Krisenregion Mena Wie demografische Veränderungen die Entwicklung im Nahen Osten und Nordafrika beeinflussen und was das für Europa bedeutet ...

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Berlin-Institut           für Bevölkerung
                                                                                                                          und Entwicklung

            Krisenregion Mena
            Wie demografische Veränderungen
            die Entwicklung im Nahen Osten
            und Nordafrika beeinflussen und
            was das für Europa bedeutet

erbsbevölkerung wächst schneller als die Zahl der Jobs +++ Staat bisher wichtigster Arbeitgeber +++ Diversifizierung der Wirtschaft dringend geboten +
rufliche Ausbildung: gute Job-Chancen, wenig Wertschätzung +++ großes Potenzial für neue Flüchtlingsströme +++ schwieriger Abschied von der Ölwirts
Bedeutung der Piktogramme

                                      XOIX IOIXXI!

                                                                           Über das Berlin-Institut
               1                                     2

        2015 89,1 Mio.                                   R.I.P.
                                          3,5                     71
        2030 117,9 Mio. 3                       4                      5
                                                                           Das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung ist ein unabhängiger Thinktank,
                                                                           der sich mit Fragen regionaler und globaler demografischer Veränderungen beschäf-
             6              7                    8                     9   tigt. Das Institut wurde 2000 als gemeinnützige Stiftung gegründet und hat die Auf-
                                 2015 43 Prozent                           gabe, das Bewusstsein für den demografischen Wandel zu schärfen, nachhaltige Ent-
          10                     2030 47 Prozent                   11      wicklung zu fördern, neue Ideen in die Politik einzubringen und Konzepte zur Lösung
         15+        15–24             15+                15–24             demografischer und entwicklungspolitischer Probleme zu erarbeiten.
                     12                                  13

                 10.046              14                   16               In seinen Studien, Diskussions- und Hintergrundpapieren bereitet das Berlin-Institut
  BIP
                                                                           wissenschaftliche Informationen für den politischen Entscheidungsprozess auf.
         0         US$      140.000
                                                          17
   +4,3    +2,3   – 0,1 15
                                                                           Weitere Informationen, wie auch die Möglichkeit, den kostenlosen regelmäßigen
 2005-10 2005-14 2010-14
                                                                           Newsletter „Demos“ zu abonnieren, finden Sie unter www.berlin-institut.org.

1 Grad der politischen Stabilität (–2,5 bis +2,5)                          Unterstützen Sie die unabhängige Arbeit des Berlin-Instituts
2 Demokratisierungsgrad (–10 bis +10)
3 Bevölkerungsentwicklung                                                  Das Berlin-Institut erhält keinerlei öffentliche institutionelle Unterstützung. Projekt-
                                                                           förderungen, Forschungsaufträge, Spenden und Zustiftungen ermöglichen die erfolg-
4 Kinderzahl pro Frau           5 Lebenserwartung
                                                                           reiche Arbeit des Instituts. Das Berlin-Institut ist als gemeinnützig anerkannt. Spen-
6 Anteil der Erwerbsfähigen (30–64) an der                                 den und Zustiftungen sind steuerlich absetzbar.
  ­Gesamtbevölkerung
7 Anteil derjenigen mit mindestens Abitur an der                           Im Förderkreis des Berlin-Instituts kommen interessierte und engagierte Privat­
  erwachsenen Bevölkerung (20+)                                            personen, Unternehmen und Stiftungen zusammen, die bereit sind, das Berlin-Institut
8 Anteil der jungen Erwerbsfähigen (20–29) an                              ideell und finanziell zu unterstützen. Informationen zum Förderkreis finden Sie unter
  der Gesamtbevölkerung                                                    http://www.berlin-institut.org/foerderkreis-des-berlin-instituts.html
9 Anteil der jungen Erwerbsfähigen (20–29) mit
  mindestens Abitur an der Gesamtbevölkerung                               Bankverbindung:
10 Kinder und Jugendliche pro 100 E
                                  ­ rwerbsfähige                           Bankhaus Hallbaum
   (20 – 64)                                                               IBAN DE50 2506 0180 0020 2864 07
11 Bevölkerungsanteil in Städten                                           BIC/SWIFT HALLDE2H
   Risiko                 Chance                     neutral
                                                                           Kontakt:
   Anstieg                Rückgang                   stabil
                                                                           Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung
12 Beschäftigungsquote von Frauen und Männern                              Schillerstraße 59
   nach Altersgruppe                                                       10627 Berlin
13 Beschäftigungsquote von Frauen nach                                     Telefon 030 22 32 48 45
   ­Altersgruppe                                                           Telefax 030 22 32 48 46
14 Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf                                     E-Mail info@berlin-institut.org
15 Wachstum des BIPs pro Kopf
16 äußerer Kreis: Anteil am BIP im Uhrzeiger­sinn:
   Industrie (davon: Anteil Öl, Anteil Gas),
   ­Landwirtschaft, Dienstleistungen
17 innerer Kreis: Beschäftigtenanteil im jeweiligen
   Wirtschaftszweig
Berlin-Institut      für Bevölkerung
                                                    und Entwicklung

Krisenregion Mena
Wie demografische Veränderungen
die Entwicklung im Nahen Osten
und Nordafrika beeinflussen und
was das für Europa bedeutet
Impressum

Originalausgabe
Mai 2016

©Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Sämtliche, auch auszugsweise Verwertung bleibt
vorbehalten.

Herausgegeben vom
Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung
Schillerstraße 59
10627 Berlin
Telefon: (030) 22 32 48 45
Telefax: (030) 22 32 48 46
E-Mail: info@berlin-institut.org
www.berlin-institut.org

Autoren: Ruth Müller, Stephan Sievert, Reiner Klingholz
Lektorat: Florian Sievert, Franziska Woellert
Datenrecherche: Ruth Müller und Daniel Geyer
Dokumentation: Julia Legge

Gestaltung: Jörg Scholz, Köln (www.traktorimnetz)

Druck: Gebrüder Kopp GmbH & Co. KG, Köln

ISBN: 978-3-946332-86-2

Die Autoren

Ruth Müller, 1984, Masterstudium an der Freien Universität Berlin in Osteuropastudien
mit den Schwerpunkten Politikwissenschaften und Soziologie. Wissenschaftliche
­Mitarbeiterin am Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung.

Stephan Sievert, 1982, Masterstudium an der Universität Maastricht in International
Economic Studies mit dem Schwerpunkt Social Economics. Wissenschaftlicher
­Mitarbeiter am Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung.

Dr. Reiner Klingholz, 1953, Promotion im Fachbereich Chemie an der Universität
­Hamburg, Direktor des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung.

Das Berlin-Institut dankt dem Institut für Auslandsbeziehungen (ifa) für die Förderung aus
Mitteln des Auswärtigen Amtes.

Zusätzlicher Dank gilt der BMW-Stiftung Herbert Quandt und der Deutschen G­ esellschaft
für Internationale Zusammenarbeit für die Unterstützung bei der Suche nach
­Interviewpartnern sowie allen Gesprächspartnern für ihre Mitwirkung an der Studie.
INHALT
WENN DAS BEVÖLKERUNGS­POTENZIAL ZUM RISIKOFAKTOR WIRD.................................4

DAS WICHTIGSTE IN KÜRZE...............................................................................................8

1. WARUM DER NAHE OSTEN UND NORDAFRIKA FÜR EUROPA VON GROSSER
   BEDEUTUNG SIND.........................................................................................................10

2. BEVÖLKERUNGSENTWICKLUNG UND POLITISCHE STABILITÄT................................... 12
   2.1 VIELE JUNGE ERWERBSFÄHIGE: RISIKO ODER CHANCE?........................................ 13
   2.2 WIE P
           ­ OLITISCHE S ­ TABILITÄT UND B          ­ EVÖLKERUNGSWANDEL
	­ZUSAMMENHÄNGEN – EINE ANALYSE.......................................................................... 15
   2.3 ERGEBNISSE...........................................................................................................16

3. MENAS DEMOGRAFISCHE AUSSICHTEN BIS 2030.......................................................18
   3.1 INSTABILERE L­ ÄNDER.............................................................................................19
   3.2 STABILERE L­ ÄNDER ­BENÖTIGEN NEUEN ­GESELLSCHAFTSVERTRAG......................23

4. POTENZIALE NUTZEN, STABILITÄT ERZEUGEN.............................................................24

5. HANDLUNGSBEREICHE.................................................................................................27

DIE LÄNDER DER ­MENA-REGION..................................................................................... 40

NORDAFRIKA................................................................................................................... 40

NAHOST............................................................................................................................54

ANMERKUNGEN UND QUELLEN........................................................................................ 90
WENN DAS BEVÖLKERUNGS­
POTENZIAL ZUM
RISIKOFAKTOR WIRD
Nur wenige Kilometer trennen die Europä-              sten derzeit existierenden Unruheherd der              Diese Studie beschäftigt sich nur nachrangig
ische Union an der schmalsten Stelle des              Welt. Hinzu kommt seit über zehn Jahren die            mit den aktuellen Krisen und dem Zerfall
Mittelmeers von einer Region, das sich in den         Ausbreitung neuer, besonders barbarischer              ganzer Staaten wie Syrien oder Libyen, die in
letzten Jahren von einem Gebiet mit einzel-           Terrorgruppen, allen voran des sogenannten             ihrer Entwicklung um Jahrzehnte zurück­
nen Konfliktzonen zu einer großflächigen              Islamischen Staates. Der Mena-Region man-              geworfen werden. Vielmehr sucht die Studie
Krisenzone entwickelt hat: Nordafrika und             gelt es derzeit an vielen Voraussetzungen für          nach den tiefergehenden, aber lange Zeit
der Nahe Osten. Die Region, auch in Deutsch-          eine friedliche Entwicklung: an sozialem               kaum beachteten Ursachen der Unzufrieden-
land unter dem englischen Kürzel „Mena“               Zusammenhalt, an vorausplanenden Regie-                heit und Frustration in der Region. Diese
bekannt, umfasst von Marokko bis Oman, von            rungen, an Wettbewerbsfähigkeit auf den                haben sich seit Jahren hochgeschaukelt. Eher
Katar bis Jemen 19 Staaten, die mit Ausnah-           globalen Märkten und an einem Bildungs­                durch Zufall hat die Selbstverbrennung eines
me Israels muslimisch geprägt sind und                system, das für die Aufgaben des 21. Jahr­
deren gesellschaftliche Entwicklung höchst            hunderts fit macht.
                                                                                                                                           Prognostizierte natür­
unterschiedlich weit fortgeschritten ist. Das                                                                                              liche Bevölkerungsver-
Gebiet ist geprägt von historisch bedingten                                                                                                änderung (Geburten
Konflikten, von willkürlichen Grenzziehungen                                                                                               minus Sterbefälle) in
nach der Kolonialzeit, von den Folgen des                                                                                                  Prozent, 2015 bis 2030
Kalten Krieges, vom Kampf um Rohstoffe, von
                                                                                                                                               unter –5
innerarabischen und innerreligiösen Aus­
                                                                                   SCHWEDEN                                                    –5 bis unter 0
einandersetzungen sowie von dem Konflikt
                                                                                                   FINNLAND                                    0 bis unter 5
zwischen Israel und Palästina, dem am läng-
                                                                                                                                               5 bis unter 10
                                                                      GROSS- DÄNEMARK                        ESTLAND                           10 bis unter 15
                                                                      BRITANNIEN                             LETTLAND
                                                                                                                                               15 bis unter 25
                                                                                                        LITAUEN
                                                                           NIEDERLANDE
                                                                                              POLEN
                                                                                                                                               25 bis unter 35
                                                                                  DEUTSCHLAND
                                                         IRLAND                           TSCHECHIEN                                           35 bis unter 45
                                                                       BELGIEN
                                                                        LUXEMBURG ÖSTERREICH     SLOWAKEI                                      45 und mehr
Demografisches Gefälle                                                                         UNGARN
                                                                     FRANKREICH SLOWENIEN            RUMÄNIEN                              (Datengrundlage:
                                                                                            KROATIEN
Weil die Mena-Region noch in einer relativ frühen                                                                                          Population Reference
                                                                                                       BULGARIEN
Phase der sozioökonomischen Entwicklung steckt,                                        ITALIEN                                             Bureau1)
liegen die Kinderzahlen höher als in Europa und die   PORTUGAL    SPANIEN
Bevölkerung ist deutlich jünger. Deshalb dürfte die
Mena-Bevölkerung bis 2030 um 26 Prozent wach-                                                 GRIECHENLAND      ZYPERN
                                                                                                                          SYRIEN
sen, während sie in Europa stagniert, in einzelnen                                      TUNESIEN                LIBANON
                                                                                                                                   IRAK             IRAN
Länder sogar schrumpft. Nur Zuwanderung kann           MAROKKO                                                   ISRAEL
dort längerfristig für eine Stabilisierung sorgen.                                                                 JORDANIEN                  KUWAIT
                                                                        ALGERIEN              LIBYEN                                              BAHRAIN
                                                                                                                            SAUDI-ARABIEN
                                                                                                               ÄGYPTEN                              KATAR

                                                                                                                                          VEREINIGTE
                                                                                                                                          ARABISCHE
                                                                                                                                          EMIRATE
                                                                                                                                                            OMAN
                                                                                                                                          JEMEN

4 Krisenregion Mena
Straßenhändlers im Jahr 2011 die Arabellion          Rekordaufrüstung                                                                                                                                                    Militärausgaben in
                                                                                                                                                                                                                            Prozent des BIP
in Tunesien ausgelöst. Ihren explosiven Lauf
nahmen die arabischen Aufstände durch eine           Obwohl sowohl die reichen als auch die ärmeren
                                                     Mena-Länder dringend in moderne Bildung und eine                                                                                                                                                      16
unzufriedene junge Generation, die in den            Diversifizierung ihrer Wirtschaft und somit Arbeits-                                                                                                                                                  15
vergangenen Jahren zwar eine immer bessere           plätze investieren müssten, geben sie Rekordsum-
                                                                                                                                                                                                                                                           14
Schul- oder gar Hochschulausbildung mitbe-           men für das Militär aus. Sie gehören zu den Staaten
                                                     mit den weltweit höchsten Rüstungsausgaben. Ob                                                                                                                                                        13
kommen, aber kaum eine Chance erhalten
                                                     sich damit die Region befrieden lässt, ist fraglich.                                                                                                                                                  12
hat, diese gewinnbringend einzusetzen.
                                                                                                                                                                                                                                                           11
Diese Menschen fühlen sich zurecht um ihre
                                                                                                                                                                                                                                                           10
Zukunft betrogen.
                                                                                                                                                                                                                                                            9
                                                                                                                                                                                                                                                            8
So unterschiedlich die Voraussetzungen in                                                                                                                                                                                                                   7
den einzelnen Mena-Ländern sind, so vereint                                                                                                                                                                                                                 6
stehen sie vor dem gemeinsamen Problem,                                                                                                                                                                                                                     5
ihre Jobkrise lösen zu müssen: Allerorts             Länder mit den höchsten
                                                                                                                                                                                                                                                            4
                                                     Militärausgaben welt-
wächst die Bevölkerung im Erwerbsalter                                                                                                                                                                                                                      3
                                                     weit, 2015 (Jemen,
schneller als die Zahl der Arbeitsplätze. Mena       Vereinigte Arabische                                                                                                                                                                                   2
ist die Weltregion mit der höchsten Jugend­          Emirate, Libyen 2014)                                                                                                                                                                                  1
arbeitslosigkeit und der niedrigsten Frauen-         (Datengrundlage: Sipri2)                                                                                                                                                                               0
erwerbsbeteiligung. In manchen Mena-Staa-

                                                                                   Libanon
                                                                                             Jordanien
                                                                                                         Namibia
                                                                                                                    Armenien
                                                                                                                               Jemen
                                                                                                                                       Bahrain
                                                                                                                                                  Aserbaidschan
                                                                                                                                                                   Russland
                                                                                                                                                                              Israel
                                                                                                                                                                                        VAE
                                                                                                                                                                                              Algerien
                                                                                                                                                                                                         Libyen
                                                                                                                                                                                                                  Irak
                                                                                                                                                                                                                         Saudi-Arabien
                                                                                                                                                                                                                                         Südsudan
                                                                                                                                                                                                                                                    Oman
ten wie Ägypten oder Tunesien steigt absur-
derweise die Wahrscheinlichkeit, arbeitslos
zu werden mit dem Bildungsstand, während
die gering Qualifizierten überwiegend in
schlecht bezahlten Jobs mit niedriger Produk-
                                                                                                                                                                                                    Bruttoinlandsprodukt pro
tivität und ohne soziale Absicherung tätig                                                                                                                                                          Kopf in US-Dollar, 2014
sind.
                                                                                                                                                                                                             unter 10.000
                                                                                   SCHWEDEN                                                                                                                  10.000 bis unter 15.000
Praktisch alle Mena-Länder brauchen mehr
                                                                                                                               FINNLAND                                                                      15.000 bis unter 20.000
Beschäftigungsmöglichkeiten in privaten
                                                                                                                                                                                                             20.000 bis unter 25.000
Unternehmen, vor allem für junge Menschen.                                                                                                       ESTLAND
                                                                     GROSS- DÄNEMARK                                                                                                                         25.000 bis unter 30.000
Gleichzeitig müssen sie ihren kostspieligen                          BRITANNIEN                                                                  LETTLAND
                                                                                                                                                                                                             30.000 bis unter 35.000
                                                                           NIEDERLANDE                                                   LITAUEN
                                                                                             POLEN                                                                                                           35.000 bis unter 40.000
                                                                                 DEUTSCHLAND
                                                        IRLAND                           TSCHECHIEN                                                                                                          40.000 bis unter 45.000
                                                                      BELGIEN
                                                                       LUXEMBURG ÖSTERREICH     SLOWAKEI                                                                                                     45.000 und mehr
Arm – reich – sehr reich                                                                      UNGARN
                                                                    FRANKREICH SLOWENIEN            RUMÄNIEN                                                                                        (Datengrundlage: Weltbank3)
                                                                                           KROATIEN
Das Einkommens- und Wohlstandgefälle zwischen                                                         BULGARIEN
der EU und den ärmeren Mena-Staaten ist enorm.                                        ITALIEN
Der Anreiz, diese Länder auf der Suche nach          PORTUGAL    SPANIEN
einem besseren Leben zu verlassen, bleibt des-
                                                                                                                   GRIECHENLAND                                   ZYPERN
halb auf absehbare Zeit erhalten. Sollten sich                                                                                                                                         SYRIEN
Krisen und Terror in der Region weiter ausbreiten,                                                TUNESIEN                                                        LIBANON
                                                                                                                                                                                                IRAK                             IRAN
dürfte auch die Zahl der in Europa Asyl Suchen-        MAROKKO                                                                                                     ISRAEL
den zunehmen. Bisher können nur die sehr ­                                                                                                                           JORDANIEN                                     KUWAIT
(Öl-)reichen Länder am Golf ihre Bevölkerung vor                        ALGERIEN                                   LIBYEN                                                                SAUDI-ARABIEN                   BAHRAIN
Ort halten, unter anderem, weil sie diese mit                                                                                                         ÄGYPTEN                                                              KATAR
hohen Subventionen ruhig stellen.
                                                                                                                                                                                                            VEREINIGTE
                                                                                                                                                                                                            ARABISCHE
                                                                                                                                                                                                            EMIRATE
                                                                                                                                                                                                                                                    OMAN
                                                                                                                                                                                                             JEMEN

                                                                                                                                                                                                                                  Berlin-Institut 5
und unproduktiven öffentlichen Sektor zu-             damit den Aufstieg hin zu Schwellen- und                     Wir zeigen in der vorliegenden Studie, dass
rückfahren, der bislang vielen Menschen ein           Industrieländern bewirkt haben: Wo immer                     dieser Entwicklungsweg aus der Armut und
Auskommen sichert.4 Gelingt das nicht rasch,          junge Menschen eine halbwegs taugliche                       aus hohem Bevölkerungswachstum, dem
drohen sich die ohnehin schon lähmenden               Qualifikation und eine Chance auf dem Ar-                    bisher alle aufsteigenden Staaten der Welt
Krisen auszuweiten. Erschwerend kommt                 beitsmarkt bekamen, haben sie ihren Volks-                   gefolgt sind, in den Mena-Ländern offensicht-
hinzu, dass in der Region ein Mangel an Was-          wirtschaften geholfen, in höhere Stufen der                  lich nicht funktioniert. Dort gelingt es bis
ser und Nahrungsmitteln herrscht, der sich            Wertschöpfung aufzusteigen. Im Zuge dieser                   dato nicht, das Potenzial einer immer besser
sowohl durch das Bevölkerungswachstum                 Entwicklung haben sich die Menschen für                      qualifizierten Nachwuchsgeneration volks-
wie auch durch den Klimawandel verschärfen            kleinere Familien entschieden und konnten                    wirtschaftlich nutzbar zu machen. Stattdes-
dürfte. Und als ob das nicht genug Gründe für         so das Bevölkerungswachstum eindämmen.                       sen wächst die Krisenanfälligkeit, je mehr
Krisen wären, zerstört ein neuer Ölpreiskrieg         Dieser Umstand eröffnete den Regierungen,                    junge Menschen mit einer Ausbildung ohne
das Geschäftsmodell der vom Rohstoff­                 den Unternehmen und den Familien die                         Beschäftigung bleiben.
verkauf abhängigen Mena-Länder. Weil sie              Chance, mehr in kommende Generationen zu
sich gegenseitig im Preis für das Schwarze            investieren. Ein sich selbst verstärkender                   Daraus zu schließen, Bildung sei ein Unruhe-
Gold unterbieten, um die jeweiligen Wett­             wirtschaftlicher Aufstieg war programmiert.                  stifter und solle möglichst nicht weiter geför-
bewerber zu schädigen, gefährden sie ihren            Die heutigen Industrienationen, die asia-                    dert werden, wäre allerdings fatal. Die Mena-
Wohlstand, der bislang der wichtigste Faktor          tischen Tigerstaaten und später die Länder                   Region muss deutlich mehr in Bildung inve-
für den gesellschaftlichen Frieden in den             Lateinamerikas haben sich genau nach die-                    stieren, denn bislang reicht der Kenntnis-
Ländern war. All dies sind keine guten Nach-          sem Modell entwickelt.                                       stand in den meisten Ländern bei weitem
richten für die Mena-Länder, für deren Be-                                                                         nicht aus, um den Anschluss an die globale
wohner und für alle in Europa, denen die
humanitäre Lage der Menschen vor Ort und
die wachsende Zahl von Flüchtlingen und
Vertriebenen Sorgen bereitet.

Das Paradoxe an der momentanen Situation
                                                                                                                                                 Medianalter
ist, dass jene Bevölkerungsgruppen, die am                                                                                                       der ­Bevölkerung,
meisten für Unruhe sorgen, in anderen Ent-                                                                                                       2015–2020
                                                                                   SCHWEDEN
wicklungsländern einen wirtschaftlichen
                                                                                                         FINNLAND                                    unter 20
Aufschwung, einen Entwicklungsschub und                              GROSS-                                                                          20 bis unter 24
                                                                     BRITANNIEN
                                                                              DÄNEMARK                             ESTLAND                           24 bis unter 28
                                                                                                                   LETTLAND
                                                                                                                                                     28 bis unter 32
                                                                            NIEDERLANDE                       LITAUEN
                                                                                           POLEN
                                                                                                                                                     32 bis unter 36
                                                                               DEUTSCHLAND
                                                         IRLAND                       TSCHECHIEN                                                     36 bis unter 40
                                                                  BELGIEN
                                                                      LUXEMBURG ÖSTERREICH        SLOWAKEI                                           40 bis unter 44
Jung im Süden, alt im Norden                                                               UNGARN
                                                           FRANKREICH                           RUMÄNIEN                                             44 und mehr
                                                                            SLOWENIEN
                                                                                          KROATIEN
Niedrige Kinderzahlen und eine wachsende Le-                                                             BULGARIEN
                                                                                                                                                 (Datengrundlage:
benserwartung sorgen in Europa für eine alternde                                                                                                 Wittgenstein Centre5)
Bevölkerung. Demgegenüber sind die Mena-Län-          PORTUGAL    SPANIEN                 ITALIEN
der jünger, einige sogar deutlich. Doch was auf den
                                                                                                    GRIECHENLAND      ZYPERN
ersten Blick nach einem demografischen Vorteil                                                                                  SYRIEN
aussieht, entpuppt sich rasch als Problem: Denn                                             TUNESIEN                  LIBANON
                                                                                                                                         IRAK             IRAN
für die vielen jungen Menschen fehlt es an aus-        MAROKKO                                                         ISRAEL
kömmlicher Arbeit und wenn sie keine Rolle in der                                                                        JORDANIEN                  KUWAIT
Gesellschaft finden, bedeuten sie ein großes                            ALGERIEN                    LIBYEN                        SAUDI-ARABIEN         BAHRAIN
Unruhepotenzial. Alternde Gesellschaften sind                                                                        ÄGYPTEN                              KATAR
demgegenüber wesentlich friedlicher und sie
können ihre Bevölkerung leichter beschäftigen –                                                                                                 VEREINIGTE
speziell, wenn sie gut qualifiziert ist.                                                                                                        ARABISCHE
                                                                                                                                                EMIRATE
                                                                                                                                                                  OMAN
                                                                                                                                                JEMEN

6 Krisenregion Mena
Jobmangel – das größte Problem der Region                                                                      Hinzu kommen Entwicklungen, von denen wir
                                                                                                               heute noch gar keine Vorstellung haben, aber
Seit Jahren finden in der Mena-Region nur gut 40 Prozent der Bevölkerung im Erwerbsalter eine Beschäftigung.
                                                                                                               dennoch wissen, dass sie stattfinden werden,
Daran dürfte sich auch künftig wenig ändern, denn diese Gruppe wächst weiter stark, während es an
­innovativen Privatunternehmen mangelt, die den Menschen Einkommensmöglichkeiten bieten könnten.               etwa das Aufkommen neuer Terrorgruppen.
                                                                                                               Die Sicherheitsforschung bezeichnet solche
Millionen                                                                                                      Entwicklungen als „known unknowns“, also
350                                                                                                            als künftige Ereignisse, von denen wir wis-
                                                                                                               sen, dass wir nichts über sie wissen. In die-
300                                                                                                            sem Zusammenhang werden sogar „unknown
                                                                                                               unknowns“ diskutiert, also Entwicklungen
250                                                                                                            von den wir nicht einmal wissen, dass wir
                                                                                           181 Millionen       nichts über sie wissen, auf die man sich aber
       Erwerbsbevölkerung
200    (15 bis 64 Jahre)                                     157 Millionen                                     trotzdem in irgendeiner Weise präventiv
                                                                                                               vorbereiten muss.7
150
                                                                                                               Eine Außenpolitik, die lange daran gewöhnt
            87 Millionen
100                                                                                                            war, bedrohliche Krisen einzeln abzuarbeiten,
                                                                                                               muss sich nun darauf einstellen, ein kom-
                                         Beschäftigte                                                          plexes Geflecht von miteinander verwobenen
 50
                                         (15 bis 64 Jahre)
                                                                                                               regionalen und internationalen Krisen zu
  0                                                                                                            kontrollieren, die sich gegenseitig verstärken
                                                                                                               können, deren Entstehung sich oft gar nicht
      1991
      1992
      1993
      1994
      1995
      1996
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      2016
      2017
      2018
      2019
      2020
                                                                                                               mehr nachvollziehen lässt und deren Auswir-
Zahl der Menschen im Erwerbsalter (15 bis 64 Jahre) und Beschäftige in dieser Altersgruppe in Millionen        kungen Europa immer unmittelbarer treffen.
(Datengrundlage: Schätzungen der ILO6)                                                                         Diese Krisen in der direkten Nachbarschaft
                                                                                                               der alten Welt werden die deutsche und
                                                                                                               europäische Außenpolitik auf absehbare Zeit
Wissensgesellschaft zu ermöglichen. Bildung             Diese Perspektiven sind notwendig, um die              beschäftigen.
ist, und hier ist der Begriff ausnahmsweise             Anfälligkeit für unvorhersehbare Konflikte zu
einmal angebracht, alternativlos für die Ent-           minimieren. Die Arabellion in Tunesien hat
wicklung der Gesellschaften und das gilt                gezeigt, dass ein winziger Funke genügt, um            Berlin, im Mai 2016
sowohl für die berufliche wie für die universi-         eine ganze Weltregion, die an vielen Stellen           Reiner Klingholz
täre Bildung. Was die Mena-Staaten neben                unter Spannung steht, in Brand zu setzen.              Direktor, Berlin-Institut für Bevölkerung
besserer Bildung benötigen, sind vor allem              Seither haben sich die Spannungen nicht                und Entwicklung
Arbeitsplätze in innovativen, privaten Unter-           reduziert, sondern ausgeweitet. Allein die
nehmen, um den jungen Menschen, vor allem               allseits bekannten Probleme füllen Bände.
auch den bislang massiv benachteiligten                 Sie reichen von dem iranisch-saudischen
Frauen, eine Lebensperspektive zu bieten.               Wettstreit um die arabische Vorherrschaft
                                                        über den Menschen-, Drogen- und Waffen-
                                                        handel durch die Sahara, bis hin zu dem
                                                        Konfliktgemenge in Irak und Syrien, in
                                                        welches auch externe Kräfte wie die Türkei
                                                        und die beiden Supermächte USA und
                                                        ­Russland verstrickt sind.

                                                                                                                                               Berlin-Institut 7
DAS WICHTIGSTE IN KÜRZE
  MENA IN DER KRISE                                SONDERFALL DER ENTWICKLUNG                        WO LIEGEN DIE DEFIZITE?

Das Gebiet des Nahen Ostens und Nord­            Wie in anderen Schwellen- und Entwicklungs-       Drei wichtige Gründe erklären das Entwick-
afrikas, aus dem Englischen abgeleitet auch      ländern auch sind in den Mena-Ländern in          lungsparadox der Mena-Region:
hierzulande meist als Mena bezeichnet, zählt     den letzten Jahren die Kinderzahlen je Frau
zu den krisenhaftesten Regionen der Welt.        zum Teil deutlich gesunken. Dadurch ist der       Erstens sind die Bildungswerte zwar formal
8 von 19 Mena-Staaten finden sich in der         Anteil der Erwerbsfähigen in den Gesellschaf-     gestiegen, die Bildungsqualität entspricht
Gruppe der 50 instabilsten Staaten weltweit.     ten gestiegen, was einen potenziellen volks-      aber selten den Anforderungen des 21. Jahr-
4 davon, Syrien, Libyen, Irak und Jemen,         wirtschaftlichen Nutzen darstellt. Gleichzeitig   hunderts. Schulkinder erlangen zu wenig
können als „gescheitert“ erklärt werden.         haben sich Einschulungsraten und Bildungs-        Mathematik-, Lese- oder Problemlösungs-
                                                 werte verbessert. Doch während diese              kompetenzen. Naturwissenschaftliche Fächer
Schlechte Regierungsführung, Korruption,         gesellschaftlichen Modernisierungsprozesse        und Fremdsprachen, die international wett-
religiöse und ethnische Konflikte haben über     anderswo auf der Welt zu wirtschaftlichem         bewerbsfähig machen würden, spielen eine
Jahre hinweg zu diesen Krisen beigetragen.       Aufschwung, zur Schaffung von Arbeits­            untergeordnete Rolle. Berufliche Bildung hat
Im Kern vieler Probleme aber steht der Um-       plätzen und zu mehr politischer Stabilität        außerhalb von Israel und Iran kaum eine Be-
stand, dass die Bevölkerung im Erwerbsalter      geführt haben, lassen sich diese Effekte in       deutung. Trotz steigender Akademikerquoten
seit vielen Jahren schneller wächst als die      Mena nicht beobachten. Dort steigt im Ge-         fehlen Fachkräfte mit wirtschaftsrelevanten
Zahl der Arbeitsplätze. Während die Mena-        genteil mit dem Anteil der besser Gebildeten      Qualifikationen, weil sich die meisten Studie-
Region nach Subsahara-Afrika schon heute         in der Erwerbsbevölkerung das Risiko der          renden für Fächer entscheiden, die ihnen den
die zweithöchsten Arbeitslosenquoten der         politischen Instabilität. Bildung, die anderen-   Eintritt in den Staatsdienst ermöglichen.
Welt verzeichnet, drängen bis 2030 jährlich      orts den Einstieg in höhere Wertschöpfung
fast fünf Millionen zusätzliche Kräfte auf den   bedeutet, führt in Mena eher zu Konflikten.       Zweitens ist das innovative, private Unter-
Arbeitsmarkt.                                    Das eigentliche Potenzial der vielen jungen       nehmertum in den Mena-Ländern kaum
                                                 Erwerbsfähigen wird nicht genutzt.                verbreitet. Es fehlt an erfolgreichen, kleinen
Aufgrund der geografischen Nähe und lang-                                                          und mittelständischen Firmen, die weltweit
jähriger politischer und wirtschaftlicher Ver-                                                     die Job- und Wachstumsmotoren der Volks-
flechtungen hat die Mena-Region für ­Europa                                                        wirtschaften sind. Dagegen gibt es zahllose
eine hohe Bedeutung. Eine zunehmende                                                               Kleinstunternehmen mit wenigen Beschäftig-
Destabilisierung der Region würde einen                                                            ten und geringer Produktivität, die nur ein-
konstruktiven Austausch weiter erschweren.                                                         fache Waren und Dienstleistungen anbieten.
Mit einem Anstieg der Flüchtlingszahlen                                                            Die Gründungsrate in Mena liegt niedriger als
aus Mena stiege auch die Gefahr terroristi-                                                        in jeder anderen Weltregion mit Ausnahme
scher Anschläge und einer Verlagerung der                                                          Subsahara-Afrikas. Neugründungen haben es
dortigen Konflikte nach Europa Umgekehrt                                                           zudem schwer, sich gegen Staatsbetriebe und
böte eine Stabilisierung der Region wichtige                                                       die wenigen privaten Großunternehmen mit
Absatzmärkte für die europäische Wirtschaft                                                        engen Staatskontakten durchzusetzen.
und ein Reservoir für hierzulande dringend
benötigte Fachkräfte.

8 Krisenregion Mena
DAS WICHTIGSTE
Drittens bleiben Frauen trotz häufig guter
Qualifikation am Arbeitsmarkt marginali-          REGIONALE UNTERSCHIEDE                            WAS ZU TUN WÄRE
siert. Nicht einmal jede dritte Frau zwischen
25 und 34 Jahren geht einer bezahlten
Arbeit nach oder sucht eine solche. Einzig      Die 19 Mena-Staaten unterscheiden sich            Alle Mena-Staaten sollten sich deshalb mehr
in Israel erreichen Frauen etwa die gleiche     teilweise erheblich voneinander. Ins-             oder weniger den gleichen Aufgaben widmen
Erwerbsbeteiligung wie Männer. Auch das         gesamt reicht das Spektrum von sehr               um ihren Bevölkerungen Perspektiven zu
Unternehmertum ist unter Frauen kaum ver-       ­hohem L­ ebens­standard (in Katar oder den       bieten und einen Entwicklungs- und Frie-
breitet. Damit geht der Region ein enormes       ­Vereinigten ­Arabischen Emirate) über ein       densprozess für die Region zu ermöglichen.
Potenzial verloren: Nach Schätzungen läge         mittleres ­Niveau (Iran) bis zu verbreiteter    Dazu müssen sie das Bildungsniveau ihrer
das Mena-Bruttoinlandsprodukt im Jahr 2025        Armut ­(Jemen) sowie von politisch stabil bis   Bevölkerungen anheben, moderne Lehrpläne
um beinahe drei Billionen Dollar über dem         ­instabil.                                      und -methoden einführen und junge Men-
prognostizierten Niveau, wenn die heute                                                           schen in ihrer gesamten Bildungskarriere
bestehenden Geschlechterungleichheiten          Zu den stabileren Mena-Ländern zählen             auf die Anforderungen der Privatwirtschaft
beseitigt würden.                               Bahrain, Israel, Kuwait, Katar, Saudi-Arabien     vorbereiten. Sie müssen Bedingungen für ein
                                                und die Vereinigten Arabischen Emirate. Sie       erfolgreiches und wettbewerbsfähiges Unter-
                                                stellen mit 58 Millionen Einwohnern etwa 14       nehmertum schaffen, das ausreichend ent-
                                                Prozent der Mena-Bevölkerung. Im Jahr 2030        lohnte Arbeitsplätze schafft. Und sie müssen
                                                dürften es über 72 Millionen sein.                die Gleichberechtigung von Frauen auf allen
                                                                                                  Eben des öffentlichen und des Berufslebens
                                                Die Gruppe der instabileren Mena-Länder           ermöglichen.
                                                besteht aus Algerien, Iran, Irak, Jordanien,
                                                Libanon, Libyen, Marokko, Oman, Palästina,        Durch Maßnahmen in diesen drei Bereichen
                                                Syrien, Tunesien, Ägypten und Jemen. Dort         ließen sich in den Mena-Ländern wichtige
                                                leben heute rund 363 Millionen Menschen.          Voraussetzungen für Wirtschaftswachstum
                                                Bis 2030 ist ein Wachstum auf 458 Millionen       und politische Stabilität schaffen. Diese Auf-
                                                zu erwarten.                                      gaben richten sich an die Regierungen der
                                                                                                  jeweiligen Länder, an die Wirtschaft vor Ort
                                                Insbesondere den instabileren Staaten             und an ausländische Investoren, an Nicht-
                                                bereitet das Bevölkerungswachstum erheb-          regierungsorganisationen und die offizielle
                                                liche Probleme, vor allem, weil sich dort die     internationale Zusammenarbeit.
                                                Arbeitslosigkeit weiter ausbreitet. Aber auch
                                                die stabileren Staaten, von denen die meisten
                                                durch Rohstoffeinnahmen zu großem Reich-
                                                tum gekommen sind, haben ein Beschäfti-
                                                gungsproblem. Bislang bietet dort der Ver-
                                                waltungsapparat noch viele hoch vergütete
                                                Arbeitsplätze. Doch aufgrund des Wachstums
                                                der Erwerbsbevölkerung, exorbitant hoher
                                                Militärausgaben und des derzeit niedrigen Öl-
                                                preises steht das Gesellschaftsmodell dieser
                                                Staaten zusehends in Frage.

                                                                                                                                  Berlin-Institut 9
WARUM DER NAHE OSTEN UND
1  NORDAFRIKA FÜR EUROPA VON
GROSSER BEDEUTUNG SIND
Die Region Naher Osten und Nordafrika           orts bis heute anhaltende Bürgerkriege nach      etwa denkt angesichts schwieriger politi-
umfasst von ihrem westlichsten Punkt in         sich gezogen haben. Mit Jemen, Irak, Libyen      scher und wirtschaftlicher Verhältnisse mehr
­Marokko bis zu ihrem nordöstlichen Ende        und Syrien befinden sich 4 der 19 Mena-          als die Hälfte der jungen Menschen zwischen
 in den Gebirgshöhen des Iran und dem öst-      Länder im Krieg oder in kriegsähnlichen          18 und 29 Jahren darüber nach, ihr Land zu
 lichsten Teil an der omanischen Küste des      Zuständen. Das Aufkommen des sogenannten         verlassen.2
 Arabischen Meeres insgesamt 19 Länder. Die     Islamischen Staats und seiner Ableger hat
 Region ist die Geburtsstätte des Islam, be-    die ohnehin kritische Lage weiter ins Wanken     Der Mena-Raum bildet aber auch selbst
 heimatet seine wichtigsten Heiligtümer und     gebracht.                                        einen Flüchtlingskorridor: Die an die Kriegs­
 nimmt damit in der globalen muslimischen                                                        gebiete angrenzenden Länder wie Jordanien,
 Gesellschaft eine tragende Rolle ein – auch    Heute stellt die Mena-Region einen Risiko­       Libanon und Türkei nehmen selbst sehr
 wenn gerade einmal jeder fünfte der weltweit   faktor für Europa dar. Zum einen, weil mit ei-   viele Flüchtlinge auf, sind jedoch häufig nur
 rund 1,6 Milliarden Muslime in einem der       ner weiteren Destabilisierung der Region die     vorübergehende Ziele von Flüchtlingen, die
 Mena-Länder lebt.1                             Zahl islamistisch begründeter Terrorakte in      langfristig auf der Suche nach einem siche-
                                                Europa zunehmen könnte. Zum anderen, weil        ren Daseinsort sind. Gleichzeitig treibt die
Mit Ausnahme der meisten Israelis ist die       bei einer Ausweitung der Konfliktzonen mit       Perspektivlosigkeit jährlich Tausende aus
Mehrheit der Menschen in den Mena-Ländern       wachsenden Flüchtlingszahlen nach Europa         Subsahara-Afrika durch die Mena-Länder
muslimischen Glaubens. Doch davon abge-         zu rechnen ist, im schlimmsten Fall sogar mit    in Richtung Europa. Unter großen Gefahren
sehen dominieren vor allem die Gegensätze.      einer Verlagerung innerarabische ethnischer      versuchen sie, das Mittelmeer zu überwinden
Die Region gilt als eine der instabilsten der   und religiöser Konflikte in die europäische      – auch wenn sie als sogenannte Wirtschafts-
Welt. Seit Jahrzehnten halten inner- und zwi-   Gesellschaft. Darüber hinaus ist auch in den     flüchtlinge am Ende ihrer Reise kaum eine
schenstaatliche Auseinandersetzungen die        Mena-Ländern, in denen derzeit weitgehend        realistische Chance haben, den Traum von
Ländergruppe in Atem – etwa der dauerhaft       Ruhe herrscht, die Zahl der Auswanderungs-       Wohlstand in einer neuen Heimat zu verwirk-
schwelende Israel-Palästina-Konflikt, die       willigen groß: In Algerien und dem Libanon       lichen. Die Schreckensmeldungen über die
Golf- und Irakkriege oder die Arabellionen,                                                      oftmals tödlichen Überfahrten erschüttern
welche in vielen Ländern zu Umstürzen und                                                        die europäische Öffentlichkeit, aber sie
Regierungswechseln geführt und mancher-

10 Krisenregion Mena
haben den Strom der Verzweifelten bisher                den klassischen Energieträgern Öl und Gas          ten mit den Mena-Ländern dazu dienen,
in keiner Weise abgemildert. Eine Lösung                auch über die Ressourcen Wind und Sonne            Engpässe in Europa zu überwinden: In der
für dieses Problem kann es nur gemeinsam                und könnten damit künftig zum Erreichen            Mena-Region lebt eine große Zahl junger
mit den Mena-Ländern geben. Denn solange                der globalen Klimaziele und zur hiesigen           Menschen im Erwerbsalter, die mit geeigneter
die südlichen Mittelmeeranrainer daran                  Energiesicherung beitragen – und damit auch        Ausbildung eine Bereicherung für die hiesi-
scheitern, ihre Grenzen zu überwachen und               zur Umsetzung der Energiewende, eines der          ge Wirtschaft darstellen könnten. Weil ein
Schlepperbanden dingfest zu machen, wer-                zentralen Projekte der Bundesregierung. Eine       erheblicher Teil der Arbeitsmigranten nach

                                                                                                                                                                   KAPITEL 1
den die Menschen weiterhin riskante Über-               Wohlstandsregion im Nahen Osten und in             einigen Jahren in ihre Heimatländer zurück-
fahrten wagen.3                                         Nordafrika böte der europäischen Wirtschaft        kehrt, könnten sie mit zusätzlich erworbenen
                                                        darüber hinaus einen lukrativen Absatzmarkt.       Qualifikationen zur weiteren wirtschaftlichen
Mit der Mena-Region liegt somit ein Pulver­             Deutsche Markenprodukte etwa stehen bei            Entwicklung im Mena-Raum beitragen.
fass vor den Toren Europas. Umgekehrt                   der arabischen Jugend hoch im Kurs und sind
könnten die Staaten des Nahen Ostens und                deutlich beliebter als Waren aus Ostasien.4        Um diese Entwicklung auch durch die
Nordafrikas zu wichtigen Partnern der Euro-                                                                deutsche Außenpolitik zu befördern, gilt es
päer werden – dann, wenn es gelänge, ihnen              Vor dem Hintergrund des anstehenden Fach-          zunächst zu verstehen, warum die Region
und ihren Bewohnern eine wirtschaftliche                kräftemangels in Deutschland und anderen           heute besonders instabil ist und weshalb
Perspektive zu bieten und die Länder auf                alternden EU-Staaten könnten Partnerschaf-         sich die Lage in den vergangenen Jahren eher
diesem Weg der Entwicklung zu stabilisieren,                                                               verschlechtert als verbessert hat.
wie es in anderen Weltregionen längst gelun-
gen ist. Viele Mena-Länder verfügen neben

                                                                                            Libanon     Syrien
                                                    Tunesien                               Israel
                                                                               Palästinensische                   Irak                     Iran
        Marokko                                                                Autonomiegebiete
                                                                                                      Jordanien
                            Algerien                                                                                              Kuwait

                                                               Libyen
                                                                                   Ägypten                                            Bahrain
                                                                                                                                         Katar
                                                                                                                  Saudi-Arabien

                                                                                                                                                    Oman

                                                                                                                                                  Vereinigte
                                                                                                                              Jemen
                                                                                                                                                  Arabische
Europas südliche Nachbarn                                                                                                                         Emirate

Die Mena-Region umfasst insgesamt 19 Länder. Viele von ihnen liegen als
­Mittelmeeranrainer vor den Toren Europas. Wie sich diese Länder entwickeln,
 ist d
     ­ eshalb von hoher Bedeutung für Deutschland und die EU.

                                                                                                                                              Berlin-Institut 11
BEVÖLKERUNGSENTWICKLUNG
2               UND POLITISCHE STABILITÄT
Damit die Mena-Region ein verlässlicher          Kaum einer der Mena-Staaten erfüllt alle drei     Datenquellen hat die Weltbank mit den World
Partner für Deutschland und Europa werden        Minimalkriterien für politische Stabilität:      Governance Indicators sechs Indikatoren
kann, ist es wichtig, dass sich die Länder       Sie haben erstens häufig nicht die Autorität     zusammengestellt, welche die Leistungs­
politisch stabilisieren. Nur auf diesem Wege     und die dafür notwendigen Mittel ihr Macht-      fähigkeit von Staaten beschreiben und diese
können sie langfristig für wirtschaftliches      monopol durchzusetzen. Es mangelt ihnen          auf einer Skala von –2,5 bis +2,5 bewerten.
Wachstum und größeren Wohlstand sorgen.          zweitens an Effektivität, also der Fähigkeit,    Zwei dieser Indikatoren bilden die drei
Während sich seit Ende des Kalten Krieges in     eine funktionierende Infrastruktur bereitzu-     ­Minimalkategorien für politische Stabilität ab.
den meisten Ländern der Welt die Lebensbe-       stellen. Und es fehlt drittens an Legitimität,    Der erste Indikator misst, ob in den Ländern
dingungen verbessert haben und die Zahl der      weil die Bevölkerung die Rechtmäßigkeit der       Proteste, Terroranschläge oder kriegerische
Konfliktopfer gesunken ist, bleibt die Lage in   staatlichen Macht nicht oder nicht ausrei-        Auseinandersetzungen wahrscheinlich sind.
vielen Staaten des Nahen Ostens und Nord­        chend anerkennt.6 Der Begriff der politischen     Der zweite Indikator misst, ob die öffentliche
afrikas angespannt.5                             Stabilität beinhaltet keinerlei Aussage über      Verwaltung und der Polizeiapparat funk-
                                                 den Demokratisierungsgrad eines Landes.           tionieren und ob der Staat in der Lage ist,
Vielerorts in Mena gelingt es den Machtha-       Solange die genannten drei Kriterien erfüllt      seine Bevölkerung mit Elektrizität, Trink- und
bern weder, ihren Bevölkerungen Sicherheit       sind, gelten auch Autokratien als stabil.         Abwasserleitungen, Straßen, Bildungs- und
zu garantieren, noch sie ausreichend mit                                                           Gesundheitseinrichtungen zu versorgen.7 Der
Strom und Trinkwasser, Ärzten und Kranken­       Es gibt eine Vielzahl von Daten, die Informa-     Mittelwert aus beiden Indikatoren wird für
häusern, Lehrern und Schulen sowie mit           tionen darüber liefen, ob Staaten zumindest       diese Studie als Messgröße für die politische
einem intakten Verwaltungsapparat zu ver-        Teilaspekte der genannten Minimalkriterien        Stabilität herangezogen.
sorgen. Ein Ergebnis dieser Missstände sind      erfüllen. Beispielsweise lässt sich anhand
­öffentliche Proteste bis hin zu bewaffneten     der Zahl der Krankenhausbetten pro Kopf          Für 207 Länder kann diese auf diese Art
 ­Aufständen.                                    abschätzen, wie gut die medizinische Versor-     gemessen werden. Die meisten Länder mit
                                                 gungslage in einem Land ist. Auf Basis von       hoher Stabilität finden sich in der westlichen
                                                 qualitativen Umfragen oder Medienberichten       Hemisphäre oder unter den entwickelten Län-
                                                 liefern andere Indikatoren Hinweise über         dern Asiens und Ozeaniens. Neuseeland und
                                                 den Grad der Zufriedenheit in der Bevölke-
                                                 rung oder die Konfliktlage in einem Land
                                                 ein. Unter Verwendung einer Vielzahl von

12 Krisenregion Mena
Viele Länder instabil                                                                                              2.1 Viele junge
 Staaten, die in ihrer Bevölkerung Legitimität genießen, die ihr Machtmonopol durchsetzen und ihre Bewohner
 angemessen mit einer funktionierenden Infrastruktur versorgen können, gelten als politisch stabil.8 Unter den
                                                                                                                   ­Erwerbsfähige – Risiko
 dreißig instabilsten Ländern der Welt befinden sich sieben in der Mena-Region. Nach Somalia, Südsudan              oder Chance?
 und der Zentralafrikanischen Republik gilt Syrien als das weltweit viertinstabilste Land. Mit den Vereinigten
 ­Arabischen Emiraten (Platz 26) findet sich nur ein Mena-Staat im oberen Teil der Skala.                          In den vergangenen Jahren hat sich die
                                                                                                                   demografische Lage in der Mena-Region
 Grad der politischen Stabilität                                                                                   massiv verändert. Die meisten dieser Länder
                                                                                                                   befinden sich im sogenannten demografi-
  2,5
                                                                                                                   schen Übergang von hohen zu niedrigeren
 2,0    Neuseeland                                                                                                 Kinderzahlen pro Frau, also in einer Phase
        Singapur
                                                                                                                   stark rückläufiger Fertilitätsraten. Dadurch
  1,5          Deutschland
                                                                                                                   hat sich die Altersstruktur der Bevölkerun-

                                                                                                                                                                       KAPITEL 2
                   Vereinigte Arabische Emirate
 1,0                                                                                                               gen gewandelt: Die Gruppe der Kinder und
                     Katar
                                      Oman                                                                         Jugendlichen unter 20 Jahre ist im Verhältnis
 0,5                                                      Saudi-
                                                   Israel Arabien                                                  zur Gruppe der Erwerbsfähigen zwischen 20
   0                                                             Jordanien                                         und 64 Jahren kleiner geworden. Hingegen
                                                  Kuwait
– 0,5
                                                          Bahrain
                                                                  Marokko
                                                                              Tunesien                             ist vielerorts der Anteil der jungen Erwerbs-
                                                                                          Algerien                 fähigen zwischen 20 und 29 Jahren an der
                                                                                 Iran            Libanon
– 1,0                                                                                                              Erwerbsbevölkerung gewachsen.
                                                                                           Ägypten
–1,5                                                                                 Palästinensische
                                                                                                         Irak      Die Sozialwissenschaften sind sich einig da-
                                                                                     Gebiete              Libyen
–2,0                                                                                               Jemen           rin, dass der demografische Übergang einen
                                                                                                     Syrien
–2,5                                                                                                Somalia        großen Einfluss auf die politische Stabilität
                                                                                                                   nimmt. Uneins sind sie allerdings darüber,
 Grad der politischen Stabilität in 207 Ländern, 2014                                                              ob dieser sich eher positiv oder negativ aus-
 (Datengrundlage: Weltbank9, eigene Berechnungen)                                                                  wirkt. Zwei Theorie-Schulen treffen hierbei
                                                                                                                   unterschiedliche – wenn auch nicht gänzlich
                                                                                                                   widersprüchliche – Aussagen: Die erste,
 Singapur weisen den höchsten Grad der poli-             In Anbetracht ihrer Wirtschaftskraft müsste               konflikttheoretisch geprägte Schule unter-
 tischen Stabilität auf, Deutschland findet sich         es den meisten Mena-Ländern jedoch deut-                  stellt, dass ein starkes Bevölkerungswachs-
 unter den 30 stabilsten Ländern weltweit. Mit           lich leichter fallen, für politische Stabilität zu        tum, insbesondere rasche Veränderungen in
 den Vereinigten Arabischen Emiraten schafft             sorgen. Es muss also andere Gründe als eine               der Bevölkerungsstruktur, destabilisierend
 es nur eines der 19 Mena-Länder in diese                schlechte wirtschaftliche Verfassung geben,               wirken.10 Die zweite, ökonomisch orientierte
 Spitzengruppe. Daneben liegen noch Katar                die in den Mena-Ländern die politische                    Schule geht davon aus, dass große Anteile
 und Oman unter den 70 stabilsten Ländern.               Instabilität befördern. Das Berlin-Institut               junger, arbeitsfähiger Menschen einen
 Die vier Mena-Staaten Irak, Jemen, Libyen               hat diese Gründe in demografischen und                    wirtschaftlichen Aufstieg und wachsenden
 und Syrien zählen zu den zehn instabilsten              gesellschaft­lichen Veränderungen dieser                  Wohlstand ermöglichen und somit Stabilität
 der Welt.                                               Staaten gesucht.                                          erzeugen.

                                                                                                                                                  Berlin-Institut 13
Der demografische Übergang
                                                                                           Bevölkerung
                                             Katar
                                                                                                          Alle Gesellschaften durchlaufen früher oder später den
                                     Tunesien                                                             sogenannten demografischen Übergang. Am Beginn
                                                   Iran
                                                Saudi-Arabien                                             dieser Entwicklung stehen dabei sowohl hohe Kinder-
                                                                                                          zahlen wie auch eine hohe Sterblichkeit, so dass die
                                           Israel                                                         Bevölkerung kaum wächst. Wenn sich die Lebensbedin-
                                          Ägypten                                                         gungen verbessern, sinken die Sterberaten, vor allem
                                                                                                          jene der Kinder und in dieser zweiten Phase wächst
                                                                                                          eine Bevölkerung stark. Aufgrund des besseren Le-
                                    Jemen                                                                 bensstandards entscheiden sich nach einer gewissen
                                                                                                          Zeit viele Familien für weniger Nachwuchs und folglich
                                                                                                          reduziert sich in der dritten Phase des Übergangs das
                                                                                                          Bevölkerungswachstum. In hoch entwickelten Ländern
                                                                                                          sinkt die Geburtenrate sogar unter die Sterberate,
                                                                                           Sterberate
                                                                                                          so dass nicht nur das Bevölkerungswachstum endet,
                                                                                                          sondern ohne Zuwanderung sogar ein Einwohner-
                                                                                           Geburtenrate   schwund einsetzt. Berücksichtigt man alleine das
                                                                                                          natürliche Bevölkerungswachstum, also Geburten und
     Phase 1           Phase 2              Phase 3                   Phase 4              Phase 5        Sterbefälle, nicht aber Zu- und Abwanderung, dürfte
                                                                                                          Katar von allen Mena-Ländern im demografischen
                                                                                                          Übergang am weitesten fortgeschritten sein. In Jemen
Schematische Darstellung der Entwicklung von Geburten- und Sterberaten sowie der Gesamtbevölkerung        dagegen hat er gerade erst begonnen.

Demografisches Risiko? – Die konflikt-                zu stellen. Diese Länder können ihre Bevölke-       Nicht zuletzt spielt eine große Rolle, wo die
theoretische Schule                                   rung kaum effektiv versorgen und scheitern          Menschen leben. In vielen Entwicklungs­
                                                      damit an einem der drei genannten Minimal-          ländern wachsen Zahl und Anteil der Stadt-
In zahlreichen Konflikttheorien nehmen de-            kriterien für politische Stabilität.                bewohner rasant. Viele Städte kommen kaum
mografische Faktoren einen besonderen Stel-                                                               hinterher, die notwendigen Jobs und die
lenwert ein. Ihnen zufolge stellt starkes Be-         Die meisten Mena-Länder haben diese Pha-            Infrastruktur für die vielen neuen Bewohner
völkerungswachstum viele Länder vor kaum              se des demografischen Übergangs bereits             bereit zu stellen. In Städten fällt es den Men-
zu bewältigende Aufgaben, denn es bedeutet            durchlaufen. Sie stehen aber vor der nächsten       schen zudem leichter, sich zu vernetzen und
die Nachfrage nach immer mehr staatlichen             Herausforderung: Denn sobald die Fertilitäts-       zu organisieren. Deshalb ist dort die Wahr-
Leistungen. Als zusätzliches Risiko kommt             raten zurückgehen, wächst die Zahl der jun-         scheinlichkeit von Protesten größer als auf
eine sich wandelnde Altersstruktur hinzu,             gen Menschen im Erwerbsalter zwischen 20            dem Land – und das, obwohl in ländlichen
die alle Länder im demografischen Übergang            und 29 Jahren überproportional. Dabei han-          Gebieten die Lebensverhältnisse oft schlech-
(siehe Abbildung) von hohen zu niedrigen              delt es sich um jene Jahrgänge, die noch aus        ter sind als in der Stadt.12
Kinderzahlen erleben: In der frühen Phase 3           den Zeiten höherer Kinderzahlen stammen.
des Übergangs müssen die Menschen im                  Sie bilden einen sogenannten Jugendüber-            Übersetzt in die drei Minimalkriterien für
Erwerbsalter für eine sehr große Zahl von Kin-        hang, in der Fachliteratur als Youth Bulge be-      politische Stabilität bedeuteten diese Verän-
dern und Jugendlichen sorgen, während für             zeichnet. Wenn es nicht gelingt, diesen jun-        derungen, dass der Staat seine oft ohnehin
die eigenen Bedürfnisse nur wenig Spielraum           gen Erwachsenen gute Arbeitsmöglich­keiten          schon geringe Effektivität bei der Bereit-
bleibt.11 Das setzt nicht nur Familien unter          und damit einen Platz in der Gesellschaft zu        stellung öffentlicher Daseinsvorsorge weiter
Druck, sondern auch öffentliche Verwal-               verschaffen, neigen insbesondere die Männer         verliert. Dadurch büßt er die Unterstützung
tungen, denen die Mittel und Möglichkeiten            dieser Gruppe dazu, gegen Missstände not-           der Bevölkerung ein, also seine Legitimität
fehlen, die notwendige Infrastruktur in Form          falls auch mit Gewalt aufzu­begehren. Dies ist      und wird durch Proteste und Aufstände in
von Schulen oder Gesundheitsdiensten bereit           umso mehr der Fall, je besser diese Personen        seiner Autorität herausgefordert.
                                                      gebildet sind und keinen Weg sehen, ihr
                                                      Talent und ihre Leistungsbereitschaft gewinn-
                                                      bringend einzusetzen.

14 Krisenregion Mena
Demografische Chance? – Die                     erzeugen. Die staatliche Legitimität wird       politische Stabilität genommen haben und
­ökonomisch geprägte Schule                     weniger in Frage gestellt und es kommt sel-     ob die Mena-Region dabei eine Sonderrolle
                                                tener zu Konflikten, welche die Autorität der   einnimmt.
Im Gegensatz zu diesen möglichen negativen      Regierungen untergraben.
Folgen des demografischen Wandels in Ent-                                                       Zu diesem Zweck haben wir drei Untersu-
wicklungsregionen verweisen insbesondere        Heute zählen beide asiatischen Staaten zu       chungsgruppen gebildet: Die erste umfasst
Ökonomen auf das große Potenzial sich           den wohlhabendsten und technologisch            weltweit alle Länder14, für die Daten vorlagen,
wandelnder Bevölkerungsstrukturen. Zwar         fortschrittlichsten weltweit. Schätzungen       unabhängig von ihrem sozioökonomischen
sehen auch sie die Lage besonders kinder­       zufolge ging ein Drittel ihres Wirtschafts-     Entwicklungsstand (115 Länder mit Ausnah-
reicher Gesellschaften eher kritisch. Doch      wachstums zwischen 1965 und 1990 auf            me der Mena–Staaten). Die zweite Gruppe
viele Wirtschaftswissenschaftler glauben,       den demografischen Bonus zurück, also auf       beinhaltet 71 Entwicklungsländer (ebenfalls
dass die Chancen auf einen wirtschaftlichen     eine Bevölkerungsstruktur, die in anderen       ohne Mena) und die dritte Gruppe umfasst
Aufschwung wachsen, sobald sich der alters­     Ländern als gefährlicher Youth Bulge große      die 19 Mena-Staaten.

                                                                                                                                                    KAPITEL 2
mäßige Schwerpunkt einer Gesellschaft erst      Probleme bereitet.13 Im weltweiten Vergleich
einmal von der Kindheit in höhere Alters-       der politischen Stabilität belegt Singapur      Mithilfe einer sogenannten Panelanalyse
gruppen verschiebt. Nach dieser Vorstellung     Platz 1 und Südkorea Platz 57. Der demogra-     haben wir für jede Ländergruppe untersucht,
stellt ein Youth Bulge eine Chance dar, einen   fische Übergang hat in den asiatischen Tiger­   ob und wie bestimmte Veränderungen in der
„demografischen Bonus“, der sich unter          staaten also entgegen den Annahmen der          Bevölkerungsstruktur im 15-Jahres-Zeitraum
­geeigneten Rahmenbedingungen in eine           Konflikttheoretiker nicht zu weniger, sondern   zwischen 1995 und 2010 den Grad der po-
 ­„demografische Dividende“ verwandeln          zu mehr wirtschaftlicher Prosperität und        litischen Stabilität beeinflusst haben.15 Die
  lässt.                                        politischer Stabilität geführt.                 Folgen des Arabischen Frühlings im Jahr 2011
                                                                                                sind dabei bewusst nicht berücksichtigt. Die
Als Paradebeispiel dafür gelten die südost­                                                     damit verbundenen Proteste und gewalt­
asiatischen Wirtschaftswunderländer
Südkorea und Singapur, die sich binnen
                                                    2.2 Wie p
                                                            ­ olitische                         tätigen Konflikte haben zwar zunächst einmal
                                                                                                die politische Stabilität in vielen Mena-Län-
weniger Jahrzehnte von bitterarmen Staaten      ­Stabilität und                                 dern reduziert, aber einigen Ländern gelang
zu Wissens- und Wohlstandsgesellschaften
entwickelt haben. Ihnen ist gelungen, woran
                                                 ­Bevölkerungswandel                            es danach, die Stabilität wieder herzustellen,
                                                                                                also die Minimalkriterien Autorität, Legitimi-
viele Länder heute zu scheitern scheinen: Sie     ­zusammenhängen –                             tät und Effektivität wieder einigermaßen zu
schufen in der späten Phase 3 des demogra-
fischen Übergangs für die anteilig sehr große
                                                   eine Analyse                                 garantieren. Die vorübergehende Instabilität
                                                                                                hätte die grundsätzlichen Ergebnisse der
Erwerbsbevölkerung Arbeit im Niedriglohn-       In vielen Ländern der Mena-Region herrscht      Untersuchung statistisch verfälscht.
sektor und investierten gleichzeitig in die     derzeit eine politisch schwierige Lage,
Ausbildung der kleiner werdenden nachwach-      obwohl sie theoretisch ihren hohen Anteil       Bei der Auswahl der demografischen Verän-
senden Generationen. So fand eine große,        junger Menschen zu einem wirtschaftlichen       derungen, die in die Untersuchung einfließen,
junge, aber nur mäßig gebildete Generation      Aufstieg nutzen könnten. Die beschriebenen      haben wir uns an den beiden beschriebenen
auskömmliche Arbeit in der Massenfertigung      demografischen Stabilisierungsfaktoren          Theorien orientiert: Der Anteil der 20- bis
und ließ die Wirtschaft wachsen, während        scheinen sich hier nicht niederzuschlagen.      29-Jährigen, also der jungen Erwerbsbevöl-
der Nachwuchs immer besser qualifiziert         Es findet sich in diesen Ländern vielmehr auf   kerung an der gesamten Erwerbsbevölkerung
wurde, in höhere Ebenen der industriellen       den ersten Blick ein Beleg für die Annahmen     zwischen 20 und 64 Jahren bedeutet für
Wertschöpfungskette aufsteigen konnte und       der Konflikttheoretiker. Es scheint in der      die Konflikt-Theorie eine Bedrohung für
damit mehr erwirtschaftete als seine zahlen-    Mena-Region bestimmte Faktoren zu geben,        die politische Stabilität, für die Theorie der
mäßig stärkeren Elternjahrgänge.                die verhindern, dass die Länder eine demo-      demografischen Dividende hingegen eine
                                                grafische Dividende einfahren und politische    Chance. Auch eine wachsende und junge
Für die Einschätzung der politischen Stabili-   Stabilität hinzugewinnen können. Um diese       Bevölkerung mit verbessertem Bildungsstand
tät bedeutet das: Dadurch, dass diese Länder    These zu prüfen, haben wir in einer statisti-   bedeutet nach der einen Theorie eine Gefahr,
die Versorgung ihrer Einwohner verbessern,      schen Analyse untersucht, ob demografische      für die andere führt sie zu mehr politischer
können sie ein hohes Maß an Effektivität        Faktoren in der jüngeren Vergangenheit im
                                                weltweiten Vergleich einen Einfluss auf die

                                                                                                                               Berlin-Institut 15
­ tabilität. Einen weiteren Einfluss auf die
S                                                 länder (ohne Mena) festigt diese Aussage:        Aber auch andere Faktoren haben einen Ein-
Stabilität hat die Frage, ob die Menschen         Auch dort führt ein schnell wachsender Anteil    fluss auf die Stabilität. Die stärkste Wirkung
auf dem Land leben oder vermehrt in Städte        junger, gebildeter Berufseinsteiger an der       zeigt das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf:
ziehen.                                           Gesamt­bevölkerung zu einem höheren Grad         Mit wachsender Wirtschaftsleistung nimmt
                                                  politischer Stabilität. Offensichtlich finden    die politische Stabilität stark zu. Dies gilt
Um zu vermeiden, dass bei der Schwer-             die jungen Menschen in diesen Ländern            aber auch umgekehrt, denn die wirtschaft-
punktsetzung auf die Bevölkerungsstruktur         Rahmenbedingungen, die ihnen ermöglichen,        liche Leistungsfähigkeit ist vor allem dort
wichtige andere Entwicklungsfaktoren              ihre Fähigkeiten zu nutzen, und die ihnen den    hoch, wo politische Stabilität gegeben ist.
unberücksichtigt bleiben, haben wir auch          beruflichen Einstieg wie auch den wirtschaft-    In welche Richtung der Mechanismus wirkt,
die Wirkung weiterer sogenannter Kontroll-        lichen Aufstieg erleichtern.                     lässt sich mit der vorliegenden Analyse nicht
variablen untersucht, unter anderem die des                                                        ­nachweisen.
Bruttoinlandsprodukts pro Kopf sowie der          Auch die Urbanisierung wirkt sich in den
Beschäftigungsquoten der jeweiligen Länder.       beiden Ländergruppen (jeweils ohne Mena)         Zusätzlich zu den wirtschaftlichen Faktoren
Im Ergebnis lässt sich feststellen, ob und in     ähnlich aus: Siedeln immer mehr Menschen         wirkt sich auch die Form des politischen
welchem Maß die untersuchten Variablen die        in die Städte um, wird die Lage im ganzen        Systems auf die Stabilität aus: Länder, die
politische Stabilität beeinflusst haben.          Land zunächst instabiler. Vermutlich lässt       gleichzeitig demokratische und autokratische
                                                  sich eine angemessene Versorgung der Men-        Züge aufweisen, sind in der Staatengruppe
                                                  schen in den rasch wachsenden informellen        der Entwicklungsländer tendenziell instabil.
 2.3 Ergebnisse                                   Siedlungen kaum organisieren. Doch die Wir-
                                                  kung der Verstädterung schlägt nach einiger
                                                                                                   Tendenziell stabil hingegen sind Länder,
                                                                                                   die entweder eindeutig autokratisch oder
Die Ergebnisse der großen Untersuchungs-          Zeit um – in beiden Ländergruppen geschieht      demokratisch regiert werden. In der Unter-
gruppe mit 115 Ländern bestätigen zunächst        dies bei einem Urbanisierungsgrad von rund       suchungsgruppe, der auch die entwickelten
die Konflikttheorien – zumindest, wenn es         70 Prozent, genau gesagt bei 67 Prozent in       Länder angehören, nimmt mit höheren Demo-
um die relativen Bevölkerungsveränderun-          der Gruppe der weniger entwickelten Länder       kratiewerten die politische Stabilität zu.
gen geht: Zwischen 1995 und 2010 nahm in          und bei 71 Prozent in der weltweiten Unter-
jenen Ländern die Stabilität ab, in denen der     suchungsgruppe von 115 Staaten. Dies ent-        Als nicht ausschlaggebend haben sich die
Anteil der Erwerbsbevölkerung an der Ge-          spricht in etwa dem Urbanisierungsgrad der       Beschäftigungsquoten erwiesen – also der
samtbevölkerung besonders schnell wuchs.          Bundesrepublik zu Beginn der 1960er Jahre.       Anteil der Beschäftigten an allen Personen
Besonders negativ wirkte sich ein schnelles       Wenn der Anteil der Menschen in Städten die-     im Erwerbsalter – ganz unabhängig davon,
Wachstum der jungen Erwerbsbevölkerung            sen kritischen Wert überschreitet, steigt auch   welche Qualität diese Beschäftigung hat.
zwischen 20 und 29 Jahren auf die politische      die Stabilität. Offenbar gelingt es dann immer   Dieser Indikator schließt informell und
Stabilität aus. Offensichtlich stehen die         besser, das Leben in den Städten in geordne-     schlecht bezahlte Beschäftigte genauso ein
Menschen in diesen Ländern in der Phase der       te Bahnen zu lenken. Die Menschen finden         wie vertragsgebundene, sozialversicherungs­
Familiengründung und am Eintritt ins Berufs-      auskömmliche Beschäftigung und tragen zum        pflichtige Arbeitsverhältnisse.
leben vor hohen Hürden und erleben große          wirtschaftlichen Aufschwung bei.
Frustrationen.                                                                                     Die Analyse beider Ländergruppen (jeweils
                                                  Mit Ausnahme der Urbanisierung und der           ohne Mena) bestätigt, dass nicht nur die
Wenn die jungen Menschen jedoch besser            Zunahme des Anteils der jungen besser Ge-        zahlenmäßige Veränderung innerhalb einer
gebildet sind und über Abitur oder sogar          bildeten hatte in den Entwicklungsländern        Gesellschaft die politische Stabilität beein-
Hochschulabschluss verfügen, wirkt sich           keine weitere demografische Variable einen       flusst, sondern dass Bildung beziehungs-
das Wachstum des Bevölkerungsanteils der          statistisch nachweisbaren Einfluss auf die       weise Humankapital und Wohnort ebenfalls
20- bis 29-Jährigen positiv auf den Grad der      politische Stabilität – auch nicht die Jugend-   eine wichtige Rolle einnehmen. Ob sich der
politischen Stabilität aus. Dies ist ein klarer   abhängigkeitsrate, deren Anstieg in der          Bevölkerungswandel als Vor- oder Nachteil
Widerspruch zur Konflikttheorie, die gerade       weltweiten Untersuchungsgruppe von 115           herausstellt, ist somit politisch steuerbar:
hinter einem gut ausgebildeten Jugendüber-        Ländern destabilisierend wirkte.                 Wo es gelingt, ausreichend in die Bildung der
hang großes Destabilisierungspotenzial                                                             Nachwuchsgenerationen zu investieren und
vermutet. Die Gruppe der 71 Entwicklungs-                                                          die Urbanisierung ordentlich zu planen, er-
                                                                                                   weisen sich große junge Bevölkerungsanteile
                                                                                                   als überaus nützlich.

16 Krisenregion Mena
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