GÖTZ-LOTHAR DARSOW Kunst, Ökonomie, Erziehung - Zur Idealismuskritik von Friedrich Schiller

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Dokumentation der Fachtagung „Flügel der Einbildungskraft. Schiller revisited – Ästhetische Bildung zwischen Freiheit
und Verantwortung“ vom 10.-12.11.2005 in Rudolstadt, LAG Jugendkunstschulen Thüringen e.V. und
Bundesverband der Jugendkunstschulen und Kulturpädagogischen Einrichtungen e.V., bjke
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GÖTZ- LOTHAR DARSOW
Kunst, Ökonomie, Erziehung –
Zur Idealismuskritik von Friedrich Schiller

Am 26. Juni 1784 hielt Friedrich Schiller vor der kurfürstlich deutschen Gesellschaft in Mannheim
seine berühmt gewordene Rede mit dem Titel Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich
wirken?. Dort formulierte der 24jährige Schriftsteller und Bühnenautor zentrale Aspekte seiner
Auffassung von dem, was Kunst im allgemeinen leisten und bewirken kann – nicht nur dramatische
Kunst. 1802 veröffentlichte er seine fast zwanzig Jahre früher konzipierten Gedanken leicht
verändert erneut – und hat damit wohl deutlich machen wollen, dass sie nach wie vor Geltung
beanspruchen konnten. Schiller gab seinem Text allerdings einen neuen Titel: Die Schaubühne als
moralische Anstalt betrachtet. Dieser Titel hat vermutlich auch wesentlich mit zu jener unsäglichen
Rezeptionsgeschichte beigetragen, unter der sein Werk schon sehr bald geradezu verschüttet
worden ist.
Nur zwanzig Jahre nach Schillers Tod bekommt es durch das berühmte Urteil Georg Büchners
jenen fatalen Stempel eines phrasenhaften, dabei im Grunde weltfernen Idealismus aufgedrückt.
„Was noch die sogenannten Idealdichter anbetrifft,“ schrieb Büchner, „so finde ich, daß sie fast
nichts als Marionetten mit himmelblauen Nasen und affektiertem Pathos, aber nicht Menschen von
Fleisch und Blut gegeben haben, deren Leid und Freude mich mitempfinden macht und deren Tun
und Handeln mir Abscheu oder Bewunderung einflößt. Mit einem Wort, ich halte viel auf Goethe
oder Shakespeare, aber sehr wenig auf Schiller.“ Damit ist die Parole ausgegeben, die mit
nachhaltiger Wirkung zu jenem „flachgetretenen“ Schiller-Bild geführt hat, dem auch sein
theoretisches Werk einen fatalen Tribut zu zollen hatte. Immer wieder entzündete sich die Kritik am
vermeintlich weltfremden Idealismus Schillers, der nicht „in die Welt hineingesehn“ habe, wie
Schopenhauer abschätzig geschrieben hat; und auch an seiner glänzend-griffigen Rhetorik, die zur
hämischen Bezeichnung Schillers als „Moral-Trompeter von Säckingen“ durch Nietzsche führte.
Der fast sprichwörtlich gewordene Idealismus Schillers ist durch die schier unglaubliche
Popularisierung seines Werks im 19. Jahrhundert im doppelten Sinn gemein geworden. Allerdings
wurde dabei übersehen, dass Schiller über weite Strecken seines Werks vielmehr eine profunde
Kritik des Idealismus formuliert hat. So wird die Schiller-Rezeption im 19. Jahrhundert und weit ins
20. Jahrhundert hinein größtenteils durch jene affirmativen Züge überwuchert, die auf

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Dokumentation der Fachtagung „Flügel der Einbildungskraft. Schiller revisited – Ästhetische Bildung zwischen Freiheit
und Verantwortung“ vom 10.-12.11.2005 in Rudolstadt, LAG Jugendkunstschulen Thüringen e.V. und
Bundesverband der Jugendkunstschulen und Kulturpädagogischen Einrichtungen e.V., bjke
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undialektische, ja undifferenzierte Weise all das idealistisch verbrämt und unterschlägt, was Schiller
in seiner geradezu seismographisch auslotenden Erforschung der gefährlichen Ausschläge
idealistischer Entwürfe und ihrer Fallstricke in einer säkularisierten Moderne demonstriert hat. Das
ist notwendigerweise erkauft mit einer Verschweigung all derjenigen destruktiven Aspekte, die
Schiller wie kein anderer Autor seiner Zeit am Anfang der Moderne in deren vielfältig zerrissenes
Gesicht nach- und zugleich vorgezeichnet hat.

Schiller ging es von Anfang an darum, die Kunst als ein Medium zu bestimmen, das sich
unverkürzt dem ‘ganzen’ Menschen zu wandte. Die Bühne – und mit ihr die Literatur insgesamt –
sollte gerade da, wo Religion und Politik jede lebendige Verbindung zu den Menschen des
ausgehenden 18. Jahrhunderts zu verlieren begannen bzw. schon verloren hatten, deren
Empfindungen erschüttern und so ‘bilden’. Das Theater wird dem jungen Schiller zur letzten
Gerichts- und Gerechtigkeitsinstanz, „wo das menschliche Herz auf den Foltern der Leidenschaft
seine leisesten Regungen beichtet, alle Larven fallen, alle Schminke verfliegt und die Wahrheit
unbestechlich wie Rhadamanthus Gericht hält“. So „wirkt die Schaubühne tiefer und dauernder als
Moral und Geseze.“ Denn sie kann nicht nur innerste Seelenvorgänge „vor einen schrecklichen
Richterstuhl“ zitieren, sondern vermag es darüber hinaus noch, diese im Zuschauer aufzuwühlen. Ja
Schiller traut der Bühne sogar zu, die Empfindung „des gemeinen Manns“ zu bestimmen. Frühzeitig
wird hier jener Komplex programmatisch fokussiert, dem Schillers Bemühungen bis zuletzt
unablässig gewidmet sind: der Ausbildung des Empfindungsvermögens des Menschen durch die
Kunst.
Ihr wird deswegen eine so zentrale Rolle zuteil, weil sie nach Schillers Überzeugung den ‚ganzen
Menschen’ erreicht und seine gesamten seelischen und sinnlichen Vermögen in Bewegung zu
setzen vermag. Deshalb sieht er in ihr durchaus therapeutische und erzieherische Potentiale. Wo
aber wären die Voraussetzungen zu suchen dafür, dass Schiller der Kunst diese kathartische
Wirkung zuschreiben konnte?
Er geriet durch seine Ausbildung zum Mediziner unter den Einfluss einer der interessantesten und
einflussreichsten geistigen Strömungen der deutschen Spätaufklärung, deren Vertreter man unter
dem Schlagwort ‘Philosophische Ärzte’ zusammengefasst hat. Die ‚philosophischen Ärzte’
favorisierten eine weit ins 20. Jahrhundert voraus weisende Verbindung von Psychologie und
medizinischer Physiologie. Diese neuartige Anthropologie eroberte sich einen führenden Rang im

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und Verantwortung“ vom 10.-12.11.2005 in Rudolstadt, LAG Jugendkunstschulen Thüringen e.V. und
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Zeitalter der Aufklärung. Ihr Erbe, mit dem Schiller in erstaunlicher Vielfältigkeit auf der
Karlsschule konfrontiert wurde, hat in seinem Werk kaum zu überschätzende Spuren hinterlassen.
Die Medizin und insbesondere die Physiologie im Verbund mit philosophischen Ansprüchen wurde
als Anthropologie zur Leit-, ja sogar zur Modewissenschaft. Denn sie versprach, die verkrusteten
dogmatischen Lösungsangebote einer ausgezehrten Schulmetaphysik (insbesondere für die Leib-
Seele-Problematik) zu überwinden. Gegen die Vorstellung der Philosophie vom Menschen, dem
etwa bestimmte Ideen „eingeboren“ wären,                  war Erfahrung „das allgemeine Losungswort“
(Goethe). Und die meiste ‘Erfahrung’ mit dem Körper konnten eben die Mediziner machen. Sie
entwickelten – durchaus im Gefolge der französischen Materialisten – eine beinahe monopolartige
anthropologische Kompetenz, die sich auf Erfahrung und Beobachtung gründete und die von der
traditionellen Philosophie eingezogenen Grenzen souverän missachtete. Denn sie erforschten die
psychophysischen Zusammenhänge, die wechselseitigen Abhängigkeiten von Körper und Seele, ein
Thema, das Schiller lebenslänglich beschäftigt hat – zumal unter dem Eindruck der eigenen
Krankheit.
Worin sollte nun die eigentümliche „Kunst des Arztes“ bestehen? Er muss die „Vielfalt von
Symptomen, Zeichen und qualitativen Merkmalen“ an seinem Beobachtungsgegenstand zu einem
„System von Diagnose, Ätiologie und Therapie in Beziehung setzen“, die ‘Krankheiten’ und
Unzulänglichkeiten seines Objekts klar benennen – um es so einer möglichen Heilung zuzuführen.
Den jungen Arzt und Autor der Räuber interessiert dabei zunächst der Zusammenhang von Körper
und Seele, aber schon dort wird deutlich, dass sein Interesse ebenso auf Symptomatologie und
Therapie der Gesellschaft und deren Kunst gerichtet ist.
Die Karlschule mit ihrem unvergleichlichen Bildungsangebot – sie wurde als „modernste und
umfassendste Erziehungsanstalt und Universität“ im deutschen Sprachraum in der zweiten Hälfte
des 18. Jahrhunderts bezeichnet – hatte beträchtliche Wirkungen auf die Menschenbeobachtung, das
Menschenbild des jungen Schiller. Aber all das hinterlässt seine Spuren auch in seinem gesamten
Werk.
Nach dem Besuch der Karlsschule und einer kurzen Tätigkeit als Regimentsmedicus wagte Schiller
nach dem Erfolg der Räuber den Schritt in die ungesicherten Verhältnisse einer freien
Schriftstellerexistenz. Dadurch bekam er eine ganz andere Seite des künstlerischen Schaffens in
aller Härte zu spüren.

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2. Ökonomie

Schiller befand sich seit seiner Flucht aus Württemberg Ende September 1782 in einer
ökonomischen Krise, die eigentlich permanent andauerte. Daraus befreite ihn 1784/85 zwar die
finanzielle Unterstützung durch Christian Gottfried Körner, mit dem den Dichter eine bis zu seinem
Tod währende enge freundschaftliche Beziehung verband. Durch Körner ergab sich auch die
Verbindung zu dem Verleger Georg Joachim Göschen, dessen Verlag Schiller das Forum bot, von
dem aus er sich literarisch Gehör verschaffen konnte. Dennoch war er Ende der 1780er Jahre
gezwungen, seine Situation als freier Schriftsteller und Bühnenautor kritisch und illusionslos zu
analysieren, die er sich nicht zuletzt durch Körners „Anschubfinanzierung“ hatte schaffen können.
Seine Existenzgrundlagen und deren längerfristige Perspektiven wurden diagnostiziert angesichts
einer bürgerlichen Gesellschaft, die sich mehr und mehr blanken Marktgesetzen unterwarf. Schiller
konnte die „krasse Divergenz“ nicht länger ignorieren, die sich auftat zwischen der Idee – oder war
es gar eine Ideologie? – des ‘freien’ Schriftstellers und der Realität eines literarischen Marktes, der
sich gerade erst entfaltete. Dieser literarische Aufschwung wurde zwar als Voraussetzung für die
‘Unabhängigkeit’ und ‘Freiheit’ des Schriftstellers begrüßt, aber der Markt funktionierte eben nur in
den engen Grenzen von Angebot und Nachfrage.
1784 hatte Schiller in seiner Ankündigung der Rheinischen Thalia mit pathetischen Worten an das
Publikum als seinen alleinigen Souverän appelliert: „Ich schreibe als Weltbürger, der keinem
Fürsten dient.“ Aber dieser neue Souverän ‚Publikum’ zeigte auf einmal ganz andere Fesseln, als
Schiller sich bei seinem Schritt in eine ungewisse Existenz als freier Schriftsteller wohl erhofft
haben mag. Sein Appell ‚an die menschliche Seele’ war ungehört verhallt: was blieb, war eine
Realität, die er widerwillig als „Oekonomische Schriftstellerei“ charakterisierte. Das deutsche
Publikum zwinge seine Schriftsteller, so beklagte er, „nicht nach dem Zuge des Genius, sondern
nach Speculazionen des Handels zu wählen.“ Die mühevolle Arbeit an seinem einzigen überaus
erfolgreichen Roman, Der Geisterseher – 1786 bis 1789 entstanden –, hatte er eine ‘Schmiererei’
genannt: In solch dunklen Momenten wollte ihm seine gesamte schriftstellerische Arbeit nur als
unnützer Zeitaufwand erscheinen, der allein deswegen betrieben werden musste, um Geld zu
verdienen.
Mit solchen Erfahrungen ging folgerichtig der Versuch einer Klärung des eigenen künstlerischen
Selbstverständnisses einher: Wie weit muss sich der Schriftsteller am allgemein geltenden

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Geschmack und den daraus resultierenden Forderungen des Publikums orientieren? Wird er als
Künstler von den ökonomischen Notwendigkeiten korrumpiert, nur Dinge zu schreiben, die sich
verkaufen lassen? Diese Fragen wird Schiller mit unterschiedlicher Akzentuierung bis weit in die
1790er Jahre hinein immer wieder erörtern.
Er sieht die Situation des um Unabhängigkeit ringenden modernen Künstlers ganz klar: Zwischen
der Skylla des Marktes und der Charybdis eines nach Autonomie strebenden Schaffens, das jede
bürgerliche Lebensgrundlage verwehrt. Anfang 1788 schreibt er an Körner: „Für meinen Carlos –
das Werk dreijähriger Anstrengung bin ich mit Unlust belohnt worden. Meine Niederländische
Geschichte, das Werk von 5 höchstens 6 Monaten, wird mich vielleicht zum angesehenen Manne
machen.“ Der Dichter wusste genau, dass beim lesenden Publikum ein etwaiger Nutzen, den er als
historischer Schriftsteller bedienen konnte, weit vor allen artifiziellen Fertigkeiten des
Sprachkünstlers rangierte. Und er hatte Recht mit seiner Vermutung über die Konsequenzen für
seine „Anerkennung in der so genannten gelehrten und in der bürgerlichen Welt“. Als er Anfang
Januar 1791 Mitglied in der „kurmainzischen Academie nützlicher Wissenschaften“ wird,
kommentiert er in einem Brief an Körner ironisch: „Nützlicher! Du siehst, daß ich es schon weit
gebracht habe.“
Schiller hat an sich selbst die doppelgesichtige Autonomie aller Kunst in der Moderne erfahren, die
sich ihre Unabhängigkeit sichern will fern aller potentiellen Benutzbarkeit für Zwecke, welche
außerhalb ihrer selbst liegen. Aber als soziales Phänomen ist Kunst – zumal für den Künstler, der
von seiner Kunst leben will – keineswegs aus jeglicher ökonomischer Nutzbarkeit entlassen.
Nicht zuletzt erzwang dieser ökonomische Druck eine Neubestimmung seiner Möglichkeiten als
Künstler. In diesem Selbstfindungsprozess hatte er in seinem Freund Körner einen unerbittlichen
und deswegen eigentlich großartigen Widerpart: Schiller sah ganz deutlich, dass er sein materielles
Auskommen als Historiograph viel besser denn als Dichter sichern konnte. Er lässt die Bedenken
nicht gelten, die der Freund gegen seine Pläne formuliert, und enthüllt seinen ungebrochenen
Realismus in einer Deutlichkeit, in einem Pragmatismus wie selten sonst. Schiller gibt in einem
Brief    von    Anfang      Januar     1788     ein   Resümee       seiner    Lage,     seines    Lebens,     seiner
Schriftstellerexistenz. Er versucht sich über seine Möglichkeiten, seine Beschränkungen, kurz über
die Ökonomie seines Lebens in allen ihren Ausprägungen zu verständigen. Körner antwortet
indigniert: Er, dessen Leben als sächsischer Staatsdiener sich zwangsläufig im ‚Prosaischen’
abspielt, ist enttäuscht, dass auch der berühmte Dichter, in dem er vor allem den Künstler verehrt,

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mit den ‚Kleinigkeiten’ einer zu sichernden Existenz rechnet und sich nicht allein um ‚höhere
Verdienste’ bekümmert. Schillers Brief konnte nichts weniger als den Verrat früher formulierter
Ideale suggerieren: „Wie viel fehlt noch,“ schrieb Körner, „so schämst Du Dich bloß zur Kurzweil
andrer Menschen zu existiren, und wagst es kaum einem Brodtbecker unter die Augen zu treten?
Also keine Spur mehr von jenen Ideen über Dichterwerth und Dichterberuf, über die wir längst
einverstanden waren?“ Aber der Schriftsteller, der seine Arbeit auf einem gnadenlosen Markt
feilbieten musste, wusste es jetzt besser. Schiller antwortet mit einer souveränen Bestimmtheit, die
einmal mehr deutlich macht, wie bewusst er mit der von ihm erkannten Situation umging:
„1. Ich muß von Schriftstellerei leben, also auf das sehen, was einträgt.
2. Poetische Arbeiten sind nur meiner Laune möglich: forciere ich diese, so misrathen sie. Beides
weißt Du. Laune aber geht nicht gleichförmig mit der Zeit – aber meine Bedürfnisse. Also darf ich
um sicher zu seyn, meine Laune nicht zur Entscheiderin meiner Bedürfnisse machen.
3. Du wirst es für keine stolze Demuth halten, wenn ich Dir sage, daß ich zu erschöpfen bin. Meiner
Kenntniße sind wenig. Was ich bin, bin ich durch eine, oft unnatürliche Spannung meiner Kraft.
Täglich arbeite ich schwerer – weil ich viel schreibe: Was ich von mir gebe steht nicht in proportion
mit dem, was ich empfange. Ich bin in Gefahr mich auf diesem Weg auszuschreiben.
4. Es fehlt mir an Zeit, Lernen und Schreiben gehörig zu verbinden. Ich muß also darauf sehen, daß
auch Lernen, als Lernen, mir rendiere!
5. Es gibt Arbeiten, bei denen das Lernen die Hälfte, das Denken die andere Hälfte thut. Zu einem
Schauspiel brauche ich kein Buch aber meine ganze Seele und alle meine Zeit. Zu einer z.B.
historischen Arbeit tragen mir Bücher die Hälfte bei. Die Zeit welche ich für beide verwende ist
ohngefähr gleich groß. Aber am Ende eines historischen Buchs habe ich Ideen erweitert, neue
empfangen – am Ende eines verfertigten Schauspiels vielmehr verloren.
6. Bei einem großen Kopf ist jeder Gegenstand der Größe fähig. Bin ich Einer so werde ich Größe
in mein historisches Fach legen.
7. Weil aber die Welt das Nützliche zur höchsten Instanz macht, so wähle ich einen Gegenstand,
den die Welt auch für nützlich hält. Meiner Kraft ist es eins oder soll es eins seyn – also entscheidet
der Gewinn.
8. Ist es wahr oder falsch daß ich darauf denken muss, wovon ich leben soll, wenn mein
dichterischer Frühling verblüht? Hältst Du es nicht für beßer, wenn ich mich entfernt auf eine
Zuflucht für spätere Jahre bereite? – Und wodurch kann ich das als durch diesen Weg? Und ist nicht

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die Historie das fruchtbarste und dankbarste für mich?“
Dieser Brief ist ein beeindruckendes Dokument: nicht allein als sachliche Analyse der
schöpferischen Physiognomie des bald 30jährigen Dichters, sondern auch als illusionslose
Schilderung der Zwänge einer ‚freien’ Schriftstellerexistenz in einer sich ausbildenden bürgerlich-
kapitalistischen Gesellschaft. In ihr hat sich der Künstler mit seinen Produkten Marktgesetzen zu
beugen wie jeder andere Produzent auch: nicht viel anders eben wie der von Körner angeführte
‚Brodtbecker’. Schiller hat es kaum vermieden, seinem Freund gegenüber auszusprechen, was der
Publizist Rudolf Zacharias Becker 1789 ohne jeden Euphemismus beim Namen nannte: ein
Schriftsteller sei gezwungen, sich „in manche Verhältnisse der bürgerlichen Gesellschaft [zu]
fügen, die ihm wehe thun, ob sie schon sein Wesen nicht zerstören. Von dieser Art dünkt mir die
Nothwendigkeit zu seyn, daß er seine Werke zu einer Kaufmannswaare machen und um Lohn
arbeiten muß.“
Schiller jedenfalls hat von da an niemals mehr seinen Einsichten zuwidergehandelt. Die
Erfahrungen des in seinen Idealen zurechtgestutzten Dramatikers, der nicht zuletzt auch aus
pragmatischen Gründen vorübergehend zum historischen Schriftsteller werden musste, haben sich
nie mehr verloren.
Die Umstände gestalteten sich zwar erst langfristig günstiger, aber das hatte vor allem mit dem
körperlichen Zusammenbruch Schillers Anfang 1791 zu tun, der vermutlich auch mit dem
erheblichen Arbeitspensum zusammenhing, das er sich zumuten musste. Die Krankheit führte
naturgemäß zu erheblichen Einschränkungen seiner Schaffenskraft. Aber wie schon einmal 1784
durch Körner wurde Schiller ein zweites Mal durch großherzige Mäzene vor dem drohenden
finanziellen Desaster gerettet.
Durch den dänischen Dichter Jens Baggesen, der Schiller 1790 in Jena kennen gelernt hatte, waren
der dänische Prinz Friedrich Christian von Augustenburg und sein Minister Graf Schimmelmann
nicht nur mit Schillers Werken – insbesondere mit Don Karlos – bekannt gemacht worden, sondern
auch über seine materiellen Lebensumstände informiert. Als sich im Sommer 1791 das Gerücht von
Schillers Tod bis in die dänische Hauptstadt verbreitet hatte, veranstalteten sie in Hellebæk, dem
Landsitz des Grafen Schimmelmann, die berühmt gewordene Trauerfeier für den verehrten Dichter.
Schillers Kollege an der Universität Jena Karl Leopold Reinhold, der als Philosoph maßgeblich zur
Verbreitung der Schriften Kants in Deutschland beigetragen hat, berichtete Baggesen im Oktober
1791 von der Genesung. Schiller sei „leidlich wohl“ – und dann fügt Reinhold die so

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entscheidenden Sätze an: „vielleicht könnt’ er sich noch ganz erholen, wenn er eine Zeit lang sich
aller eigentlichen Arbeit enthalten könnte. Aber das erlaubt seine Lage nicht.“ Er schilderte die
ungesicherte materielle Lage jener Intellektuellen in grellster Beleuchtung, die mit einem
minimalen fixen Einkommen vor allem von ihren schriftstellerischen Honoraren oder universitären
Einnahmen (Kolleggelder) existieren mussten. Wurden sie krank, so gab es nur die Alternative, an
der Krankheit zu sterben oder zu verhungern: Wenn sie krank seien, dann wüssten sie nicht, ob sie
ihr Geld für Nahrung oder aber für ärztliche Versorgung ausgeben sollten. Und Reinhold fügte
hinzu: „Ich kann arbeiten, und Schiller hat es noch besser gekonnt, und kann es jetzt kaum, ohne
seine Existenz in Gefahr zu setzen. Ein schreckendes Beispiel für mich! Und doch, wäre nur
Schiller einstweilen geborgen, wie gern wollte ich mich dann mit der Versorgung begnügen, die mir
jetzt meine Gesundheit gewährt.“
Als das den beiden dänischen Adligen bekannt wurde, entschlossen sie sich, dem verehrten Dichter
zu einer von materiellen Sorgen freien Regeneration seiner Gesundheit zu verhelfen. Schiller war
völlig ahnungslos, das Angebot traf ihn wie aus heiterem Himmel. Zunächst scheint ihn die
Überraschung erneut regelrecht krank gemacht zu haben, jedenfalls brauchte er einige Tage, um
dem „Gedränge seiner Empfindungen“ einigermaßen Herr zu werden.
Das Stipendium ermöglichte Schiller, Bedeutung und Funktion der Kunst und des Künstlers in der
Moderne nach der Erfahrung der Französischen Revolution neu zu bestimmen. Es entstanden nun
eine Reihe bedeutsamer theoretischer Schriften, von denen die Briefe über die ästhetische
Erziehung des Menschen am berühmtesten geworden sind. Sie hätten wohl kaum in dieser
bedrängten Situation entstehen können, wenn ihm diese Hilfe nicht gewährt worden wäre.

3. Erziehung

In seinem Brief vom Juli 1793 an den Prinzen von Augustenburg hat Schiller die Motive, die seine
Arbeit an den Briefen über die ästhetische Erziehung bestimmten, pointiert dargestellt. Sie mussten
geschrieben werden, weil Schiller das Projekt der Aufklärung – nach der berühmten Formulierung
Kants: „der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit“ – auf halbem
Wege steckengeblieben sah. Es galt, eine durch und durch defizitäre historische Situation zu
analysieren, um sie womöglich einer Therapie zuführen zu können. Zwar habe, so schreibt Schiller
an den Prinzen, die philosophische Kultur viel für die „Aufklärung des Verstandes“ getan;

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überhaupt fehle es nicht an der Erkenntnis von Wahrheit und Recht, mithin an philosophischer
Einsicht. Doch darüber hinaus sah der Diagnostiker seiner Zeit noch ein „dringenderes Bedürfniß“
seines Zeitalters. Dieses Bedürfnis habe alle Aufklärung nicht stillen können, weil sie eine „bloß
theoretische Kultur“ sei. Theoretische Konstruktionen aber müssen den ganzen Menschen
verfehlen. Sie erreichen den Geist des Menschen, aber sein Herz und seine Seele – um die
Formulierung des jungen Bühnenautors und Arztes wieder aufzugreifen – bleiben außen vor. Um
diesem Defizit zu begegnen, bedarf es für den Autor der Briefe „ästhetischer Kultur“, kurz gesagt:
der Kunst. Sie erst würde zu einer unbedingt benötigten ‚schönen Empfindungsweise’ fähig
machen, ohne die alle einseitige ‚Verstandeskultur’ ihre Aufgabe verfehlen muss. Der nämlich fehle
es an Mitteln zur Realisierung und Durchsetzung ihrer richtigen Erkenntnisse und Einsichten, weil
sie nur den Verstand des Menschen ansprechen würde, nicht aber seine anderen Vermögen. Alle
Einsicht bleibt wirkungslos, weil der Appell allein an den Verstand den „ganzen Menschen“
verfehlt.
Schiller hat also in der von ihm so genannten ‚schönen Empfindungsweise’ das ausschlaggebende
Moment gesehen, das für den genuin humanen Charakter jeder Gesellschaft entscheidend ist. Das
ist wenig erstaunlich vor dem Hintergrund der eigenen Zeit. Die Abgründe einer staatlichen
Veränderung im Zeichen menschenverachtender Vernunftdespotie haben er und seine Zeitgenossen
an der Entwicklung im revolutionären Frankreich gesehen. Die jakobinische Schreckensherrschaft
hatte alle rein rationalistischen Aufklärungsideale endgültig diskreditiert, denen gegenüber Schiller
schon längst misstrauisch gewesen war. In einer Bemerkung am Ende des 3. Briefs zittern die
Ereignisse der terreur gleichsam nach „Das große Bedenken also ist,“ schreibt Schiller, „daß die
physische Gesellschaft in der Zeit keinen Augenblick aufhören darf, indem die moralische in der
Idee sich bildet, daß, um der Würde des Menschen willen seine Existenz nicht in Gefahr gerathen
darf.“ Die physische Existenz des Menschen war unter die Räder gekommen, um die Idee einer
vorgeblich moralischen Gesellschaft zu realisieren. Auch deswegen konnte Schiller sagen, dass der
historische Augenblick nur scheinbar günstig sei, um „wahre Freyheit“ zur Grundlage der
politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse werden zu lassen. Wohl waren alte Vorurteile
beseitigt, auch Erkenntnis und Wissen waren nicht mehr nur einer kleinen Gruppe Privilegierter
zugänglich. Eine grundlegende Veränderung war dennoch unmöglich, weil der Hauptmangel nicht
behoben war: die Ausbildung des Empfindungsvermögens. Dazu bedarf es ästhetischer Erziehung.
Sie allein könne für eine „Ausbildung des feineren Gefühlsvermögens“ sorgen.

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Dokumentation der Fachtagung „Flügel der Einbildungskraft. Schiller revisited – Ästhetische Bildung zwischen Freiheit
und Verantwortung“ vom 10.-12.11.2005 in Rudolstadt, LAG Jugendkunstschulen Thüringen e.V. und
Bundesverband der Jugendkunstschulen und Kulturpädagogischen Einrichtungen e.V., bjke
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Die Fähigkeit, etwas als richtig zu erkennen, bleibt ohne die Fähigkeit, das als richtig Erkannte auch
zu empfinden, gefährliches Stückwerk. Diesem Mangel verdankt sich für Schiller, dass die
Menschen immer noch Barbaren seien. Als Barbaren bezeichnet er jene, die sich zwar aus dem
Naturzustand befreit haben, worin deren Antagonisten, die Wilden, noch gefangen sind. Aber durch
die rigorosen Prinzipien seiner Vernunft zerstört der Barbar nun seinerseits die Natur und jegliches
Gefühl. Die errungene Freiheit kann sich der Barbar nur mit erneuter Unfreiheit, mit Unterdrückung
erkaufen. Allein auf blanke Rationalität gegründete politische Freiheit, so analysiert Schiller,
verdient ihren Namen nicht, weil sie einseitig nur auf dem Verstandesvermögen des Menschen
aufgebaut ist. Sie macht aus Wilden, die allein von ihren Gefühlen beherrscht sind, etwas weit
Gefährlicheres: vernunftbegabte Barbaren. Die beängstigend zielgenaue Prophezeiung der
Entwicklungen der Moderne, deren grauenhaftesten Exzesse sich erst im 20. Jahrhundert
manifestierten, macht Schiller zu einem politischen Denker, dessen Analysen auch heute noch
aktuell sind. Er spricht ganz dezidiert von der „Charakterlosigkeit des Zeitgeistes“ und beschwört
ihn exemplarisch wie nach ihm erst wieder Hegel und Marx. Seine Zeit muss diese
schwerwiegenden Defizite erst überwinden. Das aber kann mit keinem anderen ‚Werkzeug’ als der
Kunst gelingen.
Mit rhetorischem Geschick leitet Schiller seine Conclusio auf den neunten Brief hin, der die erste
Folge der Briefe abschließt. Dort definiert er die Rolle des Künstler im Verhältnis zur Gesellschaft,
in der er lebt. Wie kann der auch die nicht-rationalen Anteile des Menschen erreichen, wenn er doch
gleichzeitig als ‚Kind’ seiner Zeit deren Unbilden ausgesetzt ist? Schiller spricht nicht allgemein
vom Künstler, sondern vom Künstler in der Moderne, der sich „vor den Verderbnissen seiner Zeit,
die ihn von allen Seiten umfangen“, zu retten hat. Die Argumentation kulminiert in jenem
berühmten Appell, dem sich seit seiner Formulierung alle bedeutende Kunst zu stellen hat: „Lebe
mit deinem Jahrhundert, aber sey nicht sein Geschöpf; leiste deinen Zeitgenossen, aber was sie
bedürfen, nicht was sie loben.“ Gelobt hatten die (aufgeklärten) Menschen des 18. Jahrhunderts die
Fähigkeit, sich des eigenen Verstandes zu bedienen, sie bedurften nach Schillers Diagnose der
Ausbildung ihres Empfindungsvermögens.
Schiller versucht sich Klarheit zu verschaffen über die Bedingungen und Möglichkeiten des
Kunstschaffens in der Moderne. Wenn die Ausbildung einer wahrhaften ‚ästhetischen Kultur’
gelingen soll, muss der Künstler die Defizite der Moderne erkennen, um sich nicht dem jeweils
herrschenden Zeitgeist opportunistisch anzupassen. Das bedrohlichste Defizit der Moderne ist aber

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Dokumentation der Fachtagung „Flügel der Einbildungskraft. Schiller revisited – Ästhetische Bildung zwischen Freiheit
und Verantwortung“ vom 10.-12.11.2005 in Rudolstadt, LAG Jugendkunstschulen Thüringen e.V. und
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die Kategorie der Nützlichkeit, durch deren Herrschaft der Künstler sich oftmals gezwungen sieht,
„faule“ Kompromisse zu schließen.
In seiner kulturkritischen Diagnose sind solche Momente einer Künstlerästhetik nur Werkzeuge für
ein weit anspruchsvolleres Ziel. Denn Schiller wollte den Leser seiner Briefe von nichts weniger
überzeugen, als dass „es die Schönheit ist, durch welche man zu der Freyheit wandert“. Und damit
war durchaus auch politische Freiheit gemeint, als deren Voraussetzung Schiller aber die
Ausbildung des Empfindungsvermögens für unverzichtbar ansah. Er selbst hat ausdrücklich die
ersten neun Briefe, die im Januar 1795 Die Horen eröffneten, als eine Stellungnahme zu den
politischen Verhältnissen der Zeit verstanden – übrigens entgegen der eigenen Ankündigung, sich
in der Zeitschrift „alle Beziehungen auf den jetzigen Weltlauf“ zu verbieten.
Wie Kant beschreibt Schiller den Menschen als ein Wesen, das prinzipiell in zwei Welten lebt: in
der Welt der Bedürfnisse als sinnlich-natürliches Wesen und in der Welt der Gesetze, der
praktischen Vernunft, als soziales Wesen. Jede dieser Welten ist auf ihre Weise eine düstere, ernste,
denn beide sind das wirkliche Leben mit seinen physischen und moralischen Nötigungen. Die erste
Welt manifestiert sich im Stofftrieb des Menschen, die andere Welt in seinem Formtrieb. Es sind
„diese beyden Triebe“, betont Schiller zu Anfang des 13. Briefs noch einmal ausdrücklich, „die den
Begriff der Menschheit erschöpfen“. Dennoch, so die subtile Argumentation, ist damit die Einheit
der menschlichen Natur verfehlt; denn der bloße Antagonismus müsste den Primat bloßer Vernunft
zum Ergebnis haben, weil die Sinnlichkeit für einen Angehörigen des Aufklärungszeitalter natürlich
nicht dazu taugen kann, das spezifisch Menschliche zu umfassen.
Diese zweite Folge von Briefen gipfelt folgerichtig in der Einführung jenes berühmten dritten
Triebes, der Sinnlichkeit und Vernunft, Materie und Geist überhöhend vereinigen soll. Die Rede ist
vom Spieltrieb, den gerade die Vernunft fordern müsse „aus trancendentalen Gründen..., weil nur
die Einheit der Realität mit der Form, der Zufälligkeit mit der Nothwendigkeit, des Leidens mit der
Freyheit den Begriff der Menschheit vollendet“. Diese Einheit ist nichts anderes als die Schönheit,
die das gemeinsame Objekt von Stoff und Form des Künstlers ist, also auch Objekt des Spieltriebs.
Nun, da sich mit der Schönheit eine „glückliche Mitte“ konstituiert, verlieren auch die bedürftige
Wirklichkeit (Sinnlichkeit) und die gesetzmäßige Notwendigkeit (Moralität) ihren Ernst; die erste
werde klein, weil sie in der Kunst mit Ideen verbunden ist, alle moralischen Ansprüche aber wirken
leichter in schöner Gestalt, weil sie nicht mehr als bloße Nötigung empfunden würden.
Es klingt, als löste sich mehr als nur begriffliche Schwierigkeiten, wenn Schiller gegen Ende des

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15. Briefs seine berühmte Formulierung findet: „Denn, um es endlich auf einmal herauszusagen, der
Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur ganz da Mensch,
wo er spielt.“
Schiller braucht diesen dritten Trieb, den Spieltrieb, um seine Forderung nach Überwindung bloßer
theoretischer Kultur einzulösen. Kant hatte zwar gefordert, dass der Mensch niemals Mittel,
sondern immer Zweck an sich selbst ist; aber Schiller insistiert auf der Frage nach dem Ort, der
Sphäre, wo der Mensch diese theoretische Forderung erfahren kann. Vor allem aber: für den
spielenden Menschen entfällt die Kategorie der Nützlichkeit, von der Schiller alle Bereiche der
modernen Welt infiziert sah. Bleibt dem Menschen die Erfahrung der Abwesenheit bloß nützlicher
Kategorien verschlossen, bleibt auch die Erfahrung seines spezifischen Menschseins auf der
Strecke, das mehr ist als das Streben nach Bedürfnisbefriedigung. So hatte er schon vor der
Französischen Revolution seinem Freund Körner geschrieben: „Was ist das Leben der Menschen,
wenn ihr ihm nehmt, was die Kunst ihm gegeben hat? Ein ewiger aufgedeckter Anblick der
Zerstörung. Ich finde diesen Gedanken sogar tief, denn wenn man aus unserem Leben herausnimmt,
was der Schönheit dient, so bleibt nur das Bedürfniß und was ist das Bedürfniß anders, als eine
Verwahrung vor dem immer drohenden Untergang?“

Schiller beschreibt die Kunst wie ein Asyl, wo sich alle Erdenschwere, alle Mühsal, alle Gebrechen
menschlicher Sinnlichkeit (d.h. auch Leiblichkeit) und alle uneinlösbaren Anforderungen (un-)
menschlicher (weil metaphysischer) Moralgesetzlichkeit und nieder drückender Pflichten in den
heiteren Schein möglicher Wirklichkeiten und wirklicher Möglichkeiten auflösen. Der eine Bezirk
des Asyls heißt schmelzende Schönheit, wo sowohl die Zwänge menschlicher Empfindungen als
auch die der Begriffe verschwinden; der allein von seinen Gefühlen übermannte sinnliche Mensch
wird frei durch die Form wie der sich ständig formalen Gesetzen unterwerfende Mensch frei werden
kann durch die Sinnlichkeit der Materie.
Aber der Realist Schiller zerbricht – wie häufig – ein mühsam aufgeführtes Gebäude sogleich
wieder: Das der Schönheit als eines in sich gelösten harmonischen Ganzen gilt es vor möglichen
idealistischen Auswüchsen zu bewahren. So gibt es auch noch jenen anderen Bezirk, den er die
energische Schönheit nennt. Ihr schreibt er eine entgegengesetzte, eine anspannende Wirkung zu,
damit Sinnlichkeit nicht in Weichlichkeit und Apathie, in ‘Erschlaffung’, ausartet, Moral nicht zur
Beliebigkeit, ja Frivolität degeneriert. Schiller konstruiert nichts weniger als ein Doppelgesicht der

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Schönheit selbst. Diese Janusköpfigkeit von Schönheit ist für ihn nur in der niemals vollständig zu
erreichenden Ideal-Schönheit ausgelöscht wie die anthropologischen Gegensätze nur im (nicht real
existierenden) Ideal-Menschen zusammenstimmen.
So hat Schiller im 16. Brief die harmonische Zusammenstimmung der verschiedenen Anteile des
Menschen als bloße Idee relativiert und auf die Doppelnatur der „Schönheit in der Erfahrung“
verwiesen, von der immer „zugleich eine auflösende und eine anspannende Wirkung“ ausgehe.
Man kann an dieser Konstruktion sehr genau sehen, dass wir es hier mit einem hoch komplexen
Begriff von Schönheit zu tun haben. Die Antinomien sind für Schiller prinzipiell unüberwindlich;
und zwar aus anthropologischen Gründen wie aus zeitdiagnostischen, weil sie für ihn Signaturen
des Menschen in der Moderne und seiner Kunst sind.
Bei Schiller gibt es prinzipiell keine platten Harmonisierungen im Zeichen seines Projekts einer
ästhetischen Erziehung des Menschen – entgegen allen plattmachenden Harmonisierungstendenzen,
die dem angeblichen ‚Erfinder’ des Idealismus immer wieder unterstellt wurden. Nur weil er einem
anpassungsfähigen Realismus, der ihm selbst nicht fremd war, misstraute hinsichtlich seiner
Möglichkeiten, eine bessere Literatur, Gesellschaft und Welt zu bewirken, bestand er auf einer
Kunst des Ideals. Schiller lotete jedoch seismografisch genau aus, wo die Ideale mit der realen Welt
in Konflikt gerieten und mit ihren destruktiven, ja mörderischen Konsequenzen auch imstande sein
konnten, Leben zu vernichten.

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