Ent-faltung geht von allein - Wer sich aber ver-wickelt hat, muss sich zunächst ent-wickeln - Schreibkunst

 
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Menschen & Meinungen > Interview

Ent-faltung geht von allein
Wer sich aber ver-wickelt hat, muss sich zunächst ent-wickeln
Interview mit Gerald Hüther
von Petra Weiß

Prof. Dr. rer. nat. Dr. med. habil. Gerald Hüther zählt zu den bekanntesten
Hirnforschern Deutschlands. Studiert und geforscht hat er in Leipzig und Jena,
nach seiner Flucht aus der damaligen DDR arbeitete er als Wissenschaftler am
Max-Planck-Institut für experimentelle Medizin in Göttingen. Er war Heisen-
berg-Stipendiat der Deutschen Forschungsgemeinschaft und als Professor für
Neurobiologie an der Universität Göttingen beschäftigt. An der psychiatrischen
Klinik in Göttingen leitete er eine von ihm aufgebaute Forschungsabteilung.
Seit 2015 ist Gerald Hüther Vorstand der Akademie für Potenzialentfaltung,
einer gemeinnützigen Genossenschaft, die sich um die praktische Umsetzung
neurologischer Erkenntnisse kümmert. Dabei widmet er sich Themen wie der
Führungskultur in Unternehmen, der Lernkultur in Schulen und der Persönlich-
keitsbildung von Männern. Er schreibt Sachbücher, hält Vorträge und organi-
siert Kongresse. Außerdem berät er Politiker*innen und Unternehmer*innen.                  © Gerald Hüther

Lieber Herr Professor Hüther. Sie schla-     schließend etwas allgemeinverständlicher      Jeder Mensch, ja jedes Lebewesen,
gen eine Brücke von der universitären        in meinem ersten populärwissenschaftli-       kommt mit einem größeren Potenzial zur
Forschung zur lebensnahen Umsetzung          chen Sachbuch „Die Biologie der Angst“        Welt als für sein Überleben und seine Re-
wissenschaftlicher Erkenntnisse. Ihre        dargestellt. Diesmal für Personen, die tag-   produktion erforderlich ist. Wenn wir das
Veröffentlichungen bringen die komple-       täglich mit den Folgen psychischer Belas-     auf uns selbst beziehen, sind wir alle nur
xen Erkenntnisse der Neurobiologie laien-    tungen zu tun haben: Psychotherapeuten,       eine Kümmerversion dessen geworden,
verständlich auf den Punkt. Was hat Sie      Pädagogen, Seelsorger, Führungskräfte in      was aus uns hätte werden können. Schon
dazu bewogen, die Welten auf diese Art zu    der Wirtschaft. Das Buch hat vielen gehol-    bei unseren ersten Versuchen, die in uns
verbinden? Gab es ein persönliches Initia-   fen, sich selbst und andere Menschen bes-     angelegten Talente und Begabungen wäh-
lisierungserlebnis?                          ser als bisher zu verstehen. Es wird noch     rend unserer Kindheit zu entfalten, kommt
Anfang der neunziger Jahre hatte ich fast    immer gekauft und weitergegeben. Und          es zu Verwicklungen. Statt spielerisch aus-
fünf Jahre lang an einem neuen Verständ-     das hat mich in der Auffassung bestärkt,      probieren zu können, was alles geht und
nis der Auswirkungen von Angst und           dass Wissenschaft kein Selbstzweck ist,       was in uns steckt, werden wir zu Objekten
Stress auf die innere Organisation und       sondern dem Menschen zu dienen hat.           der Erwartungen, Absichten, Ziele, Beleh-
Arbeitsweise des Gehirns gearbeitet. Diese                                                 rungen, Bewertungen und sonstiger Maß-
Erkenntnis habe ich dann in einem ange-      Ihre Akademie dient der Potenzialentfal-      nahmen durch diejenigen gemacht, die
sehenen, „Peer-reviewed“ (Anmerkung          tung. Woher weiß ich, welches Potenzial       uns auf unserem Weg ins Leben nach ih-
der Redaktion: Qualitätssicherung durch      es bei mir zu entfalten gibt? Oder kann       ren jeweiligen Vorstellungen begleiten. So
unabhängige Gutachter aus demselben          man eine allgemeinere Aussage zu diesem       können wir nicht lernen, wie das Leben
Fachgebiet) englischen Fachjournal ver-      Ziel treffen? Wie erkenne ich, wenn mein      geht, sondern werden angeleitet, was wir
öffentlicht. Leider hat sich von den Fach-   Potenzial ausgeschöpft ist? Wo verläuft       wie zu machen haben. Manche verinner-
kollegen kaum jemand dafür interessiert.     die Grenze zwischen Potenzialausschöp-        lichen diesen Anpassungsdruck so sehr,
Deshalb habe ich diese Erkenntnisse an-      fung und Optimierungswahn?                    dass sie sich schließlich selbst immer

                                                                                                                    momentum 2/2019      11
Ent-faltung geht von allein - Wer sich aber ver-wickelt hat, muss sich zunächst ent-wickeln - Schreibkunst
Menschen & Meinungen > Interview

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                                                                                               Objekt?
                                                                                               Den Begriff Prägung verwende ich nicht so
                                                                                               gern, denn was da oft schon während der
                                                                                               frühen Kindheit geschieht, ist ja eine eige-
                                                                                               ne Reaktion, eine Antwort, also eine Lö-
                                                                                               sung des Kindes für ein Problem, das sei-
                                                                                               ne erwachsenen Bezugspersonen ihm
                                                                                               bereiten. Es muss lernen, sich so zu ver-
                                                                                               halten, wie sie es wünschen oder verlan-
                                                                                               gen. Sonst läuft es Gefahr, alleingelassen
                                                                                               zu werden. Also baut sich sein Hirn so lan-
                                                                                               ge um, bis das Verhalten zu diesen Anfor-
                                                                                               derungen passt oder das Kind sie zumin-
                                                                                               dest zu ertragen lernt. Es verliert sein
                                                                                               Gefühl, so wie es ist, wertvoll und liebens-
                                                                                               wert zu sein. Es erträgt, sich nicht mehr
                                                                                               länger als Subjekt zu erleben, sondern
                                                                                               zum Objekt gemacht zu werden. Die meis-
                                                                                               ten übernehmen dann diese ihnen zuge-
                                                                                               dachten Objektrollen und identifizieren
                                                                                               sich auch noch damit.

                                                                                                  ”     Erkrankungen weisen auf
                                                                                                 Entwicklungspotenziale hin.
                                                                                                                                    “
     © Gerald Hüther                                                                           Vom Objekt zum Subjekt werden – be-
                                                                                               deutet das auch, sich von dem Konzept
     ­ eiter in dieser Weise zu optimieren
     w                                            verbunden sind. Könnte man in diesem         von Opfern und Tätern zu verabschieden?
     ­versuchen. Mit Potenzialentfaltung hat      Zusammenhang auch von einem kollekti-        Solche Rollen sind tief in unserer Kultur, in
      das nichts mehr zu tun. Statt sich zu       ven Bewusstseinsprozess sprechen? Folgt      unseren Familien und in jedem Einzelnen
      ent-wickeln, verwickeln sich diese Perso-   auf den Trend zur Individualisierung nun     verankert. Wie kann ein derart tiefgreifen-
      nen zunehmend in sich selbst und dann       ein nächster Schritt hin zu einem Bewusst-   der Transformationsprozess gelingen?
      natürlich erst recht in ihrer Beziehungs-   sein der Verbundenheit?                      Es schaffen nur wenige Personen, sich spä-
      gestaltung mit anderen.                     Ja, davon bin ich überzeugt. Eine wach-      ter im Leben selbst wieder als ein eigenver-
                                                  sende Zahl vor allem jüngerer Menschen       antwortliches und gestaltungsfähiges Sub-

     ”
                                                  ist dabei zu begreifen, dass wir soziale     jekt zu emanzipieren. Wenn sie sich erst
          Das Zeitalter der Einzelkämpfer

                            “
                                                  Wesen sind, dass wir einander brauchen,      einmal mit ihren jeweiligen Objektrollen,
                  ist vorbei.                     ohne andere nichts lernen, ja noch nicht     also auch denen von Täter und Opfer, iden-
                                                  einmal allein überleben können.              tifiziert haben, ist diese Rolle zu einem we-
     Menschen durchlaufen in ihrer frühen Ent-                                                 sentlichen Bestandteil ihrer Identität, ihres
     wicklung Stadien der Individualisierung      Ich verstehe Sie so, dass die meisten von    Ich-Konstrukts geworden. Sich davon wie-
     und der Identitätsformung. Das eine ist      uns schon als Kinder eine Prägung er-        der zu lösen, bedeutet, sich selbst infrage
     die Erkenntnis, dass wir voneinander ge-     fahren, die uns später dazu bringt, ande-    zu stellen. Das gelingt nicht vielen und nur
     trennt sind, das andere ein Resultat da-     re als unsere Objekte zu benutzen und/       selten allein. Dazu braucht man andere, die
     von, dass wir mit unseren Mitmenschen        oder selbst als Objekte zu fungieren. Was    einen auf diesem Weg bestärken.

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Menschen & Meinungen > Interview

Welche Bedeutung hat in diesem Kontext       Veränderungswillige auf Widerstände           den. Insofern ist jede Erkrankung ein Fin-
die Selbstfürsorge? Wenn ich andere nicht    in ihrer Partnerschaft, in der Familie, im    gerzeig, dass es im Leben darum geht, sich
mehr als Bedürfniserfüller instrumentali-    Freundeskreis oder am Arbeitsplatz sto-       so weit wie irgend möglich zu entwickeln.
siere, wie kann ich lernen, selbst gut für   ßen. Haben Sie einen praktischen Tipp,        Erst wenn sich jemand aus seinen Verstri-
mich zu sorgen?                              wie man damit umgehen kann?                   ckungen befreit hat, wird er sich auch ent-
Sie können erst dann aufhören, andere        Ich würde versuchen, mit diesen anderen       falten können.
für Ihre Zwecke und Absichten zu benut-      Personen nach etwas zu suchen, was allen
zen, wenn es Ihnen gelungen ist, zu-         gleichermaßen am Herzen liegt. Nach ei-       Vielen Dank, lieber Herr Professor Hüther,
nächst sich selbst, also Ihr authentisches   nem gemeinsamen Anliegen, das sich nur        dass Sie uns an Ihren wertvollen Erkennt-
Selbst wiederzufinden und sich wieder        verwirklichen lässt, wenn jeder seine indi-   nissen teilhaben lassen.
mit ihm zu verbinden. Oft geht das über      viduellen Interessen dahinter zurückstellt,
die Entdeckung der eigenen Körperlich-       weil es ihm wichtiger ist als sein persön-    Zum Weiterlesen
keit, der Sinnlichkeit besser als über den   liches Fortkommen.                            Hüther G. Würde: Was uns stark macht – als Einzel-
Verstand. Und es gelingt gemeinsam mit                                                     ne und als Gesellschaft. Knaus (2018)
                                                                                           Hüther G. Was wir sind und was wir sein könnten.
anderen, die auch danach suchen, besser      Haben Sie Erfahrung damit, wie eine           Fischer (2013)
als allein.                                  schwerwiegende Erkrankung sich auf die
                                             Potenzialentfaltung auswirkt?
Nun sind wir nicht immer im Gleich-          Wer sich auf der Suche danach, wie das
schritt mit unserem direkten Umfeld.         Leben geht, immer stärker verwickelt hat,
Ich kann mir vorstellen, dass manche         wird wohl über kurz oder lang krank wer-

                                                                                                                         momentum 2/2019        13
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