GÖTZ-LOTHAR DARSOW Kunst, Ökonomie, Erziehung - Zur Idealismuskritik von Friedrich Schiller
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Dokumentation der Fachtagung „Flügel der Einbildungskraft. Schiller revisited – Ästhetische Bildung zwischen Freiheit und Verantwortung“ vom 10.-12.11.2005 in Rudolstadt, LAG Jugendkunstschulen Thüringen e.V. und Bundesverband der Jugendkunstschulen und Kulturpädagogischen Einrichtungen e.V., bjke Götz-Lothar Darsow GÖTZ- LOTHAR DARSOW Kunst, Ökonomie, Erziehung – Zur Idealismuskritik von Friedrich Schiller Am 26. Juni 1784 hielt Friedrich Schiller vor der kurfürstlich deutschen Gesellschaft in Mannheim seine berühmt gewordene Rede mit dem Titel Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken?. Dort formulierte der 24jährige Schriftsteller und Bühnenautor zentrale Aspekte seiner Auffassung von dem, was Kunst im allgemeinen leisten und bewirken kann – nicht nur dramatische Kunst. 1802 veröffentlichte er seine fast zwanzig Jahre früher konzipierten Gedanken leicht verändert erneut – und hat damit wohl deutlich machen wollen, dass sie nach wie vor Geltung beanspruchen konnten. Schiller gab seinem Text allerdings einen neuen Titel: Die Schaubühne als moralische Anstalt betrachtet. Dieser Titel hat vermutlich auch wesentlich mit zu jener unsäglichen Rezeptionsgeschichte beigetragen, unter der sein Werk schon sehr bald geradezu verschüttet worden ist. Nur zwanzig Jahre nach Schillers Tod bekommt es durch das berühmte Urteil Georg Büchners jenen fatalen Stempel eines phrasenhaften, dabei im Grunde weltfernen Idealismus aufgedrückt. „Was noch die sogenannten Idealdichter anbetrifft,“ schrieb Büchner, „so finde ich, daß sie fast nichts als Marionetten mit himmelblauen Nasen und affektiertem Pathos, aber nicht Menschen von Fleisch und Blut gegeben haben, deren Leid und Freude mich mitempfinden macht und deren Tun und Handeln mir Abscheu oder Bewunderung einflößt. Mit einem Wort, ich halte viel auf Goethe oder Shakespeare, aber sehr wenig auf Schiller.“ Damit ist die Parole ausgegeben, die mit nachhaltiger Wirkung zu jenem „flachgetretenen“ Schiller-Bild geführt hat, dem auch sein theoretisches Werk einen fatalen Tribut zu zollen hatte. Immer wieder entzündete sich die Kritik am vermeintlich weltfremden Idealismus Schillers, der nicht „in die Welt hineingesehn“ habe, wie Schopenhauer abschätzig geschrieben hat; und auch an seiner glänzend-griffigen Rhetorik, die zur hämischen Bezeichnung Schillers als „Moral-Trompeter von Säckingen“ durch Nietzsche führte. Der fast sprichwörtlich gewordene Idealismus Schillers ist durch die schier unglaubliche Popularisierung seines Werks im 19. Jahrhundert im doppelten Sinn gemein geworden. Allerdings wurde dabei übersehen, dass Schiller über weite Strecken seines Werks vielmehr eine profunde Kritik des Idealismus formuliert hat. So wird die Schiller-Rezeption im 19. Jahrhundert und weit ins 20. Jahrhundert hinein größtenteils durch jene affirmativen Züge überwuchert, die auf 1
Dokumentation der Fachtagung „Flügel der Einbildungskraft. Schiller revisited – Ästhetische Bildung zwischen Freiheit und Verantwortung“ vom 10.-12.11.2005 in Rudolstadt, LAG Jugendkunstschulen Thüringen e.V. und Bundesverband der Jugendkunstschulen und Kulturpädagogischen Einrichtungen e.V., bjke Götz-Lothar Darsow undialektische, ja undifferenzierte Weise all das idealistisch verbrämt und unterschlägt, was Schiller in seiner geradezu seismographisch auslotenden Erforschung der gefährlichen Ausschläge idealistischer Entwürfe und ihrer Fallstricke in einer säkularisierten Moderne demonstriert hat. Das ist notwendigerweise erkauft mit einer Verschweigung all derjenigen destruktiven Aspekte, die Schiller wie kein anderer Autor seiner Zeit am Anfang der Moderne in deren vielfältig zerrissenes Gesicht nach- und zugleich vorgezeichnet hat. Schiller ging es von Anfang an darum, die Kunst als ein Medium zu bestimmen, das sich unverkürzt dem ‘ganzen’ Menschen zu wandte. Die Bühne – und mit ihr die Literatur insgesamt – sollte gerade da, wo Religion und Politik jede lebendige Verbindung zu den Menschen des ausgehenden 18. Jahrhunderts zu verlieren begannen bzw. schon verloren hatten, deren Empfindungen erschüttern und so ‘bilden’. Das Theater wird dem jungen Schiller zur letzten Gerichts- und Gerechtigkeitsinstanz, „wo das menschliche Herz auf den Foltern der Leidenschaft seine leisesten Regungen beichtet, alle Larven fallen, alle Schminke verfliegt und die Wahrheit unbestechlich wie Rhadamanthus Gericht hält“. So „wirkt die Schaubühne tiefer und dauernder als Moral und Geseze.“ Denn sie kann nicht nur innerste Seelenvorgänge „vor einen schrecklichen Richterstuhl“ zitieren, sondern vermag es darüber hinaus noch, diese im Zuschauer aufzuwühlen. Ja Schiller traut der Bühne sogar zu, die Empfindung „des gemeinen Manns“ zu bestimmen. Frühzeitig wird hier jener Komplex programmatisch fokussiert, dem Schillers Bemühungen bis zuletzt unablässig gewidmet sind: der Ausbildung des Empfindungsvermögens des Menschen durch die Kunst. Ihr wird deswegen eine so zentrale Rolle zuteil, weil sie nach Schillers Überzeugung den ‚ganzen Menschen’ erreicht und seine gesamten seelischen und sinnlichen Vermögen in Bewegung zu setzen vermag. Deshalb sieht er in ihr durchaus therapeutische und erzieherische Potentiale. Wo aber wären die Voraussetzungen zu suchen dafür, dass Schiller der Kunst diese kathartische Wirkung zuschreiben konnte? Er geriet durch seine Ausbildung zum Mediziner unter den Einfluss einer der interessantesten und einflussreichsten geistigen Strömungen der deutschen Spätaufklärung, deren Vertreter man unter dem Schlagwort ‘Philosophische Ärzte’ zusammengefasst hat. Die ‚philosophischen Ärzte’ favorisierten eine weit ins 20. Jahrhundert voraus weisende Verbindung von Psychologie und medizinischer Physiologie. Diese neuartige Anthropologie eroberte sich einen führenden Rang im 2
Dokumentation der Fachtagung „Flügel der Einbildungskraft. Schiller revisited – Ästhetische Bildung zwischen Freiheit und Verantwortung“ vom 10.-12.11.2005 in Rudolstadt, LAG Jugendkunstschulen Thüringen e.V. und Bundesverband der Jugendkunstschulen und Kulturpädagogischen Einrichtungen e.V., bjke Götz-Lothar Darsow Zeitalter der Aufklärung. Ihr Erbe, mit dem Schiller in erstaunlicher Vielfältigkeit auf der Karlsschule konfrontiert wurde, hat in seinem Werk kaum zu überschätzende Spuren hinterlassen. Die Medizin und insbesondere die Physiologie im Verbund mit philosophischen Ansprüchen wurde als Anthropologie zur Leit-, ja sogar zur Modewissenschaft. Denn sie versprach, die verkrusteten dogmatischen Lösungsangebote einer ausgezehrten Schulmetaphysik (insbesondere für die Leib- Seele-Problematik) zu überwinden. Gegen die Vorstellung der Philosophie vom Menschen, dem etwa bestimmte Ideen „eingeboren“ wären, war Erfahrung „das allgemeine Losungswort“ (Goethe). Und die meiste ‘Erfahrung’ mit dem Körper konnten eben die Mediziner machen. Sie entwickelten – durchaus im Gefolge der französischen Materialisten – eine beinahe monopolartige anthropologische Kompetenz, die sich auf Erfahrung und Beobachtung gründete und die von der traditionellen Philosophie eingezogenen Grenzen souverän missachtete. Denn sie erforschten die psychophysischen Zusammenhänge, die wechselseitigen Abhängigkeiten von Körper und Seele, ein Thema, das Schiller lebenslänglich beschäftigt hat – zumal unter dem Eindruck der eigenen Krankheit. Worin sollte nun die eigentümliche „Kunst des Arztes“ bestehen? Er muss die „Vielfalt von Symptomen, Zeichen und qualitativen Merkmalen“ an seinem Beobachtungsgegenstand zu einem „System von Diagnose, Ätiologie und Therapie in Beziehung setzen“, die ‘Krankheiten’ und Unzulänglichkeiten seines Objekts klar benennen – um es so einer möglichen Heilung zuzuführen. Den jungen Arzt und Autor der Räuber interessiert dabei zunächst der Zusammenhang von Körper und Seele, aber schon dort wird deutlich, dass sein Interesse ebenso auf Symptomatologie und Therapie der Gesellschaft und deren Kunst gerichtet ist. Die Karlschule mit ihrem unvergleichlichen Bildungsangebot – sie wurde als „modernste und umfassendste Erziehungsanstalt und Universität“ im deutschen Sprachraum in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bezeichnet – hatte beträchtliche Wirkungen auf die Menschenbeobachtung, das Menschenbild des jungen Schiller. Aber all das hinterlässt seine Spuren auch in seinem gesamten Werk. Nach dem Besuch der Karlsschule und einer kurzen Tätigkeit als Regimentsmedicus wagte Schiller nach dem Erfolg der Räuber den Schritt in die ungesicherten Verhältnisse einer freien Schriftstellerexistenz. Dadurch bekam er eine ganz andere Seite des künstlerischen Schaffens in aller Härte zu spüren. 3
Dokumentation der Fachtagung „Flügel der Einbildungskraft. Schiller revisited – Ästhetische Bildung zwischen Freiheit und Verantwortung“ vom 10.-12.11.2005 in Rudolstadt, LAG Jugendkunstschulen Thüringen e.V. und Bundesverband der Jugendkunstschulen und Kulturpädagogischen Einrichtungen e.V., bjke Götz-Lothar Darsow 2. Ökonomie Schiller befand sich seit seiner Flucht aus Württemberg Ende September 1782 in einer ökonomischen Krise, die eigentlich permanent andauerte. Daraus befreite ihn 1784/85 zwar die finanzielle Unterstützung durch Christian Gottfried Körner, mit dem den Dichter eine bis zu seinem Tod währende enge freundschaftliche Beziehung verband. Durch Körner ergab sich auch die Verbindung zu dem Verleger Georg Joachim Göschen, dessen Verlag Schiller das Forum bot, von dem aus er sich literarisch Gehör verschaffen konnte. Dennoch war er Ende der 1780er Jahre gezwungen, seine Situation als freier Schriftsteller und Bühnenautor kritisch und illusionslos zu analysieren, die er sich nicht zuletzt durch Körners „Anschubfinanzierung“ hatte schaffen können. Seine Existenzgrundlagen und deren längerfristige Perspektiven wurden diagnostiziert angesichts einer bürgerlichen Gesellschaft, die sich mehr und mehr blanken Marktgesetzen unterwarf. Schiller konnte die „krasse Divergenz“ nicht länger ignorieren, die sich auftat zwischen der Idee – oder war es gar eine Ideologie? – des ‘freien’ Schriftstellers und der Realität eines literarischen Marktes, der sich gerade erst entfaltete. Dieser literarische Aufschwung wurde zwar als Voraussetzung für die ‘Unabhängigkeit’ und ‘Freiheit’ des Schriftstellers begrüßt, aber der Markt funktionierte eben nur in den engen Grenzen von Angebot und Nachfrage. 1784 hatte Schiller in seiner Ankündigung der Rheinischen Thalia mit pathetischen Worten an das Publikum als seinen alleinigen Souverän appelliert: „Ich schreibe als Weltbürger, der keinem Fürsten dient.“ Aber dieser neue Souverän ‚Publikum’ zeigte auf einmal ganz andere Fesseln, als Schiller sich bei seinem Schritt in eine ungewisse Existenz als freier Schriftsteller wohl erhofft haben mag. Sein Appell ‚an die menschliche Seele’ war ungehört verhallt: was blieb, war eine Realität, die er widerwillig als „Oekonomische Schriftstellerei“ charakterisierte. Das deutsche Publikum zwinge seine Schriftsteller, so beklagte er, „nicht nach dem Zuge des Genius, sondern nach Speculazionen des Handels zu wählen.“ Die mühevolle Arbeit an seinem einzigen überaus erfolgreichen Roman, Der Geisterseher – 1786 bis 1789 entstanden –, hatte er eine ‘Schmiererei’ genannt: In solch dunklen Momenten wollte ihm seine gesamte schriftstellerische Arbeit nur als unnützer Zeitaufwand erscheinen, der allein deswegen betrieben werden musste, um Geld zu verdienen. Mit solchen Erfahrungen ging folgerichtig der Versuch einer Klärung des eigenen künstlerischen Selbstverständnisses einher: Wie weit muss sich der Schriftsteller am allgemein geltenden 4
Dokumentation der Fachtagung „Flügel der Einbildungskraft. Schiller revisited – Ästhetische Bildung zwischen Freiheit und Verantwortung“ vom 10.-12.11.2005 in Rudolstadt, LAG Jugendkunstschulen Thüringen e.V. und Bundesverband der Jugendkunstschulen und Kulturpädagogischen Einrichtungen e.V., bjke Götz-Lothar Darsow Geschmack und den daraus resultierenden Forderungen des Publikums orientieren? Wird er als Künstler von den ökonomischen Notwendigkeiten korrumpiert, nur Dinge zu schreiben, die sich verkaufen lassen? Diese Fragen wird Schiller mit unterschiedlicher Akzentuierung bis weit in die 1790er Jahre hinein immer wieder erörtern. Er sieht die Situation des um Unabhängigkeit ringenden modernen Künstlers ganz klar: Zwischen der Skylla des Marktes und der Charybdis eines nach Autonomie strebenden Schaffens, das jede bürgerliche Lebensgrundlage verwehrt. Anfang 1788 schreibt er an Körner: „Für meinen Carlos – das Werk dreijähriger Anstrengung bin ich mit Unlust belohnt worden. Meine Niederländische Geschichte, das Werk von 5 höchstens 6 Monaten, wird mich vielleicht zum angesehenen Manne machen.“ Der Dichter wusste genau, dass beim lesenden Publikum ein etwaiger Nutzen, den er als historischer Schriftsteller bedienen konnte, weit vor allen artifiziellen Fertigkeiten des Sprachkünstlers rangierte. Und er hatte Recht mit seiner Vermutung über die Konsequenzen für seine „Anerkennung in der so genannten gelehrten und in der bürgerlichen Welt“. Als er Anfang Januar 1791 Mitglied in der „kurmainzischen Academie nützlicher Wissenschaften“ wird, kommentiert er in einem Brief an Körner ironisch: „Nützlicher! Du siehst, daß ich es schon weit gebracht habe.“ Schiller hat an sich selbst die doppelgesichtige Autonomie aller Kunst in der Moderne erfahren, die sich ihre Unabhängigkeit sichern will fern aller potentiellen Benutzbarkeit für Zwecke, welche außerhalb ihrer selbst liegen. Aber als soziales Phänomen ist Kunst – zumal für den Künstler, der von seiner Kunst leben will – keineswegs aus jeglicher ökonomischer Nutzbarkeit entlassen. Nicht zuletzt erzwang dieser ökonomische Druck eine Neubestimmung seiner Möglichkeiten als Künstler. In diesem Selbstfindungsprozess hatte er in seinem Freund Körner einen unerbittlichen und deswegen eigentlich großartigen Widerpart: Schiller sah ganz deutlich, dass er sein materielles Auskommen als Historiograph viel besser denn als Dichter sichern konnte. Er lässt die Bedenken nicht gelten, die der Freund gegen seine Pläne formuliert, und enthüllt seinen ungebrochenen Realismus in einer Deutlichkeit, in einem Pragmatismus wie selten sonst. Schiller gibt in einem Brief von Anfang Januar 1788 ein Resümee seiner Lage, seines Lebens, seiner Schriftstellerexistenz. Er versucht sich über seine Möglichkeiten, seine Beschränkungen, kurz über die Ökonomie seines Lebens in allen ihren Ausprägungen zu verständigen. Körner antwortet indigniert: Er, dessen Leben als sächsischer Staatsdiener sich zwangsläufig im ‚Prosaischen’ abspielt, ist enttäuscht, dass auch der berühmte Dichter, in dem er vor allem den Künstler verehrt, 5
Dokumentation der Fachtagung „Flügel der Einbildungskraft. Schiller revisited – Ästhetische Bildung zwischen Freiheit und Verantwortung“ vom 10.-12.11.2005 in Rudolstadt, LAG Jugendkunstschulen Thüringen e.V. und Bundesverband der Jugendkunstschulen und Kulturpädagogischen Einrichtungen e.V., bjke Götz-Lothar Darsow mit den ‚Kleinigkeiten’ einer zu sichernden Existenz rechnet und sich nicht allein um ‚höhere Verdienste’ bekümmert. Schillers Brief konnte nichts weniger als den Verrat früher formulierter Ideale suggerieren: „Wie viel fehlt noch,“ schrieb Körner, „so schämst Du Dich bloß zur Kurzweil andrer Menschen zu existiren, und wagst es kaum einem Brodtbecker unter die Augen zu treten? Also keine Spur mehr von jenen Ideen über Dichterwerth und Dichterberuf, über die wir längst einverstanden waren?“ Aber der Schriftsteller, der seine Arbeit auf einem gnadenlosen Markt feilbieten musste, wusste es jetzt besser. Schiller antwortet mit einer souveränen Bestimmtheit, die einmal mehr deutlich macht, wie bewusst er mit der von ihm erkannten Situation umging: „1. Ich muß von Schriftstellerei leben, also auf das sehen, was einträgt. 2. Poetische Arbeiten sind nur meiner Laune möglich: forciere ich diese, so misrathen sie. Beides weißt Du. Laune aber geht nicht gleichförmig mit der Zeit – aber meine Bedürfnisse. Also darf ich um sicher zu seyn, meine Laune nicht zur Entscheiderin meiner Bedürfnisse machen. 3. Du wirst es für keine stolze Demuth halten, wenn ich Dir sage, daß ich zu erschöpfen bin. Meiner Kenntniße sind wenig. Was ich bin, bin ich durch eine, oft unnatürliche Spannung meiner Kraft. Täglich arbeite ich schwerer – weil ich viel schreibe: Was ich von mir gebe steht nicht in proportion mit dem, was ich empfange. Ich bin in Gefahr mich auf diesem Weg auszuschreiben. 4. Es fehlt mir an Zeit, Lernen und Schreiben gehörig zu verbinden. Ich muß also darauf sehen, daß auch Lernen, als Lernen, mir rendiere! 5. Es gibt Arbeiten, bei denen das Lernen die Hälfte, das Denken die andere Hälfte thut. Zu einem Schauspiel brauche ich kein Buch aber meine ganze Seele und alle meine Zeit. Zu einer z.B. historischen Arbeit tragen mir Bücher die Hälfte bei. Die Zeit welche ich für beide verwende ist ohngefähr gleich groß. Aber am Ende eines historischen Buchs habe ich Ideen erweitert, neue empfangen – am Ende eines verfertigten Schauspiels vielmehr verloren. 6. Bei einem großen Kopf ist jeder Gegenstand der Größe fähig. Bin ich Einer so werde ich Größe in mein historisches Fach legen. 7. Weil aber die Welt das Nützliche zur höchsten Instanz macht, so wähle ich einen Gegenstand, den die Welt auch für nützlich hält. Meiner Kraft ist es eins oder soll es eins seyn – also entscheidet der Gewinn. 8. Ist es wahr oder falsch daß ich darauf denken muss, wovon ich leben soll, wenn mein dichterischer Frühling verblüht? Hältst Du es nicht für beßer, wenn ich mich entfernt auf eine Zuflucht für spätere Jahre bereite? – Und wodurch kann ich das als durch diesen Weg? Und ist nicht 6
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Dokumentation der Fachtagung „Flügel der Einbildungskraft. Schiller revisited – Ästhetische Bildung zwischen Freiheit und Verantwortung“ vom 10.-12.11.2005 in Rudolstadt, LAG Jugendkunstschulen Thüringen e.V. und Bundesverband der Jugendkunstschulen und Kulturpädagogischen Einrichtungen e.V., bjke Götz-Lothar Darsow überhaupt fehle es nicht an der Erkenntnis von Wahrheit und Recht, mithin an philosophischer Einsicht. Doch darüber hinaus sah der Diagnostiker seiner Zeit noch ein „dringenderes Bedürfniß“ seines Zeitalters. Dieses Bedürfnis habe alle Aufklärung nicht stillen können, weil sie eine „bloß theoretische Kultur“ sei. Theoretische Konstruktionen aber müssen den ganzen Menschen verfehlen. Sie erreichen den Geist des Menschen, aber sein Herz und seine Seele – um die Formulierung des jungen Bühnenautors und Arztes wieder aufzugreifen – bleiben außen vor. Um diesem Defizit zu begegnen, bedarf es für den Autor der Briefe „ästhetischer Kultur“, kurz gesagt: der Kunst. Sie erst würde zu einer unbedingt benötigten ‚schönen Empfindungsweise’ fähig machen, ohne die alle einseitige ‚Verstandeskultur’ ihre Aufgabe verfehlen muss. Der nämlich fehle es an Mitteln zur Realisierung und Durchsetzung ihrer richtigen Erkenntnisse und Einsichten, weil sie nur den Verstand des Menschen ansprechen würde, nicht aber seine anderen Vermögen. Alle Einsicht bleibt wirkungslos, weil der Appell allein an den Verstand den „ganzen Menschen“ verfehlt. Schiller hat also in der von ihm so genannten ‚schönen Empfindungsweise’ das ausschlaggebende Moment gesehen, das für den genuin humanen Charakter jeder Gesellschaft entscheidend ist. Das ist wenig erstaunlich vor dem Hintergrund der eigenen Zeit. Die Abgründe einer staatlichen Veränderung im Zeichen menschenverachtender Vernunftdespotie haben er und seine Zeitgenossen an der Entwicklung im revolutionären Frankreich gesehen. Die jakobinische Schreckensherrschaft hatte alle rein rationalistischen Aufklärungsideale endgültig diskreditiert, denen gegenüber Schiller schon längst misstrauisch gewesen war. In einer Bemerkung am Ende des 3. Briefs zittern die Ereignisse der terreur gleichsam nach „Das große Bedenken also ist,“ schreibt Schiller, „daß die physische Gesellschaft in der Zeit keinen Augenblick aufhören darf, indem die moralische in der Idee sich bildet, daß, um der Würde des Menschen willen seine Existenz nicht in Gefahr gerathen darf.“ Die physische Existenz des Menschen war unter die Räder gekommen, um die Idee einer vorgeblich moralischen Gesellschaft zu realisieren. Auch deswegen konnte Schiller sagen, dass der historische Augenblick nur scheinbar günstig sei, um „wahre Freyheit“ zur Grundlage der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse werden zu lassen. Wohl waren alte Vorurteile beseitigt, auch Erkenntnis und Wissen waren nicht mehr nur einer kleinen Gruppe Privilegierter zugänglich. Eine grundlegende Veränderung war dennoch unmöglich, weil der Hauptmangel nicht behoben war: die Ausbildung des Empfindungsvermögens. Dazu bedarf es ästhetischer Erziehung. Sie allein könne für eine „Ausbildung des feineren Gefühlsvermögens“ sorgen. 9
Dokumentation der Fachtagung „Flügel der Einbildungskraft. Schiller revisited – Ästhetische Bildung zwischen Freiheit und Verantwortung“ vom 10.-12.11.2005 in Rudolstadt, LAG Jugendkunstschulen Thüringen e.V. und Bundesverband der Jugendkunstschulen und Kulturpädagogischen Einrichtungen e.V., bjke Götz-Lothar Darsow Die Fähigkeit, etwas als richtig zu erkennen, bleibt ohne die Fähigkeit, das als richtig Erkannte auch zu empfinden, gefährliches Stückwerk. Diesem Mangel verdankt sich für Schiller, dass die Menschen immer noch Barbaren seien. Als Barbaren bezeichnet er jene, die sich zwar aus dem Naturzustand befreit haben, worin deren Antagonisten, die Wilden, noch gefangen sind. Aber durch die rigorosen Prinzipien seiner Vernunft zerstört der Barbar nun seinerseits die Natur und jegliches Gefühl. Die errungene Freiheit kann sich der Barbar nur mit erneuter Unfreiheit, mit Unterdrückung erkaufen. Allein auf blanke Rationalität gegründete politische Freiheit, so analysiert Schiller, verdient ihren Namen nicht, weil sie einseitig nur auf dem Verstandesvermögen des Menschen aufgebaut ist. Sie macht aus Wilden, die allein von ihren Gefühlen beherrscht sind, etwas weit Gefährlicheres: vernunftbegabte Barbaren. Die beängstigend zielgenaue Prophezeiung der Entwicklungen der Moderne, deren grauenhaftesten Exzesse sich erst im 20. Jahrhundert manifestierten, macht Schiller zu einem politischen Denker, dessen Analysen auch heute noch aktuell sind. Er spricht ganz dezidiert von der „Charakterlosigkeit des Zeitgeistes“ und beschwört ihn exemplarisch wie nach ihm erst wieder Hegel und Marx. Seine Zeit muss diese schwerwiegenden Defizite erst überwinden. Das aber kann mit keinem anderen ‚Werkzeug’ als der Kunst gelingen. Mit rhetorischem Geschick leitet Schiller seine Conclusio auf den neunten Brief hin, der die erste Folge der Briefe abschließt. Dort definiert er die Rolle des Künstler im Verhältnis zur Gesellschaft, in der er lebt. Wie kann der auch die nicht-rationalen Anteile des Menschen erreichen, wenn er doch gleichzeitig als ‚Kind’ seiner Zeit deren Unbilden ausgesetzt ist? Schiller spricht nicht allgemein vom Künstler, sondern vom Künstler in der Moderne, der sich „vor den Verderbnissen seiner Zeit, die ihn von allen Seiten umfangen“, zu retten hat. Die Argumentation kulminiert in jenem berühmten Appell, dem sich seit seiner Formulierung alle bedeutende Kunst zu stellen hat: „Lebe mit deinem Jahrhundert, aber sey nicht sein Geschöpf; leiste deinen Zeitgenossen, aber was sie bedürfen, nicht was sie loben.“ Gelobt hatten die (aufgeklärten) Menschen des 18. Jahrhunderts die Fähigkeit, sich des eigenen Verstandes zu bedienen, sie bedurften nach Schillers Diagnose der Ausbildung ihres Empfindungsvermögens. Schiller versucht sich Klarheit zu verschaffen über die Bedingungen und Möglichkeiten des Kunstschaffens in der Moderne. Wenn die Ausbildung einer wahrhaften ‚ästhetischen Kultur’ gelingen soll, muss der Künstler die Defizite der Moderne erkennen, um sich nicht dem jeweils herrschenden Zeitgeist opportunistisch anzupassen. Das bedrohlichste Defizit der Moderne ist aber 10
Dokumentation der Fachtagung „Flügel der Einbildungskraft. Schiller revisited – Ästhetische Bildung zwischen Freiheit und Verantwortung“ vom 10.-12.11.2005 in Rudolstadt, LAG Jugendkunstschulen Thüringen e.V. und Bundesverband der Jugendkunstschulen und Kulturpädagogischen Einrichtungen e.V., bjke Götz-Lothar Darsow die Kategorie der Nützlichkeit, durch deren Herrschaft der Künstler sich oftmals gezwungen sieht, „faule“ Kompromisse zu schließen. In seiner kulturkritischen Diagnose sind solche Momente einer Künstlerästhetik nur Werkzeuge für ein weit anspruchsvolleres Ziel. Denn Schiller wollte den Leser seiner Briefe von nichts weniger überzeugen, als dass „es die Schönheit ist, durch welche man zu der Freyheit wandert“. Und damit war durchaus auch politische Freiheit gemeint, als deren Voraussetzung Schiller aber die Ausbildung des Empfindungsvermögens für unverzichtbar ansah. Er selbst hat ausdrücklich die ersten neun Briefe, die im Januar 1795 Die Horen eröffneten, als eine Stellungnahme zu den politischen Verhältnissen der Zeit verstanden – übrigens entgegen der eigenen Ankündigung, sich in der Zeitschrift „alle Beziehungen auf den jetzigen Weltlauf“ zu verbieten. Wie Kant beschreibt Schiller den Menschen als ein Wesen, das prinzipiell in zwei Welten lebt: in der Welt der Bedürfnisse als sinnlich-natürliches Wesen und in der Welt der Gesetze, der praktischen Vernunft, als soziales Wesen. Jede dieser Welten ist auf ihre Weise eine düstere, ernste, denn beide sind das wirkliche Leben mit seinen physischen und moralischen Nötigungen. Die erste Welt manifestiert sich im Stofftrieb des Menschen, die andere Welt in seinem Formtrieb. Es sind „diese beyden Triebe“, betont Schiller zu Anfang des 13. Briefs noch einmal ausdrücklich, „die den Begriff der Menschheit erschöpfen“. Dennoch, so die subtile Argumentation, ist damit die Einheit der menschlichen Natur verfehlt; denn der bloße Antagonismus müsste den Primat bloßer Vernunft zum Ergebnis haben, weil die Sinnlichkeit für einen Angehörigen des Aufklärungszeitalter natürlich nicht dazu taugen kann, das spezifisch Menschliche zu umfassen. Diese zweite Folge von Briefen gipfelt folgerichtig in der Einführung jenes berühmten dritten Triebes, der Sinnlichkeit und Vernunft, Materie und Geist überhöhend vereinigen soll. Die Rede ist vom Spieltrieb, den gerade die Vernunft fordern müsse „aus trancendentalen Gründen..., weil nur die Einheit der Realität mit der Form, der Zufälligkeit mit der Nothwendigkeit, des Leidens mit der Freyheit den Begriff der Menschheit vollendet“. Diese Einheit ist nichts anderes als die Schönheit, die das gemeinsame Objekt von Stoff und Form des Künstlers ist, also auch Objekt des Spieltriebs. Nun, da sich mit der Schönheit eine „glückliche Mitte“ konstituiert, verlieren auch die bedürftige Wirklichkeit (Sinnlichkeit) und die gesetzmäßige Notwendigkeit (Moralität) ihren Ernst; die erste werde klein, weil sie in der Kunst mit Ideen verbunden ist, alle moralischen Ansprüche aber wirken leichter in schöner Gestalt, weil sie nicht mehr als bloße Nötigung empfunden würden. Es klingt, als löste sich mehr als nur begriffliche Schwierigkeiten, wenn Schiller gegen Ende des 11
Dokumentation der Fachtagung „Flügel der Einbildungskraft. Schiller revisited – Ästhetische Bildung zwischen Freiheit und Verantwortung“ vom 10.-12.11.2005 in Rudolstadt, LAG Jugendkunstschulen Thüringen e.V. und Bundesverband der Jugendkunstschulen und Kulturpädagogischen Einrichtungen e.V., bjke Götz-Lothar Darsow 15. Briefs seine berühmte Formulierung findet: „Denn, um es endlich auf einmal herauszusagen, der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur ganz da Mensch, wo er spielt.“ Schiller braucht diesen dritten Trieb, den Spieltrieb, um seine Forderung nach Überwindung bloßer theoretischer Kultur einzulösen. Kant hatte zwar gefordert, dass der Mensch niemals Mittel, sondern immer Zweck an sich selbst ist; aber Schiller insistiert auf der Frage nach dem Ort, der Sphäre, wo der Mensch diese theoretische Forderung erfahren kann. Vor allem aber: für den spielenden Menschen entfällt die Kategorie der Nützlichkeit, von der Schiller alle Bereiche der modernen Welt infiziert sah. Bleibt dem Menschen die Erfahrung der Abwesenheit bloß nützlicher Kategorien verschlossen, bleibt auch die Erfahrung seines spezifischen Menschseins auf der Strecke, das mehr ist als das Streben nach Bedürfnisbefriedigung. So hatte er schon vor der Französischen Revolution seinem Freund Körner geschrieben: „Was ist das Leben der Menschen, wenn ihr ihm nehmt, was die Kunst ihm gegeben hat? Ein ewiger aufgedeckter Anblick der Zerstörung. Ich finde diesen Gedanken sogar tief, denn wenn man aus unserem Leben herausnimmt, was der Schönheit dient, so bleibt nur das Bedürfniß und was ist das Bedürfniß anders, als eine Verwahrung vor dem immer drohenden Untergang?“ Schiller beschreibt die Kunst wie ein Asyl, wo sich alle Erdenschwere, alle Mühsal, alle Gebrechen menschlicher Sinnlichkeit (d.h. auch Leiblichkeit) und alle uneinlösbaren Anforderungen (un-) menschlicher (weil metaphysischer) Moralgesetzlichkeit und nieder drückender Pflichten in den heiteren Schein möglicher Wirklichkeiten und wirklicher Möglichkeiten auflösen. Der eine Bezirk des Asyls heißt schmelzende Schönheit, wo sowohl die Zwänge menschlicher Empfindungen als auch die der Begriffe verschwinden; der allein von seinen Gefühlen übermannte sinnliche Mensch wird frei durch die Form wie der sich ständig formalen Gesetzen unterwerfende Mensch frei werden kann durch die Sinnlichkeit der Materie. Aber der Realist Schiller zerbricht – wie häufig – ein mühsam aufgeführtes Gebäude sogleich wieder: Das der Schönheit als eines in sich gelösten harmonischen Ganzen gilt es vor möglichen idealistischen Auswüchsen zu bewahren. So gibt es auch noch jenen anderen Bezirk, den er die energische Schönheit nennt. Ihr schreibt er eine entgegengesetzte, eine anspannende Wirkung zu, damit Sinnlichkeit nicht in Weichlichkeit und Apathie, in ‘Erschlaffung’, ausartet, Moral nicht zur Beliebigkeit, ja Frivolität degeneriert. Schiller konstruiert nichts weniger als ein Doppelgesicht der 12
Dokumentation der Fachtagung „Flügel der Einbildungskraft. Schiller revisited – Ästhetische Bildung zwischen Freiheit und Verantwortung“ vom 10.-12.11.2005 in Rudolstadt, LAG Jugendkunstschulen Thüringen e.V. und Bundesverband der Jugendkunstschulen und Kulturpädagogischen Einrichtungen e.V., bjke Götz-Lothar Darsow Schönheit selbst. Diese Janusköpfigkeit von Schönheit ist für ihn nur in der niemals vollständig zu erreichenden Ideal-Schönheit ausgelöscht wie die anthropologischen Gegensätze nur im (nicht real existierenden) Ideal-Menschen zusammenstimmen. So hat Schiller im 16. Brief die harmonische Zusammenstimmung der verschiedenen Anteile des Menschen als bloße Idee relativiert und auf die Doppelnatur der „Schönheit in der Erfahrung“ verwiesen, von der immer „zugleich eine auflösende und eine anspannende Wirkung“ ausgehe. Man kann an dieser Konstruktion sehr genau sehen, dass wir es hier mit einem hoch komplexen Begriff von Schönheit zu tun haben. Die Antinomien sind für Schiller prinzipiell unüberwindlich; und zwar aus anthropologischen Gründen wie aus zeitdiagnostischen, weil sie für ihn Signaturen des Menschen in der Moderne und seiner Kunst sind. Bei Schiller gibt es prinzipiell keine platten Harmonisierungen im Zeichen seines Projekts einer ästhetischen Erziehung des Menschen – entgegen allen plattmachenden Harmonisierungstendenzen, die dem angeblichen ‚Erfinder’ des Idealismus immer wieder unterstellt wurden. Nur weil er einem anpassungsfähigen Realismus, der ihm selbst nicht fremd war, misstraute hinsichtlich seiner Möglichkeiten, eine bessere Literatur, Gesellschaft und Welt zu bewirken, bestand er auf einer Kunst des Ideals. Schiller lotete jedoch seismografisch genau aus, wo die Ideale mit der realen Welt in Konflikt gerieten und mit ihren destruktiven, ja mörderischen Konsequenzen auch imstande sein konnten, Leben zu vernichten. 13
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