Kontroversen um den Brexit - Sabine Riedel

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Kontroversen um den Brexit - Sabine Riedel
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Sabine Riedel

Kontroversen um den Brexit
Diskursanalyse, Integrationstheorien und Ordoliberalismus bieten Erkenntnis und Orientierung

„Drei große Ausschließungssysteme treffen den Diskurs: Das verbotene Wort, die Ausgrenzung des Wahn-
sinns, der Wille zur Wahrheit.“ (Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses, 2.12.1970; dt. 2019: 16).

Die Berichterstattung über die (Post-)Brexit-Verhandlungen 2019–2020 ist ein Lehrbeispiel dafür, wie
Medien immer stärker gesellschaftliche Diskurse steuern und Einfluss auf politische Entscheidungs-
prozesse nehmen, die eigentlich in die Hand des Souveräns gehören, den Staatsbürgern. Die Dis-
kursanalyse Foucaults macht mediale Techniken bewusst, um das Nichtgesagte zu erkennen, Dokt-
rinen zu hinterfragen und sich ein eigenes Urteil zu bilden. So wird deutlich, dass der Austritt des
Vereinigten Königreichs (VK) für die Europäischen Union (EU) mehr bedeutet als der Verlust eines
Mitglieds. Es geht um die Deutungshoheit über „Europa“ und darüber, welche Richtung die Europä-
ische Integration einschlagen soll. Die Mehrdeutigkeit der Europabewegung hat in diesem Diskurs
keinen Platz mehr und das Narrativ eines naturwüchsigen“ Spill-over“ (Neofunktionalismus) von
Machtbefugnissen auf Brüssel wird so zur einzigen Wahrheit. Die funktionalistische Theorie, die von
einer Kooperation souveräner Staaten ausgeht, soll für die Europapolitik nicht mehr gelten. Wohl
deshalb wurde den nationalen Parlamenten vorenthalten, dass Brüssel neben dem Handelsvertrag,
noch weitere Abkommen mit dem VK abgeschlossen hat, u.a. zur friedlichen Nutzung der Kernener-
gie. Schließlich kann der Ansatz des Ordoliberalismus den Dissens der Verhandlungen erklären: Die
EU-Verhandlungsführer stellen die Souveränität des Binnenmarktes über die von Staaten.

Der endgültige Austritt des Vereinigten König-                    Bündnis- und Handelspartnern nicht etwa Kon-
reichs (VK) aus der Europäischen Union (EU)                       kurrenten, sondern politische Gegner oder Fein-
zum Jahresbeginn 2021 hatte nochmals heftige                      de werden, könnte sich der Brexit als Vorbote für
Kontroversen ausgelöst. Doch die Ungewissheit                     eine ganze Reihe innereuropäischer Konflikte er-
darüber, ob sich beide Seiten bis zum Ende der                    weisen. Sie werden statt der angestrebten In-
Übergangsfrist auf Nachfolge-Abkommen einigen                     tegration weitere Desintegrationsprozesse auf re-
werden, lag vor allem an der mangelnden Trans-                    gionaler, staatlicher und supranationaler Ebene
parenz der Verhandlungsführung. Hinzu kam                         auslösen.
eine Berichterstattung, die offenbar in Ermange-                     Die nachfolgende Analyse möchte verschie-
lung konkreter Informationen die strittigen The-                  dene Methoden vorstellen, mit denen die jüngs-
men wie Fischereirechte, EU-Standards und der                     ten Entwicklungen zum Thema Brexit aufgearbei-
Status Nordirlands nur lückenhaft oder gar falsch                 tet werden können. Dabei erhebt dieser Beitrag
wiedergab. Deshalb können sich glaubwürdige                       nicht etwa den Anspruch, ein ausgereiftes For-
Analysen hierzu nicht auf eine Prüfung der Fak-                   schungsdesign vorzulegen. Er möchte aber ver-
ten allein beschränken.                                           schiedene Anstöße für tiefergehende und weiter-
    Aus wissenschaftlicher Perspektive betrachtet                 führende Analysen geben, um dem Anspruch ei-
sind der Brexit und die Verhandlungen über nach-                  ner pluralistischen Wissenschaft gerecht zu wer-
folgende Abkommen ein Lehrstück dafür, wie                        den. Zur Überprüfung und Analyse der bereits er-
leicht sich durch die Weitergabe bestimmter Infor-                wähnten Informationslücken bietet sich zunächst
mationen Meinungsbilder erzeugen lassen. Doch                     die Diskursanalyse an. Sie geht auf den franzö-
wenn sie bewirken sollen, dass aus langjährigen                   sischen Philosophen Michel Foucault zurück und

2021 Jan 18
Prof. Dr. Sabine Riedel, apl. Professorin für Politikwissenschaft, Universität Magdeburg,
Wissenschaftlerin an der Stiftung Wissenschaft und Politik, sabine.riedel@swp-berlin.org
Sabine Riedel: Kontroversen um den Brexit

wurde seit den 1970er Jahren von Sozialwissen-                            steht in der Einschätzung, ob es bei Integrations-
schaftlern unterschiedlicher Schulen weiterentwi-                         prozessen zu Spill-over-Effekten kommt, die eine
ckelt (Traue, Pfahl, Schürmann 2014: 566f.).                              Staatswerdung anstoßen. Während der Funktio-
   Einen theoretischen Zugang, der sich bei die-                          nalismus (bzw. Intergouvernementalismus) dies
sem Thema geradezu aufdrängt, bieten die Integ-                           verneint, ist der Neofunktionalismus normativ
rationstheorien, die von US-amerikanischen For-                           ausgerichtet. Er geht davon aus, dass sich z.B.
schern entwickelt wurden. Die Ansätze werden                              die Europäische Union allmählich in einen supra-
nicht ohne Grund stets im Plural genannt (bpb.de                          nationalen Staat verwandelt. Der Brexit bietet vor
2020), stehen dahinter doch ganz unterschiedli-                           allem Politikwissenschaftlern eine gute Gelegen-
che Thesen zum Verlauf und zur Zielsetzung von                            heit, diese Ansätze nochmals auf ihren Erklä-
Integrationsprozessen Der größte Dissens be-                              rungsgehalt hin zu prüfen.

Abbildung 1

Quelle: Eigene Zusammenstellung. Dieses metatheoretische Ansatzraster ist die Aktualisierung einer Version aus dem Buch der Autorin:
Sabine Riedel, Die kulturelle Zukunft Europas, Wiesbaden 2015, S. 259. Es bietet einen Überblick über ausgewählte theoretische Ansätze
in den Sozialwissenschaften und zeigt deren Wechselwirkungen. Aus der eigenen Forschungserfahrung heraus wurden komplexe Ansätze,
die ökonomische, politische wie auch kulturelle und somit gesellschaftliche Faktoren berücksichtigen, im Zentrum des Schaubilds platziert,
während fachlich weiter ausdifferenzierte Theorien eher in den Randbereich gesetzt wurden. Das Ansatzraster soll dazu beitragen, die
verbindenden Elemente unterschiedlicher Ansätze zu erkennen und sie für eine Analyse der sozialen Wirklichkeit fruchtbar zu machen.

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                                                                                                                   POLITIK & KULTUR
                                                                                                                              1 / 2021
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    Nicht zuletzt finden diese Prozesse nicht iso-        Als Strukturalist interessiert sich Foucault für
liert in Europa statt, sondern im Kontext globaler    die „Ordnung des Diskurses“, die durch „Proze-
Entwicklungen. Eines von vielen interessanten         duren“ bzw. Verfahren konstituiert wird (Foucault
Modellen ist aus Sicht der Autorin die Interdepen-    2019: 11): Kurz dargestellt unterschiedet der Au-
denz der Ordnungen. Es wird in der Fachliteratur      tor zwischen den äußeren Kontrollverfahren, die
auch als Ordoliberalismus bezeichnet und ist          über das Aufkommen von Diskursen entschei-
mit dem deutschen Ökonomen Walter Eucken              den, den inneren Verfahren zur Steuerung von In-
verbunden (eucken.de). Dieser gilt als Vordenker      halten bzw. deren Interpretationen und schließ-
der sozialen Marktwirtschaft in Deutschland nach      lich den Verfahren zur Regelung des Zugangs zu
dem Zweiten Weltkrieg (kas.de, 2021). Sein Mo-        Diskursen und damit zur Begrenzung der beteilig-
dell wurde anfangs von neoliberalen Lehrmeinun-       ten Akteure. Alle drei Verfahrensklassen zeigen
gen und schließlich vom Monetarismus ver-             sich in verschiedenen Ausprägungen, von den im
drängt, einer Theorie, der zufolge die Steuerung      Folgenden einige herausgegriffen und auf die
der Geldmenge den entscheidenden Einfluss auf         Brexit-Verhandlungen angewandt werden. Dabei
das Wirtschaftsleben hat.                             beschränkt sich diese Analyse auf Diskurse im
    Abbildung 1 dient der Orientierung und Einord-    deutschen Sprachraum unter der Fragestellung,
nung von Theorieangeboten aus den Sozialwis-          wie der mediale Diskurs über die Austrittsver-
senschaften. Für dieses metatheoretischen An-         handlungen auf Seiten der EU und deren Mit-
satzraster (MT-Ansatzraster) wurden die bekann-       gliedstaaten geführt wurde.
testen ausgesucht und danach platziert, welchen           Foucaults theoretischer Ansatz erweist sich
Grad an Komplexität sie zur Erklärung von Wirk-       bereits in Bezug auf die äußeren Kontrollmecha-
lichkeit bieten. Dabei fällt auf, dass ältere Theo-   nismen als sehr hilfreich, um den Diskursverlauf
rien aus dem 19. Jahrhundert ökonomische, so-         der Jahre 2019-2020 nachzuvollziehen. Interes-
zial-kulturelle wie auch politische Phänomene         sant sind in diesem Zusammenhang zwei Grenz-
nicht getrennt voneinander betrachten. Dagegen        ziehungen, die ein wichtiges Instrument zur Dis-
war das 20. Jahrhundert die Zeit der Ausdifferen-     kurskontrolle darstellen, nämlich die Unterschei-
zierung von neuen Wissens- und Forschungsge-          dung zwischen wahr und falsch und die „Unter-
bieten, wie z.B. die der Politikwissenschaft. Heute   scheidung zwischen Wahnsinn und Vernunft“
geht der Trend eindeutig zurück zum interdiszip-      (Foucault 2010: 11 f.). Im Gegensatz zum offenen
linären Denken und Handeln, nicht nur weil diese      Verbot bzw. zur Tabuisierung ziehen diese bei-
Methode tiefere Einblicke in gesellschaftliche Zu-    den Instrumente eine unsichtbare Grenze, um un-
sammenhänge verspricht, sondern auch Unter-           willkommene Aspekte aus dem Diskurs auszu-
nehmen ohne sie nicht innovativ sein können.          schließen. Sie wurden von führenden deutschen
                                                      Medien gegen den neuen britischen Premiermi-
1. Die Diskursanalyse untersucht Regeln               nister Boris Johnson eingesetzt, um offenbar die
zur Teilnahme, Kontrolle und Steuerung                Gründe für das Scheitern seiner Vorgängerin
Seitdem Foucaults Diskursanalyse in Deutsch-          Theresa May aus den Schlagzeilen zu bringen.
land bzw. im deutschsprachigen Raum rezipiert         Die deutsche Presse diskutierte daraufhin kaum
wird, haben Sozialwissenschaftler diesen theore-      noch die Frage, warum sie im Herbst 2018 gegen
tischen Ansatz an ihre jeweilige Teildisziplin an-    ihre ursprüngliche Verhandlungsposition einen
gepasst und weiterentwickelt (Keller u.a. 2011).      Kompromiss mit der EU eingegangen ist, der
Obwohl sich alle Autoren auf Michel Foucault be-      letztlich im VK scheiterte (Riedel 6/2019: 4, Rie-
rufen, so entfernten sich dabei nicht wenige von      del 7/2020: 3).
dessen ursprünglichen Kernpunkten. Die einen              Schon während sich nach Mays dritter Abstim-
betrachten die Diskursanalyse heute als ein nütz-     mungsniederlage im britischen Parlament ein
liches Set an Methoden der empirischen Sozial-        Machtwechsel ankündigte (zeit.de, 18.3.2019),
forschung zur Inhaltsanalyse von Debatten (Diaz-      berichteten Journalisten des Nachrichtenmaga-
Bone 2006). Andere wiederum verwenden sie als         zins Der Spiegel aus dem britischen Parlament:
„politisches Konzept“, um Diskurse nicht nur kri-     „Es gibt hier Anzeichen mentaler Krankheit" (Der
tisch zu hinterfragen, sondern selbst zu initiieren   Spiegel, 12.4.2019). Über den Tory-Wahlkämpfer
und auf deren Verlauf Einfluss zu nehmen (Jä-         Rupert Matthews hieß es: „Er glaubt an Aliens,
ger/Jäger 2007: 37). Angesichts dieser Vielfalt an    Geister und den Brexit“ (Der Spiegel, 17.5.2019).
Interpretationen erscheint es sinnvoll, zum Origi-    Als sich Boris Johnson als möglicher Nachfolger
nal zurückzukehren und die wesentlichen Ele-          Mays ankündigte, widmete ihm der Spiegel kurz
mente der Diskursanalyse Foucaults in diesem          vor seiner Ernennung zum neuen Premierminis-
thematischen Rahmen vorzustellen.                     ter (24.7.2019) eine ganze Ausgabe unter dem

                                                                        3         FORSCHUNGSHORIZONTE
                                                                                       POLITIK & KULTUR
                                                                                                  1 / 2021
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Titel „Mad in England“ – „Verrückt in England“ mit            vgl. in Abbildung 2), „Ein Irrer oder ein Genie?“
seinem verfremdeten Portrait in Anlehnung an die              (Gala, 23.7.2019), „Rüpel, Irrer, ‚Sextator‘ – oder
Titelfigur der Satirezeitschrift „Mad“ (Der Spiegel,          doch ein Genie?“ (rtl.de, 25.7.2019), „So verrückt
20.7.2019). Darin wurde er medial als „Harlekin“,             ist der britische Premier“ (news.at, 30.8.2019)
als „Witzfigur der britischen Politik“ und als „Poli-         oder „Größenwahnsinniger Irrer oder irrer Grö-
tischer Illusionskünster“ eingestuft (vgl. in Abbil-          ßenwahnsinniger?“ (PamS. 8.9.2019)
dung 2). Dieses Bild sollte offenbar einem breiten                 Jene Medien, die sich schneller auf die neuen
Leserspektrum vermittelt werden, vgl. weitere                 Machtverhältnisse im VK eingestellt haben, ver-
Schlagzeilen wie: „Politiker, Journalist, Märchen-            wenden seither ein anderes Narrativ. Sie verorten
onkel“ und „Autist“ (Deutschlandfunk, 22.7.2019,              den „geisteskranken Profilneurotiker“ „irgendwo
                                                              zwischen einer Pathologie und einer Straßenräu-
                                                              ber-Mentalität“ (eurojournalist.eu, 26.6.2019).
                                                              Boris Johnson ist für sie also weniger ein bemit-
Abbildung 2                                                   leidenswerter „Wahnsinniger“ als vielmehr „ein
                                                              ungehobelter Schwindler“, der „trotz aller Fehl-
  Hausmitteilung zum Spiegel-Cover                            tritte und Lügen immer wieder befördert wurde“
  „Mad in England“ vom 17.7.2019                              (Cicero, 26.7.2019). Nach der Diskursanalyse
                                                              Foucaults wird hier ein Ausschließungsverfahren
  Als sich Jörg Schindler, Großbritannienkorrespon-
                                                              entlang des „Gegensatzes zwischen dem Wah-
  dent, erstmals intensiver mit Boris Johnson befasste,
  stand ihm dieser in Unterhosen gegenüber. Es war            ren und dem Falschen“ angewendet (Foucault
  auf dem Fringe-Festival in Edinburgh, 2017, wo sich         2019: 13). In diesem Sinne weiß auch der ARD-
  die Besucher des »Brexit-Musicals« köstlich über
                                                              Korrespondent in London zu berichten: „[…], er
  diese Witzfigur der britischen Politik amüsierten, die
  ihre beste Zeit hinter sich zu haben schien. Johnson,       galt als Leichtfuß und Großmaul und ließ kein
  damals immerhin Außenminister, taugte noch als              Fettnäpfchen aus. […] Johnson hat es mit der
  menschlicher Wackeldackel und Spielzeugpuppe für
                                                              Wahrheit nie so genau genommen.“ (tagesschau.
  Hunde. Seine Tory-Kollegen im Parlament rollten mit
  den Augen, wenn Schindler sie auf Johnson an-               de, 23.7.2019, vgl. in Abbildung 3) Der Spiegel
  sprach, und antworteten auf die Frage, wer nach The-        blieb auch weiterhin bei seinem dezidiert schar-
  resa May Premierminister werden würde: »Anyone
                                                              fen Ton und titelte: „König der Zocker“ (Der Spie-
  but Boris.« Nächste Woche nun wird ebenjener Boris
  sehr wahrscheinlich in 10 Downing Street einziehen.         gel, 7.9.2019) oder „Der Erpresser“ (Der Spiegel,
  »Die Konservativen sind über den Brexit so verzwei-         2.10.2019).
  felt, dass sie einen Harlekin zum Heiland verklären«,
                                                                   Das Bild eines erfolgreichen „Zockers“ deutete
  sagt Schindler. Für das SPIEGEL-Cover wurde ein
  Porträt von Johnson verfremdet, angelehnt an Alfred         darauf hin, dass Brüssel einen Erfolg Johnsons
  E. Neumann, die Titelfigur der Satirezeitschrift „Mad“.     bei den Neuverhandlungen befürchtete. Die Dis-
                                                              kreditierung seiner Person diente offenbar der Er-
  Deutschlandfunk, 22.7.2019:
  „Boris Johnson.                                             klärung für ein mögliches Scheitern der Post-Bre-
  Politiker, Journalist, Märchenonkel“                        xit-Verhandlungen. Der Artikel mutmaßte, dass
                                                              dessen Kompromissangebot „der EU aber prak-
  […] Das Gesicht von Alfred E. Neumann, dem Titel-           tisch keine andere Wahl lässt, als es abzulehnen.
  helden der Satirezeitschrift MAD, ist ein weltweites
  Symbol für grenzenlose Dummheit. In genau dieses            Manche in London glauben: Genau das ist es,
  Gesicht hat das deutsche Nachrichtenmagazin „Der            worauf Johnson es anlegt“. (a.a.O.) Das Bild des
  Spiegel“ in dieser Woche Boris Johnson gewandelt.           „Erpressers“ wird wie in einem Hollywood-Dreh-
  Dem wahrscheinlich künftigen britischen Premiermi-
  nister dürfte das wohl nur ein müdes Lächeln bereitet       buch phantasievoll ausgeschmückt: Erst kurz vor
  haben. Johnson ist wenig schmeichelhafte Vergleiche         der Wiederaufnahme der beidseitigen Gespräche
  gewohnt, er wurde schon „Pinocchio“, „Baron von             Anfang Oktober 2019 „sickerten Johnsons Pläne
  Münchhausen“ oder „Serial Liar“ genannt. […]
                                                              durch, und diese erwischten die EU-Verhand-
  Die Grenze von „Märchen und Wahrheit“ sei oft über-         lungsführer offenbar kalt“, so dass ein „zweiwö-
  schritten worden, findet auch Michael Stabenow von
                                                              chiger Showdown“ bevorstehe (a.a.O.).
  der FAZ. Manche Geschichten hätten ein „Körnchen
  Wahrheit“ enthalten, wie die, die EU wolle Kondom-               Die öffentlich-rechtlichen Medien hielten sich
  größen europaweit standardisieren. Andere seien             eher an Tatsachen und berichteten, dass schon
  „absolute Erfindungen“ gewesen. Mit dieser Art von
                                                              Wochen zuvor Alternativen zum umstrittenen
  Journalismus sei er für die britische Presse nicht stil-
  bildend gewesen, habe das Ganze aber perfektio-             Sonderstatus (Backstop) für Nordirland vorlagen.
  niert. „Mir kam er vor wie ein Autist, der an sich selbst   Die ARD informierte: „Nun deutet sich eine Lö-
  und seine Stories dachte.“ […]
                                                              sung für den Streitpunkt an. Neu ist die allerdings
  Quellen: Der Spiegel, 19.7.2019 und 20.7.2020;              nicht.“ (tagesschau.de, 13.9.2019) Der Kernpunkt
  Deutschlandfunk, 22.7.2019                                  des Streits wird ebenso sachgemäß geschildert:
  [Hervorhebung blau: S.R.].
                                                              Der Austritt des VK aus dem EU-Binnenmarkt

                                                                                 4         FORSCHUNGSHORIZONTE
                                                                                                POLITIK & KULTUR
                                                                                                           1 / 2021
Sabine Riedel: Kontroversen um den Brexit

Abbildung 3                                                Anfang 2019 an EU-Politiker gewandt und sie um
                                                           eine Garantieerklärung gebeten. Diese sollte Ar-
 Die Tagesschau, 23.7.2019:                                gumente entkräften, dass der Brexit-Vertrag vom
 „Boris Johnson.                                           14.11.2018 Nordirland noch längere Zeit im EU-
 Der großspurige Unruhestifter“                            Binnenmarkt halten und auf diesem Wege auch
                                                           politisch aus dem VK herauslösen könne (Legal
 Lange Zeit trauten viele Tories Johnson kein wichti-
 ges Amt zu. Mit der Wahrheit nahm er es nie so ge-        advice, 5.12.2018). Doch aus der EU kam keine
 nau, er galt als Leichtfuß und Großmaul und ließ kein     Antwort (Riedel 2/2019: 2). Hätte Brüssel mit ei-
 Fettnäpfchen aus. Jetzt wird er Premierminister. […]      nem kurzen Statement Klarheit geschaffen, wäre
 Lügen und Fettnäpfchen                                    der Vertrag mit großer Wahrscheinlichkeit durchs
 Johnson hat es mit der Wahrheit nie so genau ge-          britische Parlament gekommen. So aber schlos-
 nommen. Als junger Korrespondent der "Times" in
 Brüssel schüttete er regelmäßig Gift und Galle über       sen sich allmählich die Reihen der Skeptiker im
 der EU-Bürokratie aus. Die Zeitung schmiss ihn dann       VK, was sich in einem historischen Wahlerfolg für
 allerdings raus, weil viele Zitate, mit denen er seine    Boris Johnsons nach dem Vertragsabschluss am
 Artikel aufpeppte, frei erfunden waren. Vor dem Refe-
 rendum versprach die Aufschrift auf dem roten Bus,        12.11.2019 niederschlug. Damit hatte die EU im
 mit dem Johnson durchs Land fuhr, man könne 350           Zuge der Neuverhandlungen sogar politisches
 Millionen Pfund pro Woche durch den Austritt aus der      Terrain verloren: Die umstrittene Brexit-Regel
 EU sparen und stattdessen in britische Krankenhäu-
 ser investieren. Die Zahl stimmte nicht.“ […]             wurde gestrichen.

 Cicero, 26.7.2019:                                        2. Funktionalismus – Neofunktionalismus:
 „Boris Johnson.                                           Konkurrierende Integrationskonzepte für
 Großbritanniens Mogelpackung“                             Europa seit 1945
 […] Man kann die Meinung und Aussagen der vielen          Bevor wir den Nutzen integrationstheoretischer
 kritischen Stimmen gegenüber Boris Johnson nicht          Ansätze am Beispiel des Brexits erörtern, wird zu-
 einfach wegwischen. Die Fakten, die Johnson so
 gerne verdreht, sind eindeutig: Er ist ein ungehobelter
                                                           nächst die Schilderung der Entwicklungen des
 Schwindler. Wie also konnte es möglich sein, dass         Jahres 2020 aus dem Blickwinkel der Dis-
 dieser Mann trotz aller Fehltritte und Lügen immer        kursanalyse fortgesetzt. Erst dann ergibt sich ein
 wieder befördert wurde? Wie konnte er sogar zum
 mächtigsten Mann Großbritanniens werden? Wieso
                                                           Gesamtbild, das einen sinnvollen Vergleich der
 ist Johnson von weiten Teilen der britischen Bevölke-     Theorieangebote und einen Blick auf die Zukunft
 rung so sehr ins Herz geschlossen worden?“ […]            Europas bzw. der EU erlaubt. Das emotional an-
 Die Londoner liebten ihn in seiner Zeit als Bürger-       gespannte wie inhaltlich komplexe Thema soll da-
 meister, weil er in Funk und Fernsehen stets erfri-
 schende Statements zum Besten gab. Oder wegen
                                                           mit auf eine sachliche Grundlage gestellt werden.
 der „Boris Bikes“, Leihfahrräder, die man sich an je-     Erst dieser Schritt erlaubt Einschätzungen dar-
 der Ecke borgen konnte. Sie lieben ihn, weil er in der    über, ob die Europäische Integration ihre, wie
 Auto-Show Top Gear mit Kult-Moderator Jeremy
 Clarkson feixt und witzige Antworten gibt. Seine Di-
                                                           auch immer gesteckten Ziele erreichen kann oder
 rektheit, seine Ruppigkeit, sein Charme, seine Wu-        möglicherweise das Gegenteil bewirkt.
 schelhaare, all das sind die Geschenke für Boris             Die Steuerung der öffentlichen Diskurse über
 Johnson. Er versteckt seine Inkompetenz hinter ei-
 nem Schleier aus großen Gesten und noch größeren
                                                           die Brexit-Verhandlungen setzte sich mit dem
 Worten. Wenn Boris Johnson spricht, scheint er an         Austritt des VK zum 31.1.2020 fort. In der darauf-
 einem Baum zu rütteln, und der zuvor narkotisierte        folgenden 11-monatigen Übergangsphase ka-
 Zuhörer fällt herab. […]“
                                                           men – von Foucaults Ansatz aus betrachtet – wei-
 Quellen: tagesschau.de, 23.7.2019, Cicero,                tere Kontrollverfahren zum Einsatz. Das wohl
 26.7.2019 [Hervorhebung blau: S.R.].                      wichtigste Instrument zur Steuerung von Diskurs-
                                                           inhalten ist der „Kommentar“ (Foucault 2019: 18).
                                                           Er kann sich in den Vordergrund drängen und da-
                                                           mit an Authentizität gewinnen, d.h. den Anschein
macht Kontrollen zwischen Irland und Nordirland            von Echtheit und Vertrauenswürdigkeit wecken.
notwendig. Aus der Sicht Brüssels hätte der                Dabei werden nicht nur andere Interpretationen
Backstop dies vermieden und den Frieden in                 marginalisiert, sondern unter Umständen auch
Nordirland erhalten, aus der Sicht Londons dage-           der ursprüngliche Text vollständig ersetzt.
gen eine „neue Handelsgrenze zwischen Nordir-                 Beispiel hierfür ist die Berichterstattung nach
land und Großbritannien“ geschaffen (a.a.O.).              der Unterzeichnung des Brexit-Abkommens am
Was selbst solche sachlichen Berichte ausblen-             24.1.2020. Wie erklärten die deutschsprachigen
deten, war die Mitverantwortung der EU für das             Medien ihrer Leserschaft den erzielten Kompro-
Scheitern des ersten Vertragsentwurfs. Die briti-          miss, insbesondere den Wegfall der umstrittenen
sche Premierministerin Theresa May hatte sich              Backstop-Regel? Zur Erinnerung: Danach sollte

                                                                            5         FORSCHUNGSHORIZONTE
                                                                                           POLITIK & KULTUR
                                                                                                      1 / 2021
Sabine Riedel: Kontroversen um den Brexit

für eine Übergangszeit von mindestens 1,5 Jah-         Binnenmarkt und in der Zollunion beließ.“
ren a) Nordirland im EU-Binnenmarkt bleiben,           (Deutschlandfunk, 30.12.2020)
während der Rest des VK ihn verlässt, und b) das           Doch nicht nur Pressevertreter, auch die EU-
gesamte VK eine neue Zollunion mit der EU bil-         Verhandlungsführer waren mit ihren Kommenta-
den, unter Wahrung der EU-Standards (Riedel            ren zum Brexit-Vertrag äußerst kreativ und ließen
6/2019: 3). Das hätte aus Sicht Londons eben           Fehlinterpretationen zu, die in der Übergangszeit
nicht die Wiederherstellung seiner vollen Souve-       zwischen dem 1.2. und 31.12.2020 die Verhand-
ränität bedeutet, weil es die Möglichkeit von Ver-     lungen über Nachfolgeabkommen erschwerten.
trägen mit weiteren Staaten verhindert hätte.          Hatten sich beide Seiten in ihrer Politischen Er-
    Die Wirtschaftswoche, „Deutschlands führen-        klärung auf „hohe Standards für freien und fairen
des Wirtschaftsmagazin“, kommentierte sachge-          Handel und Arbeitnehmerrechte, den Verbrau-
mäß, dass am 17.10.2019 eine Kompromiss-Re-            cher- und den Umweltschutz“ geeinigt, (Brexit-
gelung gefunden wurde: „Mays Nachfolger ist es         Vertrag 2019-II: 178, Punkt 2.) legte die EU die-
gelungen, den ungeliebten Backstop-Mechanis-           sen normativen Rahmen nachfolgend eigenwillig
mus aus dem Abkommen zu entfernen.“ (wi-               aus. In den EU-Leitlinien für die Verhandlungen
wo.de, 17.10.2019). Im Vertragstext selbst, d.h.       war plötzlich von Standards die Rede, die „Nor-
im Protokoll zu Irland/Nordirland, schlug sich das     men der EU als Bezugspunkt“ haben sollen, näm-
explizit in zwei Artikeln nieder. In Artikel 4 heißt   lich „in den Bereichen staatliche Beihilfen, Wett-
es: „Nordirland ist Teil des Zollgebiets des Verei-    bewerb, staatseigene Unternehmen, Sozial- und
nigten Königreichs.“ Das Zusatzprotokoll hielt zu-     Beschäftigungsstandards, Umweltnormen, Kli-
dem fest, dass das VK nicht daran gehindert wer-       mawandel, einschlägige Steuerfragen und an-
den kann, „Nordirland in den räumlichen Gel-           dere Regulierungsmaßnahmen und -praktiken in
tungsbereich etwaiger Übereinkünfte einzubezie-        diesen Bereichen.“ (Directives 25.2.2020)
hen, die das Vereinigte Königreich mit Drittlän-           Die britische Regierung musste also zusehen,
dern schließt, […]“ (Brexit-Vertrag 2019-I: 94).       wie in der ersten Jahreshälfte 2020 jene strittigen
Der Artikel 6 zum „Schutz des Binnenmarkts des         Themen wieder auf die Agenda gesetzt wurden,
Vereinigten Königreich“ führt aus, „dass Nordir-       die Boris Johnson „wegverhandelt“ hatte, nämlich
land wesentlicher Bestandteil des Binnenmarkts         Backstop und EU-Standards. Dies geschah nicht
des Vereinigten Königreichs ist, […]“ (a.a.O.: 96).    in Hinterzimmern, sondern in medial aufbereite-
Als Gegenleistung für diese Anerkennung seiner         ten Statements. So verteidigte EU-Chef-Unter-
vollen staatlichen Souveränität akzeptierte das        händler Michel Barnier seine Position selbstbe-
VK EU-Standards in Nordirland für eine Über-           wusst: „Die britische Regierung weigert sich bis-
gangszeit. Die offene Frage, wo und wie notwen-        her, Sozial-, Umwelt- und Verbraucherstandards
dig werdende Kontrollen durchzuführen sind, hat        der EU im Gegenzug für einen weitgehend unge-
der Vertragstext ausgeklammert und dem Aus-            hinderten Zugang zum europäischen Binnen-
schuss zum Nordirlandprotokoll übergeben, ei-          markt zu akzeptieren.“ (zeit.de, 5.6.2020) Die bri-
nem von insgesamt sechs Fachausschüssen                tische Seite versuchte medial gegenzusteuern. In
(vgl. Artikel 165, a.a.O.: 83; Riedel 7/2020: 7,       einem offenen Brief wandte sich der britische
Meetings, EU-UK J&SC).                                 Chef-Unterhändler David Frost an seinen EU-
    Trotz dieser klar formulierten Textpassagen        Amtskollegen mit den Worten: „Wir wollen nicht
hielten einige Journalisten in ihren Kommentaren       Teil des Binnenmarktes oder der Zollunion blei-
an der Backstop-Regel fest. So hieß es etwa in         ben, da dies unseres Erachtens nicht im Interes-
einer Ausgabe der Frankfurter Allgemeinen Zei-         se des Vereinigten Königreichs liegt.“ (gov.uk,
tung (FAZ) im Spätsommer 2020 rückblickend:            19.5.2020). Weiter heißt es in dem auf Deutsch
„Im Oktober [2019, S.R.] wurde dann auf John-          verfassten Schreiben, „dass unser Ziel ein Paket
sons Bestreben eine neue Lösung gefunden:              von Abkommen ist, dessen Kernstück ein Frei-
Nordirland bleibt zu wesentlichen Teilen im EU-        handelsabkommen bildet.“ Diese Information
Binnenmarkt, ist aber auch Teil des britischen         wurde von der deutschsprachigen Presse völlig
Zollgebiets.“ (FAZ, 10.9.2020). Diese Meldung          ignoriert und aus dem Diskurs ausgeschlossen.
war kein Einzelfall, wie ein Kommentar des                 Weil auch die Arbeit im gemeinsamen Fach-
Deutschlandfunks kurz vor dem Abschluss des            ausschuss zum Nordirland-Protokoll ins Stocken
neuen Handelsabkommens zeigt: „Doch nach ih-           geriet und ein Abbruch der Verhandlungen droh-
rem [Theresa Mays] Scheitern und Sturz über-           te, brachte London Ende Mai 2020 ein Binnen-
nahm Boris Johnson die britische Führung und           marktgesetz auf den Weg, das Nordirland in den
unterschrieb ein Scheidungsabkommen, das die           zukünftigen Handel innerhalb des VK fest einbin-
britische Provinz Nordirland im Europäischen           den sollte. Es gab der Regierung die Befugnis, im

                                                                          6         FORSCHUNGSHORIZONTE
                                                                                         POLITIK & KULTUR
                                                                                                    1 / 2021
Sabine Riedel: Kontroversen um den Brexit

Falle eines Scheiterns der Gespräche einige Vor-      kontrollierbar und nicht rückgängig zu machen
schriften des Nordirland-Protokolls auszusetzen       sind.“ (Holzinger 2013: 469) Der Ausgang des
und staatliche Beihilfen für nordirische Unterneh-    Brexit-Referendums (23.6.2016) hat umso mehr
men zuzulassen (Briefing Paper, 23.12.2020).          die Anhänger dieser Schule überrascht: Entge-
Deutschsprachige Medien sprachen bereits von          gen ihrer Theorie kehrt zum ersten Mal ein Mit-
einem Rechtsbruch (tagesschau.de, 21.9.2020),         gliedstaat der EU den Rücken, zudem auf der
ohne jedoch die Mitverantwortung der EU zu the-       Grundlage demokratischer Verfahren. Die reale
matisieren. Im Gegenteil boten sie Michel Barnier     Entwicklung hat die wissenschaftliche These vom
ein Forum, um einen möglichen Abbruch der Ver-        Spill-over-Effekt, die mehr als 50 Jahre galt und
tragshandlungen zu rechtfertigen: „Wer will schon     bereits zur politischen Doktrin erstarrt ist, faktisch
ein Handelsabkommen mit einem Land abschlie-          widerlegt. So ist es kein Zufall, dass die etablierte
ßen, das internationale Verträge nicht umsetzt?“      Europaforschung seitdem über Desintegrations-
(zeit.de, 7.9.2020) So wiederholte sich die Insze-    prozesse nachdenkt. Alternative Ansätze, die
nierung eines „Showdown“ Ende 2019 (Der Spie-         man ignorierte, werden nun wieder aufgegriffen
gel, 2.10.2019) im Folgejahr (sueddeutsche.de,        und der wissenschaftliche Diskurs um schillernde
7.12.2020). Die Verkündung einer Einigung auf         Begriffe wie „Postfunktionalismus“ bereichert
ein Handelsabkommen am 24.12.2020 kam des-            (Desintegration 2016: 207, Schimmelpfennig
halb völlig überraschend.                             2018: 13).
   Mithilfe der Diskursanalyse konnte herausge-          Der Hauptkonkurrent des neofunktionalisti-
arbeitet werden, dass die Debatten vor allem          schen Ansatzes bleibt bis heute der um 15 Jahre
während der Post-Brexit-Verhandlungen wichtige
Informationen ausschlossen, so dass es zu Fehl-
wahrnehmungen und Fehleinschätzungen kom-
men musste. Die Integrationstheorien erklären         Abbildung 4
darüber hinaus die dahinterliegenden Interessen
und den entscheidenden Dissens zwischen den             David Mitrany:
beteiligten Akteuren: es geht um Souveränitäts-         A World Peace System (1943)
rechte. Während das VK auf der Wiederherstel-
                                                        Der funktionalistische Ansatz
lung seiner vollen nationalstaatlichen Souveräni-
                                                        Kann man diesen grundsätzlichen Bedenken Rech-
tät besteht, einschließlich seines Außenhandels,        nung tragen und die Bedürfnisse des Friedens und
wollte Brüssel so wenig wie möglich davon zu-           des sozialen Fortschritts auf andere Weise erfüllen,
rückgeben. Meinungsverschiedenheiten betref-            indem man die Nationen zu einem gemeinsamen
                                                        Handeln zusammenbringt? […] Eine Frage, die man
fen jedoch weniger den Souveränitätsbegriff im          zu Beginn einer Prüfung der Eignung dieses Ansat-
Allgemeinen, etwa die Frage, ob er in einer glo-        zes für internationale Zwecke stellen könnte, ist die:
balisierten Welt nicht überholt sei (nzz.ch,            Können solche Funktionen auf internationaler Ebene
                                                        ohne einen umfassenden politischen Rahmen organi-
18.12.2020). Der Streit um Austrittsmodalitäten         siert werden? Zunächst ist festzuhalten, dass der
und Nachfolgeabkommen zeigt im Gegenteil,               funktionalistische Ansatz als solcher weder mit einem
dass sich gerade heute der Kampf um nationale           allgemeinen verfassungsrechtlichen Rahmen unver-
                                                        einbar ist noch dessen Zustandekommen aus-
Souveränitätsrechte zuspitzt. Denn sie stehen für       schließt. […] Einer der Misserfolge des Völkerbundes
die Kontrolle der Rechtssysteme und ermöglicht          war, dass eine neue Institution auf der Grundlage von
den Eintritt in die internationale Diplomatie.          Prämissen entwickelt wurde, die sich als überholt er-
                                                        wiesen haben. Wir sollten uns auch daran erinnern,
   Dabei stand vor allem für Brüssel Entschei-          dass von den Verfassungsreformen, die nach dem
dendes auf dem Spiel: Es musste befürchten, im          Ersten Weltkrieg in Europa eingeführt wurden, keine
Zuge des Brexits die Deutungshoheit über den            auch nur eine Generation überlebt hat, so gut und
                                                        durchdacht sie auch gewesen sein mögen. Wie viel
Charakter und das Ziel der Europäischen Integra-        größer wird das Risiko der Erfolglosigkeit in Europa
tion zu verlieren. Diese basiert auf der neofunkti-     nach dem Zweiten Weltkrieg sein, wenn die Spaltung
onalistischen Annahme, dass eine enge staatli-          innerhalb und zwischen den Nationen viel schlimmer
                                                        sein wird als 1919? […] Selbst wenn eine Aktion ohne
che Zusammenarbeit im Rahmen gemeinsamer                einen formalen politischen Rahmen bis zu einem ge-
Institutionen einen Spill-over-Effekt auslöse. Es       wissen Grad behindert würde, ist es eine Tatsache,
komme automatisch zu einem „Überschwappen“,             dass kein erkennbares Interesse für eine gemein-
                                                        same verfassungsrechtliche Verankerung besteht
zu einer Vertiefung der Integration in Form einer       und sich wahrscheinlich auch in den kommenden
Souveränitätsübertragung auf die supranationale         Jahren keines herauskristallisieren wird.
Ebene: „Die Grundannahme des Ansatzes ist,
                                                        Quellen: David Mitrany, A World Peace System,
dass der Prozess der Integration Eigendynami-           1943, Reprinted, Quadrangle Books, Chicago 1966,
ken entfaltet, die nicht ursprünglich von den mit-      S. 93-113, insb. 99. [Übersetzung und Hervorhebung
                                                        blau: S.R.].
gliedstaatlichen Regierungen intendiert, nicht

                                                                          7           FORSCHUNGSHORIZONTE
                                                                                           POLITIK & KULTUR
                                                                                                      1 / 2021
Sabine Riedel: Kontroversen um den Brexit

ältere Funktionalismus, den der britische Histori-    ter Großbritannien, Frankreich, die Beneluxlän-
ker David Mitrany noch während des Zweiten            der und die Nordischen Staaten, folgten also zu-
Weltkriegs entwickelt hatte. Er wollte damit einen    erst diesem funktionalistischen Ansatz, bevor sie
wissenschaftlichen Beitrag für einen raschen          nach Lesart des Neofunktionalismus eine Wirt-
Wiederaufbau von Wirtschaft, Politik und Gesell-      schaftskooperation in Form der Montanunion und
schaft nach Kriegsende leisten. Sein funktionalis-    EURATOM (s.u.) vereinbarten. Die Europäische
tisches Konzept sollte den Weg zu einer engeren       Integration begann also auf politischer Ebene
Kooperation auf internationaler Ebene weisen.         durch ein Bekenntnis zu Demokratie und Recht-
Dabei setzte sein Ansatz jedoch keine Institutio-     staatlichkeit, ohne dass eine supranationale Insti-
nen auf supranationaler Ebene voraus, die natio-      tution mit Weisungsrechten geschaffen worden
nale Souveränitätsrechte beschneiden würden.          wäre. Die einzige Kontrollinstanz ist bis heute der
Mitrany erklärte dies mit dem Argument, dass          Europäische Gerichtshof für Menschenrechte
eine solche Voraussetzung eine viel zu hohe           (EGMR). Dies entspricht ganz dem Rechtstaats-
Hürde dargestellt hätte, um Staaten für eine Zu-      gedanken und der in demokratischen Systemen
sammenarbeit zu gewinnen, die sich zu jener Zeit      verankerten Gewaltenteilung. Weil das VK zwar
noch im Krieg befanden (Mitrany 1943: 99, vgl.        die EU verlassen hat, jedoch Mitglied des Euro-
Abbildung 4).                                         parats bleibt, wäre es politisch geboten, dieser in-
    Wie schon der Begriff Neofunktionalismus an-      tergouvernementalen Institution wieder mehr Auf-
deutet, versteht er sich als eine Weiterentwick-      merksamkeit zu geben und den funktionalisti-
lung des früheren, scheinbar „überholten“ Funkti-     schen bzw. intergouvernementalistischen Ansatz
onalismus. Dieses Narrativ hat über die Jahre         für die Europaforschung fruchtbar zu machen.
Eingang in Lehrbücher und Internet-Plattformen            Es lohnt sich, die Kontroverse zwischen Funk-
erhalten (wikipedia, 27.4.2020), und bewirkte,        tionalismus und Neofunktionalismus von einem
dass der neofunktionalistische Ansatz – trotz vie-    weiteren theoretischen Ansatz aus zu betrachten,
ler anderer Integrationstheorien – bis heute als      nämlich aus der Perspektive des Ordoliberalis-
ausgereift und nahezu unangreifbar gilt. Gegen        mus. Diese Schule geht auf den deutschen Öko-
die namentliche Vereinnahmung seiner Theorie          nom Walter Eucken zurück und basiert auf der
hatte sich vor allem Mitrany als Begründer des        Annahme einer engen Verflechtung von Wirt-
Funktionalismus stets zur Wehr gesetzt und dafür      schaft und Politik. Der Autor hat seine zentrale
wissenschaftliche Argumente vorgetragen. Er be-       These wie folgt auf den Punkt gebracht: „Wie die
tonte stets den wichtigen Unterschied seiner The-     Wirtschaftspolitik eines aktionsfähigen Staates
orie zum neofunktionalistischen Ansatz: Zwi-          bedarf, so bedarf es einer bestimmten Wirt-
schenstaatliche Kooperation erfordern keine Ab-       schaftsordnungspolitik, um den Staat aktionsfä-
tretung staatlicher Souveränität. Seine Anhänger      hig zu machen.“ (Eucken 1959: 188, vgl. ausführ-
finden sich heute in der Schule des (liberalen) In-   licher in Abbildung 5) Aus dieser „Interdependenz
tergouvernementalismus wieder, demzufolge die         der Ordnungen“ stellt sich für Eucken die Frage,
Nationalstaaten die eigentlichen Akteure der in-      auf welchen Prinzipien eine Wirtschaftspolitik be-
ternationalen Politik sind und auf absehbare Zeit     ruhen sollte, „damit ein unabhängiger Staat ent-
auch bleiben werden (bpb.de, Integration).            steht, der selbst eine ordnende Potenz werden
                                                      kann?“ (a.a.O.). Kurz zusammengefasst nennt er
3. Ordoliberalismus: Die Interdependenz               zwei Grundsätze: Aufgabe der Wirtschaftspolitik
von Staats- und Wirtschaftsordnung                    sei zum einen, die Entstehung von wirtschaftli-
Die dominante Stellung des neofunktionalisti-         chen Machtgruppen, d.h. von privatwirtschaftli-
schen Ansatzes in der Europaforschung hat zur         chen oder staatlichen Monopolen zu verhindern.
Folge, dass die Politikwissenschaft die Leistun-      Zum anderen soll sie „Ordnungsformen der Wirt-
gen der funktionalistischen Theorie nur in Bezug      schaft“ gestalten und nicht die Wirtschaftspro-
auf die Internationale Politik würdigt. Seine Be-     zesse selbst lenken (a.a.O.: 189).
deutung für die Europäische Integration wird              Der ordoliberale Ansatz zur Beschreibung des
durchgehend vernachlässigt oder wenn, dann nur        Verhältnisses von Politik und Wirtschaft erlaubt
im historischen Kontext berücksichtigt. Den Start-    einen ganz anderen Blick auf die beiden oben be-
schuss für den Integrationsprozess in Westeu-         sprochenen Integrationstheorien: So ist der Funk-
ropa gab nämlich der Europarat, der schon ein         tionalismus Mitranys kompatibel mit Euckens
Jahr nach seiner Konstituierung im Jahre 1949         Grundsätzen zur Wirtschaftspolitik: Der Staat ist
die Europäische Menschenrechtskonvention als          für die Wirtschaftsordnung zuständig und muss
Basisdokument verabschiedet hatte (EMRK,              den Wirtschaftsakteuren Rechtssicherheit bieten.
4.11.1950): Die 10 Gründungsmitglieder, darun-        Folgerichtig liegt es in der Verantwortung der Au-

                                                                         8         FORSCHUNGSHORIZONTE
                                                                                        POLITIK & KULTUR
                                                                                                   1 / 2021
Sabine Riedel: Kontroversen um den Brexit

ßenwirtschaftspolitik, über internationale Verträ-         Uniting of Europe“, dass die Europäische Bewe-
ge und Abkommen geeignete Rahmenbedingun-                  gung nach 1945, die sich aus unterschiedlichen
gen für die heimische Wirtschaft zu schaffen.              ideologischen Strömungen zusammensetzte, in
Hierzu passt ebenso die Arbeit des Europarats              vier Punkten übereinstimmte, darunter: „(4) Die
und dessen Gerichtshof für Menschenrechte als              nationale Souveränität muss soweit erforderlich
intergouvernementale Institutionen. Sie garantie-          eingeschränkt werden, um die Ziele der sozialen
ren den europäischen Bürgern ein hohes Niveau              und wirtschaftlichen Verbesserung zu erreichen.“
an politischen und sozialen Rechten (vgl. hierzu           (Haas 1958: 27). Als Quelle nennt er den Haager
ausführlicher: Riedel 10/2019: 7).                         Europa-Kongress aus dem Jahre 1948, was einer
   Anders sind dagegen der Neofunktionalismus              Prüfung aber nicht standhält. Dieser Kongress
und davon abgeleitete Lehren einzuschätzen. Sie            war sicher die Initialzündung für die Europäische
beantwortet die Frage nach der Rolle des Staates           Integration, doch die Forderung nach Einschrän-
in Wirtschaft und Gesellschaft völlig anders: Wäh-         kung der nationalen Souveränität konnte sich
rend Mitrany und Eucken diesem eine große Ver-             nicht durchsetzen. Dagegen einigten sich eben
antwortung zumessen, plädiert Ernst B. Haas für            diese Kongressteilnehmer auf die Gründung des
eine Beschränkung der staatlichen Souveränität.            Europarats als intergouvernementale Institution,
Dies sei die Konsequenz aus dem Zweiten Welt-              was als Erfolg des funktionalistischen Ansatzes
krieg, in dem ein totalitäres Regime seine unbe-           gesehen werden muss.
schränkte Machtfülle missbraucht hatte. So be-                Dennoch bietet Ernst B. Haas mit seiner Ana-
hauptet der Begründer der neofunktionalistischen           lyse zu den Anfängen der Europabewegung wert-
Theorie bereits in seinem viel zitierten Buch „The         volle Informationen über die Erwartungen jener
                                                           Kreise, die sich trotz ihrer ideologischen Gegen-
                                                           gesätze für supranationale Organe mit Entschei-
                                                           dungskompetenzen aussprachen. Ihr Ziel war die
Abbildung 5                                                Etablierung „regulierter industrieller Großunter-
                                                           nehmen“ mit einem „dauerhaften Einfluss der Ar-
 Walter Eucken:                                            beitnehmer“ (Haas 1958: 291, vgl. ausführlicher
 Grundsätze der Wirtschaftspolitik, 1959                   Abbildung 6). Auf diese Formel konnten sich of-
 a) Rechtsstaat                                            fenbar konservative, liberale und linke Strömun-
 Die Politik des Laissez-faire ließ – wie sich zeigte –    gen verständigen. Als Beispiel hierfür nannte
 keine Wirtschaftsordnungen entstehen, die dem             Haas die Gründung von EGKS [Europäische Ge-
 Rechtsstaat adäquat sind, und zwar deshalb nicht,         meinschaft für Kohle und Stahl bzw. die Montan-
 weil sich bei dieser Wirtschaftspolitik unkontrollierte
 Monopole oder Teilmonopole bilden können. Wenn            union in 1951], EWG und EURATOM [Europäi-
 es auch im 19. Jahrhundert weitgehend gelang, den         sche Wirtschaftsgemeinschaft und Europäische
 einzelnen gegen die Willkür des Staates zu schützen,      Atomgemeinschaft in 1957]. Diese supranationa-
 gelang es doch nicht, die Übergriffe anderer privater
 in die Freiheitssphäre des Einzelnen zu verhindern*.      len Organe lenkten teils direkt oder indirekt große
 Sobald aber eine Politik zentraler Leitung betrieben      Staatsunternehmen, so wie dies in den damali-
 wird, ist gleichsam die umgekehrte Situation herge-       gen sozialistischen Zentralverwaltungswirtschaf-
 stellt. […]
                                                           ten Osteuropas durchgängig der Fall war. Beson-
 In dieser Richtung bedrohen die Wirtschaftsordnun-
 gen, die aus der Politik zentraler Leitung des Wirt-      ders in den ersten Jahrzehnten schützen sie die
 schaftsprozesses entstehen, den Rechtsstaat gleich-       Monopolstrukturen im Energiesektor (Kleinwäch-
 sam von einer anderen Seite. Die eine Bedrohung –         ter 2012: 100). Bis heute verspricht die Europäi-
 durch Private – mag verschwinden; die andere Be-
 drohung – durch den Staat selbst – wächst stark an.       sche Kommission den Verbrauchern faire Wett-
 […]                                                       bewerbsbedingungen, gesteht jedoch zugleich
 Zentral geleitet Ordnungen der Wirtschaft und freie       ein, dass „Verkehr, Energie, Post und Telekom-
 Ordnungen des Staates, des Rechts, der Erziehung          munikation, […] bislang vielfach in der Hand
 müssen in Konflikt miteinander geraten. Es entsteht
 eine  der Ordnungen, ein tiefgehender in-      staatlicher Monopole lagen“ (ec.europa.eu). Ein
 nerer Widerspruch. […] Ein wesentlicher Grundsatz         weiteres anschauliches Beispiel ist die EU-
 wirtschaftspolitischen Handels tritt hervor: Die Ord-     Agrarwirtschaft, in der Monopolanbieter bis heute
 nungsprinzipien der Wirtschaft sollten mit den Prinzi-
 pien anderer Ordnungen – z.B. des Staates – von           die Preise bestimmen (br.de, 14.1.2021)
 vornherein abgestimmt sein. Oder anders gefaßt: Es           Der Ansatz des Ordoliberalismus kann sowohl
 sollten die Versuche unterbleiben          wertvolle Erkenntnisse zur Geschichte der Euro-
 Ordnungen zeitgleich zu verwirklichen. […]
                                                           päischen Integration beisteuern als auch den Ver-
 Quellen: Walter Eucken, Grundsätze der Wirtschafts-       lauf des Jahres 2020 erklären: Es ging nicht nur
 politik, Tübingen 1959, weitere Ausgabe 1962, S. 91       – wie bei allen Verhandlungen auf internationaler
 [Hervorhebung kursiv im Original, blau: S.R.].
                                                           Ebene – um die Aufteilung bislang gemeinsamer

                                                                            9          FORSCHUNGSHORIZONTE
                                                                                            POLITIK & KULTUR
                                                                                                       1 / 2021
Sabine Riedel: Kontroversen um den Brexit

Souveränitätsrechte zwischen den EU-Mitglie-               ökonomischen Abhängigkeiten und der politi-
dern und dem VK. Der Kern der Auseinanderset-              schen Souveränität von Staaten im Rahmen des
zung betraf Brüssels gefordertes Primat des EU-            gelten Völkerrechts. Danach kann jede Regie-
Binnenmarkts gegenüber der staatlichen Souve-              rung selbst entscheiden, wie sie politisch mit den
ränität des VK, das EU-Verhandlungsführer Mi-              gegebenen Abhängigkeiten umgeht. Dies heißt
chel Barnier in dem Satz zusammenfasste: „Un-              jedoch auch, dass die Staaten ein hohes Maß an
ser Binnenmarkt ist unser Heimatmarkt“ (Barnier,           Selbstverantwortung für ihre wirtschaftliche Ent-
29.5.2020). Vom Ansatz der Interdependenz der              wicklung tragen. Das von der Europäischen Kom-
Ordnungen ausgehend würde diese Prioritäten-               mission postulierte Primat des EU-Binnenmarkts
setzung jedoch die Unabhängigkeit des Staats               ist daher nicht nur für das scheidende Mitglied
gefährden, gegenüber Wirtschaftsinteressen im              zum Problem geworden. Auch Kandidatenländer,
Allgemeinen und Monopolanbieten im Besonde-                die sich wie der Balkan, die Ukraine oder die Tür-
ren. Die staatlichen Institutionen auf beiden Sei-         kei Hoffnungen auf einen EU-Beitritt machen, ste-
ten könnten demnach ihre „ordnende Potenz“                 hen vor dem Dilemma wachsender Abhängigkei-
nicht mehr entfalten (Eucken 1959: 188).                   ten, die eine prosperierende Eigenentwicklung
   In der deutschsprachigen Presse war das Ar-             erschweren und ihre wirtschaftspolitische Ent-
gument zu lesen, dass die Rücknahme der völli-             scheidungsfreiheit erheblich einschränken.
gen Souveränität ein Märchen sei: „ Kein Staat ist             Hinter dem beanspruchten Primat des EU-
völlig autonom.“(rnd.de, 10.12.2020) Diese Be-             Binnenmarkts steht nicht zuletzt ein Machtan-
hauptung verwischt den Unterschied zwischen                spruch der Europäischen Kommission, der ten-
                                                           denziell über ihre Kompetenzen hinausgeht. So
                                                           hat EU-Verhandlungsführer Michel Barnier neben
                                                           dem Handelsvertrag weitere Abkommen mit dem
Abbildung 6                                                VK vereinbart (gov.uk, 24.12.2020), darunter
                                                           über die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der
 Ernst B. Haas:                                            friedlichen Nutzung der Kernenergie. Dieses war
 The Uniting of Europe, 1958                               notwendig geworden, weil das VK zeitgleich mit
                                                           dem Brexit auch den EURATOM-Vertrag (1957)
 Der Spill-over und politische Erwartungen
                                                           gekündigt hatte. Nach Artikel 101 ist die Kommis-
 Nur der überzeugte "Europäer" hatte 1950 langfristig
 positive Erwartungen in Bezug auf die EGKS [Euro-         sion zwar berechtigt, Vereinbarungen mit Dritt-
 päische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, S.R.], und      staaten zu schließen, in diesem Fall ein Nachfol-
 unter den Eliten, die direkt mit Kohle und Stahl be-
                                                           geabkommen mit dem VK (vgl. EURATOM 2010:
 fasst waren, gab es nur wenige solcher Personen.
 Die äußerst bedeutsame Entwicklung solcher Erwar-         41). Doch tat sie dies hinter den Kulissen, wohl-
 tungen bei der Masse der EGKS-Arbeiterführer, so-         wissend, dass es seit Jahren Kontroversen um
 wohl bei den Sozialisten als auch bei den Christen, ist
                                                           eine Reform des EURATOM-Vertrags gibt.
 einer der deutlichsten Hinweise auf die Rolle einer
 kombinierten Ideologie der sozialen Wohlfahrt und             Die Kritik reicht von einer mangelnden Beteili-
 der Wirtschaftsdemokratie, die ihre Verwirklichung im     gung des Europäischen Parlaments an Geset-
 Rahmen neuer zentraler Institutionen sucht. Diese
                                                           zesvorhaben bis zur Förderung neuer Atomkraft-
 Gruppen sowie die mit ihnen verbundenen sozialisti-
 schen und linken Kreise der christlich-demokrati-         werke. So boten die Post-Brexit-Verhandlungen
 schen Parteien stehen nun an der Spitze einer ver-        der Kommission eine günstige Gelegenheit, über
 tieften Integration durch die EGKS sowie in Form von
                                                           ein bilaterales Abkommen von mehr als 30 Jah-
 Euratom und dem Gemeinsamen Binnenmarkt, weil
 sie in supranationalen Regeln und Organen das In-         ren Laufzeit den umstrittenen EURATOM-Vertrag
 strument sehen, um regulierte industrielle Großunter-     fortzuschreiben (Artikel 24, eur-lex.europa.eu,
 nehmen zu etablieren, die die Entwicklung eines dau-
                                                           31.12.2020: 18). Sie nimmt so direkt Einfluss auf
 erhaften Einflusses der Arbeitnehmer auf die Indust-
 rie ermöglicht. So kam es tatsächlich zu einem "spill-    die Energiepolitik der Mitgliedstaaten, was ihr
 over" auf neue wirtschaftliche und politische Bereiche    nach Artikel 4 des Vertrags über die Arbeitsweise
 in Form von Erwartungen, die sich allein in den natio-
                                                           der Europäischen Union in diesem Umfang nicht
 nalen Kontexten der beteiligten Eliten entwickelten.
 Doch diese Erwartungen wurden durch supranatio-           zusteht (AEUV; bfee-online. de). Dabei hält Brüs-
 nale Regelungen verstärkt, nicht nur, weil von der Ho-    sel an einer Energieform fest, die nach dem Re-
 hen Behörde Maßnahmen gefordert wurden, sondern
                                                           gierungsprogramm der amtierenden Bundesre-
 weil eine kontinuierliche gemeinsame Lobbyarbeit mit
 den Gewerkschaftsführern anderer Länder notwendig         gierung in Deutschland eigentlich ad acta gelegt
 und möglich wurde. […]                                    werden soll (taz.de, 3.8.2018). Nach Walter Eu-
 Quellen: Ernst B. Hass, The Uniting of Europe. Politi-    ckens Ordoliberalismus lässt sich prognostizie-
 cal, Social, and Economic Forces 1950-1957, Notre         ren, dass die Monopolanbieter samt ihrer Lobby-
 Dame, Indiana, USA 1958, S. 291 [Übersetzung und          isten zu den Gewinnern gehören werden (vgl. Der
 Hervorhebung blau: S.R.].
                                                           Spiegel, 23.1.2020, Euractiv, 20.12.2020).

                                                                              10        FORSCHUNGSHORIZONTE
                                                                                             POLITIK & KULTUR
                                                                                                        1 / 2021
Sabine Riedel: Kontroversen um den Brexit

Quellen und weitere Literatur (links):                   Der Spiegel, 23.1.2020, Susanne Götze, Klimakrise.
(Alle Links wurden zuletzt am 18.1.2021 eigesehen)          Die Renaissance der Atomlobby.
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Brexit-Vertrag 2019-II, Politische Erklärung zur Fest-      lichen Nutzung der Kernenergie, in: Amtsblatt der
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Der Spiegel, 12.4.2019, Jörg Schindler, Alexander           Press statement by Michel Barnier following
   Smoltczyk, Sturheit, Wut und Drama im briti-             Round 6 of the negotiations for a new partnership
   schen Unterhaus. "Es gibt hier Anzeichen men-            between the European Union and the United
   taler Krankheit".                                        Kingdom.
Der Spiegel, 17.5.2019, Jörg Schindler Tory-Wahl-        EU-Vertrag, Vertrag über die Europäische Union,
   kämpfer Rupert Matthews. Er glaubt an Aliens,            konsolidierte Fassungen 2016.
   Geister und den Brexit                                FAZ, 10.9.2020, Thomas Gutschker, Post-Brexit-
Der Spiegel, 19.7.2019, Jörg Schindler, Audiostory.         Verhandlungen. Worüber streiten sich London
   Wie Boris Johnson die Briten gegen Europa auf-           und die EU?
   stachelt.                                             Foucault 1991, Foucault, Michel, Die Ordnung des
Der Spiegel, 20.7.2019, Jörg Schindler, England.            Diskurses, Frankfurt/M. 1991, 15. Auflage 2019,
   »Politischer Illusionskünstler«.                         S. 9-49.
Der Spiegel, 7.9.2019, König der Zocker. Großbri-        Gala, 23.7.2019, Boris Johnson. Ein Irrer oder ein
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Der Spiegel, 2.10.2019, Jörg Schindler, Parteitags-      gov.uk, 19.5.2020, Schreiben des britischen Chef-
   rede von Boris Johnson. Der Erpresser.                   Unterhändlers in den Verhandlungen über die zu-

                                                                           11         FORSCHUNGSHORIZONTE
                                                                                           POLITIK & KULTUR
                                                                                                      1 / 2021
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