Kontextspezifität von Wissen im Mathematikunterricht der Grundschule im Umgang mit neuen Medien. Beobachtungen am Beispiel des Einsatzes der ...
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Kontextspezifität von Wissen im Mathematikunterricht der Grundschule im Umgang mit neuen Medien. Beobachtungen am Beispiel des Einsat- zes der 3D-Druck-Technologie im Geometrieunterricht. FELICITAS PIELSTICKER, SIEGEN; EVA HOFFART, SIEGEN; INGO W ITZKE, SIEGEN Zusammenfassung: Am Beispiel des elementargeo- thematikunterricht als einziges durchgehend unter- metrischen Begriffs des Würfels wird beobachtet und richtetes MINT-Fach dieser aus gesellschaftlicher diskutiert wie Schüler*innen Begriffe innerhalb einer Sicht berechtigten Forderung ausgesetzt. mathematischen Lernumgebung, die wesentlich von Für die Mathematikdidaktik ergibt sich daraus die dem Einsatz eines neuen Mediums bestimmt ist, ver- Konsequenz, den Einsatz neuer Medien systematisch wenden. Als Beschreibungsrahmen werden das de- zu erforschen, wobei hier nicht skriptive Konzept der subjektiven Erfahrungsberei- che und normative Grundvorstellungen wechselseitig nur der (im Sinne von ‚Medienmethodik‘) unterrichts- in Beziehung gesetzt. Es wird exemplarisch darge- methodisch begründete Einsatz von neuen Medien stellt, wie dieser Ansatz auch für die Beschreibung zwecks Verbesserung oder Erleichterung des Errei- weiterer begrifflicher Entwicklungsprozesse nützlich chens bestimmter Unterrichtsziele im Fokus [stehen sollte], sondern die Aufmerksamkeit gilt dem vertief- sein kann. ten bzw. vertiefenden Verständnis der neuen Medien und einem pragmatischen Umgang mit ihnen. (Hi- Abstract: Using the example of the geometric con- scher, 2016, S. 71) cept of the cube, we will illustrate how conceptual de- velopmental processes within a mathematical learn- Aufgrund der Aktualität dieses Anspruchs ergibt sich ing environment using 3D printing technology can jedoch ein Forschungsdesiderat. Recherchen bis zum influence students' learning and learning processes. Sommer 2017 ergaben, dass zum Umgang von Schü- As the basis of description, the descriptive concept ler*innen mit der 3D-Druck-Technologie im Kontext Subjective Domains of Experiences and the idea of des Mathematikunterrichts insbesondere im deutsch- the so-called Basic Mental Models, which is intended sprachigen Raum wenige Untersuchungen oder Pub- as a normative guideline, are mutually related. Par- likationen existieren. adigmatic examples show that this approach may Mittlerweile gewinnt die 3D-Druck-Technologie zu- also be useful for further research of conceptual de- nehmend an Aufmerksamkeit, auch im Mathematik- velopment. unterricht. In vielfältiger Weise wird dieses neue Me- dium international diskutiert (Ng, 2017; Ng & Sin- 1. Einleitung clair, 2018; Ng, Sinclair & Davis, 2018; Panorkou & Im vorliegenden Artikel beschäftigen wir uns mit Be- Pratt, 2016). Aber auch bei uns erhält die 3D-Druck- griffsentwicklungsprozessen von Schüler*innen im Technologie immer mehr Aufmerksamkeit und der Kontext der Nutzung neuer Medien im Mathematik- Einfluss dieses neuen Mediums auf (mathematische) unterricht. Im Fokus steht der Einsatz der 3D-Druck- Wissensentwicklungsprozesse von Schüler*innen Technologie im Inhaltsbereich der Geometrie. wird in unterschiedlichen Studien untersucht (Witzke & Hoffart, 2018; Dilling, 2019; Dilling & Witzke, Eine wichtige Rolle in unseren empirischen Untersu- 2020; Pielsticker, 2020a; Pielsticker, 2020b) und chungen spielen dabei die Möglichkeiten, die der Möglichkeiten zum Einsatz im Schulunterricht auf- Einsatz neuer Medien bietet. Gesellschaft und Politik gezeigt (Witzke & Heitzer, 2019; Dilling et al., fordern mit wachsender Vehemenz den Einsatz neuer 2020). Medien im Schulunterricht – häufig motiviert durch eher pragmatische und lebensweltliche Aspekte. Um erste empirische Daten zum Umgang mit einer Neue Medien, so häufig die allgemeine Argumenta- mathematischen Lernumgebung unter Einsatz von tionslinie, nehmen für unser Leben und insbesondere 3D-Druck-Technologie zu erhalten, wurde eine die Berufswelt eine immer wichtigere Rolle ein. Des- Lernumgebung an der Universität Siegen konzipiert halb sollen Kinder so früh wie möglich Kompetenzen und mit Kindern einer vierten Jahrgangsstufe erprobt. für den Umgang mit diesen erwerben (vgl. beispiels- Die Lerneinheit stellt thematisch die mathematische weise BASAR-Berufswelt im Wandel, Ausgabe Begriffsentwicklung in der Geometrie an einem aus- 29/2018). Im Rahmen des „DigitalPakt Schule“ gewählten geometrischen Körper in den Mittelpunkt. (BMBF, 2020) sieht sich auch insbesondere der Ma- Die Kinder werden aufgefordert, Kantenmodelle von Würfeln zu erstellen, wobei stets eine begriffliche Diskussion angeregt und beobachtet wird. Neben mathematica didactica 44(2021)2, online first 1
math.did. 44(2021)2 dem Angebot, Kantenmodelle im klassischen Sinne als Hürde in Lehr-Lern-Prozessen innerhalb der Na- aus Knete und Strohhalmen zu erstellen, arbeitet je- tur des Zuganges liegen. Nun gilt mit Blick auf die des Kind zudem in einer 3D-Druck-Umgebung. Schulgeometrie (Rembowski, 2015, S. 152), dass Der vorliegende Artikel hat dabei ein vornehmlich geometrisierbare Relationsbegriffe insbesondere die deskriptives Ansinnen. Ziel ist es zu beschreiben, wie Anknüpfung an bekannte Sach- und Handlungszusam- der Einsatz von 3D-Druck-Technologie im Mathe- menhänge sowie den Aufbau visueller Repräsentatio- matikunterricht, vor dem Hintergrund spezifischer nen ermöglichen. geometrischer Grundvorstellungen, die Verwendung Daher verwundert es, dass, wie Rembowski (2015, von Begriffen von Schüler*innen beeinflusst. S. 152) im Weiteren ausführt, „Grundvorstellungen Der Terminus 3D-Druck-Technologie bezieht sich rein geometrischer Begriffe [...] bisher kaum er- dabei auf die Hardware (3D-Drucker) und die Soft- forscht [sind].“ ware (Tinkercad™): Beim 3D-Druckprozess wird Dazu ist der vorliegende Artikel in sechs Kapitel ge- das sogenannte Filament, erhitzter Kunststoff, durch gliedert. Nach dieser Einführung folgen in Kapitel 2 einen Druckkopf Schicht für Schicht aufgetragen, die theoretische Einbettung des Forschungsprojektes, wodurch die Erstellung dreidimensionaler Körper er- bevor im dritten Kapitel die Forschungsintention so- möglicht wird (Fastermann, 2016). Als Software wie die Lernumgebung im Detail vorgestellt werden. werden Computer Aided Design-Programme (CAD) Im Kapitel 4, dem Hauptteil des Artikels, rekonstru- zur Entwicklung einer Vorlage, in unserem Beispiel ieren und analysieren wir auf Grundlage des theore- Tinkercad™, verwendet. tischen Hintergrundes – insbesondere des Konzepts Die erprobte Lernumgebung berücksichtigt beide der Subjektiven Erfahrungsbereiche – die im Projekt Komponenten, um authentische Daten für den Um- dokumentierten begrifflichen Entwicklungsprozesse. gang von Schüler*innen in einem mathematischen Eine Zusammenfassung, eine Beschreibung allge- Kontext mit der 3D-Druck-Technologie erhalten zu meinerer lerntheoretischer Konsequenzen sowie ein können. Eine detaillierte Darstellung der Lernumge- Ausblick auf weiterführende Forschungsfragen fol- bung erfolgt in Kapitel 3. gen dann schließlich im fünften Kapitel, bevor ein Fazit den Artikel abschließt. Aus den empirischen Daten, speziell den durchge- führten halbstandardisierten Interviews, erfolgen Re- 2. Theoretische Rahmung konstruktionen des Schülerwissens, wobei wir be- wusst verschiedene theoretische Zugänge verwen- 2.1 Subjektive Erfahrungsbereiche den. Aufgrund des Forschungsdesiderats ist eine zu- nächst individuell orientierte Betrachtungsweise der Dass Wissen und Vorstellungen stets an einen kon- einzelnen Kinder nützlich. Hier ist insbesondere das kreten Kontext gebunden sind, beschreibt Bauersfeld Konzept der Subjektiven Erfahrungsbereiche (kurz in seinem Konzept der Subjektiven Erfahrungsberei- auch: SEBe) nach Bauersfeld (1983; 1985) angemes- che (Bauersfeld, 1983; 1985). Diese sind vereinfacht sen. Das Konzept bietet einen sehr klaren analyti- gesprochen als Wissensschubladen charakterisierbar, schen Beschreibungsrahmen, der insbesondere den die anhand situationsspezifischer Objekte, Handlun- wichtigen Aspekt der Bereichsspezifität in der Ent- gen und Emotionen für Individuen beschrieben wer- wicklung von Wissen im Umgang mit verschiedenen den können. Die Gesamtheit der SEBe ist nicht-hie- Anschauungsmitteln berücksichtigt. rarchisch angeordnet, wobei die SEBe konkurrierend aktiviert werden. Nach Bauersfeld wird Wissen zu- Die aus den Interviews mit Hilfe des SEBe-Konzepts nächst in deutlich getrennten Bereichen, die verfüg- gewonnenen Rekonstruktionen sollen dann mit Be- bares Wissen, Handlungsmöglichkeiten, Sprachver- zügen zu dem Konzept der Grundvorstellungen nach stehen sowie Sinnzuschreibungen beinhalten (Bau- vom Hofe (1995) betrachtet werden. Die Grundvor- ersfeld, 1983), abgelegt. Die Vernetzung von SEBen stellungen helfen nach unserer Einschätzung die mit bedarf bewusster aktiver Sinnkonstruktionsprozesse der durchgeführten Lernumgebung verbundenen In- und damit der Etablierung überkontextueller, soge- tentionen zu beschreiben und geben darüber hinaus nannter „vermittelnder SEB[e]“ (Bauersfeld, 1985, auch Hinweise für die spätere Ableitung didaktischer S. 16), welche die Bereichsspezifität des Wissens Implikationen für die Schulpraxis an einem geeigne- hinter sich lassen. Diese Sinnkonstruktionsprozesse ten Fallbeispiel. können beispielsweise durch kognitive Konflikte o- Ziel ist es dabei, möglichst solche Aspekte zu identi- der durch Analogiebildung angeregt werden. Hier- fizieren, die unabhängig von einem speziellen neuen durch können sich die einzelnen SEBe durch die Ent- Medium sind, in unserem Fall, von der 3D-Druck- stehung neuer SEBe miteinander verknüpfen. In der Technologie. Es geht also um solche, die „epistemo- Theorie der Subjektiven Erfahrungsbereiche sind für logical obstacles“ (Sierpinska, 1990) begründen, d. h. jeden SEB spezifische Elemente verfügbar, so dass 2
F. Pielsticker, E. Hoffart & I. Witzke eine Rekonstruktion von individuellem Schülerwis- gewisse Ähnlichkeiten und Übereinstimmungen zwi- sen möglich und im Rahmen kontextspezifischer Si- schen den SEBen angenommen werden können. Dies tuationen beschreibbar wird. führt er unter anderem auf die Prägung durch den All- tag und die kulturelle Tradition zurück, wodurch die Nach Bauersfeld sind also vereinfacht gesagt Hand- Identität der bestehenden Gesellschaft erzeugt wird. lungen, Interessen und Gefühle eines Individuums Hierin sieht er eine wichtige Voraussetzung für das zunächst deutlich an Situationen gebunden. Struktu- Funktionieren von Schule und Unterricht in den vor- relle Ähnlichkeiten zwischen verschiedenen SEBen handenen Formen (Bauerfeld, 1983). und selbst die Verwendung gleicher Begriffe führen nicht automatisch zu Vernetzungsprozessen bzw. Der konzeptionelle Rahmen der SEBe bietet – als übergeordneten vermittelnden SEBen. Bauerfeld zi- eine deskriptive Perspektive – insbesondere eine tiert hierzu folgende Fallgeschichte von Ginsburg Möglichkeit, die für die betrachteten Schüler*innen (1977, zit. nach Bauersfeld, 1983, S. 3): (potenziell) unterschiedlichen Kontexte (z. B. Knete, Als Achtjährige konnte Alexandria keine halbschriftli- CAD-Programm, 3D-Druck-Objekt) detailliert be- chen Divisionsaufgaben lösen, wie etwa die Rechnung schreiben zu können. Vor allem vor dem Hintergrund 8:4 = ?, als Antwort vermutete sie 1 oder 0. Der Inter- der Nutzung einer für den Unterricht recht neuen viewer gab ihr eine vergleichbare Textaufgabe: ‚Nimm Technologie erscheint eine gegenstandsbezogene an, du hast acht Dollar und du hast vier Kinder, und du tiefgehende Diskussion der beobachteten Begriffs- willst das Geld gleichmäßig an sie verteilen. Wieviel verwendung der Schüler*innen mithilfe des Be- gibst du jedem Kind?‘ Alexandria wiederholt die Auf- schreibungswerkzeuges der SEBe gewinnbringend. gabe, sagte dabei aber fälschlicherweise: ‚Angenom- Für uns ist interessant, welche (mathematischen) Be- men du hast fünf Dollar …‘ und löst diese Aufgabe griffe durch den Einsatz des CAD-Programmes für richtig mit ‚ein Dollar und fünfundzwanzig Cents‘. Schüler*innen in den Vordergrund rücken, z. B. in- Alexandria sieht offensichtlich keine strukturellen wieweit sich der Begriff des Würfels oder damit zu- Ähnlichkeiten zwischen dem halbschriftlichen Rech- sammenhängende Begriffe wie Kanten oder Ecken nen, und dem (rechnerischen) Umgang mit Geld. Das (weiter)entwickeln. mathematische Wissen in beiden Situationen ist in verschiedenen Kontexten (SEBen) voneinander iso- 2.2 Grundvorstellungen liert verfügbar – nur so lässt sich erklären, dass Ale- An dieser Stelle ist es für die Analyse hilfreich, das xandria in der Geldwelt in der Lage ist mit 5:4 eine Konzept der Grundvorstellungen nach vom Hofe ein- schwierige Divisionsaufgabe zu lösen, in der soge- fließen zu lassen. Grundvorstellungen werden von nannten „Papiersummenwelt“ aber letztlich völlig ihm als hilflos erscheint (Bauersfeld, 1983). Die symbolische Aufgabe und die in den Sachkontext Geld eingebet- Beziehungen zwischen mathematischen Inhalten und tete Aufgabe scheinen für das Kind zwei völlig un- dem Phänomen der individuellen Begriffsbildung (vom Hofe, 1995, S. 97) terschiedliche Situationen darzustellen. Sie sieht keine Analogien oder strukturelle (kontextunabhän- beschrieben und sollen auf im Mathematikunterricht gige) Übereinstimmungen, d. h. Alexandria hat zu vermittelnden Denk- und Handlungsweisen beru- (noch) keinen vermittelnden SEB entwickelt. hen. Im vorliegenden Artikel werden Grundvorstel- Mit Bezug auf verschiedene Veröffentlichungen an- lungen vor allem im Sinne von normativen Leitlinien derer Wissenschaftler bietet Bauersfeld (1983; 1985) aufgefasst (vgl. für die Geometrie insbesondere Ben- zahlreiche ähnliche Fallgeschichten an, mit denen er der 1991), denn die deskriptive sowie konstruktive die Bedeutung der Bereichsspezifität für das Lernen Dimension kann adäquat mit Hilfe Subjektiver Erfah- verdeutlicht. Möchten wir also Kinder in ihrem Lern- rungsbereiche erfasst werden, auf die im Übrigen prozess unterstützen, sollten durch gezielte Impulse vom Hofe in diesem Zusammenhang verweist (vom Beziehungen und Verknüpfungen zwischen den Hofe, 1995). SEBen im Mathematikunterricht angeregt werden. Dabei existieren nach vom Hofe zu einem mathema- Mit Blick auf eine für den Forscher oder die Forsche- tischen Begriff üblicherweise verschiedene Grund- rin mögliche Beschreibungsperspektive betont Bau- vorstellungen. Die Vernetzung dieser Grundvorstel- ersfeld, dass trotz lungen kann mit Bender als Grundverständnis eines Begriffs bezeichnet werden (Bender, 1991). Ein ma- aller Verschiedenheit der aus Fallstudien und anderen thematischer Begriff kann damit durch die Vernet- Dokumenten rekonstruierbaren ‚Subjektiven Erfah- zung mehrerer in Beziehung zueinanderstehender rungsbereiche [Herv. i. Original] (SEB)‘ und ihrer bi- Grundvorstellungen charakterisiert werden. Als ein ographisch bedingten individuellen Besonderheiten langfristiges Ziel des Mathematikunterrichts wird da- (Bauersfeld, 1983, S. 33) bei die Ausbildung eines Netzwerks beschrieben, 3
math.did. 44(2021)2 das[s] sich durch Erweiterung von alten und Zugewinn - Rollt man einen Würfel ab, so entsteht ein Würfel- von neuen Vorstellungen zu einem immer leistungsfä- netz, das aus sechs [gleich großen], zusammen- higeren System (…) entwickelt. (vom Hofe et al., hängenden Quadraten besteht. (Franke & Rein- 2005, S. 276) hold, 2016, S. 174) Vom Hofe (1995) legt neben einem deskriptiven und Dabei wurde in der Lerneinheit ein besonderer Fokus einem konstruktiven auch einen normativen Grund- auf die den Körper des Würfels charakterisierenden vorstellungsbegriff an. In ersterem werden (u. a. mit Anzahlen der Ecken, Kanten und Flächen, sowie auf Bezug zum SEBe-Konzept nach Bauersfeld) Grund- die Eigenschaft, dass alle Flächen gleichgroße de- vorstellungen als flexible Gruppierung kognitiver ckungsgleichen Quadrate sind, gelegt. Später ver- Strukturen, die sich ständig verändern und reorgani- schob sich der Fokus insbesondere auf die Betrach- sieren beschrieben (vom Hofe et al., 2005). Im Fokus tung der Ecken und Kanten. Wir wollen diese im steht dabei ein dynamischer Charakter von Grund- Weiteren bezogen auf den Würfel abkürzend Grund- vorstellungen, der hilft, einen Übergang zwischen der vorstellung: Anzahlen und Form charakterisierender Welt der formalen Mathematik und der individuellen geometrischer Elemente nennen. Begriffswelt der Lernenden beschreiben zu können. Normative Grundvorstellungen können dabei als An- 2.3 Zusammendenken von Subjektiven Er- lass auf Seiten der Lehrpersonen dienen, individuelle fahrungsbereichen und Grundvorstel- Begriffsentwicklungsprozesse der Schüler*innen in- lungen nerhalb entsprechender Lernumgebungen durch Im- Als Analyseinstrument wird das Konzept der Subjek- pulse anzustoßen. Im amerikanischen Sprachraum tiven Erfahrungsbereiche (Bauersfeld, 1983; 1985) entwickelte Simon (2006) vergleichbar dazu das verwendet, dabei werden Bezüge zu Grundvorstel- Konzept lungen (vom Hofe, 1995) hergestellt. Dabei ist uns of a key developmental understanding (KDU) in math- für die Rekonstruktion der Schülertheorien im Sinne ematics as a way to think about understandings that are des SEBe-Ansatzes bewusst, dass diese in ihrer theo- powerful springboards for learning, and hence are use- retischen Anlage subjektiv bzw. individuell eigent- ful goals of mathematics instruction. (zit. nach Sil- lich für jede einzelne Schülerin und jeden einzelnen verman & Thompson, 2008, S. 7) Schüler nachgezeichnet werden müssen. Auf der an- Lehrpersonen sollen demnach KDUs kennen und deren Seite sind die im Sinne von Lawlers „Mikro- nutzen und werden zum grundständigen mathemati- welten“, auf dessen theoretische Überlegungen und cal knowledge for teaching (MTK) gezählt. Damit ist empirischen Beobachtungen Bauerfelds Ansatz auf- baut, von mehreren Individuen geteilten Elemente im […] an understanding of: (1) how this key develop- mental understanding could empower their students’ Sinne der didaktischen Diskussion besonders interes- learning of related ideas; and (2) actions a teacher sant. Lawler identifiziert z. B. in seinen Rekonstruk- might take to support students’ development of it and tionen von Schülerwissen zum Zahlbegriff eine „Pa- reasons why those actions might work (Silverman & piersummenwelt“ oder eine „Geldwelt“. Ohne die In- Thompson, 2008, S. 8) dividualität der gemachten Erfahrungen bzw. des da- raus konstruierten Wissens verneinen zu wollen, su- gemeint. chen wir im Weiteren insbesondere Aspekte, die das Grundlage des Designs der im Folgenden dargestell- Potential haben, von anderen Schüler*innen ähnlich ten Lerneinheit war eine (normative) Grundvorstel- aufgefasst zu werden (Lawler, 1981). Auch vom lung über charakteristische Eigenschaften des Begrif- Hofe (1995) nennt in seinen Arbeiten in Anlehnung fes Würfel. an Bauersfeld (1983; 1985) Erfahrungsbereiche, die Ein Würfel ist ein Körper mit acht Ecken, sechs Flä- sich auf das geteilte Wissen ganzer Lerngruppen be- chen und zwölf Kanten. Alle Flächen bestehen aus ziehen. Bei Bauersfeld findet sich zu diesem Aspekt gleich großen (‚deckungsgleichen‘) Quadraten. Mit folgendes: diesen Kriterien sind folgende Eigenschaften verbun- Bei aller Verschiedenheit der aus Fallstudien und an- den: deren Dokumenten rekonstruierbaren ‚Subjektiven Er- - Die Kanten des Würfels sind gleich lang. fahrungsbereiche (SEBe)‘ und ihrer biographisch be- dingten individuellen Besonderheiten lassen sich viele - An jeder Kante stoßen zwei Flächen aneinander. Ähnlichkeiten und Übereinstimmungen zwischen - An jeder Kante liegen zwei Ecken. ihnen wie überindividuelle, gesellschaftlich-histori- sche Wirklichkeiten behandeln. Aus soziologischer - An jeder Ecke stoßen drei Flächen und drei Kanten Sicht sind sie Kernstücke der gesellschaftlichen Wirk- zusammen. lichkeit. Die weitreichende Normierung unseres All- tags, […]. Sie ist eine wichtige Voraussetzung für das Funktionieren von Schule und Unterricht in den vor- handenen Formen. Diese gesellschaftlich-historische 4
F. Pielsticker, E. Hoffart & I. Witzke Identität ermöglicht es dem Lehrer, von einer hinrei- gende Forschungsfrage handlungsleitend sein: Inwie- chenden Übereinstimmung zwischen SEBen auszuge- fern sind Schüler*innen in der Lage, ihr im Unter- hen, die je auf denselben Ausschnitt der objektiven richt erworbenes Wissen über geometrische Körper Welt oder der gesellschaftlichen Wirklichkeit bezogen auf weitere Situationen (kontextspezifisch) anzuwen- sind. […] Eine Vorurteile vermeidende Rekonstruktion den und zu übertragen? derartiger intersubjektiv geteilter Erfahrungsbereiche scheint mir nur über die vergleichende Analyse von Die Lernumgebung „Kantenmodelle mal anders“ SEBen möglich zu sein. (Bauersfeld, 1983, S. 33) wurde zur Untersuchung der angeführten For- Wir entscheiden uns im Folgenden den Begriff der schungsfrage konzipiert und an drei aufeinanderfol- SEBe zu verwenden, um die individuelle Ausprä- genden Montagen kurz vor Ende des Schuljahres gung von Wissen im Blick zu behalten. 2017/18 mit Kindern einer vierten Jahrgangsstufe ei- ner Partnergrundschule aus der Region umgesetzt. Es In Bezug auf Mathematikunterricht ist nach Bauers- handelte sich dabei um Kinder, die auch schon zuvor feld das Ausbilden vermittelnder SEBe wesentliches an geometrischen Angeboten in der Mathe-Werkstatt Lernziel. Das Konzept normativer Grundvorstellun- teilgenommen hatten. Zum Vorwissen der Schü- gen (vom Hofe, 1995; Bender, 1991) wurde für das ler*innen können wir sagen, dass diese bereits in der Design der Lernumgebung genutzt. Diese bilden zu- Vergangenheit in der Mathe-Werkstatt Kantenmo- dem in unserer Lesart einen Beschreibungsrahmen delle aus Knete, Zahnstochern und Strohhalmen an- für mögliche didaktische Handlungskategorien der gefertigt hatten. Dabei wurden die geometrischen Lehrpersonen, um konkrete Impulse zur Entwicklung Körper Würfel, Quader und Pyramide gebaut und sogenannter vermittelnder SEBe bei Schüler*innen hinsichtlich charakteristischer Anzahlen von Ecken, im Unterricht zu setzen. Kanten und Seitenflächen, sowie der Form der Sei- Die Lehrperson orientiert sich zur Gestaltung des Un- tenflächen beschrieben und voneinander unterschie- terrichts in unserer Interpretation an Grundvorstel- den. Der Umgang mit der 3D-Druck-Technologie lungen, die an als tragfähig angesehenen Elementen (Designsoftware wie Hardware) war für die Schü- mathematischer Inhalte orientiert sind. Diese werden ler*innen hingegen neu und eignete sich somit für in einem bestimmten Sachzusammenhang umgesetzt Beobachtungen im Sinne der Forschungsfrage. und regen bei Schüler*innen die Konstruktion indivi- Die Lernumgebung begann zunächst mit einer Erin- dueller Subjektiver Erfahrungsbereiche an, verbun- nerung an dieses Wissen zum geometrischen Körper den mit der Absicht, dass diese wiederum eine den des Würfels. Danach wurde die Schulklasse in zwei handlungsleitenden Kategorien der Lehrperson ent- Gruppen aufgeteilt. Während die eine Gruppe zu- sprechende Strukturgleichheit aufweisen. Somit sol- nächst auf Grundlage eines klassischen Zuganges er- len sich die Grundvorstellungen der Lehrpersonen in neut Knet-Kantenmodelle erstellte, wurde die andere Gemeinsamkeiten von SEBen abbilden bzw. Schü- Gruppe in das rechnergestützte Design und die Er- ler*innen vermittelnde SEBe konstruieren. stellung von 3D-Modellen eingeführt. In der Folge In unserer Studie wollen wir dazu beobachten, inwie- wechselten die beiden Schülergruppen die Stationen fern diese vermittelnden SEBe und das darin von und schließlich folgte eine gemeinsame Plenums- Schüler*innen entwickelte überkontextuelle Wissen und Diskussionsphase über das Gelernte. auf neue Situationen, wie wir sie durch die 3D- Der Fokus der Lernumgebung „Kantenmodelle mal Druck-Technologie in den Unterricht eingebracht ha- anders“ war auf den Würfel gelegt, da dieser im Ge- ben, angewendet werden kann. Damit ist die überge- ometrieunterricht der Primarstufe von zentraler Be- ordnete Frage verbunden, inwiefern kontextspezi- deutung ist. Er kann beispielsweise im Sinne des Spi- fisch aufgebautes Wissen allgemein verfügbar ist. ralprinzips nach Bruner (1973) auf verschiedenen Entwicklungsstufen immer wieder aufgegriffen wer- 3. Die Lernumgebung „Kantenmodelle den (Lauter, 1994). Im Laufe der Grundschulzeit mal anders“ werden und Schüler*innen im Mathematikunterricht vielfältige Möglichkeiten zu einer aktiven Auseinan- 3.1 Forschungsanliegen dersetzung mit dem geometrischen Körper des Wür- Nach der Vorstellung der Lernumgebung werden im fels angeboten. Hierzu gehören das Bauen mit Wür- nächsten Teil des Artikels die dokumentierten geo- feln, die Arbeit mit Würfelmehrlingen, Würfelnetzen metrischen Begriffsentwicklungsprozesse mit Bezug und Bauplänen sowie das Herstellen von und Arbei- auf die zuvor ausgeführte theoretische Rahmung re- ten mit Würfelmodellen (Franke & Reinhold, 2016). konstruiert und analysiert. Für die konzipierte Damit verbindet sich der Anspruch, dass die Kinder Lernumgebung zum Thema Kantenmodelle mit klas- am Ende der Primarstufe folgende Beschreibung ei- sischem und mit neuem Zugang soll dazu die fol- nes Würfels kennen: 5
math.did. 44(2021)2 Ein Würfel ist ein Körper mit acht Ecken, sechs Flä- auf bewährte Weise mit bekanntem Material abzielte, chen und zwölf Kanten. Alle Flächen bestehen aus wurden in einem zweiten Arbeitsimpuls mithilfe des gleich großen (‚deckungsgleichen‘) Quadraten. CAD-Programms Tinkercad™ Kantenmodelle kon- (Franke & Reinhold, 2016, S. 174) struiert und anschließend mit 3D-Druckern ‚materia- Diese Kriterien implizieren auf mathematischer lisiert’, womit sie real erfahrbar wurden. Somit wur- Ebene weitere Eigenschaften eines Würfels, wie bei- den beide in der Einführung angesprochenen Aspekte spielsweise seine gleichlangen Kanten oder das An- der 3D-Druck-Technologie, Hardware und Software, einanderstoßen von zwei Flächen an einer Kante bewusst in die Lernumgebung eingebunden. Hier sei (Franke & Reinhold, 2016). Als didaktische Leitlinie mit Bezug zur Theorie der Subjektiven Erfahrungs- im Sinne einer normativ ausgerichteten Grundvor- bereiche nach Bauersfeld (1983; 1985) auf die Kon- stellung nach vom Hofe (1995) wird der elementar- textspezifität der Knet-Kantenmodelle, als auch der geometrische Begriff des Würfels hier definiert als 3D-Druck-Modelle verwiesen. Mit der Entscheidung geometrischer Körper mit 8 Ecken, 6 deckungsglei- zur Erstellung von Knet-Kantenmodellen intendier- chen quadratischen Seitenflächen und 12 Kanten ten die Lehrpersonen einen Fokus auf die Anzahlen festgehalten. von Ecken und Kanten des Würfels. Für die Knet- Kantenmodelle können Knet-Kugeln gerollt werden Er ist konkretisiert in dreidimensionalen Objekten so- wohl in Vollkörpern und Hohlkörpern als auch in Kan- und mit entsprechend zugeschnittenen Halmen oder tengerüsten. (Rembowski, 2015, S. 131) Holzspießen verbunden werden. Die Ecken sind hier also dargestellt durch Kugeln und die Kanten durch Diese Grundvorstellung nennen wir im Folgenden einen weiteren geometrischen Körper, den Zylinder Anzahlen und Form charakterisierender geometri- (Halme oder Holzspieße). Auch bei den 3D-Druck- scher Elemente. Hierbei handelt es sich natürlich nur Modellen werden die gedruckten Kanten durch Zy- um eine mögliche Grundvorstellung zum Kantenmo- linder realisiert. Die Ecken werden hier als Würfel dell des Würfels. mit entsprechender Aussparung für die zylinderför- Grundvorstellungen die nicht nur implizit, sondern migen Kanten konstruiert und gedruckt (Abb. 1). explizit auf Wissen um Parallelität, der gleichen Diese beiden Zugänge unterscheiden sich, so unsere Länge sowie der Orthogonalität der Kanten hinwei- Annahme, nicht nur hinsichtlich der Darstellungs- sen sind genauso als angemessen zu bezeichnen. und Materialebene, sondern auch hinsichtlich impli- zierter heuristischer Problemlösestrategien (Schoen- Bewusst haben wir den Schwerpunkt der Lernumge- feld, 1985). Die Knet-Umgebung regt insbesondere bung auf die Erstellung von und die Arbeit zu Kan- in Bezug auf die würfelspezifischen Anzahlen von tenmodellen eines Würfels gelegt. Diese sind beson- Ecken und Kanten zum „Vorwärtsarbeiten“ an; also ders geeignet, dem stückweisen Aufbauen des Kantenmodells. um gezielt Untersuchungen zur Anzahl und Anord- Die 3D-Druck-Umgebung hingegen, so unsere nung von Kanten und Flächen bzw. zur Länge von These, erfordert zunächst ein Wissen um die Be- Kanten vorzunehmen. (Franke & Reinhold, 2016, S. 185) schaffenheit des gesamten Kantenmodells. Diese regt damit nach unserer Einschätzung eher ein „Rück- In unserem Fall wollten wir beobachten, wie Schü- wärtsarbeiten“ an – d. h. es wird zunächst das Ge- ler*innen bereits im Kontext von Knetmodellen ge- samtmodell (als mentale Repräsentation) und daran festigtes Wissen auf neue Kontexte übertragen kön- die würfelspezifischen Anzahlen aktiviert. Dieses nen und das Wissen damit in einem generellen Sinne Wissen ermöglicht schließlich einen vollständigen verfügbar ist. Mit Blick auf den in Kapitel 2 ange- Bausatz für ein Würfel-Kantenmodell dem 3D-Druck führten Aspekt der Bereichsspezifität haben wir das zuzuführen. Kantenmodell eines Würfels also bewusst in zwei un- terschiedliche Kontexte eingebettet. Das ermöglicht 3.2 Vorstellung der Lernumgebung es uns, Informationen zu verfügbarem Wissen, Hand- lungsmöglichkeiten, Sprachverwendung und Sinnzu- Nach Klärung der Forschungsintention mit Bezug zur schreibungen in dem jeweiligen spezifischen Kontext in Kapitel 2 erläuterten theoretischen Rahmung er- zu erhalten. Weiterhin sollen aufgrund der Anlage folgt in diesem Abschnitt eine chronologische Vor- der Untersuchung ebenfalls Informationen zu der an- stellung der Lernumgebung „Kantenmodelle mal an- gestrebten Generalisierung verschiedener SEBe iden- ders“. tifizierbar sein. Der erste Vormittag begann mit einem Einstieg in die Somit beinhaltet die Lernumgebung zwei konkrete Thematik, um an das bereits vorhandene Vorwissen Arbeitsimpulse in unterschiedlichen Kontexten zu zu geometrischen Körpern anzuknüpfen. Hier wur- den Kantenmodellen eines Würfels. Während ein Ar- den zunächst die Vollmodelle einiger geometrischer beitsimpuls auf die Herstellung von Kantenmodellen Körper (Würfel, Quader, Kugel, Zylinder, Kegel) als 6
F. Pielsticker, E. Hoffart & I. Witzke stummer Impuls präsentiert, was die Schüler*innen ist aber wohl damit zu erklären, dass die Schüler*in- dazu aufforderte, ihre Assoziationen zu kommunizie- nen durch die zuvor genutzten Lernangebote der Ma- ren. Im Anschluss wurden weitere Gegenstände the-Werkstatt bereits Erfahrungen zu Knet-Kanten- (Ball, Klebestift, Verpackungen etc.) vor die Schü- modellen gesammelt hatten, in denen Trinkhalme als ler*innen gelegt. Hier wurde die Klasse ohne weitere Kanten verwendet wurden. Vorgabe zum Sortieren der Gegenstände aufgefor- Der in Tinkercad™ zu erstellende Bausatz bestand dert. Weiterhin wurde der geometrische Körper Wür- also aus acht Würfeln mit Aussparungen, in welche fel und dessen geometrische Eigenschaften genauer später die Kanten gesteckt werden sollten, sowie in den Blick genommen und besprochen. Die jewei- zwölf Zylindern als Kanten des Steckmodells ligen Anzahlen von Ecken, Flächen und Kanten so- (Abb. 1). wie die Form der Flächen wurden gemeinsam für ei- nen Steckbrief erarbeitet. Anschließend wurde die Am darauffolgenden Montag wurden dann die Ar- Klasse in zwei gleich große Gruppen aufgeteilt. Die beitskontexte (Knete und 3D-Druck-Technologie) erste Gruppe arbeitete zunächst mit den Knet-Kan- getauscht. Im Anschluss erhielten die Viertklässler tenmodellen. Für die klassische Herstellung der Kan- wieder die Möglichkeit, ihre Ergebnisse und die im tenmodelle standen Knete, Trinkhalme, Zahnstocher Konstruktionsprozess erfahrenen Herausforderun- und Holzspieße zur Verfügung. Die andere Gruppe gen, in einem Plakatspaziergang gegenseitig zu prä- arbeitete in der Umgebung zur 3D-Druck-Technolo- sentieren. gie, wobei der Auftrag hier konkret in der Erstellung eines Bausatzes für ein Kantenmodell eines Würfels bestand. Ein solcher Bausatz im Sinne eines Steck- modells kann im Kontext der zuvor beschriebenen Knet-Kantenmodelle aus acht gerollten Kugeln als Ecken sowie zwölf Halmen, Holzspießen oder Streichhölzern als Kanten bestehen. Die Anforderung ändert sich im Kontext der 3D-Druck-Technologie, da hier, für die Erstellung eines Bausatzes, zuvor über Abb. 1: Bausatz in Tinkercad™ und als gedrucktes Planung und Beachtung verschiedener Aspekte nach- Material gedacht werden muss: So ist die Anzahl der benötig- ten Ecken und Kanten im Vorfeld festzuhalten, auch Der dritte Vormittag diente der Zusammenführung sollte – im Sinne des späteren Drucks – über prakti- der Ergebnisse sowie der Reflexion der Erfahrungen kable Formen nachgedacht werden, um beispiels- der Schüler*innen. Abbildung 2 visualisiert den weise quadratische Seitenflächen erzeugen zu kön- strukturellen Aufbau der Lernumgebung „Kanten- nen. Gemeinsam mit den Schüler*innen wurde dafür modelle mal anders“ sowie die für eine Auswertung zunächst über den in der Aufgabenstellung verwen- zur Verfügung stehenden Daten. deten Begriff Bausatz nachgedacht. Dabei wurden Die Lerneinheit wurde systematisch mit Hilfe von die Schüler*innen zum Beispiel an Erfahrungen mit Videokameras dokumentiert. Zudem liegen den Au- LEGO® oder LEGO TECHNIK® erinnert. In der torinnen und dem Autor die in der Einheit entstande- Gruppe einigte man sich dann darauf, als Ecke des nen Schülerdokumente vor. Basis für diesen Artikel Steckmodells den geometrischen Körper Würfel und bilden aber insb. die im Anschluss an die Arbeit im als Kanten, Zylinder für das Steckmodell zu konstru- Kontext der 3D-Druck-Technologie durchgeführten ieren. Letzteres erscheint ein wenig verwunderlich, Abb. 2: Aufbau der Lernumgebung inklusive Dokumentationen 7
math.did. 44(2021)2 Abb. 3: Arbeitsebene des CAD-Programmes Tinkercad™ Interviews, die in Transkriptform vorliegen. Diese Abb. 3 gibt einen Überblick über Oberfläche und zeigen nach unserer Einschätzung sehr interessante Standardfunktionen des Programms. Für die Erstel- Aspekte hinsichtlich der begrifflichen Entwicklung lung der Ecken des Kantenmodells in Tinkercad™ geometrischer Begriffe in der Verbindung eines klas- wurde, wie zuvor beschrieben, ein Würfel ausge- sischen und eines neuen Zugangs mit Arbeitsmitteln. wählt. In dessen Seitenflächen wurden dann Ausspa- rungen erstellt, um hier später die Kanten einstecken 3.3 Exkurs zur technischen Umsetzung zu können. Um die Bearbeitungs- und Vorgehensweisen der In Abb. 4 ist der Vorgang des dafür notwendigen Be- Viertklässler in den Arbeitsgruppen unter Einsatz der fehls „Bohrung“ auf der Oberfläche von Tinkercad™ 3D-Druck-Technologie sowie die damit verbunde- dargestellt. Die Schüler*innen zentrierten die Aus- nen Untersuchungen nachvollziehen zu können, fol- sparung mit Hilfe der Programmfunktion „Lineal“ gen an dieser Stelle einige grundlegende Informatio- wie folgt (Abb. 4): nen zur technischen Umsetzung. Im Rahmen der Lernumgebung arbeiteten die Kinder mit dem CAD- Man wählt zunächst die Programmfunktion „Lineal“ Programm Tinkercad™, das webbasiert (zurzeit kos- (rechts oben in Abb. 4) aus, platziert das „Lineal“ auf tenfrei) erhältlich ist und im Browser bedient wird. der Arbeitsebene. Dazu werden, wie in Abbildung 4 erkennbar der Würfel und der transparente Zylinder zur Erstellung der Aussparung entlang des „Lineals“ platziert. Anschließend wird der Abstand zwischen der angenommenen „Bohrung“ (transparenter Zylin- der) und den Außenseiten des Würfels durch das „Li- neal“ angezeigt. Auf diese Weise kann ermittelt wer- den, wann sich der Zylinder in der Mitte des Würfels befindet. In unserer konkreten Lernumgebung war zu beobach- ten, dass die Schüler*innen das Zentrum der Würfel- ecke mit Hilfe der Maße der Linealfunktion nicht be- rechneten, sondern freihändig den Cursor so lange verschoben, bis die Abstände zu den Außenseiten als gleich angezeigt wurden. Die Länge der Zylinder zur Erstellung der Ausspa- Abb. 4: Befehl „Bohrung“ im Programm Tinkercad™ rungen wurde von manchen Gruppen frei Hand ge- 8
F. Pielsticker, E. Hoffart & I. Witzke wählt, beispielsweise ohne Rücksicht darauf zuneh- Die vorliegenden Interviews wurden im Sinne von men, ob der Würfel komplett durchbohrt wurde. An- leitfadengestützten Experteninterviews (Helfferich, dere nutzten wiederum die Linealfunktion, um genau 2014) mit Schülerteams nach den Arbeitsphasen ge- dies zu vermeiden. führt. Die gewählte Umsetzung der Schülerinter- views entsprach bewusst dem sprachlich-reflektie- Um im Programm solche Würfel mit Aussparungen renden Handeln, auf das im Prozess der Begriffsent- des Bausatzes (Ecken des späteren 3D-Druck-Kan- wicklung ein besonderer Akzent zu setzen ist (Franke tenmodells) für den Druck vorzubereiten, müssen & Reinhold, 2016). In der Interviewsituation selbst durch den Programmbefehl „Gruppierung“ Würfel standen den Schüler*innen jeweils ein Notebook mit und Aussparungszylinder dann verbunden und an- dem CAD-Programm Tinkercad™ sowie Papier schließend, mengentheoretisch gesprochen durch (blanko) und Stifte zur Verfügung. Die Interviews Komplementbildung, durch den Befehl „Bohrung“ dauerten zwischen 15 und 20 Minuten und wurden in zum Schnitt gebracht werden. einem separaten Raum neben dem Gruppenraum im Dadurch entsteht ein Würfel mit einer zylinderförmi- Anschluss an die Arbeitsphase durchgeführt. gen Aussparung, also dem gewünschten Loch, in das Innerhalb unseres Fallstudiendesigns und der damit später zylinderförmige Kanten des Steckmodells ein- verbundenen Analyse ist uns eine detaillierte Be- gesetzt werden können. Anschließend kann der Wür- schreibung – im Sinne eines ganzheitlich-deskripti- fel gedreht werden, um weitere Aussparungen zu er- ven Prozesses, wie auch im SEBe-Konzept in Ab- stellen bzw. zu „bohren“. Des Weiteren können Zy- schnitt 2.1. aufgeführt – besonders wichtig. linder (vgl. orange gefärbte Volumenkörper in der rechten Befehlsleiste in Abb. 3 und Abb. 4) auf die Für eine genauere Analyse im Sinne der zuvor for- Arbeitsebene gezogen werden und durch Anklicken mulierten Forschungsfrage (vgl. 3.1) beschreiben wir sowie Ziehen verlängert werden. Mit Hilfe der mög- das beobachtete und aufgezeichnete Verhalten der lichen Eingabe von Maßen kann zusätzlich der Kreis- Schüler*innen in Subjektiven Erfahrungsbereichen. durchmesser der Grundfläche des Zylinders variiert Dazu haben wir die empirischen Daten bzw. die in werden. Transkripten aufbereiteten Daten unserer Fallstudie zunächst mithilfe des Verfahrens der strukturieren- In diesem Zusammenhang konnte bei der Durchfüh- den qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring (2010) rung der Lernumgebung beobachtet werden, dass ei- kategorisiert und dadurch systematisch dargestellt. nige Schüler*innenpaare diesen Kreisdurchmesser Dabei verläuft die Inhaltsanalyse im Sinne Mayrings nach Bemaßung der Kantenlängen des Würfels be- nach vier Schritten. Zunächst haben wir unser zu ana- wusst berechneten und so einstellten, dass er voll- lysierendes empirisches Datenmaterial detailliert be- ständig innerhalb des Würfels liegen musste. Andere schrieben. Dabei wurden die erstellten Transkripte führten diese Operation nach ihrer Anschauung frei der Interviews und weitere gewonnene empirische Hand aus. Daten (Schülerdokumente wie z. B. Skizzen aus den Insgesamt betrachtet waren die Schüler*innengrup- Interviews) zugrunde gelegt. Als Analyseeinheit galt pen nach einer kurzen Einarbeitungszeit mit dem dabei jede sinnvolle Texteinheit. Im Anschluss daran CAD-Programm in der Lage, die zuvor vereinbarten wurden die auf solche Weise gewonnenen Textein- Kantenmodelle für den 3D-Druckbausatz vorzuberei- heiten paraphrasiert und in einem nächsten Schritt ten und den Druck durchzuführen. auf einer definierten Abstraktionsebene generalisiert. An dieser Stelle nutzten wir auch Aspekte unserer 4. Aus der empirischen Untersuchung theoretischen Festlegungen, um die aufbereiteten Texteinheiten durch einen erhöhten Abstraktionsgrad 4.1 Zum methodischen Vorgehen zu reduzieren. Damit erreichen wir eine Zusammen- Aus dem gewonnenen Datenmaterial, d. h. Schü- fassung der Texteinheiten in einem Kategoriensys- lerdokumenten (Plakate, Schreibaufträge, Steck- tem, welches schließlich mithilfe des empirischen briefe und handschriftliche Aufzeichnungen während Datenmaterials überprüft wird (Mayring, 2010). Die- der Interviews) sowie Interviews (videografiert und ser Analysevorgang wurde gemeinsam von allen drei transkribiert) wurde für diesen Artikel eine Auswahl Autoren des Artikels durchgeführt. mit Bezug auf das Forschungsansinnen zur Verwen- Durch das gebildete Kategoriensystem und den Ab- dung von Begriffen getroffen. Für unsere Analyse gleich mit dem empirischen Datenmaterial konnten wurden die Videoaufnahmen nach den Hinweisen wir Indikatoren für vier Subjektive Erfahrungsberei- und Regeln von Dresing und Pehl (2015) transkri- che ausmachen. Diese lassen sich wie folgt charakte- biert und für eine anschließende Auswertung aufbe- risieren: reitet. 9
math.did. 44(2021)2 Kategorie 1: Es sei schon an dieser Stelle angemerkt, dass Zeich- nen und Sprechen während der Interviewsituationen Subjektiver Erfahrungsbereich „Knete“ als eine Art Kommunikations- und Visualisie- In dem SEB „Knete“ agieren die Viertklässler mit den rungstool dienen. Mit Bezug auf Bauersfeld wird in Objekten Knete, Trinkhalmen und Spießen. Sie rollen verschiedenen Situationen die Sprache als „mächti- und formen Knete, stecken die Knetfiguren mit festen ges symbolisches Repräsentationsmittel“ (Bauers- Objekten zusammen. Sie halten diese fest und drehen feld, 1983, S. 33) deutlich. Sie ermöglicht den Schü- diese. Sie verwenden zumeist empirische Begriffe wie ler*innen nicht nur eine Verdeutlichung und Veran- Knetkugel oder Trinkhalme, eher selten die allgemeine- schaulichung ihrer Vorstellung, sondern zeigt auch ren Begriffe Ecken und Kanten. die spezifische Verwendung von Sprache in verschie- Kategorie 2: denen Situationen sowie Kontexten. Subjektiver Erfahrungsbereich „geometrische Körper“ 4.2 Fallbeispiele Mit Blick auf unsere Daten können wir einen SEB be- Nachfolgend soll an drei ausgewählten Schülerinter- schreiben, den wir als „geometrische Körper“ bezeich- views beispielhaft nachgezeichnet werden, wie die nen wollen, und der hauptsächlich in den Interviews ak- tiviert wurde. In den Interviews sprechen die Kinder begrifflichen Aushandlungsprozesse mit den Schü- von „Körpern“ und verwenden die Standardbezeich- ler*innen in den Interviewsituationen erfolgt sind. nungen für geometrische Körper. Diese Begriffsver- Ein besonderes Augenmerk liegt dabei auf der Be- wendung ist häufig an das Erstellen oder Beschreiben reichsgebundenheit und Situationsspezifität von geo- von Zeichnungen auf einem Zeichenblatt gekoppelt. Sie metrischem Wissen bei Schüler*innen, das zunächst verwenden zudem die Begriffe Ecken und Kanten gebunden an die Kontexte vorzuliegen scheint, in de- durchgängig. nen dieses Wissen konstruiert wird (vgl. 2.1). Kategorie 3: 4.2.1 Schülerinnenpaar 1: Sabine und Rita1 Subjektiver Erfahrungsbereich „Tinkercad™“ – Erkennen von strukturellen Gemein- Einen weiteren SEB konnten wir für die Arbeit bzw. samkeiten in unterschiedlichen Kon- Begriffsverwendung der Schüler*innen auf virtueller texten Ebene mit dem Programm Tinkercad™ beschreiben. Sabine und Rita sind Schülerinnen der 4. Klasse und Es wurde beobachtet, dass die Kinder bei der Umset- nahmen an allen drei Vormittagen der Lernumge- zung der Aufgabenstellung auf der virtuellen Ebene zu- meist die sehr spezifischen Begrifflichkeiten der Pro- bung „Kantenmodelle mal anders“ teil. Erhebungs- grammoberfläche wie Skalieren, Bohren, Verkleinern zeitpunkt des Interviews ist Tag 2 der Einheit in der und Gruppieren verwendeten. Mathe-Werkstatt (Abb. 2). Hier handelt es sich um Schülerinnen, die zunächst an dem ersten Vormittag Sie benutzen zudem die Begriffe Würfel und Zylinder, mit Knet-Kantenmodellen und dann an dem darauf- nicht aber die Begriffe Ecken und Kanten. folgenden Montag mit 3D-Druck-Technologie gear- Kategorie 4: beitet haben. Subjektiver Erfahrungsbereich „3D-Druck“ Die folgende Episode ist besonders interessant, da wir für Sabine eine spontane Sinnkonstruktion im Einen weiteren SEB, den wir „3D-Druck“ nennen, kön- Verlauf der Interviewsequenz vermuten können. Zu- nen wir für den Umgang der Schüler*innen mit den vom dem wird deutlich, wie verschiedene SEBe aktiviert 3D-Drucker erzeugten Objekten beschreiben. Die Schü- und in Verbindung gebracht werden. Die beiden be- ler*innen zeigten vielfältige Handlungen wie beispiels- trachteten Schülerinnen verhalten sich so, als würden weise das taktile Zusammenstecken des Bausatzes oder kleinere Nacharbeiten wie zum Beispiel das Abschlei- sie eine Strukturgleichheit in dem Kontext „Knete“ fen von Unebenheiten, um Objekte wie gewünscht zu- (SEB 1) und in dem Kontext „Tinkercad™“ (SEB 3) sammenstecken zu können. In diesem Zusammenhang erkennen. Als Auslöser der Verbindung erscheint uns beschrieben die Schüler*innen die vorliegenden Ob- dabei die Erstellung und Verwendung von Skizzen jekte des Bausatzes zumeist als „Stäbchen“ und „Wür- auf einem Zeichenblatt bzw. ein (zeichnerischer) Im- fel(-chen).“ Erst in den zusammenführenden Abschlus- puls, der von der Schülerin Sabine ausgeht. sinterviewsituationen konnten wir beobachten, dass sie Zur Situation: Kurz vor dem Interview haben die bei- diese Begriffe unter die Kategorien Kanten und Ecken den Schülerinnen die Ecken und Kanten ihres späte- subsumierten. ren Kantenmodells in Tinkercad™ konstruiert. Wie Tab. 1: Induktiv gebildetes Kategoriensystem zur Analyse in Abschnitt 3.2 erläutert, fungieren Würfel als Ecken der Aussagen der Schüler*innen des Steckmodells und Zylinder als Kanten. Die Daten wurden als STL-Datei an den 3D-Drucker übermittelt 10
F. Pielsticker, E. Hoffart & I. Witzke und der Druck gestartet. Während des Interviews Im vorliegenden Transkriptausschnitt (TA. 1) stellen druckte also einer der zur Verfügung stehenden 3D- die Schülerinnen ihre (mathematischen) Handlungen Drucker die acht Ecken (Würfel mit zylinderförmi- im Kontext von Bedienungsroutinen des Programms gen Aussparungen) in der Mathe-Werkstatt. Nach dar (TA. 1, Zeile 6). Im weiteren Interview fällt zu- dem Interview war geplant, dass die Mädchen auch dem auf, dass die beiden Schülerinnen immer wieder noch die 12 Kanten (Zylinder) ihres Modells ausdru- die perspektivischen Darstellungen des Würfels dre- cken. hen, verschieben, vergrößern und verkleinern. Diese Handlungen und die vorgenommenen Beschreibun- Der folgende Transkriptausschnitt (TA. 1) gibt den gen der Schüler*innen erscheinen uns charakteris- Einstieg in das Interview zwischen Sabine, Rita und tisch für die Konstituierung ihres Wissens in einem dem Interviewer (im Folgenden kurz: S, T bzw. I) SEB „Tinkercad™“. wieder. Um sich auf die zuvor im Rahmen der Ler- numgebung gemachten Erfahrungen zu fokussieren, Eine besondere Stellung nimmt, wie oben schon an- werden die Schülerinnen gebeten, einem (fiktiven) gedeutet, dabei die CAD-spezifische Handlung des Mitschüler den Arbeitsauftrag sowie das Vorgehen in „Bohrens“ ein. In unserem konkreten Fall werden, eigenen Worten zu erläutern. u. a. im Sinne einer mengentheoretischen Komple- 1 R Ehm, wir haben mit dem 3D-Drucker gearbei- mentbildung Aussparungen in Zylinderform erstellt. tet. Bemerkenswert ist dabei, dass der Vorgang des 2 S Und wir mussten, mit dem PC erstmal alles vor- machen. „Bohrens“ im Programm referenziert wird durch 3 I Wollt ihr auch mal was zeigen? transparente Körper. Dabei zeigt der untenstehende 4 S (S beugt sich nach vorne zum Notebook hin Transkriptausschnitt (TA. 2, eines weiteren Inter- und zieht einen Würfel aus der Taskleiste mit views mit zwei anderen Schülerinnen), welche be- dem Cursor auf die Arbeitsebene von Tinker- grifflichen Schwierigkeiten die Schüler*innen (in cad™.) 5 I Also, was habt ihr, was habt ihr so erstellt? TA. 2 ist es Pia) mit der „Bohrung“ haben. 1 P Mhm (räuspert sich) (17 sec). Wieso, (räuspert 6 S Hm, wir haben erstmal einen normalen Würfel sich) muss man denn ‘en Zylinder in den Würfel erstellt. Und danach haben wir Löcher reinge- tun, um ein Loch zu bekommen? bohrt, also mit dem, Zylinder. (R deutet mit dem Finger auf den Zylinder, der in der Auswahl am TA. 2: Weiteres Interview mit der Schülerin Pia rechten Bildschirmrand zu sehen ist. S zieht mit dem Cursor einen durchsichtigen Würfel in das Für die Ausführung einer „Bohrung“ (Abb. 4) wird Bearbeitungsfeld.) Hm. (S löscht den durch- ein sozusagen „negativer“ schraffierter geometri- sichtigen Würfel wieder und zieht mit dem Cur- scher Körper in Tinkercad™ verwendet. Im Sinne sor einen Zylinder von der Auswahl in den Be- des Konzeptes von empirischen Schülertheorien arbeitungsbereich. S klickt einige Male auf den liegenden Zylinder.) (Burscheid & Struve, 2020) ist es wenig überra- 7 S (R steht auf und bewegt die Hand Richtung schend, dass dies bei Pia (TA. 2) einen kognitiven Tastatur.) Du musst das wegmachen, ne. (R Konflikt auslöst. Hier kann auf eine sogenannte The- und S bewegen den Mauscursor, um Verände- oretizität des Begriffs (Stegmüller, 1978), d. h., dass rungen am Würfel in Tinkercad™ vorzuneh- dieser nur in einem spezifischen theoretischen Rah- men und tippen danach auf der Tastatur auf „Entf“) Das ist doch schon. men, hier Tinkercad™ verstanden werden kann, ver- 8 R (leise) Warte, warte. (Nickt und gibt Werte für wiesen werden. Da der Begriff der „Bohrung“ offen- die Maße des Zylinders ein.) (Die Höhe des sichtlich die Gültigkeit einer sehr speziellen Tinker- Zylinders ändert sich.) cad™-Theorie voraussetzt und nicht der unmittelba- TA. 1: Schülerinnenpaar 1, Sabine und Rita im Interview ren Beobachtungssprache entspringt, kann man die- sen als theoretischen Begriff in einem empirischen Sabine beschreibt in diesem Transkriptausschnitt SEB beschreiben (Struve, 1990). (TA. 1) die Konstruktion einer der Eckwürfel in Be- zugnahme auf einzelne Handlungsschritte im Pro- Im Anschluss an die obige Sequenz (TA. 1) fertigt gramm und verwendet hierzu die Benutzeroberfläche Rita eine Zeichnung (Abb. 5) zur Verdeutlichung des von Tinkercad™ auf dem Notebook. Sie nutzt dabei „Bohrprozesses“ an und wird während des Zeichnens Umschreibungen wie „Würfel erstellt“, „Löcher rein- von Sabine auf zunächst noch fehlende Aussparun- gebohrt“ oder „mit dem Zylinder“ (TA. 1, Zeile 6), gen für die Kanten (in Zylinderform) aufmerksam ge- die sich auf das Programm Tinkercad™ beziehen o- macht. Diese zeichnet Rita dann auch in Form von der terminologisch, wie bei dem Verb „gebohrt“ (TA. Kreisen ein (Abb. 5). 1, Zeile 6), sogar diesem entspringen. Hier erscheint Die Schülerinnen wechseln selbstständig die Darstel- das Wissen, zumindest auf sprachlicher und handeln- lungsebene und versuchen ihr Vorgehen mit einer der Ebene eng an den Kontext der Benutzeroberflä- Zeichnung zu verdeutlichen. che des verwendeten CAD-Programmes gebunden zu sein. Dies ist für uns ein erster Anhaltspunkt zur Be- schreibung eines möglichen SEBes „Tinkercad™“. 11
math.did. 44(2021)2 1 S Man sollte den Zylinder nehmen, um Löcher reinzumachen, so. 2 R Es gibt nämlich (bedient das Notebook). 3 S Damit man. 4 R Es ungefähr wie Knete machen kann. 5 I Ah genau. Zeig nochmal darauf wo, man das dann zusammensteckt! 6 S (Zeigt mit dem Bleistift auf die Ecken des auf- gezeichneten Kantenmodells und zeichnet Striche in die Ecken.) Hier. TA. 3: Weiterer Auszug aus dem Interview mit dem Schülerinnenpaar 1, Sabine und Rita Abb. 5: Zeichnung eines „Eckwürfels“ von Rita, die Kreise kennzeichnen Aussparungen für Kanten, die Rita Der folgende Transkriptauszug (TA. 4) zeigt, wie Sa- nach einem Impuls von Sabine einzeichnet bine den SEB „Knete“ und den SEB „3D-Druck“ auf- einander bezieht. „Das sind nämlich auch acht.“ Im weiteren Verlauf des Interviews zeichnet Sabine (TA. 4, Zeile 10) ist dabei aus unserer Sicht ein Indiz dann auch ein „Knet-Kantenmodell“ (Abb. 6) und dafür, dass Sabine eine kontextunabhängige Struk- nutzt auf diese Art und Weise die Zeichenblattebene, turgleichheit im Sinne der Grundvorstellung Anzah- um eine Verbindung zwischen den Kontexten CAD- len und Form charakterisierender geometrischer Programm und Knete zur Verdeutlichung ihrer Argu- Elemente, erkennt: mentation zu erzeugen. 1 I Genau.. Ok.. Mm ja, erinnert euch denn das, was wir jetzt hier gemacht haben an das, was Ist auf der ersten Zeichnung (Abb. 5) mit der Darstel- ihr schon mal gemacht habt? lung einer Ecke als Würfel mit Kreisen als angedeu- 2 S Mh, ja irgendwie schon. tete Aussparungen deutlich der Kontext „CAD-Pro- 3 I Ja, was- also? gramm“ zu erkennen, versuchen die beiden in der 4 R Mit der Knete (Handbewegung: Zusammen- zweiten Zeichnung (Abb. 6) zu verdeutlichen, wie stecken von Kante und Ecke). 5 I Ah, ok ihr erinnert euch daran, ne? das fertige Kantenmodell aussehen würde. Dabei 6 S Jetzt weiß ich ungefähr, was es werden spricht Sabine von Stäbchen, zeichnet aber bemer- könnte. kenswerterweise die Skizze eines Knet-Kantenmo- 7 I Aha, was? dells, was z. B. an den gezeichneten Kreisen (symbo- 8 S Man kann das mit genau den auch zusam- menstecken, wie mit Knete. lisieren Knetkugeln) als Ecken zu erkennen ist. 9 I Ah, ok. Sabines Ausdruck „Stäbchen“ (Transkript nicht ab- 10 S Das sind nämlich auch acht. gedruckt) könnte darauf hinweisen, dass sie eine Be- TA. 4: Auszug aus dem Interview von Sabine und Rita zeichnung für die gedruckten Kanten (Zylinder) Die Frage des Interviewers (TA. 4, Zeile 1) ist relativ sucht, die sie zu diesem Zeitpunkt aber noch nicht ge- unspezifisch und ließe von Schülerinnenseite aus ver- sehen hat. Sabine nutzt die Zeichenblattebene, akti- schiedene Deutungsmöglichkeiten zu. Sie könnten in viert also zum SEB „Knete“ zusätzlich den SEB „ge- ihrer Antwort beispielsweise räumliche, zeitliche o- ometrische Körper“, um darin ihre Argumente zu der inhaltliche Aspekte ansprechen. Ritas Ausführun- verdeutlichen. gen deuten in Richtung des SEBes „Knete“, indem sie sagt (TA. 4, Zeile 4): „Mit der Knete. (Handbe- wegung ‚zusammenstecken‘)“. Vermutlich erinnert sie sich in dieser Situation an den vorangegangenen Projektvormittag zu Knet-Kantenmodellen. Für Sa- Sabine bezeich- bine zeigt die Sequenz interessanter Weise einen net die Kanten Aha-Effekt bzw. eine „spontane Sinnkonstruktion“ in der Skizze als „Stäbchen“. (Bauersfeld, 1983, S. 53). Sie realisiert strukturelle Gemeinsamkeiten zwischen ihren Wissensbereichen zur Knete und zu den 3D-Druck-Modellen im Sinne der intendierten Grundvorstellung (TA. 4, Zeile 8), trotz aller (nicht zu unterschätzenden) kontextuellen Unterschiede. Ausgelöst wird dies wohl durch einen Abb. 6: Zeichnung eines fertigen Kantenmodells von äußeren Impuls, der hier durch die Ausführungen Ri- Sabine tas deutlich wird. Die gleichzeitige Aktivierung beider SEBe spiegelt auch der folgende, sich auf die Zeichnung (Abb. 6) beziehende Transkriptausschnitt (TA. 3) wider. 12
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