Kontroversen um den Brexit - Sabine Riedel
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1 / 2021 & Sabine Riedel Kontroversen um den Brexit Diskursanalyse, Integrationstheorien und Ordoliberalismus bieten Erkenntnis und Orientierung „Drei große Ausschließungssysteme treffen den Diskurs: Das verbotene Wort, die Ausgrenzung des Wahn- sinns, der Wille zur Wahrheit.“ (Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses, 2.12.1970; dt. 2019: 16). Die Berichterstattung über die (Post-)Brexit-Verhandlungen 2019–2020 ist ein Lehrbeispiel dafür, wie Medien immer stärker gesellschaftliche Diskurse steuern und Einfluss auf politische Entscheidungs- prozesse nehmen, die eigentlich in die Hand des Souveräns gehören, den Staatsbürgern. Die Dis- kursanalyse Foucaults macht mediale Techniken bewusst, um das Nichtgesagte zu erkennen, Dokt- rinen zu hinterfragen und sich ein eigenes Urteil zu bilden. So wird deutlich, dass der Austritt des Vereinigten Königreichs (VK) für die Europäischen Union (EU) mehr bedeutet als der Verlust eines Mitglieds. Es geht um die Deutungshoheit über „Europa“ und darüber, welche Richtung die Europä- ische Integration einschlagen soll. Die Mehrdeutigkeit der Europabewegung hat in diesem Diskurs keinen Platz mehr und das Narrativ eines naturwüchsigen“ Spill-over“ (Neofunktionalismus) von Machtbefugnissen auf Brüssel wird so zur einzigen Wahrheit. Die funktionalistische Theorie, die von einer Kooperation souveräner Staaten ausgeht, soll für die Europapolitik nicht mehr gelten. Wohl deshalb wurde den nationalen Parlamenten vorenthalten, dass Brüssel neben dem Handelsvertrag, noch weitere Abkommen mit dem VK abgeschlossen hat, u.a. zur friedlichen Nutzung der Kernener- gie. Schließlich kann der Ansatz des Ordoliberalismus den Dissens der Verhandlungen erklären: Die EU-Verhandlungsführer stellen die Souveränität des Binnenmarktes über die von Staaten. Der endgültige Austritt des Vereinigten König- Bündnis- und Handelspartnern nicht etwa Kon- reichs (VK) aus der Europäischen Union (EU) kurrenten, sondern politische Gegner oder Fein- zum Jahresbeginn 2021 hatte nochmals heftige de werden, könnte sich der Brexit als Vorbote für Kontroversen ausgelöst. Doch die Ungewissheit eine ganze Reihe innereuropäischer Konflikte er- darüber, ob sich beide Seiten bis zum Ende der weisen. Sie werden statt der angestrebten In- Übergangsfrist auf Nachfolge-Abkommen einigen tegration weitere Desintegrationsprozesse auf re- werden, lag vor allem an der mangelnden Trans- gionaler, inner-staatlicher und supranationaler parenz der Verhandlungsführung. Hinzu kam Ebene auslösen. eine Berichterstattung, die offenbar in Ermange- Die nachfolgende Analyse möchte verschie- lung konkreter Informationen die strittigen The- dene Methoden vorstellen, mit denen die jüngs- men wie Fischereirechte, EU-Standards und der ten Entwicklungen zum Thema Brexit aufgearbei- Status Nordirlands nur lückenhaft oder gar falsch tet werden können. Dabei erhebt dieser Beitrag wiedergab. Deshalb können sich glaubwürdige nicht etwa den Anspruch, ein ausgereiftes For- Analysen hierzu nicht auf eine Prüfung der Fak- schungsdesign vorzulegen. Er möchte aber ver- ten allein beschränken. schiedene Anstöße für tiefergehende und weiter- Aus wissenschaftlicher Perspektive betrachtet führende Analysen geben, um dem Anspruch ei- sind der Brexit und die Verhandlungen über nach- ner pluralistischen Wissenschaft gerecht zu wer- folgende Abkommen ein Lehrstück dafür, wie den. Zur Überprüfung der bereits erwähnten In- leicht sich durch die Weitergabe bestimmter Infor- formationslücken bietet sich zunächst die Dis- mationen Meinungsbilder erzeugen lassen. Doch kursanalyse an. Sie geht auf den französischen wenn sie bewirken sollen, dass aus langjährigen Philosophen Michel Foucault zurück und wurde 2021 Jan 18 Prof. Dr. Sabine Riedel, apl. Professorin für Politikwissenschaft, Universität Magdeburg, Wissenschaftlerin an der Stiftung Wissenschaft und Politik, sabine.riedel@swp-berlin.org
Sabine Riedel: Kontroversen um den Brexit seit den 1970er Jahren von Sozialwissenschaft- Entwicklungen. Eines von vielen interessanten lern unterschiedlicher Schulen weiterentwickelt Modellen ist aus Sicht der Autorin die Interdepen- (Traue, Pfahl, Schürmann 2014: 566f.). denz der Ordnungen. Es wird in der Fachliteratur Einen theoretischen Zugang, der sich bei die- auch als Ordoliberalismus bezeichnet und ist sem Thema geradezu aufdrängt, bieten die Integ- mit dem deutschen Ökonomen Walter Eucken rationstheorien, die von US-amerikanischen For- verbunden (eucken.de). Dieser gilt als Vordenker schern entwickelt wurden. Die Ansätze werden der sozialen Marktwirtschaft in Deutschland nach nicht ohne Grund stets im Plural genannt (bpb.de dem Zweiten Weltkrieg (kas.de, 2021). Sein Mo- 2020), stehen dahinter doch ganz unterschiedli- dell wurde anfangs von neoliberalen Lehrmeinun- che Thesen zum Verlauf und zur Zielsetzung von gen und schließlich vom Monetarismus ver- Integrationsprozessen. Der größte Dissens be- drängt, einer Theorie, der zufolge die Steuerung steht in der Einschätzung, ob es bei Integrations- der Geldmenge den entscheidenden Einfluss auf prozessen zu Spill-over-Effekten kommt, die eine das Wirtschaftsleben hat. Staatswerdung anstoßen. Während der Funktio- Abbildung 1 dient der Orientierung und Einord- nalismus (bzw. Intergouvernementalismus) dies nung von Theorieangeboten aus den Sozialwis- verneint, ist der Neofunktionalismus normativ senschaften. Für dieses metatheoretischen An- ausgerichtet. Er geht davon aus, dass sich z.B. satzraster (MT-Ansatzraster) wurden die bekann- die Europäische Union allmählich in einen supra- testen ausgesucht und danach platziert, welchen nationalen Staat verwandelt. Der Brexit bietet vor Grad an Komplexität sie zur Erklärung von Wirk- allem Politikwissenschaftlern eine gute Gelegen- lichkeit bieten. Dabei fällt auf, dass ältere Theo- heit, diese Ansätze nochmals auf ihren Erklä- rien aus dem 19. Jahrhundert ökonomische, so- rungsgehalt hin zu prüfen. zial-kulturelle wie auch politische Phänomene Diese Prozesse finden nicht isoliert in Europa nicht getrennt voneinander betrachten. Dagegen statt, sondern im Kontext globaler ökonomischer war das 20. Jahrhundert die Zeit der Ausdifferen- Abbildung 1 Quelle: Eigene Zusammenstellung. Dieses MT-Ansatzraster bietet einen Überblick über ausgewählte theoretische Ansätze in den Sozialwis- senschaften und zeigt de- ren Wechselwirkungen. Komplexe Ansätze, die ökonomische, politische wie auch kulturelle , d.h. gesellschaftliche Faktoren berücksichtigen, wurden im Zentrum des Schaubilds platziert, während fachlich weiter ausdifferenzierte Theorien in den Randbe- reich gesetzt wurden. Vgl. am Ende des Artikels ein Fazit zu den farbig markierten Theoriean- sätze in Anwendung auf dieses Thema. Weitere Fallbeispiele siehe unter: culture-politics.international 2 FORSCHUNGSHORIZONTE POLITIK & KULTUR 1 / 2021
Sabine Riedel: Kontroversen um den Brexit zierung von neuen Wissens- und Forschungsge- dung zwischen wahr und falsch und die „Unter- bieten, wie z.B. die der Politikwissenschaft. Heute scheidung zwischen Wahnsinn und Vernunft“ geht der Trend eindeutig zurück zum interdiszip- (Foucault 1970: 11 f.). Im Gegensatz zum offenen linären Denken und Handeln, nicht nur weil diese Verbot bzw. zur Tabuisierung ziehen diese bei- Methode tiefere Einblicke in gesellschaftliche Zu- den Instrumente eine unsichtbare Grenze, um un- sammenhänge verspricht, sondern auch Unter- willkommene Aspekte aus dem Diskurs auszu- nehmen ohne sie nicht innovativ sein können. schließen. Sie wurden von führenden deutschen Medien gegen den neuen britischen Premiermi- 1. Die Diskursanalyse untersucht Regeln nister Boris Johnson eingesetzt, um offenbar die zur Teilnahme, Kontrolle und Steuerung Seitdem Foucaults Diskursanalyse in Deutsch- land bzw. im deutschsprachigen Raum rezipiert wird, haben Sozialwissenschaftler diesen theore- Abbildung 2 tischen Ansatz an ihre jeweilige Teildisziplin an- gepasst und weiterentwickelt (Keller u.a. 2011). Hausmitteilung zum Spiegel-Cover Obwohl sich alle Autoren auf Michel Foucault be- „Mad in England“ vom 17.7.2019 rufen, so entfernten sich dabei nicht wenige von dessen ursprünglichen Kernpunkten. Die einen Als sich Jörg Schindler, Großbritannienkorrespon- dent, erstmals intensiver mit Boris Johnson befasste, betrachten die Diskursanalyse heute als ein nütz- stand ihm dieser in Unterhosen gegenüber. Es war liches Set an Methoden der empirischen Sozial- auf dem Fringe-Festival in Edinburgh, 2017, wo sich forschung zur Inhaltsanalyse von Debatten (Diaz- die Besucher des „Brexit-Musicals“ köstlich über diese Witzfigur der britischen Politik amüsierten, die Bone 2006). Andere wiederum verwenden sie als ihre beste Zeit hinter sich zu haben schien. Johnson, „politisches Konzept“, um Diskurse nicht nur kri- damals immerhin Außenminister, taugte noch als tisch zu hinterfragen, sondern selbst zu initiieren menschlicher Wackeldackel und Spielzeugpuppe für Hunde. Seine Tory-Kollegen im Parlament rollten mit und auf deren Verlauf Einfluss zu nehmen (Jä- den Augen, wenn Schindler sie auf Johnson an- ger/Jäger 2007: 37). Angesichts dieser Vielfalt an sprach, und antworteten auf die Frage, wer nach The- Interpretationen erscheint es sinnvoll, zum Origi- resa May Premierminister werden würde: „Anyone but Boris.“ Nächste Woche nun wird ebenjener Boris nal zurückzukehren und die wesentlichen Ele- sehr wahrscheinlich in 10 Downing Street einziehen. mente der Diskursanalyse Foucaults in diesem „Die Konservativen sind über den Brexit so verzwei- thematischen Rahmen vorzustellen. felt, dass sie einen Harlekin zum Heiland verklären“, sagt Schindler. Für das SPIEGEL-Cover wurde ein Als Strukturalist interessiert sich Foucault für Porträt von Johnson verfremdet, angelehnt an Alfred die „Ordnung des Diskurses“, die durch „Proze- E. Neumann, die Titelfigur der Satirezeitschrift „Mad“. duren“ bzw. Verfahren konstituiert wird (Foucault 1970: 11): Kurz dargestellt unterschiedet der Au- Deutschlandfunk, 22.7.2019: „Boris Johnson. tor zwischen den äußeren Kontrollverfahren, die Politiker, Journalist, Märchenonkel“ über das Aufkommen von Diskursen entschei- den, den inneren Verfahren zur Steuerung von In- […] Das Gesicht von Alfred E. Neumann, dem Titel- halten bzw. deren Interpretationen und schließ- helden der Satirezeitschrift MAD, ist ein weltweites Symbol für grenzenlose Dummheit. In genau dieses lich den Verfahren zur Regelung des Zugangs zu Gesicht hat das deutsche Nachrichtenmagazin „Der Diskursen und damit zur Begrenzung der beteilig- Spiegel“ in dieser Woche Boris Johnson gewandelt. ten Akteure. Alle drei Verfahrensklassen zeigen Dem wahrscheinlich künftigen britischen Premiermi- nister dürfte das wohl nur ein müdes Lächeln bereitet sich in verschiedenen Ausprägungen, von den im haben. Johnson ist wenig schmeichelhafte Vergleiche Folgenden einige herausgegriffen und auf die gewohnt, er wurde schon „Pinocchio“, „Baron von Brexit-Verhandlungen angewandt werden. Dabei Münchhausen“ oder „Serial Liar“ genannt. […] beschränkt sich diese Analyse auf Diskurse in Die Grenze von „Märchen und Wahrheit“ sei oft über- deutschsprachigen Medien unter der Fragestel- schritten worden, findet auch Michael Stabenow von der FAZ. Manche Geschichten hätten ein „Körnchen lung, wie der Diskurs über die Austrittsverhand- Wahrheit“ enthalten, wie die, die EU wolle Kondom- lungen auf Seiten der EU und deren Mitgliedstaa- größen europaweit standardisieren. Andere seien ten geführt wurde. „absolute Erfindungen“ gewesen. Mit dieser Art von Journalismus sei er für die britische Presse nicht stil- Foucaults theoretischer Ansatz erweist sich bildend gewesen, habe das Ganze aber perfektio- bereits in Bezug auf die äußeren Kontrollmecha- niert. „Mir kam er vor wie ein Autist, der an sich selbst nismen als sehr hilfreich, um den Diskursverlauf und seine Stories dachte.“ […] der Jahre 2019-2020 nachzuvollziehen. Interes- Quellen: Der Spiegel, 19.7.2019 und 20.7.2020; sant sind in diesem Zusammenhang zwei Grenz- Deutschlandfunk, 22.7.2019 ziehungen, die ein wichtiges Instrument zur Dis- [Hervorhebung blau: S.R.]. kurskontrolle darstellen, nämlich die Unterschei- 3 FORSCHUNGSHORIZONTE POLITIK & KULTUR 1 / 2021
Sabine Riedel: Kontroversen um den Brexit Gründe für das Scheitern seiner Vorgängerin Machtwechsel ankündigte (zeit.de, 18.3.2019), Theresa May aus den Schlagzeilen zu bringen. berichteten Journalisten des Nachrichtenmaga- Die deutsche Presse diskutierte daraufhin kaum zins Der Spiegel aus dem britischen Parlament: noch die Frage, warum sie im Herbst 2018 gegen „Es gibt hier Anzeichen mentaler Krankheit." (Der ihre ursprüngliche Verhandlungsposition einen Spiegel, 12.4.2019) Über den Tory-Wahlkämpfer Kompromiss mit der EU eingegangen ist, der Rupert Matthews hieß es: „Er glaubt an Aliens, letztlich im VK scheiterte (Riedel 6/2019: 4, Rie- Geister und den Brexit.“ (Der Spiegel, 17.5.2019) del 7/2020: 3). Als sich Boris Johnson als möglicher Nachfolger Schon während sich nach Mays dritter Abstim- Mays ankündigte, widmete ihm der Spiegel kurz mungsniederlage im britischen Parlament ein vor seiner Ernennung zum neuen Premierminis- ter (24.7.2019) eine ganze Ausgabe unter dem Titel „Mad in England“ – „Verrückt in England“ mit Abbildung 3 seinem verfremdeten Portrait in Anlehnung an die Titelfigur der Satirezeitschrift „Mad“ (Der Spiegel, 20.7.2019). Darin wurde er medial als „Harlekin“, Die Tagesschau, 23.7.2019: „Boris Johnson. als „Witzfigur der britischen Politik“ und als „Poli- Der großspurige Unruhestifter“ tischer Illusionskünster“ eingestuft (vgl. in Abbil- dung 2). Dieses Bild sollte offenbar einem breiten Lange Zeit trauten viele Tories Johnson kein wichti- Leserspektrum vermittelt werden, vgl. weitere ges Amt zu. Mit der Wahrheit nahm er es nie so ge- nau, er galt als Leichtfuß und Großmaul und ließ kein Schlagzeilen wie: „Politiker, Journalist, Märchen- Fettnäpfchen aus. Jetzt wird er Premierminister. […] onkel“ und „Autist“ (Deutschlandfunk, 22.7.2019, Lügen und Fettnäpfchen vgl. in Abbildung 2), „Ein Irrer oder ein Genie?“ Johnson hat es mit der Wahrheit nie so genau ge- (Gala, 23.7.2019), „Rüpel, Irrer, ‚Sextator‘ – oder nommen. Als junger Korrespondent der "Times" in doch ein Genie?“ (rtl.de, 25.7.2019), „So verrückt Brüssel schüttete er regelmäßig Gift und Galle über der EU-Bürokratie aus. Die Zeitung schmiss ihn dann ist der britische Premier“ (news.at, 30.8.2019) allerdings raus, weil viele Zitate, mit denen er seine oder „Größenwahnsinniger Irrer oder irrer Grö- Artikel aufpeppte, frei erfunden waren. Vor dem Refe- ßenwahnsinniger?“ (PamS. 8.9.2019) rendum versprach die Aufschrift auf dem roten Bus, mit dem Johnson durchs Land fuhr, man könne 350 Jene Medien, die sich schneller auf die neuen Millionen Pfund pro Woche durch den Austritt aus der Machtverhältnisse im VK eingestellt haben, ver- EU sparen und stattdessen in britische Krankenhäu- wenden seither ein anderes Narrativ. Sie verorten ser investieren. Die Zahl stimmte nicht.“ […] den „geisteskranken Profilneurotiker“ „irgendwo Cicero, 26.7.2019: zwischen einer Pathologie und einer Straßenräu- „Boris Johnson. ber-Mentalität“ (eurojournalist.eu, 26.6.2019). Großbritanniens Mogelpackung“ Boris Johnson ist für sie also weniger ein bemit- […] Man kann die Meinung und Aussagen der vielen leidenswerter „Wahnsinniger“ als vielmehr „ein kritischen Stimmen gegenüber Boris Johnson nicht ungehobelter Schwindler“, der „trotz aller Fehl- einfach wegwischen. Die Fakten, die Johnson so tritte und Lügen immer wieder befördert wurde“ gerne verdreht, sind eindeutig: Er ist ein ungehobelter Schwindler. Wie also konnte es möglich sein, dass (Cicero, 26.7.2019). Nach der Diskursanalyse dieser Mann trotz aller Fehltritte und Lügen immer Foucaults wird hier ein Ausschließungsverfahren wieder befördert wurde? Wie konnte er sogar zum entlang des „Gegensatzes zwischen dem Wah- mächtigsten Mann Großbritanniens werden? Wieso ist Johnson von weiten Teilen der britischen Bevölke- ren und dem Falschen“ angewendet (Foucault rung so sehr ins Herz geschlossen worden? […] 1970: 13). In diesem Sinne weiß auch der ARD- Die Londoner liebten ihn in seiner Zeit als Bürger- Korrespondent in London zu berichten: „[…], er meister, weil er in Funk und Fernsehen stets erfri- galt als Leichtfuß und Großmaul und ließ kein schende Statements zum Besten gab. Oder wegen der „Boris Bikes“, Leihfahrräder, die man sich an je- Fettnäpfchen aus. […] Johnson hat es mit der der Ecke borgen konnte. Sie lieben ihn, weil er in der Wahrheit nie so genau genommen.“ (tagesschau. Auto-Show Top Gear mit Kult-Moderator Jeremy de, 23.7.2019, vgl. in Abbildung 3) Der Spiegel Clarkson feixt und witzige Antworten gibt. Seine Di- rektheit, seine Ruppigkeit, sein Charme, seine Wu- blieb auch weiterhin bei seinem dezidiert schar- schelhaare, all das sind die Geschenke für Boris fen Ton und titelte: „König der Zocker“ (Der Spie- Johnson. Er versteckt seine Inkompetenz hinter ei- gel, 7.9.2019) oder „Der Erpresser“ (Der Spiegel, nem Schleier aus großen Gesten und noch größeren Worten. Wenn Boris Johnson spricht, scheint er an 2.10.2019). einem Baum zu rütteln, und der zuvor narkotisierte Das Bild eines erfolgreichen „Zockers“ deutete Zuhörer fällt herab. […] darauf hin, dass Brüssel einen Erfolg Johnsons Quellen: tagesschau.de, 23.7.2019, Cicero, bei den Neuverhandlungen befürchtete. Die Dis- 26.7.2019 [Hervorhebung blau: S.R.]. kreditierung seiner Person diente offenbar der Er- klärung für ein mögliches Scheitern der Post-Bre- 4 FORSCHUNGSHORIZONTE POLITIK & KULTUR 1 / 2021
Sabine Riedel: Kontroversen um den Brexit xit-Verhandlungen. Der Artikel mutmaßte, dass Jahres 2020 aus dem Blickwinkel der Dis- dessen Kompromissangebot „der EU aber prak- kursanalyse fortgesetzt. Erst dann ergibt sich ein tisch keine andere Wahl lässt, als es abzulehnen. Gesamtbild, das einen sinnvollen Vergleich der Manche in London glauben: Genau das ist es, Theorieangebote und einen Blick auf die Zukunft worauf Johnson es anlegt“. (a.a.O.) Das Bild des Europas bzw. der EU erlaubt. Das emotional an- „Erpressers“ wird wie in einem Hollywood-Dreh- gespannte wie inhaltlich komplexe Thema soll da- buch phantasievoll ausgeschmückt: Erst kurz vor mit auf eine sachliche Grundlage gestellt werden. der Wiederaufnahme der beidseitigen Gespräche Erst dieser Schritt erlaubt Einschätzungen dar- Anfang Oktober 2019 „sickerten Johnsons Pläne über, ob die Europäische Integration ihre, wie durch, und diese erwischten die EU-Verhand- auch immer gesteckten Ziele erreichen kann oder lungsführer offenbar kalt“, so dass ein „zweiwö- möglicherweise das Gegenteil bewirkt. chiger Showdown“ bevorstehe (a.a.O.). Die Steuerung der öffentlichen Diskurse über Die öffentlich-rechtlichen Medien hielten sich die Brexit-Verhandlungen setzte sich mit dem eher an Tatsachen und berichteten, dass schon Austritt des VK zum 31.1.2020 fort. In der darauf- Wochen zuvor Alternativen zum umstrittenen folgenden 11-monatigen Übergangsphase ka- Sonderstatus (Backstop) für Nordirland vorlagen. men – von Foucaults Ansatz aus betrachtet – wei- Die ARD informierte: „Nun deutet sich eine Lö- tere Kontrollverfahren zum Einsatz. Das wohl sung für den Streitpunkt an. Neu ist die allerdings wichtigste Instrument zur Steuerung von Diskurs- nicht.“ (tagesschau.de, 13.9.2019) Der Kernpunkt inhalten ist der „Kommentar“ (Foucault 1970: 18). des Streits wird ebenso sachgemäß geschildert: Er kann sich in den Vordergrund drängen und da- Der Austritt des VK aus dem EU-Binnenmarkt mit an Authentizität gewinnen, d.h. den Anschein macht Kontrollen zwischen Irland und Nordirland von Echtheit und Vertrauenswürdigkeit wecken. notwendig. Aus der Sicht Brüssels hätte der Dabei werden nicht nur andere Interpretationen Backstop dies vermieden und den Frieden in marginalisiert, sondern unter Umständen auch Nordirland erhalten, aus der Sicht Londons dage- der ursprüngliche Text vollständig ersetzt. gen eine „neue Handelsgrenze zwischen Nordir- Beispiel hierfür ist die Berichterstattung nach land und Großbritannien“ geschaffen (a.a.O.). der Unterzeichnung des Brexit-Abkommens am Was selbst solche sachlichen Berichte ausblen- 24.1.2020. Wie erklärten die deutschsprachigen deten, war die Mitverantwortung der EU für das Medien ihrer Leserschaft den erzielten Kompro- Scheitern des ersten Vertragsentwurfs. Die briti- miss, insbesondere den Wegfall der umstrittenen sche Premierministerin Theresa May hatte sich Backstop-Regel? Zur Erinnerung: Danach sollte Anfang 2019 an EU-Politiker gewandt und sie um für eine Übergangszeit von mindestens 1,5 Jah- eine Garantieerklärung gebeten. Diese sollten Ar- ren a) Nordirland im EU-Binnenmarkt bleiben, gumente entkräften, dass der Brexit-Vertrag vom während der Rest des VK ihn verlässt, und b) das 14.11.2018 Nordirland noch längere Zeit im EU- gesamte VK eine neue Zollunion mit der EU bil- Binnenmarkt halten und auf diesem Wege auch den, unter Wahrung der EU-Standards (Riedel politisch aus dem VK herauslösen könne (Legal 6/2019: 3). Das hätte aus Sicht Londons eben advice, 5.12.2018). Doch aus der EU kam keine nicht die Wiederherstellung seiner vollen Souve- Antwort (Riedel 2/2019: 2). Hätte Brüssel mit ei- ränität bedeutet, weil es die Möglichkeit von Ver- nem kurzen Statement Klarheit geschaffen, wäre trägen mit weiteren Staaten verhindert hätte. der Vertrag mit großer Wahrscheinlichkeit durchs Die Wirtschaftswoche, „Deutschlands führen- britische Parlament gekommen. So aber schlos- des Wirtschaftsmagazin“, kommentierte sachge- sen sich allmählich die Reihen der Skeptiker im mäß, dass am 17.10.2019 eine Kompromiss-Re- VK, was sich in einem historischen Wahlerfolg für gelung gefunden wurde: „Mays Nachfolger ist es Boris Johnsons nach dem Vertragsabschluss am gelungen, den ungeliebten Backstop-Mechanis- 12.11.2019 niederschlug. Damit hatte die EU im mus aus dem Abkommen zu entfernen.“ (wi- Zuge der Neuverhandlungen sogar politisches wo.de, 17.10.2019). Im Vertragstext selbst, d.h. Terrain verloren: Die umstrittene Backstop-Regel im Protokoll zu Irland/Nordirland, schlug sich das wurde gestrichen. explizit in zwei Artikeln nieder. In Artikel 4 heißt es: „Nordirland ist Teil des Zollgebiets des Verei- 2. Funktionalismus – Neofunktionalismus: nigten Königreichs.“ Das Zusatzprotokoll hielt zu- Konkurrierende Integrationskonzepte für dem fest, dass das VK nicht daran gehindert wer- Europa seit 1945 den kann, „Nordirland in den räumlichen Gel- Bevor wir den Nutzen integrationstheoretischer tungsbereich etwaiger Übereinkünfte einzubezie- Ansätze am Beispiel des Brexits erörtern, wird zu- hen, die das Vereinigte Königreich mit Drittlän- nächst die Schilderung der Entwicklungen des dern schließt, […]“ (Brexit-Vertrag 2019-I: 94). 5 FORSCHUNGSHORIZONTE POLITIK & KULTUR 1 / 2021
Sabine Riedel: Kontroversen um den Brexit Der Artikel 6 zum „Schutz des Binnenmarkts des Themen wieder auf die Agenda gesetzt wurden, Vereinigten Königreich“ führt aus, „dass Nordir- die Boris Johnson „wegverhandelt“ hatte, nämlich land wesentlicher Bestandteil des Binnenmarkts Backstop und EU-Standards. Dies geschah nicht des Vereinigten Königreichs ist, […]“ (a.a.O.: 96). in Hinterzimmern, sondern in medial aufbereite- Als Gegenleistung für diese Anerkennung seiner ten Statements. So verteidigte EU-Chef-Unter- vollen staatlichen Souveränität akzeptierte das händler Michel Barnier seine Position selbstbe- VK EU-Standards in Nordirland für eine Über- wusst: „Die britische Regierung weigert sich bis- gangszeit. Die offene Frage, wo und wie notwen- her, Sozial-, Umwelt- und Verbraucherstandards dig werdende Kontrollen durchzuführen sind, hat der EU im Gegenzug für einen weitgehend unge- der Vertragstext ausgeklammert und dem Aus- hinderten Zugang zum europäischen Binnen- schuss zum Nordirlandprotokoll übergeben, ei- markt zu akzeptieren.“ (zeit.de, 5.6.2020) Die bri- nem von insgesamt sechs Fachausschüssen tische Seite versuchte medial gegenzusteuern. In (vgl. Artikel 165, a.a.O.: 83; Riedel 7/2020: 7, einem offenen Brief wandte sich der britische Meetings, EU-UK J&SC). Chef-Unterhändler David Frost an seinen EU- Trotz dieser klar formulierten Textpassagen Amtskollegen mit den Worten: „Wir wollen nicht hielten einige Journalisten in ihren Kommentaren Teil des Binnenmarktes oder der Zollunion blei- an der Backstop-Regel fest. So hieß es etwa in ben, da dies unseres Erachtens nicht im Interes- einer Ausgabe der Frankfurter Allgemeinen Zei- se des Vereinigten Königreichs liegt.“ (gov.uk, tung (FAZ) im Spätsommer 2020 rückblickend: 19.5.2020). Weiter heißt es in dem auch auf „Im Oktober [2019, S.R.] wurde dann auf John- Deutsch verfassten Schreiben, „dass unser Ziel sons Bestreben eine neue Lösung gefunden: ein Paket von Abkommen ist, dessen Kernstück Nordirland bleibt zu wesentlichen Teilen im EU- ein Freihandelsabkommen bildet.“ Diese Informa- Binnenmarkt, ist aber auch Teil des britischen tion wurde von der deutschen Presse völlig igno- Zollgebiets.“ (FAZ, 10.9.2020). Diese Meldung riert und aus dem Diskurs ausgeschlossen. war kein Einzelfall, wie ein Kommentar des Weil auch die Arbeit im gemeinsamen Fach- Deutschlandfunks kurz vor dem Abschluss des ausschuss zum Irland/Nordirland-Protokoll ins neuen Handelsabkommens zeigt: „Doch nach ih- Stocken geriet und ein Abbruch der Verhandlun- rem [Theresa Mays, S.R.] Scheitern und Sturz gen drohte, brachte London Ende Mai 2020 ein über-nahm Boris Johnson die britische Führung Binnenmarktgesetz auf den Weg, das Nordirland und unterschrieb ein Scheidungsabkommen, das in den zukünftigen Handel innerhalb des VK fest die britische Provinz Nordirland im Europäischen einbinden sollte. Es gab der Regierung die Befug- Binnenmarkt und in der Zollunion beließ.“ nis, im Falle eines Scheiterns der Gespräche ei- (Deutschlandfunk, 30.12.2020) nige Vorschriften des Nordirland-Protokolls aus- Nicht nur Pressevertreter, auch die EU-Ver- zusetzen und staatliche Beihilfen für nordirische handlungsführer waren mit ihren Kommentaren Unternehmen zuzulassen (Briefing Paper, zum Brexit-Vertrag äußerst kreativ. Sie ließen 23.12.2020). Deutschsprachige Medien sprachen Fehlinterpretationen zu, die in der Übergangszeit bereits von einem Rechtsbruch (tagesschau.de, zwischen dem 1.2. und 31.12.2020 die Verhand- 21.9.2020), ohne jedoch die Mitverantwortung lungen über Nachfolgeabkommen erschwerten. der EU zu thematisieren. Im Gegenteil boten sie Hatten sich beide Seiten in ihrer Politischen Er- Michel Barnier ein Forum, um einen möglichen klärung auf „hohe Standards für freien und fairen Abbruch der Vertragshandlungen zu rechtferti- Handel und Arbeitnehmerrechte, den Verbrau- gen: „Wer will schon ein Handelsabkommen mit cher- und den Umweltschutz“ geeinigt, (Brexit- einem Land abschließen, das internationale Ver- Vertrag 2019-II: 178, Punkt 2.) legte die EU die- träge nicht umsetzt?“ (zeit.de, 7.9.2020) So wie- sen normativen Rahmen nachfolgend eigenwillig derholte sich die Inszenierung eines „Showdown“ aus. In den EU-Leitlinien für die Verhandlungen Ende 2019 (Der Spiegel, 2.10.2019) im Folgejahr war plötzlich von Standards die Rede, die „Nor- (sueddeutsche.de, 7.12.2020). Die Verkündung men der EU als Bezugspunkt“ haben sollen, näm- einer Einigung auf ein Handelsabkommen am lich „in den Bereichen staatliche Beihilfen, Wett- 24.12.2020 kam deshalb völlig überraschend. bewerb, staatseigene Unternehmen, Sozial- und Mithilfe der Diskursanalyse konnte herausge- Beschäftigungsstandards, Umweltnormen, Kli- arbeitet werden, dass die Debatten vor allem mawandel, einschlägige Steuerfragen und an- während der Post-Brexit-Verhandlungen wichtige dere Regulierungsmaßnahmen und -praktiken in Informationen ausschlossen, so dass es zu Fehl- diesen Bereichen“ (Directives 25.2.2020). wahrnehmungen und Fehleinschätzungen kom- Die britische Regierung musste also zusehen, men musste. Die Integrationstheorien erklären wie in der ersten Jahreshälfte 2020 jene strittigen darüber hinaus die dahinterliegenden Interessen 6 FORSCHUNGSHORIZONTE POLITIK & KULTUR 1 / 2021
Sabine Riedel: Kontroversen um den Brexit und den entscheidenden Dissens zwischen den schaft nach Kriegsende leisten. Sein funktionalis- beteiligten Akteuren: es geht um Souveränitäts- tisches Konzept sollte den Weg zu einer engeren rechte. Während das VK auf der Wiederherstel- Kooperation auf internationaler Ebene weisen. lung seiner vollen nationalstaatlichen Souveräni- Dabei setzte sein Ansatz jedoch keine Institutio- tät besteht, einschließlich seines Außenhandels, nen auf supranationaler Ebene voraus, die natio- wollte Brüssel so wenig wie möglich davon zu- nale Souveränitätsrechte beschneiden würden. rückgeben. Meinungsverschiedenheiten betref- Mitrany erklärte dies mit dem Argument, dass fen jedoch weniger den Souveränitätsbegriff im eine solche Voraussetzung eine viel zu hohe Allgemeinen, etwa die Frage, ob er in einer glo- Hürde dargestellt hätte, um Staaten für eine Zu- balisierten Welt nicht überholt sei (nzz.ch, sammenarbeit zu gewinnen, die sich zu jener Zeit 18.12.2020). Der Streit um Austrittsmodalitäten noch im Krieg befanden (Mitrany 1943: 99, vgl. und Nachfolgeabkommen zeigt im Gegenteil, Abbildung 4). dass sich gerade heute der Kampf um nationale Wie schon der Begriff Neofunktionalismus an- Souveränitätsrechte zuspitzt. Denn sie stehen für deutet, versteht er sich als eine Weiterentwick- die Kontrolle der Rechtssysteme und ermöglicht lung des früheren, scheinbar „überholten“ Funkti- den Eintritt in die internationale Diplomatie. onalismus. Dieses Narrativ hat über die Jahre Dabei stand vor allem für Brüssel Entschei- Eingang in Lehrbücher und Internet-Plattformen dendes auf dem Spiel: Es musste befürchten, im erhalten (wikipedia, 27.4.2020) und bewirkte, Zuge des Brexits die Deutungshoheit über den dass der neofunktionalistische Ansatz – trotz vie- Charakter und das Ziel der Europäischen Integra- ler anderer Integrationstheorien – bis heute als tion zu verlieren. Diese basiert auf der neofunkti- onalistischen Annahme, dass eine enge staatli- che Zusammenarbeit im Rahmen gemeinsamer Institutionen einen Spill-over-Effekt auslöse. Es Abbildung 4 komme automatisch zu einem „Überschwappen“, zu einer Vertiefung der Integration in Form einer David Mitrany: Souveränitätsübertragung auf die supranationale A World Peace System (1943) Ebene: „Die Grundannahme des Ansatzes ist, Der funktionalistische Ansatz dass der Prozess der Integration Eigendynami- Kann man diesen grundsätzlichen Bedenken Rech- ken entfaltet, die nicht ursprünglich von den mit- nung tragen und die Bedürfnisse des Friedens und gliedstaatlichen Regierungen intendiert, nicht des sozialen Fortschritts auf andere Weise erfüllen, kontrollierbar und nicht rückgängig zu machen indem man die Nationen zu einem gemeinsamen Handeln zusammenbringt? […] Eine Frage, die man sind.“ (Holzinger 2013: 469) Der Ausgang des zu Beginn einer Prüfung der Eignung dieses Ansat- Brexit-Referendums (23.6.2016) hat umso mehr zes für internationale Zwecke stellen könnte, ist die: die Anhänger dieser Schule überrascht: Entge- Können solche Funktionen auf internationaler Ebene ohne einen umfassenden politischen Rahmen organi- gen ihrer Theorie kehrt zum ersten Mal ein Mit- siert werden? Zunächst ist festzuhalten, dass der gliedstaat der EU den Rücken, zudem auf der funktionalistische Ansatz als solcher weder mit einem Grundlage demokratischer Verfahren. Die reale allgemeinen verfassungsrechtlichen Rahmen unver- einbar ist noch dessen Zustandekommen aus- Entwicklung hat die wissenschaftliche These vom schließt. […] Einer der Misserfolge des Völkerbundes Spill-over-Effekt, die mehr als 50 Jahre galt und war, dass eine neue Institution auf der Grundlage von bereits zur politischen Doktrin erstarrt ist, faktisch Prämissen entwickelt wurde, die sich als überholt er- wiesen haben. Wir sollten uns auch daran erinnern, widerlegt. So ist es kein Zufall, dass die etablierte dass von den Verfassungsreformen, die nach dem Europaforschung seitdem über Desintegrations- Ersten Weltkrieg in Europa eingeführt wurden, keine prozesse nachdenkt. Alternative Ansätze, die auch nur eine Generation überlebt hat, so gut und durchdacht sie auch gewesen sein mögen. Wie viel man ignorierte, werden nun wieder aufgegriffen größer wird das Risiko der Erfolglosigkeit in Europa und der wissenschaftliche Diskurs um schillernde nach dem Zweiten Weltkrieg sein, wenn die Spaltung Begriffe wie „Postfunktionalismus“ bereichert innerhalb und zwischen den Nationen viel schlimmer sein wird als 1919? […] Selbst wenn eine Aktion ohne (Desintegration 2016: 207, Schimmelpfennig einen formalen politischen Rahmen bis zu einem ge- 2018: 13). wissen Grad behindert würde, ist es eine Tatsache, Der Hauptkonkurrent des neofunktionalisti- dass kein erkennbares Interesse für eine gemein- same verfassungsrechtliche Verankerung besteht schen Ansatzes bleibt bis heute der um 15 Jahre und sich wahrscheinlich auch in den kommenden ältere Funktionalismus, den der britische Histori- Jahren keines herauskristallisieren wird. ker David Mitrany noch während des Zweiten Quelle: David Mitrany, A World Peace System, 1943, Weltkriegs entwickelt hatte. Er wollte damit einen Reprinted, Quadrangle Books, Chicago 1966, S. 93- wissenschaftlichen Beitrag für einen raschen 113, insb. 99. [Übersetzung und Hervorhebung blau: S.R.]. Wiederaufbau von Wirtschaft, Politik und Gesell- 7 FORSCHUNGSHORIZONTE POLITIK & KULTUR 1 / 2021
Sabine Riedel: Kontroversen um den Brexit ausgereift und nahezu unangreifbar gilt. Gegen mus. Diese Schule geht auf den deutschen Öko- die namentliche Vereinnahmung seiner Theorie nom Walter Eucken zurück und basiert auf der hatte sich vor allem Mitrany als Begründer des Annahme einer engen Verflechtung von Wirt- Funktionalismus stets zur Wehr gesetzt und dafür schaft und Politik. Der Autor hat seine zentrale wissenschaftliche Argumente vorgetragen. Er be- These wie folgt auf den Punkt gebracht: „Wie die tonte stets den wichtigen Unterschied seiner The- Wirtschaftspolitik eines aktionsfähigen Staates orie zum neofunktionalistischen Ansatz: Zwi- bedarf, so bedarf es einer bestimmten Wirt- schenstaatliche Kooperation erfordern keine Ab- schaftsordnungspolitik, um den Staat aktionsfä- tretung staatlicher Souveränität. Seine Anhänger hig zu machen.“ (Eucken 1959: 188, vgl. ausführ- finden sich heute in der Schule des (liberalen) In- licher in Abbildung 5) Aus dieser „Interdependenz tergouvernementalismus wieder, demzufolge die der Ordnungen“ stellt sich für Eucken die Frage, Nationalstaaten die eigentlichen Akteure der in- auf welchen Prinzipien eine Wirtschaftspolitik be- ternationalen Politik sind und auf absehbare Zeit ruhen sollte, „damit ein unabhängiger Staat ent- auch bleiben werden (bpb.de, Integration). steht, der selbst eine ordnende Potenz werden kann?“ (a.a.O.). Kurz zusammengefasst nennt er 3. Ordoliberalismus: Die Interdependenz zwei Grundsätze: Aufgabe der Wirtschaftspolitik von Staats- und Wirtschaftsordnung sei zum einen, die Entstehung von wirtschaftli- Die dominante Stellung des neofunktionalisti- chen Machtgruppen, d.h. von privatwirtschaftli- schen Ansatzes in der Europaforschung hat zur chen oder staatlichen Monopolen zu verhindern. Folge, dass die Politikwissenschaft die Leistun- Zum anderen soll sie „Ordnungsformen der Wirt- gen der funktionalistischen Theorie nur in Bezug auf die Internationale Politik würdigt. Seine Be- deutung für die Europäische Integration wird durchgehend vernachlässigt oder wenn, dann nur Abbildung 5 im historischen Kontext berücksichtigt. Den Start- schuss für den Integrationsprozess in Westeu- Walter Eucken: ropa gab nämlich der Europarat, der schon ein Grundsätze der Wirtschaftspolitik, 1959 Jahr nach seiner Konstituierung im Jahre 1949 a) Rechtsstaat die Europäische Menschenrechtskonvention als Die Politik des Laissez-faire ließ – wie sich zeigte – Basisdokument verabschiedet hatte (EMRK, keine Wirtschaftsordnungen entstehen, die dem 4.11.1950): Die 10 Gründungsmitglieder, darun- Rechtsstaat adäquat sind, und zwar deshalb nicht, ter Großbritannien, Frankreich, die Beneluxlän- weil sich bei dieser Wirtschaftspolitik unkontrollierte Monopole oder Teilmonopole bilden können. Wenn der und die Nordischen Staaten, folgten also zu- es auch im 19. Jahrhundert weitgehend gelang, den erst diesem funktionalistischen Ansatz, bevor sie einzelnen gegen die Willkür des Staates zu schützen, nach Lesart des Neofunktionalismus eine Wirt- gelang es doch nicht, die Übergriffe anderer privater in die Freiheitssphäre des Einzelnen zu verhindern. schaftskooperation in Form der Montanunion und Sobald aber eine Politik zentraler Leitung betrieben EURATOM (s.u.) vereinbarten. Die Europäische wird, ist gleichsam die umgekehrte Situation herge- Integration begann also auf politischer Ebene stellt. […] durch ein Bekenntnis zu Demokratie und Recht- In dieser Richtung bedrohen die Wirtschaftsordnun- gen, die aus der Politik zentraler Leitung des Wirt- staatlichkeit, ohne dass eine supranationale Insti- schaftsprozesses entstehen, den Rechtsstaat gleich- tution mit Weisungsrechten geschaffen worden sam von einer anderen Seite. Die eine Bedrohung – wäre. Die einzige Kontrollinstanz ist bis heute der durch Private – mag verschwinden; die andere Be- drohung – durch den Staat selbst – wächst stark an. Europäische Gerichtshof für Menschenrechte […] (EGMR). Dies entspricht ganz dem Rechtstaats- Zentral geleitet Ordnungen der Wirtschaft und freie gedanken und der in demokratischen Systemen Ordnungen des Staates, des Rechts, der Erziehung verankerten Gewaltenteilung. Weil das VK zwar müssen in Konflikt miteinander geraten. Es entsteht eine „Kollision“ der Ordnungen, ein tiefgehender inne- die EU verlassen hat, jedoch Mitglied des Euro- rer Widerspruch. […] Ein wesentlicher Grundsatz wirt- parats bleibt, wäre es politisch geboten, dieser in- schaftspolitischen Handels tritt hervor: Die Ordnungs- tergouvernementalen Institution wieder mehr Auf- prinzipien der Wirtschaft sollten mit den Prinzipien an- derer Ordnungen – z.B. des Staates – von vornherein merksamkeit zu geben und den funktionalisti- abgestimmt sein. Oder anders gefaßt: Es sollten die schen bzw. intergouvernementalistischen Ansatz Versuche unterbleiben „kollidierende“ Ordnungen für die Europaforschung fruchtbar zu machen. zeitgleich zu verwirklichen. […] Es lohnt sich, die Kontroverse zwischen Funk- Quelle: Walter Eucken, Grundsätze der Wirtschafts- tionalismus und Neofunktionalismus von einem politik, Tübingen 1959, weitere Ausgabe 1962, S. 91 weiteren theoretischen Ansatz aus zu betrachten, [Hervorhebung kursiv im Original, blau: S.R.]. nämlich aus der Perspektive des Ordoliberalis- 8 FORSCHUNGSHORIZONTE POLITIK & KULTUR 1 / 2021
Sabine Riedel: Kontroversen um den Brexit schaft“ gestalten und nicht die Wirtschaftspro- Etablierung „regulierter industrieller Großunter- zesse selbst lenken (a.a.O.: 189). nehmen“ mit einem „dauerhaften Einfluss der Ar- Der ordoliberale Ansatz zur Beschreibung des beitnehmer“ (Haas 1958: 292, vgl. ausführlicher Verhältnisses von Politik und Wirtschaft erlaubt Abbildung 6). Auf diese Formel konnten sich of- einen ganz anderen Blick auf die beiden oben be- fenbar konservative, liberale und linke Strömun- sprochenen Integrationstheorien: So ist der Funk- gen verständigen. Als Beispiel hierfür nannte tionalismus Mitranys kompatibel mit Euckens Haas die Gründung von EGKS [Europäische Ge- Grundsätzen zur Wirtschaftspolitik: Der Staat ist meinschaft für Kohle und Stahl bzw. die Montan- für die Wirtschaftsordnung zuständig und muss union in 1951], EWG und EURATOM [Europäi- den Wirtschaftsakteuren Rechtssicherheit bieten. sche Wirtschaftsgemeinschaft und Europäische Folgerichtig liegt es in der Verantwortung der Au- Atomgemeinschaft in 1957]. Diese supranationa- ßenwirtschaftspolitik, über internationale Verträ- len Organe lenkten teils direkt oder indirekt große ge und Abkommen geeignete Rahmenbedingun- Staatsunternehmen, so wie dies in den damali- gen für die heimische Wirtschaft zu schaffen. gen sozialistischen Zentralverwaltungswirtschaf- Hierzu passt ebenso die Arbeit des Europarats ten Osteuropas durchgängig der Fall war. Beson- und dessen Gerichtshof für Menschenrechte als ders in den ersten Jahrzehnten schützen sie die intergouvernementale Institutionen. Sie garantie- Monopolstrukturen im Energiesektor (Kleinwäch- ren den europäischen Bürgern ein hohes Niveau ter 2012: 100). Bis heute verspricht die Europäi- an politischen und sozialen Rechten (vgl. hierzu sche Kommission den Verbrauchern faire Wett- ausführlicher: Riedel 10/2019: 7). bewerbsbedingungen, gesteht jedoch zugleich Anders sind dagegen der Neofunktionalismus und davon abgeleitete Lehren einzuschätzen. Sie beantworten die Frage nach der Rolle des Staa- tes in Wirtschaft und Gesellschaft völlig anders: Abbildung 6 Während Mitrany und Eucken diesem eine große Verantwortung zumessen, plädiert Ernst B. Haas Ernst B. Haas: für eine Beschränkung der staatlichen Souveräni- The Uniting of Europe, 1958 tät. Dies sei die Konsequenz aus dem Zweiten Der „Spill-over“ und politische Erwartungen Weltkrieg, in dem ein totalitäres Regime seine un- Nur der überzeugte „Europäer" hatte 1950 langfristig beschränkte Machtfülle missbraucht hatte. So be- positive Erwartungen in Bezug auf die EGKS [Euro- hauptet der Begründer der neofunktionalistischen päische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, S.R.], und unter den Eliten, die direkt mit Kohle und Stahl be- Theorie bereits in seinem viel zitierten Buch „The fasst waren, gab es nur wenige solcher Personen. Uniting of Europe“, dass die Europäische Bewe- Die äußerst bedeutsame Entwicklung solcher Erwar- gung nach 1945, die sich aus unterschiedlichen tungen bei der Masse der EGKS-Arbeiterführer, so- wohl bei den Sozialisten als auch bei den Christen, ist ideologischen Strömungen zusammensetzte, in einer der deutlichsten Hinweise auf die Rolle einer vier Punkten übereinstimmte, darunter: „(4) Die kombinierten Ideologie der sozialen Wohlfahrt und nationale Souveränität muss soweit erforderlich der Wirtschaftsdemokratie, die ihre Verwirklichung im Rahmen neuer zentraler Institutionen sucht. Diese eingeschränkt werden, um die Ziele der sozialen Gruppen sowie die mit ihnen verbundenen sozialisti- und wirtschaftlichen Verbesserung zu erreichen.“ schen und linken Kreise der christlich-demokrati- (Haas 1958: 27). Als Quelle nennt er den Haager schen Parteien stehen nun an der Spitze einer ver- tieften Integration durch die EGKS sowie in Form von Europa-Kongress aus dem Jahre 1948, was einer Euratom und dem Gemeinsamen Binnenmarkt, weil Prüfung aber nicht standhält. Dieser Kongress sie in supranationalen Regeln und Organen das In- war sicher die Initialzündung für die Europäische strument sehen, um regulierte industrielle Großunter- nehmen zu etablieren, die die Entwicklung eines dau- Integration, doch die Forderung nach Einschrän- erhaften Einflusses der Arbeitnehmer auf die Indust- kung der nationalen Souveränität konnte sich rie ermöglicht. So kam es tatsächlich zu einem „spill- nicht durchsetzen. Dagegen einigten sich eben over" auf neue wirtschaftliche und politische Bereiche in Form von Erwartungen, die sich allein in den natio- diese Kongressteilnehmer auf die Gründung des nalen Kontexten der beteiligten Eliten entwickelten. Europarats als intergouvernementale Institution, Doch diese Erwartungen wurden durch supranatio- was als Erfolg des funktionalistischen Ansatzes nale Regelungen verstärkt, nicht nur, weil von der Ho- hen Behörde Maßnahmen gefordert wurden, sondern gesehen werden muss. weil eine kontinuierliche gemeinsame Lobbyarbeit mit Dennoch bietet Ernst B. Haas mit seiner Ana- den Gewerkschaftsführern anderer Länder notwendig lyse zu den Anfängen der Europabewegung wert- und möglich wurde. […] volle Informationen über die Erwartungen jener Quelle: Ernst B. Hass, The Uniting of Europe. Politi- Kreise, die sich trotz ihrer ideologischen Gegen- cal, Social, and Economic Forces 1950-1957, Notre gesätze für supranationale Organe mit Entschei- Dame, Indiana, USA 1958, S. 291 [Übersetzung und Hervorhebung blau: S.R.]. dungskompetenzen aussprachen. Ihr Ziel war die 9 FORSCHUNGSHORIZONTE POLITIK & KULTUR 1 / 2021
Sabine Riedel: Kontroversen um den Brexit ein, dass „Verkehr, Energie, Post und Telekom- über die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der munikation, […] bislang vielfach in der Hand friedlichen Nutzung der Kernenergie. Dieses war staatlicher Monopole lagen“ (ec.europa.eu). Ein notwendig geworden, weil das VK zeitgleich mit weiteres anschauliches Beispiel ist die EU- dem Brexit auch den EURATOM-Vertrag (1957) Agrarwirtschaft, in der Monopolanbieter bis heute gekündigt hatte. Nach Artikel 101 ist die Kommis- die Preise bestimmen (br.de, 14.1.2021) sion zwar berechtigt, Vereinbarungen mit Dritt- Der Ansatz des Ordoliberalismus kann sowohl staaten zu schließen, in diesem Fall ein Nachfol- wertvolle Erkenntnisse zur Geschichte der Euro- geabkommen mit dem VK (vgl. EURATOM 2010: päischen Integration beisteuern als auch den Ver- 41). Doch tat sie dies hinter den Kulissen, wohl- lauf des Jahres 2020 erklären: Es ging nicht nur wissend, dass es seit Jahren Kontroversen um – wie bei allen Verhandlungen auf internationaler eine Reform des EURATOM-Vertrags gibt. Ebene – um die Aufteilung bislang gemeinsamer Die Kritik reicht von einer mangelnden Beteili- Souveränitätsrechte zwischen den EU-Mitglie- gung des Europäischen Parlaments an Geset- dern und dem VK. Der Kern der Auseinanderset- zesvorhaben bis zur Förderung neuer Atomkraft- zung betraf Brüssels gefordertes Primat des EU- werke. So boten die Post-Brexit-Verhandlungen Binnenmarkts gegenüber der staatlichen Souve- der Kommission eine günstige Gelegenheit, über ränität des VK, das EU-Verhandlungsführer Mi- ein bilaterales Abkommen von mehr als 30 Jah- chel Barnier in dem Satz zusammenfasste: „Un- ren Laufzeit den umstrittenen EURATOM-Vertrag ser Binnenmarkt ist unser Heimatmarkt.“ (Bar- fortzuschreiben (Artikel 24, eur-lex.europa.eu, nier, 29.5.2020) Vom Ansatz der Interdependenz 31.12.2020: 18). Sie nimmt so direkt Einfluss auf der Ordnungen ausgehend würde diese Prioritä- die Energiepolitik der Mitgliedstaaten, was ihr tensetzung jedoch die Unabhängigkeit des Staats nach Artikel 4 des Vertrags über die Arbeitsweise gefährden, gegenüber Wirtschaftsinteressen im der Europäischen Union in diesem Umfang nicht Allgemeinen und Monopolanbieten im Besonde- zusteht (AEUV; bfee-online. de). Dabei hält Brüs- ren. Die staatlichen Institutionen auf beiden Sei- sel an einer Energieform fest, die nach dem Re- ten könnten demnach ihre „ordnende Potenz“ gierungsprogramm der amtierenden Bundesre- nicht mehr entfalten (Eucken 1959: 188). gierung in Deutschland eigentlich ad acta gelegt In der deutschsprachigen Presse war das Ar- werden soll (taz.de, 3.8.2018). Nach Walter Eu- gument zu lesen, dass die Rücknahme der völli- ckens Ordoliberalismus lässt sich prognostizie- gen Souveränität ein „Märchen“ sei: „ Kein Staat ren, dass die Monopolanbieter samt ihrer Lobby- ist völlig autonom.“ (rnd.de, 10.12.2020) Diese isten zu den Gewinnern gehören werden (vgl. Der Behauptung verwischt den Unterschied zwischen Spiegel, 23.1.2020, Euractiv, 20.12.2020). ökonomischen Abhängigkeiten und der politi- schen Souveränität von Staaten im Rahmen des 4. Fazit: Die Leistungen der Theoriean- gelten Völkerrechts. Danach kann jede Regie- sätze bezüglich der Brexit-Verhandlungen rung selbst entscheiden, wie sie politisch mit den gegebenen Abhängigkeiten umgeht. Dies heißt Die Diskursanalyse Foucaults: jedoch auch, dass die Staaten ein hohes Maß an ♦ Nach Michel Foucaults Diskursanalyse (1970) Selbstverantwortung für ihre wirtschaftliche Ent- wurden nachweislich die folgenden Techniken wicklung tragen. Das von der Europäischen Kom- zur Ausgrenzung von Diskursinhalten angewen- det: Die Ausgrenzung des Wahnsinns, der Wille mission postulierte Primat des EU-Binnenmarkts zur Wahrheit und der Kommentar. ist daher nicht nur für das scheidende Mitglied zum Problem geworden. Auch Kandidatenländer, ♦ Mit der Ernennung von Boris Johnson zum briti- schen Premier hat der Diskurs über die Post- die sich wie der Balkan, die Ukraine oder die Tür- Brexit-Verhandlungen eine neue Richtung einge- kei Hoffnungen auf einen EU-Beitritt machen, ste- schlagen. Er wurde anfangs als „mad (verrückt)“, hen vor dem Dilemma wachsender Abhängigkei- „Irrer“ oder „Autist“, später als „Märchenonkel“, ten, die eine prosperierende Eigenentwicklung „Großmaul“ oder „Schwindler“ bezeichnet. Dies erschweren und ihre wirtschaftspolitische Ent- hat seine Rolle als ein ernstzunehmender Ver- scheidungsfreiheit erheblich einschränken. tragspartner diskreditiert. Hinter dem beanspruchten Primat des EU- ♦ Mit Hilfe des Kommentars konnte der revidierte Binnenmarkts steht nicht zuletzt ein Machtan- Brexit-Vertrag (12.11.2019) umgedeutet werden. spruch der Europäischen Kommission, der ten- So kamen EU-Forderungen aus dem ersten Ent- denziell über ihre Kompetenzen hinausgeht. So wurf (14.11.2018) wieder auf die Agenda, insbe- hat EU-Verhandlungsführer Michel Barnier neben sondere der Backstop für Nordirland und EU- dem Handelsvertrag weitere Abkommen mit dem Standards. Journalisten hielten die Kommentare VK vereinbart (gov.uk, 24.12.2020), darunter – nicht mehr den Vertragstext – für authentisch. 10 FORSCHUNGSHORIZONTE POLITIK & KULTUR 1 / 2021
Sabine Riedel: Kontroversen um den Brexit ♦ Diese Techniken verhinderten eine Veröffentli- rechten auf gemeinsame Institutionen wie die in chung der britischen Vorschläge für Nachfolge- der Europäischen Union. abkommen über den Handelsvertrag hinaus. Die ♦ Sein Gründer David Mitrany sah in dem neofunk- deutsche Öffentlichkeit wurde getäuscht und tionalistischen Ansatz (Haas 1958 u.a.) keine konnte nicht mehr einschätzen, welche Chancen Weiterentwicklung, sondern einen konkurrieren- die Verhandlungen mit dem Vereinigten König- den theoretischen Ansatz, mit dem er sich zeit reich boten. seines Lebens kritisch auseinandersetze. ♦ Hinter den Kulissen wurden weitere Verträge ge- ♦ David Mitranys Argument war, dass die Forde- schlossen und den Unionsbürgern vorenthalten, rung nach einem Souveränitätsverzicht zuguns- u.a. ein Abkommen zur friedlichen Nutzung der ten supranationaler Organisationen eine große Kernenergie. Da es nicht nur für die deutsche Hürde darstellt und deshalb eine zwischenstaatli- Energiewende relevant ist, sondern Einfluss auf che Zusammenarbeit verhindern kann. alle EU-Mitglieder nimmt, hat die Europäische ♦ Diese Feststellung gilt nicht nur im historischen Kommission ihre Kompetenzen überschritten. Kontext nach dem zweiten Weltkrieg, sondern ist ♦ Während die Europäische Kommission die Ver- für Europa aktueller denn je. So ist es die Stärke handlungsführung für alle Nachfolgeabkommen des neofunktionalistischen Ansatzes, dass er mit dem Vereinigten Königreich an sich gezogen eine Zusammenarbeit auch zwischen (ehemals) hat, waren Frankreich, Spanien, Irland und Zy- verfeindeten Staaten für möglich und sogar im In- pern in Fachausschüssen vertreten, wo sie ihre teresse des Friedens für notwendig hält. nationalstaatlichen Interessen einbringen konn- ten (Atomenergie, Gibraltar, Nordirland). Der Ordoliberalismus: Der Neofunktionalismus: ♦ Dieser Ansatz geht auf den deutschen Ökono- men Walter Eucken zurück (1959), den Begrün- ♦ Der neofunktionalistische Ansatz von Ernst B. der des Modells der sozialen Marktwirtschaft. Er Haas (1958) besagt, dass die staatliche Zusam- geht von der These aus, dass eine permanente menarbeit automatisch zu einem Spill-over führt, Interdependenz, also wechselseitige Abhängig- d.h. zu einem "Überschwappen" bzw. einer Über- keit zwischen Ordnungssystemen gibt, vor allem tragung von nationalen Souveränitätsrechten auf zwischen Wirtschaft und Politik. supranationale Institutionen. Dieser Effekt wird ♦ Eucken formulierte zwei Prinzipien für eine unab- als entscheidender Motor der Europäischen In- hängige staatliche Wirtschaftspolitik: Sie soll die tegration betrachtet. Entstehung von wirtschaftlichen Machtgruppen, ♦ Anhänger dieses Ansatzes behaupten, dass er von privatwirtschaftlichen oder staatlichen Mono- eine Weiterentwicklung des Funktionalismus sei, polen verhindern und einen gesetzlich veranker- was seine dominante Stellung in der Europafor- ten Ordnungsrahmen schaffen, statt Wirtschafts- schung begründet. Erst seit dem Brexit-Referen- prozesse selbst zu lenken. dum (23.6.2016) erscheint ein Rückschritt der In- ♦ Dieser Ansatz kann einen wichtigen Dissens in tegrationsprozesse möglich. Der Neofunktionalis- den Post-Brexit-Verhandlungen erklären: Brüssel mus entwickelt sich zum „Postfunktionalismus“. verteidigte das Primat des EU-Binnenmarkts ge- ♦ Mit dem endgültigen Brexit zum 1.1.2021 ist der genüber der staatlichen Souveränität des Verei- Spill-over-Effekt widerlegt worden. Einen Auto- nigten Königreichs: „Unser Binnenmarkt ist unser matismus hin zu einer Souveränitätsübertragung Heimatmarkt“ (Michel Barnier, 29.5.2020). auf die supranationale Ebene gibt es nicht. Damit ♦ Eine Folge des Primats des Binnenmarkts ist verliert die neofunktionalistische Theorie ihre nicht mehr Wettbewerb, sondern die Stärkung Deutungshoheit und muss sich wieder an ande- von Monopolanbietern. Beispiel hierfür ist der Ab- ren Ansätzen messen lassen. schluss eines Vertrags zwischen Brüssel und ♦ Dies ist die Chance für die Europaforschung für London über die friedliche Nutzung der Kernener- eine Erneuerung im Sinne einer Rückkehr zu Plu- gie, der im Stillen zugunsten großer Energieun- ralismus und Wettbewerb der Theorieangebote. ternehmen abgeschlossen wurde. Der neofunktionalistische Ansatz verliert seinen normativ-ideologischen Charakter, wodurch die Quellen und weitere Literatur Europaforschung in der internationalen Scientific Community mehr Beachtung finden könnte. (Alle Links wurden zuletzt am 18.1.2021 eigesehen) AEUV, Vertrag über die Arbeitsweise der Europäi- Der Funktionalismus: schen Union, konsolidierte Fassungen 2016. ♦ Der Funktionalismus von David Mitrany (1943) Barnier, 29.5.2020, EU-Chefunterhändler Michel setzt für zwischenstaatliche Kooperationen keine Barnier: „Briten verstehen nicht, dass der Brexit supranationalen Strukturen voraus. Er prognosti- mit Folgen verbunden ist“, Michel Barnier im Ge- ziert auch keinen automatischen Spill-over-Effekt spräch mit Christoph Heinemann, in: Deutsch- in Form einer Übertragung von Souveränitäts- landfunk. 11 FORSCHUNGSHORIZONTE POLITIK & KULTUR 1 / 2021
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