auf die Bedürfnis- dungs- und damit im Schulsystem. Das Sponsoring se des Arbeitsmarktes ausgerichtet ist. Dies zeigen die von Schulfesten durch die örtliche Sparkasse legt Debatte um die «Schulzeitverkürzung» nach den Vor- ebenso Zeugnis vom Trend zum «schlanken Staat» gaben des achtjährigen Gymnasiums (G8), die Einfüh- ab wie Lehrerfort- und Weiterbildungen von priva- rung von Bachelor- und Masterstudiengängen im Zuge ten Stiftungen, der stetig wachsende Markt kom- der sogenannten Bologna-Reform sowie die curricula- merzieller Nachhilfeanbieter und privatwirtschaft- re Aufwertung der auf Arbeitsmarktrelevanz zielenden lich geführter Schulen oder die Entsendung von Berufsorientierung an allgemeinbildenden Schulen. Unternehmensvertreter*innen in den Unterricht. Gerade die steigende Berufsorientierung macht deut- Längst beschränkt sich der Einfluss von BASF und lich, wie weitreichend ökonomische Begründungs-, Bayer, Deutscher Bank und Deutscher Börse oder Entscheidungs- und Handlungslogiken inzwischen im BMW und Daimler nicht mehr nur auf Geld- und Sach- schulischen Bildungskanon Platz gegriffen haben. Als spenden; vielmehr stellen die Produktion und Distribu- Gründe für den Bedeutungszuwachs von Berufsinfor- tion von Unterrichtsmaterialien für Unternehmen ein mationsveranstaltungen, Bewerbungstrainings und wesentliches Vehikel dar, um die Vor- und Einstellun- «Karrierecoachings» werden der Wegfall der Wehr- gen Heranwachsender zu beeinflussen. 20 der 30 im pflicht, der internationale Arbeitsmarkt sowie die neu- Deutschen Aktienindex (DAX) notierten Unternehmen en Möglichkeiten der Hochschulzugangsberechtigung vertreiben inzwischen Unterrichtsmaterialien. angeführt. Im Zuge dessen wird die Bedeutung beruf- Das von Unternehmen, Stiftungen und «Bildungsin- lich verwertbaren Wissens überhöht. itiativen» praktizierte deep lobbying2 zielt auf das Kon- Beinahe ebenso vielfältig wie die Erscheinungsfor- sum-, Freizeit- und Wahlverhalten der Lernenden. Eine men der «Verbetriebswirtschaftlichung» in der einst als wachsende Zahl vormals schulfremder Akteure be- pädagogischer «Schonraum» gedeuteten Bildungsin- müht sich aus- und nachdrücklich darum, Einfluss auf stitution sind deren Ursachen. Neben der chronischen «Einstellungen oder Stimmungen in der Gesellschaft Unterfinanzierung des Schulsystems, die sich in bau- [zu nehmen], […] um so indirekt die Politik zu beein- fälligen Schulgebäuden ebenso materialisiert wie in ei- flussen» (Kamella 2015: 45). Aber auch die über Schul- nem seit nunmehr vielen Jahren grassierenden Mangel leistungsvergleiche wie PISA, IGLU und TIMSS for- an (professionell ausgebildeten) Lehrkräften, zählen cierte Outputsteuerung von Lehr- und Lernprozessen dazu die sinkende Aufmerksamkeitsspanne bei der Re- und der jährlich von der Initiative Neue Soziale Markt- zeption von Wissen aufseiten der Schüler*innen, die wirtschaft (INSM) veröffentlichte «Bildungsmonitor» bis in das Bildungssystem hineinreichenden Lobby lassen erkennen, dass schulische Bildung dem Trend aktivitäten von Unternehmen und arbeitgebernahen zur Ökonomisierung unterliegt. Dieser wird auch dann Initiativen, das in Eltern- und Schülerschaft gestiege- sichtbar, wenn Kinder, Jugendliche und junge Erwach- ne Bedürfnis nach einem stärkeren Praxisbezug der sene sich nicht mehr um ihrer selbst willen bilden, Bildungsinhalte sowie die Digitalisierung der jugendli- sondern auf arbeitsmarktkompatible Qualifikationen chen Lebens- und Bildungswelten. Darauf haben Bund schielen, die immer seltener Theorieverständnis, Refle- und Länder Anfang 2019 mit dem «DigitalPakt Schu- xionsfähigkeit und Allgemeinbildung umfassen. Wenn le» reagiert, der die digitale Bildungsinfrastruktur mit Termini wie der 2004 zum Unwort des Jahres gekür- rund 5,5 Milliarden Euro finanzieren soll, wobei allein te Begriff «Humankapital» oder auch der Anglizismus in dieser Legislaturperiode 3,5 Milliarden Euro fließen «Human Asset Management» im Bildungskontext Ver- sollen. Aber während abzuwarten bleibt, ob das milli- wendung finden, löst dies nicht nur im linksliberalen, ardenschwere Programm Lehrenden und Lernenden sondern gerade auch im bildungskonservativen Milieu das Lehren und Lernen wirklich erleichtert, steht schon Unbehagen aus. Viele der mit dem Schlagwort «Ökonomisierung» zu überschreibenden Entwicklungen sind das Ergebnis 2 Deep lobbying bezeichnet eine Art der indirekten – will heißen: zumeist subti- len – und durchweg längerfristigen Einflussnahme auf Politik, Verwaltung und Öf- eines Epochenbruchs in unserem Bildungsverständ- fentlichkeit. So bemühen sich zum Beispiel von Unternehmen finanzierte Denk- fabriken (Thinktanks), Institute und Interessenvereinigungen mittels Studien und nis. Spätestens mit der flächendeckenden Einführung Gutachten darum, gesellschaftliche Stimmungen, Diskurse und Wahrnehmungen zentraler Lernstandserhebungen hat sich ein Bildungs- in ihrem Sinne zu beeinflussen (vgl. Müller 2014). 7
Einleitung jetzt außer Frage, dass die führenden Digitalkonzerne zum Beispiel wird es für das Schulsystem haben, wenn wie Apple, Google, Microsoft und Samsung mit gi- Bildung als die kostbarste Ressource in unserem an- gantischen Aufträgen rechnen dürfen. Die Praktiken sonsten ressourcenarmen Land immer umfassender in den USA lassen vermuten, dass diese Konzerne die auf ihre (berufs-)praktische Verwertbarkeit hin ausge- fünf Milliarden Euro des Bundes sowie die mindestens richtet wird? Wie soll die Schulpolitik reagieren, wenn 500 Millionen Euro der Länder in den kommenden fünf klassische Literatur in der «Goethe-Nation» nicht nur Jahren auch nutzen werden, um ihre Hard- und Soft- Schüler*innen, sondern auch immer mehr Eltern, ware im Paket mit Fortbildungen, Lernplattformen und Lehrkräften sowie Bildungspolitiker*innen entbehr- Unterrichtskonzepten anzubieten. lich erscheint? Welche Risiken liegen in einem Unter- Vor diesem Hintergrund geht die vorliegende Studie richtsfach «Wirtschaft», das nahezu ausschließlich auf der Frage nach, welche Folgen die Verfestigung und Themen wie die (private) Altersvorsorge, den (privaten) Expansion ökonomischer Denk-, Handlungs- und Ent- Versicherungsschutz und die berufsbezogene Persön- scheidungsmuster für das Schulsystem bereits gezei- lichkeitsbildung setzt? Welche Risiken liegen in einem tigt haben – und zu welchen schulpolitischen Reaktio- boomenden Privatschulsektor mit Blick auf die Ver- nen dies noch führen könnte. Welche Auswirkungen schärfung sozialer Ungleichheiten? 8
Grundannahmen und Fragestellungen der Studie 2 GRUNDANNAHMEN UND FRAGESTELLUNGEN DER STUDIE Ausgehend von der im Frühjahr 2019 im Auftrag der dungs-, Gesundheits- und Rentensystem sind zur Ziel- Rosa-Luxemburg-Stiftung von Thomas Höhne vorge- scheibe einzel- und gesamtwirtschaftlicher Interessen legten Studie «Mehrwert Bildung? Ökonomisierung im geworden. Feld der Schule» geht die vorliegende Untersuchung Dabei wird in der vorliegenden Studie davon aus- aus einer sozialwissenschaftlichen Perspektive der gegangen, dass sich die Elemente der auf die Gesell- Frage nach, welche Erscheinungsformen von Ökono- schaft zielenden Ökonomisierung (siehe Tabelle 1) misierung schulischer Bildung zu identifizieren sind. nicht nur im Bildungssystem insgesamt, sondern vor Seit wenigstens einem Jahrzehnt wird die schulische allem auch im Schulsystem widerspiegeln. Bildung mit ökonomischen Termini wie Nutzen- und Nach Auffassung des Wirtschaftssoziologen und -di- Gewinnmaximierung, Ressourcen- und Selbstopti- daktikers Reinhold Hedtke umfasst die Ökonomisie- mierung, Vermarktlichung und Verbetriebswirtschaftli- rung schulischer Bildung, die von Unternehmen, In- chung sowie Quantifizierung, Privatisierung und Ratio dustrie- und Handelskammern, Wirtschaftsverbänden, nalisierung assoziiert (vgl. Höhne 2019; Münch 2011 unternehmensnahen Thinktanks, wirtschaftsnahen und 2018; Wodak 2015). Während die Frage, ob eine Redaktionen sowie konservativen und wirtschaftslibe- Ökonomisierung des Schulwesens zu konstatieren ralen Parteien vorangetrieben wird, insbesondere die ist, als weitestgehend beantwortet gelten kann (vgl. folgenden fünf Dimensionen: Kamp-Hartong/Hermstein/Höhne 2018), löst die Frage des Wie bis zum heutigen Tag intensive bildungspoliti- «(1.) die Einführung eines Separatfachs Wirtschaft oder die sche und -wissenschaftliche Debatten aus. Expansion wirtschaftlicher Inhalte in bestehenden Fächern, Einen zentralen Ausgangspunkt findet der verbreite- (2.) die Engführung dieser Inhalte auf wirtschaftswissen- te Wunsch nach «Vermarktlichung» in einer im Neoli- schaftliches Wissen, (3.) deren monoparadigmatische Ver- beralismus als «politischer Zivilreligion» (Butterwegge einseitigung auf den Mainstream der Wirtschaftswissen- 2002: 58) beheimateten Staatsskepsis, die dem Credo schaften, (4.) die nahezu flächendeckende Kooperation mit des «schlanken», man könnte auch sagen des «mager- Unternehmen, Kammern und Wirtschaftsverbänden, etwa süchtigen» Staates folgt. So vertritt nur noch ein Drit- in der Berufsorientierung, und (5.) die inhaltliche Einwir- tel der Bundesbürger*innen (34 Prozent) die Auffas- kung mittels Unterrichtsmaterial.» (Hedtke 2019: 5) sung, dass der Staat in der Lage sei, seine vielfältigen Aufgaben zu erfüllen, während 61 Prozent der Ansicht sind, dieser sei angesichts der Vielzahl seiner Aufga- KRITIK AM WANDEL ben und Probleme überfordert (Forsa 2019: 7).3 Nicht DES SCHULSYSTEMS zuletzt vor diesem Hintergrund haben ökonomische Der Bamberger Soziologe Richard Münch würdigt Denk-, Handlungs- und Entscheidungslogiken inzwi- die Transformation des Schulsystems im Wettbe- schen auch jenseits unseres Wirtschaftssystems mas- werbsstaat in seinem Buch «Der bildungsindustri- siv an Bedeutung gewonnen. Ihren Niederschlag fin- elle Komplex» (2018) unter anderem deshalb kri- det die gesellschaftliche Ökonomisierung in der Trias tisch, aus «Vermarktlichung, Entrepreneurialisierung [und] – weil die Ausgaben der öffentlichen Hand für Renditeorientierung» (Hedtke 2019: 3). Vormals für die Finanzierung privater Dienstleistungen sakrosankt erklärte Gesellschaftsbereiche wie das Bil- der Bildungs- und Testindustrie steigen, – es zu einer Evaluation von Schüler*innen, Tabelle 1: Elemente der Ökonomisierung von Lehrer*innen und Schulbezirken kommt, Wirtschaft und Gesellschaft – Bildungsprozesse auf die Bedürfnisse der Wirtschaft zugeschnitten, infolgedessen Gesellschaft Wirtschaft unter anderem humanistische Ziele vernach Vermarktlichung lässigt werden sowie Wachstumsorientierung – die öffentliche Bildungspolitik durch demokra- Kalkulationstechniken tisch nicht legitimierte Akteure wie Stiftungen, For-Profit- und Non-Profit-Organisationen Liberalisierungspolitik bestimmt wird. Entrepreneurialisierung Renditeorientierung Finanzialisierung Digitalisierung Selbstökonomisierung 3 Bedenklich sind die Ergebnisse der Erhebung auch deshalb, weil die befragten unteren sozialen Schichten (Arbeiter*innen bzw. Hauptschulabsolvent*innen) die = Hauptwirkungsrichtung Handlungsfähigkeit des Staates deutlich negativer einschätzen als die übrigen Be- völkerungsgruppen; unter AfD-Anhänger*innen hält sogar die übergroße Mehr- Quelle: Hedtke 2019: 3 heit (87 Prozent) den Staat für überfordert (Forsa 2019: 7). 9
Grundannahmen und Fragestellungen der Studie Welche Folgen die Ökonomisierung von Bildung zei- Tabelle 2: Typologie der Ökonomisierung tigen kann, ist bislang soziologisch weitreichend, er- schulischer Bildung ziehungswissenschaftlich hinreichend, politikwis- senschaftlich jedoch nur unzureichend (klar) erörtert abstrakte Dimension konkrete Ausprägungen Folgen worden (vgl. Bürgi 2017; Hedtke 2019; Zurstrassen 2019). Auch vor diesem (disziplinären) Hintergrund be- 1 institutionell Entstehung – Schulen in privater Träger- von Quasi- schaft schränkt sich die Studie darauf, die in den folgenden Märkten – Nachhilfeeinrichtungen Phänomenen zum Ausdruck kommende Ökonomisie- – privatwirtschaftlich rung schulischer Bildung in den Blick zu nehmen: organisierte Lehrerfort- und -weiterbildungen – Bedeutungszuwachs instrumentellen, insbesondere – Verteilung von Lehrkräften beruflich verwertbaren Wissens, 2 curricular Funktionali- – Modifikation entlang – Engagement von Unternehmen, Stiftungen und Bil- sierung von berufsrelevanter Inhalte dungsinitiativen, Bildung – Einführung des Schulfachs – Unterfinanzierung staatlicher Schulen mit Blick auf «Wirtschaft» Sach- und Personalausstattung, 3 inhaltlich Angebote – Prägung von (überwiegend) – Wettbewerb zwischen Schulen über ihre Profilbil- privater arbeitgeberfreundlichen Content- Weltbildern dung, anbieter – Akzentuierung von – Auf- und Ausbau von Privatschulen und privaten Partikularinteressen Nachhilfeanbietern, – Orientierung an Spezial- statt an Allgemeinbildung – Expansion privater Fort- und Weiterbildungsangebo- – Vermittlung interessengelei- te für Lehrkräfte sowie teter Vor- und Einstellungen – Expansion ökonomischer Bildung in Curricula. Wohlwissend, dass die Aufzählung nicht als abschlie- Quelle: eigene Darstellung ßend zu begreifen ist, werden nach einer kurzen Er- läuterung der Grundannahmen und Fragestellungen lysen empirischer Phänomene, wobei die Grundlage der Studie (Kapitel 2) die sich hierzulande verschär- im Feld der Privatisierungsforschung anzusiedelnde fenden Bildungsungleichheiten in den Blick genom- Zeitschriften- und Buchbeiträge sowie von überregio men, indem zunächst die unzureichende Sach- und nalen Leitmedien publizierte Zahlen, Daten und Fak- Personalausstattung der Schulen, die politisch forcier- ten bilden. Dem bundesrepublikanischen Schulsystem te Stärkung der Schulautonomie, die Auflösung der als Untersuchungsgegenstand ist es geschuldet, dass Schulbezirke, der Boom der Privatschulen und das sich die internationale Debatte zur Entwicklung nationa- verdichtende Netzwerk privater Nachhilfeanbieter the- ler Schulsysteme zwar zur Kenntnis genommen wird, matisiert werden (Kapitel 3). Anschließend stehen ne- dass jedoch nur in Ausnahmefällen auf sie Bezug ge- ben der Expansion ökonomischer Bildung die Schul- nommen werden kann. Integriert werden bislang un- marketingaktivitäten von Unternehmen im Mittelpunkt veröffentlichte Forschungsergebnisse, unzureichend (Kapitel 4), wobei dem «Digital Turn» im Klassenzimmer zugängliche Archivmaterialien sowie Erkenntnisse aus vor dem Hintergrund des von der Bundesregierung im Gesprächen mit bildungssoziologisch und -politisch Frühjahr 2019 verabschiedeten «DigitalPakts Schule» forschenden Kolleg*innen. Der sozialwissenschaft besondere Bedeutung beigemessen wird (Kapitel 5). In liche Charakter der Studie findet seinen Niederschlag der Absicht, die kritische Analyse konstruktiv zu wen- darin, dass historische Entwicklungen des Schulsys- den, sollen anschließend mittels zweier Interviews mit tems rekonstruiert, ökonomische Erklärungs- und einer Schulleiterin und einem Schulleiter Merkmale für Deutungsmuster diskutiert und ein breites politikwis- Schulen angeführt werden, die zu einer Abkehr vom senschaftliches Verständnis mit Blick auf Pfadabhän- Primat der Ökonomie führen könnten (Kapitel 6), bevor gigkeiten zugrunde gelegt werden. So lassen sich acht schulpolitische Forderungen – darunter die nach die mitunter ausgesprochen kostspieligen Bemü- auskömmlich finanzierten Bildungseinrichtungen – die hungen einflussreicher Unternehmen, Verbände und Studie abschließen (Kapitel 7). Thinktanks bezüglich der Ökonomisierung des Schul- Grundlegend lässt sich die Struktur der Studie wie systems nur nachvollziehen, wenn neben den ver- folgt begreifen: Es werden institutionelle, curriculare gleichsweise rasch zu identifizierenden Verwertungs- und pädagogische Ausprägungen der Ökonomisie- interessen zugleich gesellschaftliche Entwicklungen rung schulischer Bildung betrachtet (siehe Tabelle 2). in den Blick genommen werden, wie zum Beispiel der Trend zur Kommodifizierung einer wachsenden Zahl Methodik der Studie von Lebensbereichen. Bildungspolitisch getragen wird Die Untersuchung, die insbesondere solche Ökono- die Untersuchung von der Annahme, dass sich in einer misierungsaspekte in den Blick nimmt, die bislang Gesellschaft, die von allem den Preis, aber von immer kaum Beachtung gefunden haben, ist als literaturba- weniger Dingen den Wert kennt, schließlich auch das siert zu bezeichnen, das heißt, sie fußt auf verschrift- Bildungswesen – und damit das Schulsystem – dem lichten wissenschaftlichen Beschreibungen und Ana- Primat der Ökonomie unterwirft. 10
Verschärfung sozialer Ungleichheiten durch das Schulsystem 3 VERSCHÄRFUNG SOZIALER UNGLEICHHEITEN DURCH DAS SCHULSYSTEM Idealiter eröffnet (schulische) Bildung nicht nur neue ihre Schüler dabei zu unterstützen, die aufgrund schulischer Lebenschancen, sondern bietet auch Möglichkeiten und außerschulischer Kontextfaktoren entstehenden Leis- der Selbstverwirklichung, indem Wege in Richtung tungsdefizite auszugleichen.» (Möller/Bellenberg 2017: 7) gesicherter Beschäftigung geebnet sowie soziale, po- litische und kulturelle Teilhabe ermöglicht werden. Bil- Hier lässt sich eine durchaus bemerkenswerte Entwick- dungsarmut hingegen schränkt diese Aufstiegs- und lung in einigen ostdeutschen Bundesländern erkennen. Partizipationschancen ein, wie Gerd Möller und Gab- In Thüringen etwa, dem Bundesland mit dem höchsten riele Bellenberg in einer für die nordrhein-westfälische prozentualen Rückgang bei den Lehrkräften in Mittel- Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) ver- deutschland in den vergangenen 30 Jahren, musste das fassten Studie mit dem Titel «Ungleiches ungleich be- Bildungsministerium unlängst einräumen, dass trotz handeln» eindrucksvoll skizziert haben: der Neueinstellungen im Jahr 2019 der Unterricht nicht in jeder Schule gesichert werden kann. Der Thüringer «Gering Qualifizierte sind besonders häufig von Arbeitslo- Lehrerverband sah sich im August 2019 veranlasst, den sigkeit betroffen – und wenn sie erwerbstätig sind, dann Unterrichtsnotstand in Ostthüringen auszurufen. Seit zumeist in prekären Arbeitsverhältnissen mit geringer Ar- vielen Jahren fallen auch in Sachsen und Sachsen-An- beitsplatzsicherheit, niedrigem Lohn, mangelndem Kün- halt mangels einer ausreichenden Zahl von Lehrkräften digungsschutz und hohen gesundheitlichen Belastungen. Unterrichtsstunden aus. Als Reaktion auf die eklatanten Mangelnder Bildungserfolg ist damit eine der zentralen De- Engpässe wurde in Sachsen für das Schuljahr 2019/20 terminanten der intragenerationalen Kumulation sozialer die Stundentafel, das heißt die Stundenzahl, die in den Ungleichheiten im Lebensverlauf. Zugleich wird in Veröf- jeweiligen Jahrgangsstufen für jedes unterrichtete Fach fentlichungen der empirischen Bildungsforschung immer zur Verfügung steht, gekürzt. Aber obwohl die sächsi- wieder gezeigt, dass der Lernerfolg in Deutschland – aus- schen Schüler*innen weniger Unterricht erhalten, konn- geprägter als in vielen anderen Ländern – sehr stark von der ten die verbleibenden zahlreichen offenen Stellen für sozialen Herkunft der Bildungsteilnehmer abhängt. Men- Lehrkräfte nicht neu besetzt werden. Das Bildungsmi- schen aus bildungsfernen Schichten werden damit bereits nisterium sieht sich bei der Versorgung mit Lehrkräf- früh im Lebensverlauf – das heißt bereits im Bildungssys- ten insbesondere an ostsächsischen Grundschulen, tem – aufgrund ihrer Herkunft benachteiligt. Als gering qua- an Oberschulen in der Region Chemnitz sowie im Erz- lifizierte Eltern sind sie in unserem Schulsystem selbst wie- gebirge mit erheblichen Problemen konfrontiert. Aber derum Ausgangspunkt sozialer Benachteiligungen für ihre auch im Westen der Bundesrepublik sind die Probleme Kinder. Letzteres stellt die intergenerationale Reproduktion evident. Während zum Beispiel der nordrhein-westfäli- sozialer Ungleichheit dar. Dieser Teufelskreis von intra- und sche Regierungsbezirk Detmold, zu dem unter anderem intergenerationaler Reproduktion von sozialen Ungleichhei- Schulen im ostwestfälischen Speckgürtel zählen, eine ten und Bildungsungleichheiten ist in den letzten Jahrzehn- hundertprozentige Abdeckung der Grundschulstellen ten nicht einmal ansatzweise aufgebrochen worden. Die im- vermelden kann, liegt die Quote im benachbarten Re- mer noch existierende hohe Kopplung von Sozialstatus und gierungsbezirk Düsseldorf bei lediglich 56 Prozent, in Bildungserfolg bleibt somit eine offene Wunde des deut- der dazugehörigen Ruhrgebietsmetropole Duisburg ist schen Schulsystems.» (Möller/Bellenberg 2017: 7) sie noch weitaus niedriger. Unumgänglich scheinen da- her zusätzliche Bildungsinvestitionen, die sich am So- Darum wissend, dass die Kompositionseffekte4 einer zialindex5 orientieren, um die Schulen, die in ärmeren Lerngruppe zusätzlich zu den individuellen Merkma- Regionen liegen, für Lehrkräfte attraktiver zu machen. len der Schüler*innen Einfluss auf die Leistungsent- Problematisch sind auch in diesem Zusammenhang wicklung der Lernenden haben, sind die kontextspe- die Bestimmungen, die 2009 unter dem Schlagwort zifischen Einflussfaktoren wie die Zusammensetzung «Schuldenbremse» in den Artikeln 109, 115 und 143d in der Schülerschaft in Abhängigkeit von der sozialräum- das Grundgesetz aufgenommen wurden.6 Begreift man lichen Umgebung einer Schule schulpolitisch ausge- Bildung ausschließlich als «Standortfaktor», um Wirt- sprochen bedeutsam: 4 Der Begriff Kompositionseffekt (von Komposition, lateinisch compositio: «Zu- «Schülerinnen und Schüler an Schulen mit ausgeprägten ne- sammenstellung, Zusammensetzung») beruht auf der Annahme, dass die Zusam- mensetzung von Schüler*innen in der jeweiligen Lerngruppe die Entwicklung einer/ gativen Kompositionsmerkmalen sind unabhängig von ih- eines Einzelnen unmittelbar beeinflusst. 5 Der Sozialindex basiert auf vier soziode- ren individuellen Voraussetzungen gegenüber solchen aus mografischen Merkmalen: der Arbeitslosen- und der Sozialhilfequote, dem Anteil der Schüler*innen mit Zuwanderungsgeschichte sowie dem Anteil der Wohnun- Schulen mit einer privilegierten Schülerschaft benachteiligt. gen in Einfamilienhäusern. 6 Demnach dürfen die Bundesländer seit 2020 keine Viele der betroffenen Schulen sind nur bedingt in der Lage, neuen Schulden mehr machen; die neuen Schulden des Bundes dürfen sich seit 2016 auf höchstens 0,35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts belaufen. Erwähnt sei diese sozialmilieuspezifischen und kontextspezifischen Be- jedoch, dass Ausnahmen im Falle von Wirtschaftskrisen (wie etwa aufgrund der Corona-Pandemie) weiterhin zulässig sind; neben der strukturellen Neuverschul- nachteiligungen zu kompensieren. Dennoch stehen diese dung ist ferner ein «konjunktureller Finanzierungssaldo» zulässig, der in Zeiten des Schulen in sozialen Brennpunkten vor der Herausforderung, Abschwungs negativ und im Konjunkturaufschwung positiv ist. 11
Verschärfung sozialer Ungleichheiten durch das Schulsystem schaftswachstum und Wettbewerbsfähigkeit zu beflü- geln, wird nicht nur deren Instrumentalisierung Tür und DIE BERTELSMANN STIFTUNG Tor geöffnet. Zugleich verfestigen sich mit der Ökono- ALS AKTIVER AKTEUR IM BILDUNGS- misierung schulischer Bildung die sozialen Herkunfts- WESEN effekte, wie die Problematisierung der drei nachfolgend Den Weg in Richtung schulischer Management- skizzierten Entwicklungsstränge verdeutlichen soll (Ka- strukturen weist der Politik insbesondere die pitel 3.1, 3.2, 3.3). Bertelsmann Stiftung, die gemeinsam mit der Reinhard Mohn Stiftung und der BVG Stiftung 3.1 WETTBEWERBSORIENTIERTE vier Fünftel des Kapitals von Europas größtem PROFILIERUNG IM ZEITALTER DER Medienkonzern, der Bertelsmann Group, auf sich SCHULAUTONOMIE vereint. Diese wiederum ist mit einem Jahresum- Thomas Höhne, Autor der von der Rosa-Luxemburg- satz von rund 17,7 Milliarden Euro (Stand 2018) Stiftung im Jahr 2019 veröffentlichten Studie «Mehr- der weltweit neuntgrößte Medienkonzern, zu dem wert Bildung? Ökonomisierung im Feld der Schule», unter anderem die RTL-Gruppe, die Verlage Pen- sieht die Offenheit und Kontingenz von Bildungspro- guin Random House und Gruner + Jahr, der Druck- zessen durch die mit zentralen Lernstandserhebun- und Kommunikationsdienstleister Be Printers gen wie PISA, IGLU und TIMSS verbundene Kompe- sowie der mit 70.000 Beschäftigten international tenzorientierung gefährdet, wenn er schreibt: «Mit der tätige «Outsourcing-Dienstleister» Arvato zählen. funktionalistischen Redefinition von Bildung mittels Als Vorfeld- und Geschäftsanbahnungseinrich- des Kompetenzbegriffs wird zudem der Akzent weg tung engagiert sich die Stiftung mit rund 60 Mil- von der subjektiven Aneignung von Kultur hin zu ei- lionen Euro pro Jahr in nahezu sämtlichen wirt- ner objektivistischen Vorstellung einer fixierbaren An- schafts- und gesellschaftspolitischen Fragen. zahl homogener kultureller Basiskontexte verscho- Die hierzulande beispiellos finanzstarke Stiftung ben.» (Höhne 2019: 20) Unabhängig davon, ob man wirkte nicht nur an der Entwicklung der «Agenda in der Kompetenzorientierung die De-Subjektivierung 2010» und der damit in Verbindung stehenden von Bildungsprozessen im Sinne einer funktionalen «Hartz-IV-Reformen» mit. Seit Jahren ist die Ber- Verengung sieht (oder eben nicht), ist die Gefahr «ei- telsmann Stiftung vor allem im Bildungswesen ak- ner primär ökonomischen Wertbestimmung von Bil- tiv. Noch bevor die im Vorstand der Stiftung ton- dung in Anschluss an den Arbeitsmarkt» doch nicht angebende Elisabeth «Liz» Mohn in der Tradition zu leugnen (ebd.). So kann die Kompetenz- und Out- ihres verstorbenen Mannes gemeinsam mit der putorientierung nicht nur als Methode des New Pub- Verlegerin Friede Springer enge Kontakte zu Bun- lic Management,7 sondern auch als Ergebnis eines deskanzlerin Angela Merkel (CDU) aufbaute, hat- weitreichend veränderten Bildungsverständnisses ten die «Bertelsmänner» bereits 1995 mit dem angesehen werden. Mark Siemons übt in seinem viel damaligen NRW-Ministerpräsidenten Johannes beachteten Beitrag für die Frankfurter Allgemeine Rau (SPD, 1978–1998) eine Bildungskommission Sonntagszeitung vom 15. Dezember 2019 unter dem eingerichtet, die den Bericht «Zukunft der Bil- Titel «Wozu noch lesen? Wie die technokratische Pisa- dung – Schule der Zukunft» vorlegte. Dieser emp- Pädagogik den Schülern das Lernen verleidet» aus ei- fahl unter anderem selbstverwaltete Budgets der nem konservativen Blickwinkel harsche Kritik an den einzelnen Schulen. Zwischen 2005 und 2010 setz- neuen schulischen Steuerungselementen: te die nordrhein-westfälische Landesregierung unter Führung von CDU und FDP schließlich das «Der im Content als bloß lästige Notwendigkeit steckende Projekt «Selbstständige Schule» um, das Schulen Zwiespalt führt dazu, dass der gefühlte Leistungs- und Kon- inzwischen bundesweit auf ihrem Weg zu einer kurrenzdruck immer größer wird (schon in den untersten eigenverantwortlichen Organisation unterstützt. Klassen ringt man um die knappen Plätze in weiterführenden Die schrittweise Auflösung der Schulbezirke, das Schulen) – und zugleich das Ergebnis stetig schlechter. Die heißt die nunmehr freie Schulwahl unabhängig Widersprüchlichkeit liegt offenbar schon in der Ökonomisie- vom Wohnort, die es Eltern ermöglicht, auch die rung der Bildung selbst. Der Blick auf die Welt, den das out- Grundschule ihrer Kinder frei zu wählen, fügt sich put-orientierte Lernen einübt, gleicht in seiner Abstraktheit ebenfalls in diese vermeintlich universelle «Rheto- dem von Managern, für die die verschiedensten Sachberei- rik der Freiheit» (vgl. Engartner 2016). che und Kulturen bloß gleich gültige Anwendungsgebiete für ihre formalen Fertigkeiten sind – statt von einem anderen Land etwas Konkretes wissen und lernen zu wollen, reicht dann die ‹interkulturelle Kompetenz›. Doch in der Schule 7 Allen definitorischen Unschärfen zum Trotz wird unter New Public Management scheint diese Art inhaltlicher Enthaltung sogar den Erwerb (NPM) gemeinhin ein in den 1990er Jahren populär gewordenes verwaltungswis- senschaftliches Paradigma verstanden, bei dem die von Normen geprägte Steue- der Fertigkeiten selbst zu gefährden. Offenbar lebt auch der rung staatlicher Einrichtungen durch privatwirtschaftlichen Steuerungsmodellen Marktwettbewerb, wie man in Abwandlung des berühmten entlehnte Managementmethoden abgelöst wird. Anders als beim Bürokratiemo- dell handelt es sich jedoch nicht um ein mehr oder weniger konsistentes Modell; Böckenförde-Diktums sagen könnte, von Voraussetzungen, vielmehr ist NPM als Sammelbegriff für internationale Modernisierungsbewegun- die er nicht selber garantieren kann.» (Siemons 2019: 33) gen, die auf Staat und Verwaltung zielen, zu begreifen. 12
Verschärfung sozialer Ungleichheiten durch das Schulsystem Ihren Ausdruck findet die Ökonomisierung schulischer schon früh auf weiterführende Schulen unterschied- Bildung insbesondere in der Einführung unternehmens licher Spezialisierung vorbereiten sollen und damit ähnlicher Steuerungselemente sowie in wettbewerb- ebenfalls in den Wettbewerb eintreten (ebd.: 137). Bei- lich angelegten Anreizsystemen. spiele sind Schulen mit besonderer Schwerpunktset- Schon 2005 hieß es in einer Mitteilung des nord- zung hinsichtlich musischer, naturwissenschaftlich- rhein-westfälischen Städte- und Gemeindebunds: technischer oder umwelt- und gesundheitsbezogener Aspekte sowie im Bereich der Hochbegabtenförde- «Die bisherigen Schulbezirksgrenzen haben nicht davor be- rung, die durch entsprechende Zertifizierungsangebo- wahrt, dass sich Grundschulen vor allem in sozialen Brenn- te wie «Schulen mit Schwerpunkt Musik» (HKM o. J.a), punkten aufgrund der Zusammensetzung ihrer Schüler- «MINT-freundliche Schule»8 oder «MINT-EC-Schulen»9 schaft zu ‹Problemschulen› entwickelt haben. Schulen, (Trabert/Ramsauer 2014: 42), «Gütesiegel Hochbega- insbesondere mit hohem Migrationshintergrund, wird die bung», «Schule und Gesundheit» und «Umweltschule» Landesregierung begleitend zum Wegfall der Schulbezirke untermauert werden (HKM o. J.b). In Hessen zeigt sich durch eine andere Verteilung der Lehrerstellen sowie durch die Konkurrenz zwischen Schulen auch mit Blick auf weitere ergänzende Maßnahmen besonders fördern.» die Ergebnisse von Wettbewerben und Abschlussprü- (Städte- und Gemeindebund NRW 2005) fungen, deren Veröffentlichung ebenfalls einen Quali- tätsvergleich unter den Schulen ermöglichen soll. Die Die Auflösung der Schulbezirke, die im bevölkerungs- Veröffentlichung der Leistungen von Schulen lag und reichsten Bundesland der Republik bei öffentlichen liegt auf der bildungspolitischen Linie, die der damalige Grundschulen umgesetzt wurde, hat den Trend zum Ministerpräsident Roland Koch (CDU) in seinem Essay Wettbewerb zwischen den Schulen verschärft: «Plädoyer für ein Bildungssystem der Spitzenklasse» bereits 1999 in Aussicht gestellt hatte. «Bemerkenswert ist schließlich auch die aktuelle Dynamik Gepaart mit der Freigabe der Schulwahl führt die im Bereich der Förderung von Wettbewerb (Aufbau von zunehmende Ausdifferenzierung der Schulprofile da- öffentlichen Informationssystemen über die Qualität ein- zu, dass durch den Stadtteil bedingte Kontexteffekte zelner Schulen) bzw. der Privatisierung als rechtlicher Ver- Stigmatisierungen durch ethnische Herkunft, religiöse selbstständigung öffentlicher Schulen im Berufsbildungs- Zugehörigkeit und familiäre Bildungsarmut verschär- wesen, die auf eine steigende Relevanz solcher Politiken fen. Kinder aus sozial benachteiligten Familien werden hindeuten könnte. So hat beispielsweise Nordrhein-West- durch die freie Schulwahl insofern diskriminiert, als ih- falen die Schulbezirke für öffentliche Grundschulen und re Mobilität aufgrund ihrer ethnischen Herkunft, ihrer Berufsschulen beginnend mit dem Schuljahr 2008/09 ab- religiösen Zugehörigkeit und/oder ihrer familiären Bil- geschafft (vgl. SchulG NRW; § 84 Abs. 1) und so lokaler dungsarmut eingeschränkt ist. So ergibt sich aus die- Konkurrenz zwischen Schulen auch im Primarbereich eine sen Quartierseffekten der in Abbildung 1 dargestellte größere Bedeutung gegeben.» (Altrichter/Rürup 2010: 130) Teufelskreis. Verschärft werden die Bildungsungleichheiten da- Die freie Schulwahl, die sich aus der Vorstellung speist, durch, dass es gerade dort an adäquat ausgebildeten den Eltern «Konsumentensouveränität» einräumen zu Lehrkräften mit einer entsprechenden Fakultas fehlt, wollen, um die Schulen in einen Wettbewerb unterein- wo pädagogische Kompetenz in besonderer Weise ge- ander treten und verstärkt rechenschaftspflichtig wer- fragt wäre. So sind Quer- und Seiteneinsteiger*innen den zu lassen, lässt die Schulen unter Druck geraten. ebenso wie Vertretungslehrer*innen überproportio- Dieser findet seinen Niederschlag in den parteipoliti- nal häufig an Schulen in sozialen Brennpunkten zu fin- schen Debatten, die sich seit der Landtagswahl 2005 den. Verheerend ist zum Beispiel die Situation in Ber- um die Schließung von weniger attraktiven Grund- lin. Nach Informationen der GEW (2019) stellt sich die schulen in Nordrhein-Westfalen entfalteten. Laut der Situation in der Bundeshauptstadt wie folgt dar: «In einflussreichen SPD-Politikerin Hannelore Kraft gehe den Bezirken Mitte, Spandau, Neukölln und Marzahn- es «CDU und FDP […] nicht um mehr Chancengleich- Hellersdorf verfügen mehr als 70 Prozent der neu ein- heit, sondern um knallharten Wettbewerb. Wenn eine gestellten Lehrkräfte über keine Lehramtsausbildung. Schule sich am Markt nicht behauptet, wird sie dicht- Dabei benötigen gerade Schulen in ärmeren Gegen- gemacht» (Kraft 2005). den besonders gut ausgebildetes Personal.» Insbe- Dem durch die Schulautonomie beförderten Wettbe- sondere in sogenannten Brennpunktschulen zeigt werbsdruck begegnen Schulen immer häufiger mit der sich ein massiver Lehrkräftemangel. Versuche, dies Herausbildung spezifischer Profile, die sie von der Kon- über eine «Brennpunktzulage» von 300 Euro zu kom- kurrenz unterscheiden und eine spezifische Schülerk- pensieren, haben ihre Wirkung bislang verfehlt (ebd.). lientel anziehen (vgl. Altrichter/Rürup 2010: 136). Dies Für die Kollegien bedeutet die ungleiche Verteilung von hat einerseits Auswirkungen auf innerschulische Struk- Quereinsteiger*innen insbesondere an Schulen mit er- turen, indem bestimmte Klassen mit speziellen Förder- schwerpunkten implementiert werden. Andererseits 8 Die Abkürzung MINT steht für Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und lassen sich entsprechende Entwicklungen zur Schwer- Technik. 9 Die Abkürzung MINT-EC steht für mathematisch-naturwissenschaft- punktbildung bereits in Grundschulen beobachten, die liches Excellence-Center. 13
Verschärfung sozialer Ungleichheiten durch das Schulsystem Abbildung 1: Zirkel der Bildungsbenachteiligung geringe Armut Ausbildungschancen eingeschränkte Mobilität lokaler Verbleib mangelnde Sprachgelegenheit Verhaltensunsicherheit Sprachprobleme außerhalb des Quartiers/ Angst vor Rassismus Stigmatisierung Quelle: nach Baur 2013: 219 höhtem Ressourcenbedarf in Bereichen wie Inklusion (Klemm u. a. 2018: 24); etwa 7.500 Schüler*innen be- oder Sprachförderung eine zusätzliche Belastung, so- suchen eine der 93 bundesweit zu findenden Freien Al- dass eine stärkere Steuerung der Umverteilung solcher ternativschulen (ebd.). Die übrigen Privatschüler*innen Quereinsteiger*innen aus- und nachdrücklich zu emp- lassen sich unter anderem dem stetig wachsenden fehlen ist (Richter/Marx/Zorn 2018: 21). Markt der privaten Förderschulen zurechnen, wobei bei allen Privatschulen zwischen Ersatz- und Ergän- 3.2 BOOM DER PRIVATSCHULEN – zungsschulen zu unterscheiden ist. An Ersatzschulen SEGREGATION DER SCHÜLERSCHAFT streben die Schüler*innen dieselben oder jedenfalls Getrieben von dem Wunsch, ihre Kinder bestenfalls gleichwertige Abschlüsse an wie an öffentlichen Ein- ganztägig optimal fördern zu lassen, entscheiden sich richtungen. Ist die Ersatzschule offiziell «staatlich aner- immer mehr Eltern für das bundesweit wachsende Pri- kannt», können die Schüler*innen dort zum Beispiel ihr vatschulsystem. Stellte das teils üppige Schulgeld kei- Abitur ablegen. Bei Ergänzungsschulen, zu denen zum nen Hinderungsgrund dar, würde mehr als die Hälfte Beispiel die meisten Waldorfschulen zählen, müssen der Eltern ihre Kinder laut einer Umfrage der Gesell- sie die Abschlussprüfungen extern absolvieren. Zu den schaft für Sozialforschung und statistische Analysen Ergänzungsschulen zählen unter anderem internatio- an einer Privatschule anmelden (Forsa 2009: 11). Bilin- nale Schulen, aber auch viele berufsbildende Schulen. gualen Unterricht, musikalische (Früh-)Förderung, Ko- Werden gewisse Vorgaben eingehalten, erfüllt auch operationen mit Sportvereinen und Unternehmen kön- der Besuch einer Ergänzungsschule die gesetzliche nen oder wollen bislang nur die wenigsten staatlichen Schulpflicht. Schulen anbieten. Privatschulen hingegen kommen nicht nur diesen Bedürfnissen nach, sondern bieten Gründe für Privatschulwahl Eltern durch großzügigere Betreuungszeiten zugleich Wenngleich die Forschungsergebnisse bezüglich der weitreichende Möglichkeiten, Familie und Beruf (bes- Frage, welche Umstände Eltern zur Entscheidung ge- ser) zu vereinbaren. gen das staatliche Schulsystem bewegen, vergleichs- Ihr rasantes Wachstum lässt sich daran ablesen, dass weise spärlich sind, scheinen weniger Gründe der zeitweilig alle zwei Wochen eine neue Privatschule Leistungsorientierung als vielmehr sozialisatorische eröffnet wurde, sodass sich die Zahl der Privat Präferenzen den Ausschlag zu geben. So führten El- schüler*innen in den vergangenen 30 Jahren beinahe tern, die 1999 befragt wurden, weshalb sie ihre Kin- verdoppelt hat: Lag die Quote der Privatschüler*innen der auf eine Schule in evangelischer Trägerschaft an- 1992 noch bei knapp fünf Prozent, besucht inzwischen meldeten, als wichtigste Entscheidungsfaktoren den jede*r zehnte Schüler*in eine Privatschule. Deren Be- persönlichen Umgang, die christliche Prägung sowie stand ist von 1992 bis 2018 um 82 Prozent auf 5.839 die dort verfolgten Erziehungsziele an (vgl. Klemm angewachsen (Berger 2019); die Zahl der privaten u. a. 2018: 34). Qualifikationsbasierte Aspekte wie et- Grundschulen hat sich in den letzten 20 Jahren sogar wa «Qualifikation und Berufsvorbereitung», «hohes vervierfacht (Schönherr 2017). Überwiegend lernen Anforderungs- und Leistungsniveau» sowie «aka- Privatschüler*innen hierzulande an kirchlichen Schulen demische Ausrichtung» (ebd.) schienen ihnen we- (insgesamt 1.167 Schulen mit 425.744 Schüler*innen), niger bedeutsam. Eine Studie der Gesellschaft für an Privatschulen in nicht kirchlicher Trägerschaft (410 Erfahrungswissenschaftliche Sozialforschung aus Schulen mit 109.650 Schüler*innen) und an Wal- dem Jahr 2006 bestätigt diese Ergebnisse (vgl. Weiß dorfschulen (221 Schulen mit 83.562 Schüler*innen) 2011: 39). Demnach gab in erster Linie die Schulkul- 14
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