Krisenregion Mena Wie demografische Veränderungen die Entwicklung im Nahen Osten und Nordafrika beeinflussen und was das für Europa bedeutet ...
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Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung Krisenregion Mena Wie demografische Veränderungen die Entwicklung im Nahen Osten und Nordafrika beeinflussen und was das für Europa bedeutet erbsbevölkerung wächst schneller als die Zahl der Jobs +++ Staat bisher wichtigster Arbeitgeber +++ Diversifizierung der Wirtschaft dringend geboten + rufliche Ausbildung: gute Job-Chancen, wenig Wertschätzung +++ großes Potenzial für neue Flüchtlingsströme +++ schwieriger Abschied von der Ölwirts
Bedeutung der Piktogramme XOIX IOIXXI! Über das Berlin-Institut 1 2 2015 89,1 Mio. R.I.P. 3,5 71 2030 117,9 Mio. 3 4 5 Das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung ist ein unabhängiger Thinktank, der sich mit Fragen regionaler und globaler demografischer Veränderungen beschäf- 6 7 8 9 tigt. Das Institut wurde 2000 als gemeinnützige Stiftung gegründet und hat die Auf- 2015 43 Prozent gabe, das Bewusstsein für den demografischen Wandel zu schärfen, nachhaltige Ent- 10 2030 47 Prozent 11 wicklung zu fördern, neue Ideen in die Politik einzubringen und Konzepte zur Lösung 15+ 15–24 15+ 15–24 demografischer und entwicklungspolitischer Probleme zu erarbeiten. 12 13 10.046 14 16 In seinen Studien, Diskussions- und Hintergrundpapieren bereitet das Berlin-Institut BIP wissenschaftliche Informationen für den politischen Entscheidungsprozess auf. 0 US$ 140.000 17 +4,3 +2,3 – 0,1 15 Weitere Informationen, wie auch die Möglichkeit, den kostenlosen regelmäßigen 2005-10 2005-14 2010-14 Newsletter „Demos“ zu abonnieren, finden Sie unter www.berlin-institut.org. 1 Grad der politischen Stabilität (–2,5 bis +2,5) Unterstützen Sie die unabhängige Arbeit des Berlin-Instituts 2 Demokratisierungsgrad (–10 bis +10) 3 Bevölkerungsentwicklung Das Berlin-Institut erhält keinerlei öffentliche institutionelle Unterstützung. Projekt- förderungen, Forschungsaufträge, Spenden und Zustiftungen ermöglichen die erfolg- 4 Kinderzahl pro Frau 5 Lebenserwartung reiche Arbeit des Instituts. Das Berlin-Institut ist als gemeinnützig anerkannt. Spen- 6 Anteil der Erwerbsfähigen (30–64) an der den und Zustiftungen sind steuerlich absetzbar. Gesamtbevölkerung 7 Anteil derjenigen mit mindestens Abitur an der Im Förderkreis des Berlin-Instituts kommen interessierte und engagierte Privat erwachsenen Bevölkerung (20+) personen, Unternehmen und Stiftungen zusammen, die bereit sind, das Berlin-Institut 8 Anteil der jungen Erwerbsfähigen (20–29) an ideell und finanziell zu unterstützen. Informationen zum Förderkreis finden Sie unter der Gesamtbevölkerung http://www.berlin-institut.org/foerderkreis-des-berlin-instituts.html 9 Anteil der jungen Erwerbsfähigen (20–29) mit mindestens Abitur an der Gesamtbevölkerung Bankverbindung: 10 Kinder und Jugendliche pro 100 E rwerbsfähige Bankhaus Hallbaum (20 – 64) IBAN DE50 2506 0180 0020 2864 07 11 Bevölkerungsanteil in Städten BIC/SWIFT HALLDE2H Risiko Chance neutral Kontakt: Anstieg Rückgang stabil Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung 12 Beschäftigungsquote von Frauen und Männern Schillerstraße 59 nach Altersgruppe 10627 Berlin 13 Beschäftigungsquote von Frauen nach Telefon 030 22 32 48 45 Altersgruppe Telefax 030 22 32 48 46 14 Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf E-Mail info@berlin-institut.org 15 Wachstum des BIPs pro Kopf 16 äußerer Kreis: Anteil am BIP im Uhrzeigersinn: Industrie (davon: Anteil Öl, Anteil Gas), Landwirtschaft, Dienstleistungen 17 innerer Kreis: Beschäftigtenanteil im jeweiligen Wirtschaftszweig
Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung Krisenregion Mena Wie demografische Veränderungen die Entwicklung im Nahen Osten und Nordafrika beeinflussen und was das für Europa bedeutet
Impressum Originalausgabe Mai 2016 ©Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Sämtliche, auch auszugsweise Verwertung bleibt vorbehalten. Herausgegeben vom Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung Schillerstraße 59 10627 Berlin Telefon: (030) 22 32 48 45 Telefax: (030) 22 32 48 46 E-Mail: info@berlin-institut.org www.berlin-institut.org Autoren: Ruth Müller, Stephan Sievert, Reiner Klingholz Lektorat: Florian Sievert, Franziska Woellert Datenrecherche: Ruth Müller und Daniel Geyer Dokumentation: Julia Legge Gestaltung: Jörg Scholz, Köln (www.traktorimnetz) Druck: Gebrüder Kopp GmbH & Co. KG, Köln ISBN: 978-3-946332-86-2 Die Autoren Ruth Müller, 1984, Masterstudium an der Freien Universität Berlin in Osteuropastudien mit den Schwerpunkten Politikwissenschaften und Soziologie. Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung. Stephan Sievert, 1982, Masterstudium an der Universität Maastricht in International Economic Studies mit dem Schwerpunkt Social Economics. Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung. Dr. Reiner Klingholz, 1953, Promotion im Fachbereich Chemie an der Universität Hamburg, Direktor des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung. Das Berlin-Institut dankt dem Institut für Auslandsbeziehungen (ifa) für die Förderung aus Mitteln des Auswärtigen Amtes. Zusätzlicher Dank gilt der BMW-Stiftung Herbert Quandt und der Deutschen G esellschaft für Internationale Zusammenarbeit für die Unterstützung bei der Suche nach Interviewpartnern sowie allen Gesprächspartnern für ihre Mitwirkung an der Studie.
INHALT WENN DAS BEVÖLKERUNGSPOTENZIAL ZUM RISIKOFAKTOR WIRD.................................4 DAS WICHTIGSTE IN KÜRZE...............................................................................................8 1. WARUM DER NAHE OSTEN UND NORDAFRIKA FÜR EUROPA VON GROSSER BEDEUTUNG SIND.........................................................................................................10 2. BEVÖLKERUNGSENTWICKLUNG UND POLITISCHE STABILITÄT................................... 12 2.1 VIELE JUNGE ERWERBSFÄHIGE: RISIKO ODER CHANCE?........................................ 13 2.2 WIE P OLITISCHE S TABILITÄT UND B EVÖLKERUNGSWANDEL ZUSAMMENHÄNGEN – EINE ANALYSE.......................................................................... 15 2.3 ERGEBNISSE...........................................................................................................16 3. MENAS DEMOGRAFISCHE AUSSICHTEN BIS 2030.......................................................18 3.1 INSTABILERE L ÄNDER.............................................................................................19 3.2 STABILERE L ÄNDER BENÖTIGEN NEUEN GESELLSCHAFTSVERTRAG......................23 4. POTENZIALE NUTZEN, STABILITÄT ERZEUGEN.............................................................24 5. HANDLUNGSBEREICHE.................................................................................................27 DIE LÄNDER DER MENA-REGION..................................................................................... 40 NORDAFRIKA................................................................................................................... 40 NAHOST............................................................................................................................54 ANMERKUNGEN UND QUELLEN........................................................................................ 90
WENN DAS BEVÖLKERUNGS POTENZIAL ZUM RISIKOFAKTOR WIRD Nur wenige Kilometer trennen die Europä- sten derzeit existierenden Unruheherd der Diese Studie beschäftigt sich nur nachrangig ische Union an der schmalsten Stelle des Welt. Hinzu kommt seit über zehn Jahren die mit den aktuellen Krisen und dem Zerfall Mittelmeers von einer Region, das sich in den Ausbreitung neuer, besonders barbarischer ganzer Staaten wie Syrien oder Libyen, die in letzten Jahren von einem Gebiet mit einzel- Terrorgruppen, allen voran des sogenannten ihrer Entwicklung um Jahrzehnte zurück nen Konfliktzonen zu einer großflächigen Islamischen Staates. Der Mena-Region man- geworfen werden. Vielmehr sucht die Studie Krisenzone entwickelt hat: Nordafrika und gelt es derzeit an vielen Voraussetzungen für nach den tiefergehenden, aber lange Zeit der Nahe Osten. Die Region, auch in Deutsch- eine friedliche Entwicklung: an sozialem kaum beachteten Ursachen der Unzufrieden- land unter dem englischen Kürzel „Mena“ Zusammenhalt, an vorausplanenden Regie- heit und Frustration in der Region. Diese bekannt, umfasst von Marokko bis Oman, von rungen, an Wettbewerbsfähigkeit auf den haben sich seit Jahren hochgeschaukelt. Eher Katar bis Jemen 19 Staaten, die mit Ausnah- globalen Märkten und an einem Bildungs durch Zufall hat die Selbstverbrennung eines me Israels muslimisch geprägt sind und system, das für die Aufgaben des 21. Jahr deren gesellschaftliche Entwicklung höchst hunderts fit macht. Prognostizierte natür unterschiedlich weit fortgeschritten ist. Das liche Bevölkerungsver- Gebiet ist geprägt von historisch bedingten änderung (Geburten Konflikten, von willkürlichen Grenzziehungen minus Sterbefälle) in nach der Kolonialzeit, von den Folgen des Prozent, 2015 bis 2030 Kalten Krieges, vom Kampf um Rohstoffe, von unter –5 innerarabischen und innerreligiösen Aus SCHWEDEN –5 bis unter 0 einandersetzungen sowie von dem Konflikt FINNLAND 0 bis unter 5 zwischen Israel und Palästina, dem am läng- 5 bis unter 10 GROSS- DÄNEMARK ESTLAND 10 bis unter 15 BRITANNIEN LETTLAND 15 bis unter 25 LITAUEN NIEDERLANDE POLEN 25 bis unter 35 DEUTSCHLAND IRLAND TSCHECHIEN 35 bis unter 45 BELGIEN LUXEMBURG ÖSTERREICH SLOWAKEI 45 und mehr Demografisches Gefälle UNGARN FRANKREICH SLOWENIEN RUMÄNIEN (Datengrundlage: KROATIEN Weil die Mena-Region noch in einer relativ frühen Population Reference BULGARIEN Phase der sozioökonomischen Entwicklung steckt, ITALIEN Bureau1) liegen die Kinderzahlen höher als in Europa und die PORTUGAL SPANIEN Bevölkerung ist deutlich jünger. Deshalb dürfte die Mena-Bevölkerung bis 2030 um 26 Prozent wach- GRIECHENLAND ZYPERN SYRIEN sen, während sie in Europa stagniert, in einzelnen TUNESIEN LIBANON IRAK IRAN Länder sogar schrumpft. Nur Zuwanderung kann MAROKKO ISRAEL dort längerfristig für eine Stabilisierung sorgen. JORDANIEN KUWAIT ALGERIEN LIBYEN BAHRAIN SAUDI-ARABIEN ÄGYPTEN KATAR VEREINIGTE ARABISCHE EMIRATE OMAN JEMEN 4 Krisenregion Mena
Straßenhändlers im Jahr 2011 die Arabellion Rekordaufrüstung Militärausgaben in Prozent des BIP in Tunesien ausgelöst. Ihren explosiven Lauf nahmen die arabischen Aufstände durch eine Obwohl sowohl die reichen als auch die ärmeren Mena-Länder dringend in moderne Bildung und eine 16 unzufriedene junge Generation, die in den Diversifizierung ihrer Wirtschaft und somit Arbeits- 15 vergangenen Jahren zwar eine immer bessere plätze investieren müssten, geben sie Rekordsum- 14 Schul- oder gar Hochschulausbildung mitbe- men für das Militär aus. Sie gehören zu den Staaten mit den weltweit höchsten Rüstungsausgaben. Ob 13 kommen, aber kaum eine Chance erhalten sich damit die Region befrieden lässt, ist fraglich. 12 hat, diese gewinnbringend einzusetzen. 11 Diese Menschen fühlen sich zurecht um ihre 10 Zukunft betrogen. 9 8 So unterschiedlich die Voraussetzungen in 7 den einzelnen Mena-Ländern sind, so vereint 6 stehen sie vor dem gemeinsamen Problem, 5 ihre Jobkrise lösen zu müssen: Allerorts Länder mit den höchsten 4 Militärausgaben welt- wächst die Bevölkerung im Erwerbsalter 3 weit, 2015 (Jemen, schneller als die Zahl der Arbeitsplätze. Mena Vereinigte Arabische 2 ist die Weltregion mit der höchsten Jugend Emirate, Libyen 2014) 1 arbeitslosigkeit und der niedrigsten Frauen- (Datengrundlage: Sipri2) 0 erwerbsbeteiligung. In manchen Mena-Staa- Libanon Jordanien Namibia Armenien Jemen Bahrain Aserbaidschan Russland Israel VAE Algerien Libyen Irak Saudi-Arabien Südsudan Oman ten wie Ägypten oder Tunesien steigt absur- derweise die Wahrscheinlichkeit, arbeitslos zu werden mit dem Bildungsstand, während die gering Qualifizierten überwiegend in schlecht bezahlten Jobs mit niedriger Produk- Bruttoinlandsprodukt pro tivität und ohne soziale Absicherung tätig Kopf in US-Dollar, 2014 sind. unter 10.000 SCHWEDEN 10.000 bis unter 15.000 Praktisch alle Mena-Länder brauchen mehr FINNLAND 15.000 bis unter 20.000 Beschäftigungsmöglichkeiten in privaten 20.000 bis unter 25.000 Unternehmen, vor allem für junge Menschen. ESTLAND GROSS- DÄNEMARK 25.000 bis unter 30.000 Gleichzeitig müssen sie ihren kostspieligen BRITANNIEN LETTLAND 30.000 bis unter 35.000 NIEDERLANDE LITAUEN POLEN 35.000 bis unter 40.000 DEUTSCHLAND IRLAND TSCHECHIEN 40.000 bis unter 45.000 BELGIEN LUXEMBURG ÖSTERREICH SLOWAKEI 45.000 und mehr Arm – reich – sehr reich UNGARN FRANKREICH SLOWENIEN RUMÄNIEN (Datengrundlage: Weltbank3) KROATIEN Das Einkommens- und Wohlstandgefälle zwischen BULGARIEN der EU und den ärmeren Mena-Staaten ist enorm. ITALIEN Der Anreiz, diese Länder auf der Suche nach PORTUGAL SPANIEN einem besseren Leben zu verlassen, bleibt des- GRIECHENLAND ZYPERN halb auf absehbare Zeit erhalten. Sollten sich SYRIEN Krisen und Terror in der Region weiter ausbreiten, TUNESIEN LIBANON IRAK IRAN dürfte auch die Zahl der in Europa Asyl Suchen- MAROKKO ISRAEL den zunehmen. Bisher können nur die sehr JORDANIEN KUWAIT (Öl-)reichen Länder am Golf ihre Bevölkerung vor ALGERIEN LIBYEN SAUDI-ARABIEN BAHRAIN Ort halten, unter anderem, weil sie diese mit ÄGYPTEN KATAR hohen Subventionen ruhig stellen. VEREINIGTE ARABISCHE EMIRATE OMAN JEMEN Berlin-Institut 5
und unproduktiven öffentlichen Sektor zu- damit den Aufstieg hin zu Schwellen- und Wir zeigen in der vorliegenden Studie, dass rückfahren, der bislang vielen Menschen ein Industrieländern bewirkt haben: Wo immer dieser Entwicklungsweg aus der Armut und Auskommen sichert.4 Gelingt das nicht rasch, junge Menschen eine halbwegs taugliche aus hohem Bevölkerungswachstum, dem drohen sich die ohnehin schon lähmenden Qualifikation und eine Chance auf dem Ar- bisher alle aufsteigenden Staaten der Welt Krisen auszuweiten. Erschwerend kommt beitsmarkt bekamen, haben sie ihren Volks- gefolgt sind, in den Mena-Ländern offensicht- hinzu, dass in der Region ein Mangel an Was- wirtschaften geholfen, in höhere Stufen der lich nicht funktioniert. Dort gelingt es bis ser und Nahrungsmitteln herrscht, der sich Wertschöpfung aufzusteigen. Im Zuge dieser dato nicht, das Potenzial einer immer besser sowohl durch das Bevölkerungswachstum Entwicklung haben sich die Menschen für qualifizierten Nachwuchsgeneration volks- wie auch durch den Klimawandel verschärfen kleinere Familien entschieden und konnten wirtschaftlich nutzbar zu machen. Stattdes- dürfte. Und als ob das nicht genug Gründe für so das Bevölkerungswachstum eindämmen. sen wächst die Krisenanfälligkeit, je mehr Krisen wären, zerstört ein neuer Ölpreiskrieg Dieser Umstand eröffnete den Regierungen, junge Menschen mit einer Ausbildung ohne das Geschäftsmodell der vom Rohstoff den Unternehmen und den Familien die Beschäftigung bleiben. verkauf abhängigen Mena-Länder. Weil sie Chance, mehr in kommende Generationen zu sich gegenseitig im Preis für das Schwarze investieren. Ein sich selbst verstärkender Daraus zu schließen, Bildung sei ein Unruhe- Gold unterbieten, um die jeweiligen Wett wirtschaftlicher Aufstieg war programmiert. stifter und solle möglichst nicht weiter geför- bewerber zu schädigen, gefährden sie ihren Die heutigen Industrienationen, die asia- dert werden, wäre allerdings fatal. Die Mena- Wohlstand, der bislang der wichtigste Faktor tischen Tigerstaaten und später die Länder Region muss deutlich mehr in Bildung inve- für den gesellschaftlichen Frieden in den Lateinamerikas haben sich genau nach die- stieren, denn bislang reicht der Kenntnis- Ländern war. All dies sind keine guten Nach- sem Modell entwickelt. stand in den meisten Ländern bei weitem richten für die Mena-Länder, für deren Be- nicht aus, um den Anschluss an die globale wohner und für alle in Europa, denen die humanitäre Lage der Menschen vor Ort und die wachsende Zahl von Flüchtlingen und Vertriebenen Sorgen bereitet. Das Paradoxe an der momentanen Situation Medianalter ist, dass jene Bevölkerungsgruppen, die am der Bevölkerung, meisten für Unruhe sorgen, in anderen Ent- 2015–2020 SCHWEDEN wicklungsländern einen wirtschaftlichen FINNLAND unter 20 Aufschwung, einen Entwicklungsschub und GROSS- 20 bis unter 24 BRITANNIEN DÄNEMARK ESTLAND 24 bis unter 28 LETTLAND 28 bis unter 32 NIEDERLANDE LITAUEN POLEN 32 bis unter 36 DEUTSCHLAND IRLAND TSCHECHIEN 36 bis unter 40 BELGIEN LUXEMBURG ÖSTERREICH SLOWAKEI 40 bis unter 44 Jung im Süden, alt im Norden UNGARN FRANKREICH RUMÄNIEN 44 und mehr SLOWENIEN KROATIEN Niedrige Kinderzahlen und eine wachsende Le- BULGARIEN (Datengrundlage: benserwartung sorgen in Europa für eine alternde Wittgenstein Centre5) Bevölkerung. Demgegenüber sind die Mena-Län- PORTUGAL SPANIEN ITALIEN der jünger, einige sogar deutlich. Doch was auf den GRIECHENLAND ZYPERN ersten Blick nach einem demografischen Vorteil SYRIEN aussieht, entpuppt sich rasch als Problem: Denn TUNESIEN LIBANON IRAK IRAN für die vielen jungen Menschen fehlt es an aus- MAROKKO ISRAEL kömmlicher Arbeit und wenn sie keine Rolle in der JORDANIEN KUWAIT Gesellschaft finden, bedeuten sie ein großes ALGERIEN LIBYEN SAUDI-ARABIEN BAHRAIN Unruhepotenzial. Alternde Gesellschaften sind ÄGYPTEN KATAR demgegenüber wesentlich friedlicher und sie können ihre Bevölkerung leichter beschäftigen – VEREINIGTE speziell, wenn sie gut qualifiziert ist. ARABISCHE EMIRATE OMAN JEMEN 6 Krisenregion Mena
Jobmangel – das größte Problem der Region Hinzu kommen Entwicklungen, von denen wir heute noch gar keine Vorstellung haben, aber Seit Jahren finden in der Mena-Region nur gut 40 Prozent der Bevölkerung im Erwerbsalter eine Beschäftigung. dennoch wissen, dass sie stattfinden werden, Daran dürfte sich auch künftig wenig ändern, denn diese Gruppe wächst weiter stark, während es an innovativen Privatunternehmen mangelt, die den Menschen Einkommensmöglichkeiten bieten könnten. etwa das Aufkommen neuer Terrorgruppen. Die Sicherheitsforschung bezeichnet solche Millionen Entwicklungen als „known unknowns“, also 350 als künftige Ereignisse, von denen wir wis- sen, dass wir nichts über sie wissen. In die- 300 sem Zusammenhang werden sogar „unknown unknowns“ diskutiert, also Entwicklungen 250 von den wir nicht einmal wissen, dass wir 181 Millionen nichts über sie wissen, auf die man sich aber Erwerbsbevölkerung 200 (15 bis 64 Jahre) 157 Millionen trotzdem in irgendeiner Weise präventiv vorbereiten muss.7 150 Eine Außenpolitik, die lange daran gewöhnt 87 Millionen 100 war, bedrohliche Krisen einzeln abzuarbeiten, muss sich nun darauf einstellen, ein kom- Beschäftigte plexes Geflecht von miteinander verwobenen 50 (15 bis 64 Jahre) regionalen und internationalen Krisen zu 0 kontrollieren, die sich gegenseitig verstärken können, deren Entstehung sich oft gar nicht 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 mehr nachvollziehen lässt und deren Auswir- Zahl der Menschen im Erwerbsalter (15 bis 64 Jahre) und Beschäftige in dieser Altersgruppe in Millionen kungen Europa immer unmittelbarer treffen. (Datengrundlage: Schätzungen der ILO6) Diese Krisen in der direkten Nachbarschaft der alten Welt werden die deutsche und europäische Außenpolitik auf absehbare Zeit Wissensgesellschaft zu ermöglichen. Bildung Diese Perspektiven sind notwendig, um die beschäftigen. ist, und hier ist der Begriff ausnahmsweise Anfälligkeit für unvorhersehbare Konflikte zu einmal angebracht, alternativlos für die Ent- minimieren. Die Arabellion in Tunesien hat wicklung der Gesellschaften und das gilt gezeigt, dass ein winziger Funke genügt, um Berlin, im Mai 2016 sowohl für die berufliche wie für die universi- eine ganze Weltregion, die an vielen Stellen Reiner Klingholz täre Bildung. Was die Mena-Staaten neben unter Spannung steht, in Brand zu setzen. Direktor, Berlin-Institut für Bevölkerung besserer Bildung benötigen, sind vor allem Seither haben sich die Spannungen nicht und Entwicklung Arbeitsplätze in innovativen, privaten Unter- reduziert, sondern ausgeweitet. Allein die nehmen, um den jungen Menschen, vor allem allseits bekannten Probleme füllen Bände. auch den bislang massiv benachteiligten Sie reichen von dem iranisch-saudischen Frauen, eine Lebensperspektive zu bieten. Wettstreit um die arabische Vorherrschaft über den Menschen-, Drogen- und Waffen- handel durch die Sahara, bis hin zu dem Konfliktgemenge in Irak und Syrien, in welches auch externe Kräfte wie die Türkei und die beiden Supermächte USA und Russland verstrickt sind. Berlin-Institut 7
DAS WICHTIGSTE IN KÜRZE MENA IN DER KRISE SONDERFALL DER ENTWICKLUNG WO LIEGEN DIE DEFIZITE? Das Gebiet des Nahen Ostens und Nord Wie in anderen Schwellen- und Entwicklungs- Drei wichtige Gründe erklären das Entwick- afrikas, aus dem Englischen abgeleitet auch ländern auch sind in den Mena-Ländern in lungsparadox der Mena-Region: hierzulande meist als Mena bezeichnet, zählt den letzten Jahren die Kinderzahlen je Frau zu den krisenhaftesten Regionen der Welt. zum Teil deutlich gesunken. Dadurch ist der Erstens sind die Bildungswerte zwar formal 8 von 19 Mena-Staaten finden sich in der Anteil der Erwerbsfähigen in den Gesellschaf- gestiegen, die Bildungsqualität entspricht Gruppe der 50 instabilsten Staaten weltweit. ten gestiegen, was einen potenziellen volks- aber selten den Anforderungen des 21. Jahr- 4 davon, Syrien, Libyen, Irak und Jemen, wirtschaftlichen Nutzen darstellt. Gleichzeitig hunderts. Schulkinder erlangen zu wenig können als „gescheitert“ erklärt werden. haben sich Einschulungsraten und Bildungs- Mathematik-, Lese- oder Problemlösungs- werte verbessert. Doch während diese kompetenzen. Naturwissenschaftliche Fächer Schlechte Regierungsführung, Korruption, gesellschaftlichen Modernisierungsprozesse und Fremdsprachen, die international wett- religiöse und ethnische Konflikte haben über anderswo auf der Welt zu wirtschaftlichem bewerbsfähig machen würden, spielen eine Jahre hinweg zu diesen Krisen beigetragen. Aufschwung, zur Schaffung von Arbeits untergeordnete Rolle. Berufliche Bildung hat Im Kern vieler Probleme aber steht der Um- plätzen und zu mehr politischer Stabilität außerhalb von Israel und Iran kaum eine Be- stand, dass die Bevölkerung im Erwerbsalter geführt haben, lassen sich diese Effekte in deutung. Trotz steigender Akademikerquoten seit vielen Jahren schneller wächst als die Mena nicht beobachten. Dort steigt im Ge- fehlen Fachkräfte mit wirtschaftsrelevanten Zahl der Arbeitsplätze. Während die Mena- genteil mit dem Anteil der besser Gebildeten Qualifikationen, weil sich die meisten Studie- Region nach Subsahara-Afrika schon heute in der Erwerbsbevölkerung das Risiko der renden für Fächer entscheiden, die ihnen den die zweithöchsten Arbeitslosenquoten der politischen Instabilität. Bildung, die anderen- Eintritt in den Staatsdienst ermöglichen. Welt verzeichnet, drängen bis 2030 jährlich orts den Einstieg in höhere Wertschöpfung fast fünf Millionen zusätzliche Kräfte auf den bedeutet, führt in Mena eher zu Konflikten. Zweitens ist das innovative, private Unter- Arbeitsmarkt. Das eigentliche Potenzial der vielen jungen nehmertum in den Mena-Ländern kaum Erwerbsfähigen wird nicht genutzt. verbreitet. Es fehlt an erfolgreichen, kleinen Aufgrund der geografischen Nähe und lang- und mittelständischen Firmen, die weltweit jähriger politischer und wirtschaftlicher Ver- die Job- und Wachstumsmotoren der Volks- flechtungen hat die Mena-Region für Europa wirtschaften sind. Dagegen gibt es zahllose eine hohe Bedeutung. Eine zunehmende Kleinstunternehmen mit wenigen Beschäftig- Destabilisierung der Region würde einen ten und geringer Produktivität, die nur ein- konstruktiven Austausch weiter erschweren. fache Waren und Dienstleistungen anbieten. Mit einem Anstieg der Flüchtlingszahlen Die Gründungsrate in Mena liegt niedriger als aus Mena stiege auch die Gefahr terroristi- in jeder anderen Weltregion mit Ausnahme scher Anschläge und einer Verlagerung der Subsahara-Afrikas. Neugründungen haben es dortigen Konflikte nach Europa Umgekehrt zudem schwer, sich gegen Staatsbetriebe und böte eine Stabilisierung der Region wichtige die wenigen privaten Großunternehmen mit Absatzmärkte für die europäische Wirtschaft engen Staatskontakten durchzusetzen. und ein Reservoir für hierzulande dringend benötigte Fachkräfte. 8 Krisenregion Mena
DAS WICHTIGSTE Drittens bleiben Frauen trotz häufig guter Qualifikation am Arbeitsmarkt marginali- REGIONALE UNTERSCHIEDE WAS ZU TUN WÄRE siert. Nicht einmal jede dritte Frau zwischen 25 und 34 Jahren geht einer bezahlten Arbeit nach oder sucht eine solche. Einzig Die 19 Mena-Staaten unterscheiden sich Alle Mena-Staaten sollten sich deshalb mehr in Israel erreichen Frauen etwa die gleiche teilweise erheblich voneinander. Ins- oder weniger den gleichen Aufgaben widmen Erwerbsbeteiligung wie Männer. Auch das gesamt reicht das Spektrum von sehr um ihren Bevölkerungen Perspektiven zu Unternehmertum ist unter Frauen kaum ver- hohem L ebensstandard (in Katar oder den bieten und einen Entwicklungs- und Frie- breitet. Damit geht der Region ein enormes Vereinigten Arabischen Emirate) über ein densprozess für die Region zu ermöglichen. Potenzial verloren: Nach Schätzungen läge mittleres Niveau (Iran) bis zu verbreiteter Dazu müssen sie das Bildungsniveau ihrer das Mena-Bruttoinlandsprodukt im Jahr 2025 Armut (Jemen) sowie von politisch stabil bis Bevölkerungen anheben, moderne Lehrpläne um beinahe drei Billionen Dollar über dem instabil. und -methoden einführen und junge Men- prognostizierten Niveau, wenn die heute schen in ihrer gesamten Bildungskarriere bestehenden Geschlechterungleichheiten Zu den stabileren Mena-Ländern zählen auf die Anforderungen der Privatwirtschaft beseitigt würden. Bahrain, Israel, Kuwait, Katar, Saudi-Arabien vorbereiten. Sie müssen Bedingungen für ein und die Vereinigten Arabischen Emirate. Sie erfolgreiches und wettbewerbsfähiges Unter- stellen mit 58 Millionen Einwohnern etwa 14 nehmertum schaffen, das ausreichend ent- Prozent der Mena-Bevölkerung. Im Jahr 2030 lohnte Arbeitsplätze schafft. Und sie müssen dürften es über 72 Millionen sein. die Gleichberechtigung von Frauen auf allen Eben des öffentlichen und des Berufslebens Die Gruppe der instabileren Mena-Länder ermöglichen. besteht aus Algerien, Iran, Irak, Jordanien, Libanon, Libyen, Marokko, Oman, Palästina, Durch Maßnahmen in diesen drei Bereichen Syrien, Tunesien, Ägypten und Jemen. Dort ließen sich in den Mena-Ländern wichtige leben heute rund 363 Millionen Menschen. Voraussetzungen für Wirtschaftswachstum Bis 2030 ist ein Wachstum auf 458 Millionen und politische Stabilität schaffen. Diese Auf- zu erwarten. gaben richten sich an die Regierungen der jeweiligen Länder, an die Wirtschaft vor Ort Insbesondere den instabileren Staaten und an ausländische Investoren, an Nicht- bereitet das Bevölkerungswachstum erheb- regierungsorganisationen und die offizielle liche Probleme, vor allem, weil sich dort die internationale Zusammenarbeit. Arbeitslosigkeit weiter ausbreitet. Aber auch die stabileren Staaten, von denen die meisten durch Rohstoffeinnahmen zu großem Reich- tum gekommen sind, haben ein Beschäfti- gungsproblem. Bislang bietet dort der Ver- waltungsapparat noch viele hoch vergütete Arbeitsplätze. Doch aufgrund des Wachstums der Erwerbsbevölkerung, exorbitant hoher Militärausgaben und des derzeit niedrigen Öl- preises steht das Gesellschaftsmodell dieser Staaten zusehends in Frage. Berlin-Institut 9
WARUM DER NAHE OSTEN UND 1 NORDAFRIKA FÜR EUROPA VON GROSSER BEDEUTUNG SIND Die Region Naher Osten und Nordafrika orts bis heute anhaltende Bürgerkriege nach etwa denkt angesichts schwieriger politi- umfasst von ihrem westlichsten Punkt in sich gezogen haben. Mit Jemen, Irak, Libyen scher und wirtschaftlicher Verhältnisse mehr Marokko bis zu ihrem nordöstlichen Ende und Syrien befinden sich 4 der 19 Mena- als die Hälfte der jungen Menschen zwischen in den Gebirgshöhen des Iran und dem öst- Länder im Krieg oder in kriegsähnlichen 18 und 29 Jahren darüber nach, ihr Land zu lichsten Teil an der omanischen Küste des Zuständen. Das Aufkommen des sogenannten verlassen.2 Arabischen Meeres insgesamt 19 Länder. Die Islamischen Staats und seiner Ableger hat Region ist die Geburtsstätte des Islam, be- die ohnehin kritische Lage weiter ins Wanken Der Mena-Raum bildet aber auch selbst heimatet seine wichtigsten Heiligtümer und gebracht. einen Flüchtlingskorridor: Die an die Kriegs nimmt damit in der globalen muslimischen gebiete angrenzenden Länder wie Jordanien, Gesellschaft eine tragende Rolle ein – auch Heute stellt die Mena-Region einen Risiko Libanon und Türkei nehmen selbst sehr wenn gerade einmal jeder fünfte der weltweit faktor für Europa dar. Zum einen, weil mit ei- viele Flüchtlinge auf, sind jedoch häufig nur rund 1,6 Milliarden Muslime in einem der ner weiteren Destabilisierung der Region die vorübergehende Ziele von Flüchtlingen, die Mena-Länder lebt.1 Zahl islamistisch begründeter Terrorakte in langfristig auf der Suche nach einem siche- Europa zunehmen könnte. Zum anderen, weil ren Daseinsort sind. Gleichzeitig treibt die Mit Ausnahme der meisten Israelis ist die bei einer Ausweitung der Konfliktzonen mit Perspektivlosigkeit jährlich Tausende aus Mehrheit der Menschen in den Mena-Ländern wachsenden Flüchtlingszahlen nach Europa Subsahara-Afrika durch die Mena-Länder muslimischen Glaubens. Doch davon abge- zu rechnen ist, im schlimmsten Fall sogar mit in Richtung Europa. Unter großen Gefahren sehen dominieren vor allem die Gegensätze. einer Verlagerung innerarabische ethnischer versuchen sie, das Mittelmeer zu überwinden Die Region gilt als eine der instabilsten der und religiöser Konflikte in die europäische – auch wenn sie als sogenannte Wirtschafts- Welt. Seit Jahrzehnten halten inner- und zwi- Gesellschaft. Darüber hinaus ist auch in den flüchtlinge am Ende ihrer Reise kaum eine schenstaatliche Auseinandersetzungen die Mena-Ländern, in denen derzeit weitgehend realistische Chance haben, den Traum von Ländergruppe in Atem – etwa der dauerhaft Ruhe herrscht, die Zahl der Auswanderungs- Wohlstand in einer neuen Heimat zu verwirk- schwelende Israel-Palästina-Konflikt, die willigen groß: In Algerien und dem Libanon lichen. Die Schreckensmeldungen über die Golf- und Irakkriege oder die Arabellionen, oftmals tödlichen Überfahrten erschüttern welche in vielen Ländern zu Umstürzen und die europäische Öffentlichkeit, aber sie Regierungswechseln geführt und mancher- 10 Krisenregion Mena
haben den Strom der Verzweifelten bisher den klassischen Energieträgern Öl und Gas ten mit den Mena-Ländern dazu dienen, in keiner Weise abgemildert. Eine Lösung auch über die Ressourcen Wind und Sonne Engpässe in Europa zu überwinden: In der für dieses Problem kann es nur gemeinsam und könnten damit künftig zum Erreichen Mena-Region lebt eine große Zahl junger mit den Mena-Ländern geben. Denn solange der globalen Klimaziele und zur hiesigen Menschen im Erwerbsalter, die mit geeigneter die südlichen Mittelmeeranrainer daran Energiesicherung beitragen – und damit auch Ausbildung eine Bereicherung für die hiesi- scheitern, ihre Grenzen zu überwachen und zur Umsetzung der Energiewende, eines der ge Wirtschaft darstellen könnten. Weil ein Schlepperbanden dingfest zu machen, wer- zentralen Projekte der Bundesregierung. Eine erheblicher Teil der Arbeitsmigranten nach KAPITEL 1 den die Menschen weiterhin riskante Über- Wohlstandsregion im Nahen Osten und in einigen Jahren in ihre Heimatländer zurück- fahrten wagen.3 Nordafrika böte der europäischen Wirtschaft kehrt, könnten sie mit zusätzlich erworbenen darüber hinaus einen lukrativen Absatzmarkt. Qualifikationen zur weiteren wirtschaftlichen Mit der Mena-Region liegt somit ein Pulver Deutsche Markenprodukte etwa stehen bei Entwicklung im Mena-Raum beitragen. fass vor den Toren Europas. Umgekehrt der arabischen Jugend hoch im Kurs und sind könnten die Staaten des Nahen Ostens und deutlich beliebter als Waren aus Ostasien.4 Um diese Entwicklung auch durch die Nordafrikas zu wichtigen Partnern der Euro- deutsche Außenpolitik zu befördern, gilt es päer werden – dann, wenn es gelänge, ihnen Vor dem Hintergrund des anstehenden Fach- zunächst zu verstehen, warum die Region und ihren Bewohnern eine wirtschaftliche kräftemangels in Deutschland und anderen heute besonders instabil ist und weshalb Perspektive zu bieten und die Länder auf alternden EU-Staaten könnten Partnerschaf- sich die Lage in den vergangenen Jahren eher diesem Weg der Entwicklung zu stabilisieren, verschlechtert als verbessert hat. wie es in anderen Weltregionen längst gelun- gen ist. Viele Mena-Länder verfügen neben Libanon Syrien Tunesien Israel Palästinensische Irak Iran Marokko Autonomiegebiete Jordanien Algerien Kuwait Libyen Ägypten Bahrain Katar Saudi-Arabien Oman Vereinigte Jemen Arabische Europas südliche Nachbarn Emirate Die Mena-Region umfasst insgesamt 19 Länder. Viele von ihnen liegen als Mittelmeeranrainer vor den Toren Europas. Wie sich diese Länder entwickeln, ist d eshalb von hoher Bedeutung für Deutschland und die EU. Berlin-Institut 11
BEVÖLKERUNGSENTWICKLUNG 2 UND POLITISCHE STABILITÄT Damit die Mena-Region ein verlässlicher Kaum einer der Mena-Staaten erfüllt alle drei Datenquellen hat die Weltbank mit den World Partner für Deutschland und Europa werden Minimalkriterien für politische Stabilität: Governance Indicators sechs Indikatoren kann, ist es wichtig, dass sich die Länder Sie haben erstens häufig nicht die Autorität zusammengestellt, welche die Leistungs politisch stabilisieren. Nur auf diesem Wege und die dafür notwendigen Mittel ihr Macht- fähigkeit von Staaten beschreiben und diese können sie langfristig für wirtschaftliches monopol durchzusetzen. Es mangelt ihnen auf einer Skala von –2,5 bis +2,5 bewerten. Wachstum und größeren Wohlstand sorgen. zweitens an Effektivität, also der Fähigkeit, Zwei dieser Indikatoren bilden die drei Während sich seit Ende des Kalten Krieges in eine funktionierende Infrastruktur bereitzu- Minimalkategorien für politische Stabilität ab. den meisten Ländern der Welt die Lebensbe- stellen. Und es fehlt drittens an Legitimität, Der erste Indikator misst, ob in den Ländern dingungen verbessert haben und die Zahl der weil die Bevölkerung die Rechtmäßigkeit der Proteste, Terroranschläge oder kriegerische Konfliktopfer gesunken ist, bleibt die Lage in staatlichen Macht nicht oder nicht ausrei- Auseinandersetzungen wahrscheinlich sind. vielen Staaten des Nahen Ostens und Nord chend anerkennt.6 Der Begriff der politischen Der zweite Indikator misst, ob die öffentliche afrikas angespannt.5 Stabilität beinhaltet keinerlei Aussage über Verwaltung und der Polizeiapparat funk- den Demokratisierungsgrad eines Landes. tionieren und ob der Staat in der Lage ist, Vielerorts in Mena gelingt es den Machtha- Solange die genannten drei Kriterien erfüllt seine Bevölkerung mit Elektrizität, Trink- und bern weder, ihren Bevölkerungen Sicherheit sind, gelten auch Autokratien als stabil. Abwasserleitungen, Straßen, Bildungs- und zu garantieren, noch sie ausreichend mit Gesundheitseinrichtungen zu versorgen.7 Der Strom und Trinkwasser, Ärzten und Kranken Es gibt eine Vielzahl von Daten, die Informa- Mittelwert aus beiden Indikatoren wird für häusern, Lehrern und Schulen sowie mit tionen darüber liefen, ob Staaten zumindest diese Studie als Messgröße für die politische einem intakten Verwaltungsapparat zu ver- Teilaspekte der genannten Minimalkriterien Stabilität herangezogen. sorgen. Ein Ergebnis dieser Missstände sind erfüllen. Beispielsweise lässt sich anhand öffentliche Proteste bis hin zu bewaffneten der Zahl der Krankenhausbetten pro Kopf Für 207 Länder kann diese auf diese Art Aufständen. abschätzen, wie gut die medizinische Versor- gemessen werden. Die meisten Länder mit gungslage in einem Land ist. Auf Basis von hoher Stabilität finden sich in der westlichen qualitativen Umfragen oder Medienberichten Hemisphäre oder unter den entwickelten Län- liefern andere Indikatoren Hinweise über dern Asiens und Ozeaniens. Neuseeland und den Grad der Zufriedenheit in der Bevölke- rung oder die Konfliktlage in einem Land ein. Unter Verwendung einer Vielzahl von 12 Krisenregion Mena
Viele Länder instabil 2.1 Viele junge Staaten, die in ihrer Bevölkerung Legitimität genießen, die ihr Machtmonopol durchsetzen und ihre Bewohner angemessen mit einer funktionierenden Infrastruktur versorgen können, gelten als politisch stabil.8 Unter den Erwerbsfähige – Risiko dreißig instabilsten Ländern der Welt befinden sich sieben in der Mena-Region. Nach Somalia, Südsudan oder Chance? und der Zentralafrikanischen Republik gilt Syrien als das weltweit viertinstabilste Land. Mit den Vereinigten Arabischen Emiraten (Platz 26) findet sich nur ein Mena-Staat im oberen Teil der Skala. In den vergangenen Jahren hat sich die demografische Lage in der Mena-Region Grad der politischen Stabilität massiv verändert. Die meisten dieser Länder befinden sich im sogenannten demografi- 2,5 schen Übergang von hohen zu niedrigeren 2,0 Neuseeland Kinderzahlen pro Frau, also in einer Phase Singapur stark rückläufiger Fertilitätsraten. Dadurch 1,5 Deutschland hat sich die Altersstruktur der Bevölkerun- KAPITEL 2 Vereinigte Arabische Emirate 1,0 gen gewandelt: Die Gruppe der Kinder und Katar Oman Jugendlichen unter 20 Jahre ist im Verhältnis 0,5 Saudi- Israel Arabien zur Gruppe der Erwerbsfähigen zwischen 20 0 Jordanien und 64 Jahren kleiner geworden. Hingegen Kuwait – 0,5 Bahrain Marokko Tunesien ist vielerorts der Anteil der jungen Erwerbs- Algerien fähigen zwischen 20 und 29 Jahren an der Iran Libanon – 1,0 Erwerbsbevölkerung gewachsen. Ägypten –1,5 Palästinensische Irak Die Sozialwissenschaften sind sich einig da- Gebiete Libyen –2,0 Jemen rin, dass der demografische Übergang einen Syrien –2,5 Somalia großen Einfluss auf die politische Stabilität nimmt. Uneins sind sie allerdings darüber, Grad der politischen Stabilität in 207 Ländern, 2014 ob dieser sich eher positiv oder negativ aus- (Datengrundlage: Weltbank9, eigene Berechnungen) wirkt. Zwei Theorie-Schulen treffen hierbei unterschiedliche – wenn auch nicht gänzlich widersprüchliche – Aussagen: Die erste, Singapur weisen den höchsten Grad der poli- In Anbetracht ihrer Wirtschaftskraft müsste konflikttheoretisch geprägte Schule unter- tischen Stabilität auf, Deutschland findet sich es den meisten Mena-Ländern jedoch deut- stellt, dass ein starkes Bevölkerungswachs- unter den 30 stabilsten Ländern weltweit. Mit lich leichter fallen, für politische Stabilität zu tum, insbesondere rasche Veränderungen in den Vereinigten Arabischen Emiraten schafft sorgen. Es muss also andere Gründe als eine der Bevölkerungsstruktur, destabilisierend es nur eines der 19 Mena-Länder in diese schlechte wirtschaftliche Verfassung geben, wirken.10 Die zweite, ökonomisch orientierte Spitzengruppe. Daneben liegen noch Katar die in den Mena-Ländern die politische Schule geht davon aus, dass große Anteile und Oman unter den 70 stabilsten Ländern. Instabilität befördern. Das Berlin-Institut junger, arbeitsfähiger Menschen einen Die vier Mena-Staaten Irak, Jemen, Libyen hat diese Gründe in demografischen und wirtschaftlichen Aufstieg und wachsenden und Syrien zählen zu den zehn instabilsten gesellschaftlichen Veränderungen dieser Wohlstand ermöglichen und somit Stabilität der Welt. Staaten gesucht. erzeugen. Berlin-Institut 13
Der demografische Übergang Bevölkerung Katar Alle Gesellschaften durchlaufen früher oder später den Tunesien sogenannten demografischen Übergang. Am Beginn Iran Saudi-Arabien dieser Entwicklung stehen dabei sowohl hohe Kinder- zahlen wie auch eine hohe Sterblichkeit, so dass die Israel Bevölkerung kaum wächst. Wenn sich die Lebensbedin- Ägypten gungen verbessern, sinken die Sterberaten, vor allem jene der Kinder und in dieser zweiten Phase wächst eine Bevölkerung stark. Aufgrund des besseren Le- Jemen bensstandards entscheiden sich nach einer gewissen Zeit viele Familien für weniger Nachwuchs und folglich reduziert sich in der dritten Phase des Übergangs das Bevölkerungswachstum. In hoch entwickelten Ländern sinkt die Geburtenrate sogar unter die Sterberate, Sterberate so dass nicht nur das Bevölkerungswachstum endet, sondern ohne Zuwanderung sogar ein Einwohner- Geburtenrate schwund einsetzt. Berücksichtigt man alleine das natürliche Bevölkerungswachstum, also Geburten und Phase 1 Phase 2 Phase 3 Phase 4 Phase 5 Sterbefälle, nicht aber Zu- und Abwanderung, dürfte Katar von allen Mena-Ländern im demografischen Übergang am weitesten fortgeschritten sein. In Jemen Schematische Darstellung der Entwicklung von Geburten- und Sterberaten sowie der Gesamtbevölkerung dagegen hat er gerade erst begonnen. Demografisches Risiko? – Die konflikt- zu stellen. Diese Länder können ihre Bevölke- Nicht zuletzt spielt eine große Rolle, wo die theoretische Schule rung kaum effektiv versorgen und scheitern Menschen leben. In vielen Entwicklungs damit an einem der drei genannten Minimal- ländern wachsen Zahl und Anteil der Stadt- In zahlreichen Konflikttheorien nehmen de- kriterien für politische Stabilität. bewohner rasant. Viele Städte kommen kaum mografische Faktoren einen besonderen Stel- hinterher, die notwendigen Jobs und die lenwert ein. Ihnen zufolge stellt starkes Be- Die meisten Mena-Länder haben diese Pha- Infrastruktur für die vielen neuen Bewohner völkerungswachstum viele Länder vor kaum se des demografischen Übergangs bereits bereit zu stellen. In Städten fällt es den Men- zu bewältigende Aufgaben, denn es bedeutet durchlaufen. Sie stehen aber vor der nächsten schen zudem leichter, sich zu vernetzen und die Nachfrage nach immer mehr staatlichen Herausforderung: Denn sobald die Fertilitäts- zu organisieren. Deshalb ist dort die Wahr- Leistungen. Als zusätzliches Risiko kommt raten zurückgehen, wächst die Zahl der jun- scheinlichkeit von Protesten größer als auf eine sich wandelnde Altersstruktur hinzu, gen Menschen im Erwerbsalter zwischen 20 dem Land – und das, obwohl in ländlichen die alle Länder im demografischen Übergang und 29 Jahren überproportional. Dabei han- Gebieten die Lebensverhältnisse oft schlech- (siehe Abbildung) von hohen zu niedrigen delt es sich um jene Jahrgänge, die noch aus ter sind als in der Stadt.12 Kinderzahlen erleben: In der frühen Phase 3 den Zeiten höherer Kinderzahlen stammen. des Übergangs müssen die Menschen im Sie bilden einen sogenannten Jugendüber- Übersetzt in die drei Minimalkriterien für Erwerbsalter für eine sehr große Zahl von Kin- hang, in der Fachliteratur als Youth Bulge be- politische Stabilität bedeuteten diese Verän- dern und Jugendlichen sorgen, während für zeichnet. Wenn es nicht gelingt, diesen jun- derungen, dass der Staat seine oft ohnehin die eigenen Bedürfnisse nur wenig Spielraum gen Erwachsenen gute Arbeitsmöglichkeiten schon geringe Effektivität bei der Bereit- bleibt.11 Das setzt nicht nur Familien unter und damit einen Platz in der Gesellschaft zu stellung öffentlicher Daseinsvorsorge weiter Druck, sondern auch öffentliche Verwal- verschaffen, neigen insbesondere die Männer verliert. Dadurch büßt er die Unterstützung tungen, denen die Mittel und Möglichkeiten dieser Gruppe dazu, gegen Missstände not- der Bevölkerung ein, also seine Legitimität fehlen, die notwendige Infrastruktur in Form falls auch mit Gewalt aufzubegehren. Dies ist und wird durch Proteste und Aufstände in von Schulen oder Gesundheitsdiensten bereit umso mehr der Fall, je besser diese Personen seiner Autorität herausgefordert. gebildet sind und keinen Weg sehen, ihr Talent und ihre Leistungsbereitschaft gewinn- bringend einzusetzen. 14 Krisenregion Mena
Demografische Chance? – Die erzeugen. Die staatliche Legitimität wird politische Stabilität genommen haben und ökonomisch geprägte Schule weniger in Frage gestellt und es kommt sel- ob die Mena-Region dabei eine Sonderrolle tener zu Konflikten, welche die Autorität der einnimmt. Im Gegensatz zu diesen möglichen negativen Regierungen untergraben. Folgen des demografischen Wandels in Ent- Zu diesem Zweck haben wir drei Untersu- wicklungsregionen verweisen insbesondere Heute zählen beide asiatischen Staaten zu chungsgruppen gebildet: Die erste umfasst Ökonomen auf das große Potenzial sich den wohlhabendsten und technologisch weltweit alle Länder14, für die Daten vorlagen, wandelnder Bevölkerungsstrukturen. Zwar fortschrittlichsten weltweit. Schätzungen unabhängig von ihrem sozioökonomischen sehen auch sie die Lage besonders kinder zufolge ging ein Drittel ihres Wirtschafts- Entwicklungsstand (115 Länder mit Ausnah- reicher Gesellschaften eher kritisch. Doch wachstums zwischen 1965 und 1990 auf me der Mena–Staaten). Die zweite Gruppe viele Wirtschaftswissenschaftler glauben, den demografischen Bonus zurück, also auf beinhaltet 71 Entwicklungsländer (ebenfalls dass die Chancen auf einen wirtschaftlichen eine Bevölkerungsstruktur, die in anderen ohne Mena) und die dritte Gruppe umfasst Aufschwung wachsen, sobald sich der alters Ländern als gefährlicher Youth Bulge große die 19 Mena-Staaten. KAPITEL 2 mäßige Schwerpunkt einer Gesellschaft erst Probleme bereitet.13 Im weltweiten Vergleich einmal von der Kindheit in höhere Alters- der politischen Stabilität belegt Singapur Mithilfe einer sogenannten Panelanalyse gruppen verschiebt. Nach dieser Vorstellung Platz 1 und Südkorea Platz 57. Der demogra- haben wir für jede Ländergruppe untersucht, stellt ein Youth Bulge eine Chance dar, einen fische Übergang hat in den asiatischen Tiger ob und wie bestimmte Veränderungen in der „demografischen Bonus“, der sich unter staaten also entgegen den Annahmen der Bevölkerungsstruktur im 15-Jahres-Zeitraum geeigneten Rahmenbedingungen in eine Konflikttheoretiker nicht zu weniger, sondern zwischen 1995 und 2010 den Grad der po- „demografische Dividende“ verwandeln zu mehr wirtschaftlicher Prosperität und litischen Stabilität beeinflusst haben.15 Die lässt. politischer Stabilität geführt. Folgen des Arabischen Frühlings im Jahr 2011 sind dabei bewusst nicht berücksichtigt. Die Als Paradebeispiel dafür gelten die südost damit verbundenen Proteste und gewalt asiatischen Wirtschaftswunderländer Südkorea und Singapur, die sich binnen 2.2 Wie p olitische tätigen Konflikte haben zwar zunächst einmal die politische Stabilität in vielen Mena-Län- weniger Jahrzehnte von bitterarmen Staaten Stabilität und dern reduziert, aber einigen Ländern gelang zu Wissens- und Wohlstandsgesellschaften entwickelt haben. Ihnen ist gelungen, woran Bevölkerungswandel es danach, die Stabilität wieder herzustellen, also die Minimalkriterien Autorität, Legitimi- viele Länder heute zu scheitern scheinen: Sie zusammenhängen – tät und Effektivität wieder einigermaßen zu schufen in der späten Phase 3 des demogra- fischen Übergangs für die anteilig sehr große eine Analyse garantieren. Die vorübergehende Instabilität hätte die grundsätzlichen Ergebnisse der Erwerbsbevölkerung Arbeit im Niedriglohn- In vielen Ländern der Mena-Region herrscht Untersuchung statistisch verfälscht. sektor und investierten gleichzeitig in die derzeit eine politisch schwierige Lage, Ausbildung der kleiner werdenden nachwach- obwohl sie theoretisch ihren hohen Anteil Bei der Auswahl der demografischen Verän- senden Generationen. So fand eine große, junger Menschen zu einem wirtschaftlichen derungen, die in die Untersuchung einfließen, junge, aber nur mäßig gebildete Generation Aufstieg nutzen könnten. Die beschriebenen haben wir uns an den beiden beschriebenen auskömmliche Arbeit in der Massenfertigung demografischen Stabilisierungsfaktoren Theorien orientiert: Der Anteil der 20- bis und ließ die Wirtschaft wachsen, während scheinen sich hier nicht niederzuschlagen. 29-Jährigen, also der jungen Erwerbsbevöl- der Nachwuchs immer besser qualifiziert Es findet sich in diesen Ländern vielmehr auf kerung an der gesamten Erwerbsbevölkerung wurde, in höhere Ebenen der industriellen den ersten Blick ein Beleg für die Annahmen zwischen 20 und 64 Jahren bedeutet für Wertschöpfungskette aufsteigen konnte und der Konflikttheoretiker. Es scheint in der die Konflikt-Theorie eine Bedrohung für damit mehr erwirtschaftete als seine zahlen- Mena-Region bestimmte Faktoren zu geben, die politische Stabilität, für die Theorie der mäßig stärkeren Elternjahrgänge. die verhindern, dass die Länder eine demo- demografischen Dividende hingegen eine grafische Dividende einfahren und politische Chance. Auch eine wachsende und junge Für die Einschätzung der politischen Stabili- Stabilität hinzugewinnen können. Um diese Bevölkerung mit verbessertem Bildungsstand tät bedeutet das: Dadurch, dass diese Länder These zu prüfen, haben wir in einer statisti- bedeutet nach der einen Theorie eine Gefahr, die Versorgung ihrer Einwohner verbessern, schen Analyse untersucht, ob demografische für die andere führt sie zu mehr politischer können sie ein hohes Maß an Effektivität Faktoren in der jüngeren Vergangenheit im weltweiten Vergleich einen Einfluss auf die Berlin-Institut 15
tabilität. Einen weiteren Einfluss auf die S länder (ohne Mena) festigt diese Aussage: Aber auch andere Faktoren haben einen Ein- Stabilität hat die Frage, ob die Menschen Auch dort führt ein schnell wachsender Anteil fluss auf die Stabilität. Die stärkste Wirkung auf dem Land leben oder vermehrt in Städte junger, gebildeter Berufseinsteiger an der zeigt das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf: ziehen. Gesamtbevölkerung zu einem höheren Grad Mit wachsender Wirtschaftsleistung nimmt politischer Stabilität. Offensichtlich finden die politische Stabilität stark zu. Dies gilt Um zu vermeiden, dass bei der Schwer- die jungen Menschen in diesen Ländern aber auch umgekehrt, denn die wirtschaft- punktsetzung auf die Bevölkerungsstruktur Rahmenbedingungen, die ihnen ermöglichen, liche Leistungsfähigkeit ist vor allem dort wichtige andere Entwicklungsfaktoren ihre Fähigkeiten zu nutzen, und die ihnen den hoch, wo politische Stabilität gegeben ist. unberücksichtigt bleiben, haben wir auch beruflichen Einstieg wie auch den wirtschaft- In welche Richtung der Mechanismus wirkt, die Wirkung weiterer sogenannter Kontroll- lichen Aufstieg erleichtern. lässt sich mit der vorliegenden Analyse nicht variablen untersucht, unter anderem die des nachweisen. Bruttoinlandsprodukts pro Kopf sowie der Auch die Urbanisierung wirkt sich in den Beschäftigungsquoten der jeweiligen Länder. beiden Ländergruppen (jeweils ohne Mena) Zusätzlich zu den wirtschaftlichen Faktoren Im Ergebnis lässt sich feststellen, ob und in ähnlich aus: Siedeln immer mehr Menschen wirkt sich auch die Form des politischen welchem Maß die untersuchten Variablen die in die Städte um, wird die Lage im ganzen Systems auf die Stabilität aus: Länder, die politische Stabilität beeinflusst haben. Land zunächst instabiler. Vermutlich lässt gleichzeitig demokratische und autokratische sich eine angemessene Versorgung der Men- Züge aufweisen, sind in der Staatengruppe schen in den rasch wachsenden informellen der Entwicklungsländer tendenziell instabil. 2.3 Ergebnisse Siedlungen kaum organisieren. Doch die Wir- kung der Verstädterung schlägt nach einiger Tendenziell stabil hingegen sind Länder, die entweder eindeutig autokratisch oder Die Ergebnisse der großen Untersuchungs- Zeit um – in beiden Ländergruppen geschieht demokratisch regiert werden. In der Unter- gruppe mit 115 Ländern bestätigen zunächst dies bei einem Urbanisierungsgrad von rund suchungsgruppe, der auch die entwickelten die Konflikttheorien – zumindest, wenn es 70 Prozent, genau gesagt bei 67 Prozent in Länder angehören, nimmt mit höheren Demo- um die relativen Bevölkerungsveränderun- der Gruppe der weniger entwickelten Länder kratiewerten die politische Stabilität zu. gen geht: Zwischen 1995 und 2010 nahm in und bei 71 Prozent in der weltweiten Unter- jenen Ländern die Stabilität ab, in denen der suchungsgruppe von 115 Staaten. Dies ent- Als nicht ausschlaggebend haben sich die Anteil der Erwerbsbevölkerung an der Ge- spricht in etwa dem Urbanisierungsgrad der Beschäftigungsquoten erwiesen – also der samtbevölkerung besonders schnell wuchs. Bundesrepublik zu Beginn der 1960er Jahre. Anteil der Beschäftigten an allen Personen Besonders negativ wirkte sich ein schnelles Wenn der Anteil der Menschen in Städten die- im Erwerbsalter – ganz unabhängig davon, Wachstum der jungen Erwerbsbevölkerung sen kritischen Wert überschreitet, steigt auch welche Qualität diese Beschäftigung hat. zwischen 20 und 29 Jahren auf die politische die Stabilität. Offenbar gelingt es dann immer Dieser Indikator schließt informell und Stabilität aus. Offensichtlich stehen die besser, das Leben in den Städten in geordne- schlecht bezahlte Beschäftigte genauso ein Menschen in diesen Ländern in der Phase der te Bahnen zu lenken. Die Menschen finden wie vertragsgebundene, sozialversicherungs Familiengründung und am Eintritt ins Berufs- auskömmliche Beschäftigung und tragen zum pflichtige Arbeitsverhältnisse. leben vor hohen Hürden und erleben große wirtschaftlichen Aufschwung bei. Frustrationen. Die Analyse beider Ländergruppen (jeweils Mit Ausnahme der Urbanisierung und der ohne Mena) bestätigt, dass nicht nur die Wenn die jungen Menschen jedoch besser Zunahme des Anteils der jungen besser Ge- zahlenmäßige Veränderung innerhalb einer gebildet sind und über Abitur oder sogar bildeten hatte in den Entwicklungsländern Gesellschaft die politische Stabilität beein- Hochschulabschluss verfügen, wirkt sich keine weitere demografische Variable einen flusst, sondern dass Bildung beziehungs- das Wachstum des Bevölkerungsanteils der statistisch nachweisbaren Einfluss auf die weise Humankapital und Wohnort ebenfalls 20- bis 29-Jährigen positiv auf den Grad der politische Stabilität – auch nicht die Jugend- eine wichtige Rolle einnehmen. Ob sich der politischen Stabilität aus. Dies ist ein klarer abhängigkeitsrate, deren Anstieg in der Bevölkerungswandel als Vor- oder Nachteil Widerspruch zur Konflikttheorie, die gerade weltweiten Untersuchungsgruppe von 115 herausstellt, ist somit politisch steuerbar: hinter einem gut ausgebildeten Jugendüber- Ländern destabilisierend wirkte. Wo es gelingt, ausreichend in die Bildung der hang großes Destabilisierungspotenzial Nachwuchsgenerationen zu investieren und vermutet. Die Gruppe der 71 Entwicklungs- die Urbanisierung ordentlich zu planen, er- weisen sich große junge Bevölkerungsanteile als überaus nützlich. 16 Krisenregion Mena
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