Krankheit und Yoga Der Versuch einer Annäherung

Die Seite wird erstellt Frank Timm
 
WEITER LESEN
THEMA

                                                                           Fragen und diese Fragen sind für viele

       Krankheit und Yoga                                                  die gleichen.

                                                                           Was?
                                      Der Versuch einer
                                                                           Zuerst ist da ein großes Bedürfnis zu
                                           Annäherung                      wissen: „Was ist eigentlich los?“.
                                                                           Haben wir sehr hohes Fieber, ohne
                                                                           daß wir uns dies erklären könnten,
                                                                           dann ist das sehr beunruhigend.
                                                                           Können wir das gleiche Fieber aber
                                                                           „verstehen“, weil wir vermuten, uns
                                                                           wohl beim Nachbarn mit einer Grippe
                                                                           angesteckt haben, dann können wir
                                                                           schon viel besser damit umgehen.
                                                                           Jeden Schmerz, den wir spüren, ver-
                                                                           suchen wir einzuordnen, erklärlich zu
                                                                           machen. Erklären zu wollen, was hin-
         Auch wenn es der Erzählung nach das Gewahrwerden von              ter einem Symptom steckt, ist für die
   Krankheit, (neben Alter und Tod) brauchte, damit sich der ver-          meisten Betroffenen von großer
                                                                           Wichtigkeit. Dabei gibt es viele unter-
 wöhnte Prinz Siddharta auf den WegW machte, Buddha zu werden,             schiedliche Ebenen, auf denen solche
     gibt es sicher noch viele andere und angenehmere Anlässe als          Erklärungen gesucht und gefunden
                                                                           werden können. Oft kann einfach die
Krankheit, um über uns und unsere Aufgabe im Leben nachzuden-              Schulmedizin die gefragten Ant-
   kken. Wichtig ist die Frage nach Gesundheit und Krankheit aber          worten liefern. Nicht selten wird es
                                                                           sogar als Enttäuschung empfunden,
dennoch sicherlich für jeden Menschen. Im Berliner Yoga Zentrum
                                                                           wenn etwa selbst eine aufwendige
 führen wir viele Gespräche mit Menschen, die von Krankheit be-            Computer-Röntgenuntersuchung kei-
        troffen sind. Manche davon kommen zum Yoga wegen ihrer             nen Befund zeigt, obwohl an der
                                                                           durchleuchteten Stelle doch so starke
  Krankheit, manche kommen mit der Frage, ob sie angesichts der            Beschwerden zu spüren sind. „Da
 Einschränkungen, die sich aus einer Erkrakung ergeben, trotzdem           muß doch etwas sein!“ Eigentlich
                                                                           könnten wir uns freuen, daß eine
     Yoga üben können. Oft wird Krankheit aber auch nur deshalb            Störung noch keinen Knorpel oder
  Thema, weil es gilt, in einer Yoga
                                Y praxis Rücksicht zu nehmen auf           Knochen ernsthaft verändert hat.
                                                                           Aber das Bedürfnis nach einer hand-
        eine ansonsten wenig beeinträchtigende Nebensächlichkeit.          festen Erklärung für unsere Krankheit
      Der folgende Artikel möchte einige Fragen zum Umgang mit             ist oft so groß, daß wir uns manchmal
                                                                           trotz eines schlechten Befundes nur
                                          Krankheit thematisieren.         deshalb besser fühlen, weil es eben
                                                                           ein Befund ist.
                                                                           Auch andere Erklärungssysteme als
                                  Sich „krank fühlen“ ist in der Regel
                                                                           die Schulmedizin helfen Menschen,
                                  eine aktuelle Erfahrung: ein Schmerz
                                                                           ihre Erfahrung einzuordnen, manch-
                                  zum Beispiel, ein Unwohlsein oder die    mal sogar besser. Jedes System, das
                                  Wahrnehmung, daß etwas in mir            den Umgang mit dem menschlichen
                                  nicht mehr wie gewohnt funktioniert.     Körper zu seinem Thema macht, sei
                                  Dieses Erleben ist auf der einen Seite   es Yoga, Tai Chi, sei es Bewegungs-
                                  sehr subjektiv. Vom gleichen Schmerz     therapie, Chiropraxis, seien es die ver-
                                  betroffen, wird sich der eine „sehr      schiedenen naturheilkundlichen und
                                  krank“ fühlen, die andere nimmt ihn      ganzheitlichen Therapien, sei es noch
                                  vielleicht kaum wahr. Andererseits       etwas anderes, bietet solche
                                  reagieren die meisten Menschen, die      Erklärungen an. Sie tun das aber nicht
                                  von Krankheit betroffen sind an          deshalb, weil sonst das Erklärungs-
                                  einem Punkt sehr ähnlich. Sie stellen    bedürfnis der Betroffenen enttäuscht

                                            V I V E K A 6 , S. 38
THEMA

würde. Diese Erklärungen legen viel-      aber einen Menschen über lange Zeit,      noriert. Manchmal ist es ein langer
mehr in ihrem Rahmen den Grund-           stellen sich immer wider neu und an-      Prozeß innerer Auseinandersetzung,
stein dafür, wie je nach Krankheit und    ders, je nachdem, wie sich die Krank-     bis jemand versteht, daß der Körper
Krankheitsverlauf solche Systeme mit      heit und wie sich die Person selbst       tatsächlich krank ist und diese
dem kranken Menschen umgehen.             verändert.                                Situation eine Änderung im gewohn-
Selbst hinter jedem kleinen Rat, der                                                ten Verhalten verlangt. Diese
sich auf eine Erkrankung bezieht,                                                   Schwierigkeiten kennen wir natürlich
steckt ja ein ganzes System von Vor-      Krankheit als Hindernis                   auch von unserer Haltung her, wie
stellungen, Annahmen, Schluß-                                                       wir âsana üben. Wie schwer fällt es
folgerungen.                              Diese Fragen zeigen, daß in der           den meisten Yogaübenden, wenn sie
                                          Reaktion auf Krankheit zuerst ein         einsehen müssen, daß für ihren
                                          Aspekt ganz im Vordergrund steht:         Körper eine bestimmtes âsana jetzt
Wie?                                      Krankheit wird erlebt als Beeinträch-     eine Überlastung ist, wo dessen
                                          tigung, als Hindernis, so wie es auch     Praxis doch bisher noch ohne
Was muß ich erwarten, wie werden          Patañjali im Yoga Sûtra beschreibt.       Probleme möglich war. Dazu brau-
sich die Symptome entwickeln?             Krankheit schränkt uns ein, nimmt         chen wir nicht einmal über Krankheit
Vielleicht ist das die entscheidende      uns einen Teil unserer Freiheit und wir   sprechen. Der normale Prozeß des
Frage überhaupt. Wenn wir sicher          empfinden dies als Störung. Das           Alterns, der den Körper und seine
sind, daß unser Leiden nur vorüberge-     Bedürfnis nach Einordnung, Benen-         Leistungsfähigkeit verändert, gibt
hender Natur ist, dann mag es uns         nung einer Krankheit und die Fragen       genug Beispiele dafür, wie gerne
vielleicht in wichtigen Unter-            nach deren möglichen Verlauf, sind        Veränderung ignoriert wird.
nehmungen stören, Pläne durcheinan-       deshalb so wichtig, weil wir wissen
derbringen, aber wir werden uns           wollen, wie sehr die Krankheit unsere
schließlich damit zurechtzufinden.        bisherigen Möglichkeiten verändert.
Leben wir aber mit der Unsicherheit,      Wir fürchten Einschränkung, Schmerz,      Akzeptanz ist nicht
ob es vielleicht mehr werden könnte       Leid und das macht uns Angst.             Resignation
als nur eine Woche Schmerzen oder         Gerade in den heutigen Diskussionen
Übelfühlen, sieht es schon anders aus.    über Krankheit wird dieser Aspekt oft     Krankheit als Einschränkung zu ak-
Zu wissen, was ich habe, soll Sicher-     zu wenig beachtet. Es ist nichts          zeptieren, muß aber keineswegs
heit darüber bringen, welche Perspek-     Falsches daran, Krankheit erst einmal     heißen, daß wir in der dadurch ent-
tiven sich daraus für mich ergeben        als Störung und Hindernis zu sehen.       standenen Unfreiheit gefangen blei-
(Leider ist dies nicht immer der Fall).   Im Gegenteil, diese Reaktion ist          ben. Genau das Gegenteil ist der Fall.
                                          durchaus positiv. Sie ist auch            Wenn ich mich zum Beispiel als Sech-
                                          Ausdruck jener Kraft in uns, die uns      zigjährigeR einmal damit abgefunden
Was kann ich tun?                         am Leben hält. Wenn ich zum Beispiel      habe, daß mein Körper auf Belastun-
                                          im Winter nasse Füße bekomme,             gen nicht mehr so flexibel wie vor
Was kann ich jetzt tun, was muß ich       dann ist es das Bedürfnis, eine mögli-    zwanzig Jahren reagiert, dann gibt
tun, um Einfluß zu nehmen, um die         che Erkältung zu verhindern, das mich     mir das die Freiheit, mich gut und zu-
Störung für mich günstig verlaufen zu     rechtzeitig die Schuhe und Socken         frieden zu fühlen mit dem, was ich
lassen? Manchmal genügt es ja, nur        wechseln läßt. Gesund bleiben zu          jetzt kann. Gleichzeitig muß das Ak-
einfach solange zu warten, bis es mir     wollen, ist eine wichtige und positive    zeptieren von Einschränkung keines-
besser geht. Manchmal brauche ich         Kraft in uns. Körperliche Gesundheit      wegs heißen, diese Einschränkung
Informationen, brauche fremden Rat,       gibt uns Freiheit. Krankheit zwingt       festzuschreiben. Auch hier ist das
um zu einer guten Entscheidung zu         uns, einen Teil unserer Energie auf       Gegenteil richtig. Wenn ich einmal
kommen. Manchmal muß ich mich             diese Krankheit zu verwenden.             verstanden habe, was ich im Moment
auch in die Hände anderer Menschen        Krankheit begrenzt die vielfältigen       meinem kranken Rücken wirklich zu-
begeben, die mich dann „behan-            Lebensprozesse des Körpers, manch-        muten kann und was ich ihm besser
deln“.                                    mal vereinnahmt sie diese sogar ganz.     erspare, dann ist damit zweierlei ge-
                                          Früher wurden Krankheiten deshalb         wonnen. Einmal höre ich auf, ihn
                                          im Volksglauben oft dem Umstand           durch falsches Verhalten noch in ein
Warum ich, warum jetzt?                   zugeschrieben, von einem Dämon be-        immer größeres Ungleichgewicht zu
                                          sessen zu sein. Als Beschreibung ist      ziehen. Zum anderen weiß ich, von
Ist eine Erkrankung ernsthaft genug,      das ganz anschaulich: Seine Freiheit      wo aus und wie ich beginnen kann,
stellen viele Me nschen daran schließ-    ist mit der Unfreiheit des oder der       meinem Rücken wieder belastbarer,
lich auch noch die Frage: Warum ich,      Kranken bezahlt.                          gesünder zu machen.
warum gerade jetzt? Welche tiefen         Manchmal braucht es allerdings einige
Gründe gibt es für mein Leiden? Gibt      Zeit, bis wir verstanden haben, daß       Krankheit als Tabu
                                                                                                  T
es einen Sinn dahinter, und wenn ja,      eine Störung, unter der wir leiden,
welchen? Manchmal dauert es nur ein       tatsächlich Einschränkung ist. Der        Manchmal kann man hören, Yoga-
paar Stunden oder Tage, bis auf diese     Rücken schmerzt, aber der Betroffene      Unterricht sei nur für Gesunde ge-
Fragen (und sicher noch einige andere     belastet sich weiter ungesund wie ge-     dacht. Sehen wir einmal davon ab,
mehr) die nötigen Antworten gefun-        wohnt. Der Schmerz ist da, aber es        daß das natürlich schon deshalb
den sind. Oft begleiten diese Fragen      werden die nötigen Konsequenzen ig-       Unsinn ist, weil sich bei einem einfa-

                                                     V I V E K A 6 , S. 39
THEMA

chen Nachfragen herausstellen würde,      hung für die Lebensperspektive zu           Um innezuhalten, braucht es Ruhe;
daß nicht wenige der Teilnehmer an        groß: Eine Tänzerin leidet seit Jahren      Ruhe auch von akuten bohrenden
Yogakursen gerade deshalb gekom-          unter immer massiver wiederkehren-          Beschwerden. Deshalb können wir
men sind, weil sie sich nicht gesund      den Schmerzen im Lendenbereich,             uns im Fall eines schmerzenden
genug fühlen. Und sehen wir auch          sieht für sich aber jedesmal einen          Rückens auch ohne Bedenken erst
davon ab, daß sich bei einem solchen      neuen Grund, warum es gerade die-           einmal darum kümmern, wie sich die
Herangehen schnell die Frage stellt,      ses eine mal so gekommen ist. „Ei-          Schmerzen verringern lassen, und
was heißt eigentlich „krank“ und wer      gentlich“ ist der Rücken in Ordnung,        wenn einige Yogaübungen dabei hel-
bestimmt, wann das anfängt und auf-       „wäre da nicht diese eine dumme             fen können, ist das schön. Dahinter
hört? Was bleibt, ist die Tatsache, daß   Bewegung gewesen...“.                       die Gefahr zu sehen, ein Symptom
solche Vorstellungen Krankheit leicht     Die erste Bedingung, Krankheit per-         würde nur weggeschoben, ohne wirk-
zu einem Makel machen.                    sönlich oder im Umgang mit anderen          lich „bearbeitet“ zu werden, ist
Yogaunterrichtende sprechen ja viel       nicht zum Tabu werden lassen zu             töricht. Innehalten heißt nicht nur, frei
von Gesundheit und davon, wie wich-       müssen, ist die Einsicht, daß Krankheit     sein vom Druck der täglichen
tig es ist, etwas für ihre Erhaltung zu   immer und für jeden im Bereich des          Verpflichtungen und Aufgaben, son-
tun. Gerade deshalb müssen sie be-        Möglichen liegt. Der erste Schritt hin      dern auch einigermaßen frei sein von
sonders aufpassen, Krankheit nicht zu     zum Tabuisieren von Krankheit be-           drängenden körperlichen
einem Tabu zu machen, nicht für sich      steht tatsächlich in dem Irrglauben,        Beschwerden. Selbst für Menschen,
selbst und nicht für die Menschen, die    wenn wir es nur richtig anstellten,         denen es schon im ersten Moment
zu ihnen kommen.                          dann müßten wir einfach gesund blei-        ihres Rückenschmerzes „klar ist“, daß
Dabei wäre es recht einfach, einen        ben. Als hätten wir das wirklich so in      sie sich übernommen haben, sich zu-
normalen Umgang mit Krankheit,            unserer Hand.                               viel zugemutet haben und daß der
auch im Yogaunterricht, zu pflegen.                                                   Rückenschmerz eine Antwort darauf
Was macht es große Mühe, jeman-                                                       ist, auch solche Menschen kümmern
dem, der sein Knie nicht gut beugen       Krankheit als Chance                        sich natürlich erst einmal darum, den
kann, eine alternative Übung vorzu-                                                   Schmerz zu reduzieren. Unter
schlagen? Warum sollte nicht die          Die Menschen kommen zum Yoga,               Schmerzen lassen sich keine klaren
Mühe lohnen, jemanden mit einem           weil sie sich besser fühlen wollen.         Gedanken fassen, über sich reflektie-
empfindlichen unteren Rücken beizu-       Mag die körperliche Ebene im                ren kann man dann schon gar nicht.
bringen, daß jetzt bestimmte âsana,       Vordergrund stehen, mag es die gei-         Die Erfahrung zeigt, daß wir uns als
zum Beispiel intensive Vorbeugen          stige sein, meist sind es eine Unzu-        YogalehrerInnen im Zusammenhang
nicht gut tun, sondern schaden?           friedenheit, ein Gefühl der Einschrän-      mit Krankheit getrost immer nur um
Natürlich gibt es immer wieder            kung, ein Leiden, das Menschen auf          die Frage kümmern können, die von
Situationen, in denen wir klarmachen      den Weg bringt.                             dem Betroffenen gerade auch gestellt
müssen, daß eine Person zu einem be-      Ein alter Text, die „Sâmkhyakârikâ“,        wird und dabei nichts versäumen. Ist
stimmten Zeitpunkt im Gruppen-            in der die Philosophie des Sâmkhya er-      jemand bereit, sich auseinanderzuset-
unterricht entweder gar nicht oder        läutert wird, die auch Grundlage von        zen, werden die Fragen kommen. Ist
nur mit praktisch nicht leistbarem        Patañjalis Yoga Sûtra wurde, beginnt        jemand nicht bereit dazu, dann wer-
Aufwand gut aufgehoben ist. Aber          so: „Aus dem Leid selbst entsteht die       den die besten Ratschläge und
auch das kann man so vermitteln, daß      Suche nach den Mitteln, es zu been-         Erkenntnisse keine Wirkung zeigen.
es nicht gleichbedeutend mit dem          den“.                                       Trotzdem ist der Einschnitt, den eine
Ende von âsana -Praxis verstanden         Krankheit verursacht solches Leiden         Erkrankung mit sich bringt, immer
wird. Wenn wir den Menschen, die          und so ist für viele Krankheit ein          eine große Chance, neue Wege zu
wir unterrichten, achtsam begegnen,       Anlaß, innezuhalten und über mehr           versuchen, neue Einsichten über an-
können wir ihnen leicht die Angst         nachzudenken als nur die augenblick-        dere und sich selbst zu gewinnen.
nehmen, eine Einschränkung, die sie       lichen Beschwerden. Damit das aber          Aber wir dürfen auch nicht so tun, als
sich zugezogen haben, würde ein           möglich ist, bedarf es einiger Voraus-      wären solche oder andere Krisen die
Üben unmöglich machen. Wir können         setzungen. Nehmen wir einmal starke         einzige Möglichkeit, einen Prozeß von
ihnen Alternativen aufzuzeigen, die       Rückenschmerzen als Beispiel. Das           Selbsterkennen zu beginnen. Nach
ihre Grenzen respektieren und trotz-      erste, was einen Menschen beschäf-          einem Vortrag über die Bedeutung
dem helfen, sie zu erweitern und viel-    tigt, der unter starken Schmerzen lei-      und Wichtigkeit von Krisen für den
leicht schon verloren geglaubtes          det, ist die Frage, wie er sie schnellst-   spirituellen Weg fragte eine Zuhörerin
Terrain zurückgewinnen.                   möglich wieder loswerden kann. Das          am Ende etwas verzagt: „Und was ist
Wenn Betroffene selbst ihre Krankheit     ist nicht die Zeit, Antworten auf           jetzt mit mir? Ich fühle mich gut, bin
tabuisieren, dann tun sie es oft des-     grundsätzliche Fragen zu finden, der        nicht krank, keine ernsthafte Krise
halb, weil ihre Umgebung Kranksein        Schmerz dominiert. Überhaupt ist es         weit und breit. Bin ich also ohne
nicht zuläßt oder sehr negativ belegt.    selten so, daß jemand, der von einer        Möglichkeit, mich weiter zu ent-
Eine Frau hat einen Haushalt und zwei     Erkrankung akut betroffen ist, sich so-     wickeln?“
Kinder zu versorgen. Ihre chronischen     fort grundsätzlichen Gedanken über          Alles, was wir an Erkenntnissen aus
Kopfschmerzen verheimlicht sie der        Ursachen machen kann und möchte.            einer Krise, einer Krankheit gewinnen
Familie gegenüber, um sie „nicht          Natürlich kann auch ein länger an-          können, entsteht nicht durch diese
damit zu belasten“.                       dauerndes Leiden so groß sein, daß es       Krankheit, sondern offenbart sich nur
Manchmal ist aber auch die Bedro-         einen Menschen gleichsam auffrißt.          durch sie. Wenn uns zum Beispiel ein

                                                     V I V E K A 6 , S. 40
THEMA

Rückenschmerz darüber aufklärt, daß        nicht anders“. Krankheit ist Strafe für    die Kälte gestellt, weil ich die Nase
wir in unserem Alltag überlastet sind,     Fehlverhalten.                             voll habe? Oder wäre es nicht viel-
uns an falschen Werten und                 Dieser Irrtum kann so weit gehen, daß      leicht die richtigere Schlußfolgerung,
Maßstäben messen, zu viel Zeit für         bestimmte Erkrankungen aus be-             mir wärmere Schuhe zu kaufen?
Überflüssiges vertun, dann war dies        stimmten mentalen Mustern abgelei-         Manchen verstellen solch schnelle,
auch schon vor unserem Einbruch in         tet werden. Wer einen Schnupfen hat,       plausibel klingende, aber kurzschlüs-
die Krankheit so. Deshalb können wir       der hat überhaupt „die Nase voll“,         sige Begründungen von Problemen
Krankheiten oder Krisen vielleicht im      wer Verdauungsstörungen hat, „hält         und Beschwerden den Blick auf die
nachhinein dankbar sein, weil sie uns      zu viel fest“, usw. Hinter solchen         richtigen Lösungsmöglichkeiten.
die Augen für etwas bisher Verbor-         Ideen steht die Überzeugung, daß           Leicht wird so auch zum Beispiel ein
genes geöffnet haben. Das heißt aber       körperliche Symptome direkter Aus-         ernsthaftes körperliches Problem, das
nicht, daß wir die Augen nicht auch        druck der Struktur und Entwicklung         einfach daraus resultiert, daß jemand
anders, unspektakulärer, weniger           unseres Geistes seien, daß Knoten in       die für ihn oder sie falschen und
schmerzhaft hätten öffnen können.          unserem Geist im Körper ihren unmit-       schädlichen âsana praktiziert, umge-
Das ganze Konzept des Yogaweges,           telbaren und sofort durchschaubaren        deutet zu einem Problem fehlender
so wie es Patañjali ausbreitet, braucht    Ausdruck fänden.                           positiver Einstellung zum Üben. Eine
keine Krisen, braucht keine Krankheit.     So viel an der Vorstellung, daß sich       Schlußfolgerung mit manchmal fata-
Wir können auch in kleinen, behutsa-       unsere geistige Befindlichkeit sich in     len Auswirkungen.
men Schritten klarer sehen lernen.         unserem Körper ausdrücken kann,            Auch scheinbar offensichtliche
Aber auch das muß nicht so friedlich       richtig ist, so viel ist an ihr falsch,    Zusammenhänge können trügerisch
ablaufen und alles, was uns auf unse-      wenn sie auf einen zu einfachen            sein. Ein Taxifahrer hat sich durch zu
rem Weg begegnet, also auch                Nenner gebracht wird.                      langes Sitzen in schlechten Autositzen
Krankheit und Krisen, können wir - al-     Sicher, ein Kettenraucher muß sich         ein Ungleichgewicht im Rücken zuge-
lerdings nur, wenn die Voraus-             nicht wundern, wenn er an Lungen-          zogen. Seit der Schmerz da ist, stellt
setzungen dafür vorhanden sind -           krebs erkrankt. Aber wodurch könnte        er fest, daß jeder Streß den Schmerz
zum Besseren nutzen.                       er sich den Krebs mehr verdient            verstärkt, Ruhe ihn bessert. Das heißt
Dennoch ist jede Krankheit auch            haben, als sein ebenfalls kettenrau-       keineswegs. daß Streß die eigentliche
Ausdruck eines Ungleichgewichts und        chender Kollege, der mit dem glei-         Ursache seines Problems ist. Fast jedes
trägt nicht nur die Möglichkeit in sich,   chen Konsum steinalt wurde? Was ist        Symptom wird sich unter Streß ver-
daß wir daran wachsen, sondern auch        mit einem Kind, das krank auf die          schlechtern, in der Ruhe verbessern.
daß wir daran scheitern können.            Welt kommt? Wenn in der Dritten            Würde unser Taxifahrer für die Lösung
Krankheit als den Weg zu mehr              Welt Tausende an einer Choleraepe-         seines Rückenproblems nur versu-
Erkenntnis über sich selbst zu verherr-    demie sterben, weil sie kein sauberes      chen, allen Streß zu vermeiden, wäre
lichen, ist zynisch jenen gegenüber        Trinkwasser finden und kein Geld für       dies wahrscheinlich vergebliche Mühe.
(und das sind sicher die meisten), die     Brennholz zum Abkochen haben, was          Die Lösung liegt vor allem in der Ver-
in ihrer Krankheit stecken bleiben und     drückt sich da für den Einzelnen in        änderung seiner Arbeitsbedingungen,
sich ihr Leben lang mit oberflächli-       seiner Krankheit aus?                      oder auch darin, seinen Rücken stabi-
chen Lösungen herumschlagen, weil          Westeuropäer haben eine deutlich           ler gegen die Anforderungen zu ma-
ihr Leiden sie so in die Enge getrieben    höhere Lebenserwartung und sind im         chen, die langes Autofahren mit sich
hat, daß sich kein Ausweg zeigte.          Durchschnitt ohne jeden Zweifel kör-       bringt, oder in beidem. Wenn er dabei
                                           perlich gesünder als etwa südamerika-      auch noch besser mit seinem Streß
                                           nische Indios. Liegt das etwa daran,       umzugehen lernt, ist das allerdings si-
                                           daß Europäer von klarerem, oder viel-      cher auch von Vorteil.
Wieviel Sinn macht                         leicht von gesünderem Geist wären?         Eng ist unser Blick aber noch häufiger
Krankheit?                                 Man sollte vorsichtig mit der Behaup-      in die andere Richtung. Wir suchen
                                           tung sein, in jeder Krankheit, stecke      nach „mechanischen“ Erklärungen,
Warum trifft einen Menschen eine           ein Sinn, der sich aus der persönlichen    wo doch eine Reflexion unserer Ge-
Krankheit? Unser Bedürfnis nach            Biographie eines Menschen ergäbe. Es       samtsituation gefragt wäre. Für den
Erklärungen läßt uns gerne nach ein-       verengt unseren Blick auf die vielfälti-   Kopfschmerz ist das Wetter, die
fachen Antworten schauen. Eine die-        gen Ursachen von Krankheit, wenn           schlechte Luft schuld. In Wirklichkeit
ser einfachen, zu einfachen                wir hinter jedem Ungleichgewicht nur       haben wir einen Konflikt mit der
Antworten, ist die Vorstellung, daß        noch eine Störung unserer psychi-          Arbeitskollegin nicht gelöst und das
sich jeder Mensch seine Krankheit          schen Befindlichkeit vermuten. Wir         drückt uns. Wir erforschen akribisch,
gleichermaßen „verdiene“.                  hatten das Beispiel schon: Ich habe        wie weit ich noch in dieses oder jenes
Diese Vorstellung beruht auf der           einen Schnupfen, also „muß ich ja          âsana gehen kann, ohne eine Ver-
Annahme, daß aus meinem                    wohl die Nase voll haben“, von der         spannung, die mich plagt, zu spüren,
Verhalten, Denken auf direktem Weg         Arbeit, meiner Familie oder sonst          anstatt mir grundsätzlich Gedanken
Krankheit entstehe. Krankheit ließe        wem. Wenn meine Erkältung nun              darüber zu machen, wie leistungsori-
sich deshalb also auch aus meinem          aber ganz einfach nur einen Grund          entiert ich mit mir und meinem
bisherigen Verhalten, Denken, Fühlen       hat, nämlich daß ich für meine kör-        Körper in meinem Üben umgehe.
ableiten und erklären.                     perlichen Möglichkeiten zu lange mit
Man kann es auch noch schärfer aus-        nassen Füßen in der Kälte gestanden
drücken: „Wer krank ist, verdient es       habe? Habe ich mich etwa so lange in       Körper - Geist

                                                      V I V E K A 6 , S. 41
THEMA

                                          Konflikte eines Menschen schließlich       schaffen, weil ihm dadurch ein wichti-
Es gibt ohne Zweifel eine enge            in einer körperlichen Störung aus-         ger Aspekt seiner täglichen Yoga-
Verbindung zwischen Körper und            drücken. Auf der einen Seite ist dieser    praxis verloren gegangen ist. Von den
Geist. Schon die Vorstellung, sie beide   Mechanismus eine Hilfe, eine im ver-       Strategien, die Yoga in einer solchen
als etwas wirklich voneinander Ge-        borgenen liegende Krise endlich            Situation folgt, sind zwei für unsere
trenntes zu sehen, ist bei näherem        wahrnehmen zu können. Zum ande-            Diskussion besonders wichtig.
Hinsehen ein recht schwieriges Unter-     ren liegt in diesem Mechanismus auch       Einmal gibt es im Yoga die Idee, daß
fangen. Trotzdem können wir beob-         immer das Risiko, daß die Krankheit        sich die Blockade im Knie auf der
achten, daß Körper und Geist ihre je-     eine Eigendynamik entwickelt, die          Ebene beeinflussen lassen kann, auf
weils eigene Dynamik getrennt von-        ihren eigenen Gesetzen folgt. Bei aller    der sie auftritt, also auf der des
einander entfalten können.                Wertschätzung für die Tatsache, daß        Körpers. Das hat einige Konse-
Die Enge im Geist und Herzen eines        Krankheit uns einen Weg zeigen kann        quenzen. Zum Beispiel könnten wir
Menschen muß ihn keineswegs kör-          aus einem verknoteten Konflikt, sollte     Karl F. eine besondere Praxis bestimm-
perlich krank machen. Offenherzige        nicht vergessen werden, daß es auch        ter âsana vorschlagen, von der wir aus
und weise Menschen können an allen        die Möglichkeit gibt, ein Problem          Erfahrung wissen, daß sie bei solchen
möglichen Krankheiten leiden. Es gibt     wahrzunehmen, bevor der Körper zu          Beschwerden auf das Knie positiv ein-
selten Verbindungen zwischen Körper       solch drastischen Hilferufen wie           wirken können. Wenn wir uns auf
und Geist, die so einfach, direkt und     Krankheit greifen muß und daß diese        dieser körperlichen Ebene um das
durchschaubar sind, wie wir sie uns       Möglichkeit uns gesünder und länger        Knie kümmern, bleibt aber die Ebene
gerne wünschten. Und Verbindungen,        leben läßt.                                von „Geist“ nicht außen vor. Die
die einmal bestehen, müssen so nicht      Die Eigendynamik, die unser Körper         mentale Ausrichtung ist auf zweierlei
bleiben.                                  entwickeln kann, ist allerdings nicht      Weise wichtig: einmal soll nicht me-
Ein Beispiel. In Untersuchungen zeigt     nur von Nachteil, weil sie sich auch in    chanisch geübt werden, sondern mit
sich immer wieder, daß Menschen,          Richtung Gesundheit bewegen kann.          der passenden mentalen Ausrichtung
die an Krebs erkranken sich häufig        So sind wir froh, daß sich nicht jede      und in Verbindung mit dem Fluß des
schon über lange Jahre vor dem            mentale Enge als Ungleichgewicht im        Atems. Und umgekehrt, wenn wir
Ausbruch ihrer Erkrankung in einer        Körper niederschlägt. Das gleiche gilt     unser Knie über unsere prâna -Energie
Situation befanden, die eine zu die-      für die Selbständigkeit unseres            erreichen wollen, dann müssen die
sem Thema angelegte Studie „chroni-       Geistes. Jede Auseinandersetzung mit       körperlichen Voraussetzungen dafür
scher Hoffnungslosigkeit“ nennt. Ja,      Krankheit lebt auch von der Mög-           stimmen. Wir wählen also eine kör-
es gibt sie, diese Verbindung von         lichkeit, daß wir uns unter bestimm-       perlich günstige Position und zum
Geist und Körper. Aber können wir         ten Voraussetzungen in einem kran-         Beispiel nicht eine Haltung, die neue
damit behaupten, jedeR Krebskranke        ken Körper wohl und frei fühlen kön-       Blockaden oder Schmerzen riskiert.
leide vor seiner Erkrankung unter         nen.                                       Zum anderen muß es auch gelingen,
„chronischer Hoffnungslosigkeit“?         Die Beachtung dieser Eigendynamiken        so an das Üben heranzugehen, daß
Und weiter: Manchen, auf die diese        hat im Yoga eine lange Tradition. Das      wir Vertrauen fassen und einen Erfolg
Beschreibung zutrifft, gelingt es, oft    gesamte Konzept vom Fluß des prâna         für möglich halten. Ohne diesen
gerade in der Auseinandersetzung mit      als Grundlage unseres Lebens ver-          Glauben werden wir kaum etwas be-
ihrer Erkrankung, diese psychische        sucht, Körper und Geist in ihren je-       wegen können. In der Sprache des
Sackgasse zu überwinden. Heißt das,       weilig besonderen und manchmal ei-         Yoga sind dies Überlegungen, wie ein
daß damit der Krebs verschwunden          genständigen Rollen und Funktionen         blockiertes prâna wieder in Fluß
wäre? Keineswegs. Auch ein Magen-         ebenso wie in ihrem Zusammenspiel          kommt. Dies ist Thema von tapas, der
geschwür, das erst einmal nichts an-      zu verstehen und zu beeinflussen.          Kunst, einen inneren Reinigungs-
deres war als Ausdruck von zu viel        Weil im letzten Heft von VIVEKA so         prozeß in Gang zu setzen. Die Mittel
Streß, kann so chronisch werden, daß      viel vom Knie die Rede war, nehmen         dafür sind âsana, prânâyâma, Medi-
es auch unter dem gelungensten            wir zur Veranschaulichung folgendes        tation, unsere Ernährungsweise, und
Streßabbau weiter schwelt und eine        kleines Beispiel. Karl F.s Knie schmerzt   die Art und Weise, wie wir unseren
Tasse zu starker Kaffee neue              und läßt sich nur noch schwer bewe-        Alltag organisieren.
Beschwerden macht. Es gibt eine           gen. Er fühlt sich dadurch sehr einge-     Das ist die eine Antwort auf die
Eigendynamik von Körperprozessen,         schränkt, nicht nur im Alltag, sondern     „Krankheit“ Knieschmerz.
auf die unsere mentale Befindlichkeit     auch in seiner täglichen                   Die andere Strategie, die der Yoga an-
nicht automatisch Einfluß hat. Und es     Meditationspraxis. Schon vor einigen       gesichts von Krankheit verfolgt, wird
gibt eine Eigendynamik mentaler           Jahren fand Karl F. in der in der          auf schöne Weise in der Bhagavad
Prozesse, auf die unser Körper nicht      Haltung des Lotossitzes sein Ideal von     Gîtâ ausgedrückt, wenn dort Yoga
automatisch Einfluß nehmen kann.          Konzentriertheit, Gelassenheit und         definiert wird als: duhkha samyoga
Daß im Zusammenhang mit der               Ruhe. Dieses Bild hat ihn nicht mehr       viyogam, als die „Trennung der
Entstehung zum Beispiel von Krebs         losgelassen und daß es ihm gelang,         Verbindung zum Leid“. (VI, 23). Was
psychische Ursachen viel diskutiert       sich diesem Ideal auch körperlich          könnte das für Karl F. heißen? Zum
werden, ist für uns auch noch aus         durch die Praxis einer strengen Sitz-      Beispiel das: Neben den Bemühungen,
einem anderen Grund von großer            haltung immer mehr anzunähern, gab         die Funktion des kranken Knies wie-
Wichtigkeit. Es weist nämlich noch        ihm viel innere Kraft. Wie man sich        der herzustellen, stellt sich noch eine
einmal auf die Zwiespältigkeit hin, die   denken kann, machen Karl F. die            andere Aufgabe. Sich „vom Leid tren-
in der Tatsache liegt, daß sich innere    Kniebeschwerden auch deshalb viel zu       nen“ heißt einen Weg finden, vom

                                                     V I V E K A 6 , S. 42
THEMA

Ideal „Lotussitz“ zu lassen und bei der   2000 Jahren. Deshalb ist ein Text wie           Körpers das zu erreichen, was mög-
Meditation auf einem Stuhl trotzdem       das Yoga Sûtra des Patañjali auch voll          lich ist, sondern gibt ihm den richti-
zufrieden zu sein. Das Knie ist nicht     von Vorschlägen, wie wir eine solche            gen Rahmen.
gesünder, aber wir leiden nicht mehr      Veränderung in unserer Wahrneh-
unter der daraus entstehenden             mung bewerkstelligen können. Aber
Einschränkung. Daß dies nicht einfach     dieses „Trennen vom Leid“ ersetzt               “Svastha”
ist, wußten die Alten auch schon vor      nicht das Bemühen, auf der Ebene des

                  Wenn Mediziner diskutieren, was Krankheit ist.
  Die Schulmedizin hat sich lange Zeit nur damit beschäf-       können, die in aller Regel auch noch auf unterschiedlich-
  tigt, was Menschen krank macht, weniger damit, was sie        ste Weise miteinander verbunden auftreten. Ein Kinostuhl
  gesund erhält. Diese Orientierung nennt man eine „patho-      mag für zwei Stunden auf meinen Rücken „krankma-
  genetische“, die Beschreibung der Entwicklung von             chend“ wirken. Wenn mein Rücken diese Belastung aber
  Krankheit steht im Mittelpunkt. Inzwischen gibt es andere     gut kompensieren kann, warum sollte ich auf den
  Ansätze, die sich vor allem die Frage stellen, was eigent-    Kinospaß verzichten? Wenn aber der Stuhl an meinem
  lich hält einen Menschen gesund? Warum bleibt ein             täglichen Arbeitsplatz so schlecht ist, daß ich jeden Tag
  Mensch auch unter Belastung gesund? Warum kann ein            eine Stunde intensiv mit meinem Rücken üben muß,
  kranker Mensch wieder gesund werden? Diese modernen           damit er mit diesem Stuhl einigermaßen zurecht kommt,
  Überlegungen entsprechen in vielem den alten und tradi-       dann ist es vielleicht besser, den Stuhl zu wechseln.
  tionellen Vorstellungen,
                      g wie sie etwa der Yoga, g aber auch      „Gesundheit ist also ein dynamisches Gleichgewicht zwi-
  die Âryuveda und andere Systeme wie zum Beispiel die          schen dem Individuum, seinem autonomen Potential zur
  traditionelle chinesische Medizin entwickelt haben.           Selbst-Organisation und Selbst-Erneuerung und seiner so-
  Deshalb sollen diese in der westlichen Medizin noch           zial-ökologischen Umwelt. Dieses Gleichgewicht ist ab-
  recht neuen Gedanken hier kurz vorgestellt werden. Die        hängig einerseits von der Verfügbarkeit und Nutzung von
  Vertreter dieses Konzeptes erläutern ihre Betrachtungs-       gesundheitsschützenden bzw. -wiederherstellenden Fak-
  weise gerne mit folgendem Bid: „Wir alle schwimmen            toren in der Person selbst, aber auch in seiner Alltags-
  während unseres Lebens in einem Fluß voller Gefahren.         organisation und Umwelt.“ Was gilt als gesundheitsschüt-
  Oder, um eine Metapher zu wählen, fahren wir alle eine        zenden Faktoren?
  lange Skipiste hinunter, an deren Ende ein unumgängli-        Die psychische Befindlichkeit. Dazu gehört unter ande-
  cher und unendlicher Abgrund ist. Die pathogenetische         rem: Eine positive Einstellung zum Leben, zur Arbeit.
  Orientierung beschäftigt sich hauptsächlich mit denjeni-      Die Anforderungen der Umwelt werden als sinnvoll ver-
  gen, die an einen Felsen gefahren sind oder in eine           standen. Es herrscht ein „instrumentelles Vertrauen“, das
  Gletscherspalte fielen. Weiterhin versucht sie uns davon      wegführt von der Überzeugung die Karten des Lebens
  zu überzeugen, daß es das beste ist, überhaupt nicht Ski      seien gegen einen gemischt. Ist jemand davon überzeugt,
  zu fahren. Dieser Ansatz beschäftigt sich damit, wie die      daß er eine Vielzahl von passenden Hilfen (in den eige-
  Piste ungefährlicher gemacht werden kann und wie man          nen Händen oder in denen von vertrauten Personen) zur
  Menschen zu sehr guten Skifahrern machen kann“.               Verfügung hat, um aktuelle Anforderungen zu bewälti-
  Gesundheit ist kein statischer Zustand, sondern ein sich      gen, kommt er oder sie mit Belastungen besser zurecht.
  ständig veränderndes Gleichgewicht zwischen Kräften,          Die körperliche Befindlichkeit. Dazu gehört unter ande-
  die uns in Richtung Krankheit und Kräften, die uns in         rem: Gesunde Ernährung, gesunder Umgang mit dem
  Richtung Gesundung drängen. „Der Kampf in Richtung            Körper, promptes und richtiges Reagieren auf körperliche
  Gesundheit ist permanent, aber nie ganz erfolgreich“. Ein     Störungen.
  Teil von uns ist immer „krank“, ein anderer Teil „ge-         „Das Gleichgewicht ist andererseits abhängig von den po-
  sund“, oder besser: Solange wir leben, bewegt sich in uns     tentiell krankmachenden Einflüssen der physikalischen
  immer etwas in Richtung Blockade, etwas anderes immer         (zum Beispiel Umweltgifte, Klima), biologischen (zum
  in Richtung harmonischer Fluß. Grundsätzlich können           Beispiel Viren, Bakterien) und sozialen (zum Beispiel
  uns zwei Mechanismen aus dem Gleichgewicht bringen:           Stress, schlechte medizinische Versorgung) Umwelt“.
  Entweder die Fakoren, die krankmachen können, sind so         „Gesundheit muß dabei vom Körper ständig „hergestellt
  stark, daß die gesunderhaltenden Gegenkräfte, obwohl          werden“ - sei es im Sinne einer immunologisch verstan-
  gut entwickelt, nicht ausreichen, unser inneres               denen Abwehr, sei es im Sinne einer Anpassung oder
  Gleichgewicht zu bewahren. So wird zum Beispiel auch          einer zielgerichteten Veränderung der Umweltbedingun-
  „der Gesündeste“ sich eine schwere Erkältung holen,           gen durch das Individuum“.
  wenn er nur lange genug Kälte und Nässe aussetzt ist.         Viele Möglichkeiten also, wie Krankheit entstehen, viele
  Oder die „gesundmachenden“ Kräfte in uns sind so ge-          Möglichkeiten aber auch, wie Gesundheit gestärkt oder
  schwächt, daß sie einer einer eigentlich „normalen“ Bela-     wiederhergestellt werden kann.
  stung nicht standhalten. Oder beide Faktoren wirken zu-       (Alle Zitate aus: Almut Veidt, Salutogenese: Gesundheit als dynamisches
  sammen.                                                       Gleichgewicht, Berliner Ärzteblatt, 11/95)
  Es engt unser Blickfeld ein, wenn wir die Ursache von
  Krankheit nur in einer dieser beiden Möglichkeiten sehen

                                                    V I V E K A 6 , S. 43
THEMA

Wir erleben in unserer alltäglichen        darin, die Selbstheilungskräfte eines
Auseinandersetzung mit der Frage,          Menschen zu mobilisieren, mehr
was Yoga Menschen anbieten kann,           Vertrauen in die eigene Kräfte zu fin-
die von Krankheit betroffen sind, daß      den. Dazu gehört, einen Weg zu fin-
sich darauf vor allem eine Antwort         den, auch in schwierigen Situationen
geben läßt. Es ist eine Antwort, die in    Heilung oder zumindest positive
der Tradition als ein wichtiges Ziel von   Veränderung für möglich zu halten.
Yoga formuliert wird: svastha. „für        Yoga kann auch hier helfen, offen zu
sich selbst“ (sva) „stehen“ (stha).        bleiben.
Yoga kann uns helfen, diesem               u Schließlich lassen sich körperliche
Zustand von svastha, also auf den ei-      Blockaden durch eine entsprechende
genen Füßen stehen können, auch            Praxis positiv beeinflussen. Ein kranker
angesichts einer Krankheit näherzu-        Rücken kann wieder gesund werden,
kommen.                                    eine Migräne sich bessern, ein
In der konkreten Arbeit in unserem         Ohrgeräusch verschwinden.
Zentrum bezieht sich dies auf sehr un-     Natürlich gibt es für solche positiven
terschiedliche Ebenen. Welche davon        Veränderungen keine Garantie. Ob
tatsächlich Thema werden, hängt al-        Yoga eine Hilfe sein kann, hängt nicht
lein vom Bedürfnis, den Möglichkeiten      nur ab vom Bemühen des betroffenen
und der besonderen Situation ab, die       Menschen, nicht nur von der Qualität
eine Person uns gegenüber formuliert.      der Lehrerin, des Lehrers, sondern
u Yoga gibt uns Techniken, auch in         eben auch von Vielem, das nicht in
turbulenten Zeiten Stabilität und          unserer Hand liegt.
Klarheit im Geist zu gewinnen, in-
nehalten zu können, einen verängstig-
ten Geist zu beruhigen. Zu diesen
Techniken zählen âsana genauso wie
prânâyâma und Meditation. Auf die-
ser, aus der Sicht des Yoga vielleicht
wichtigsten Ebene in der
Auseinandersetzung mit den Folgen
von Erkrankung, geht es um die
Verbesserung unserer Wahrnehmung
uns selbst und anderem gegenüber.
Wie kann jemand geholfen werden,
die eigene Situation klarer, umfassen-
der, richtiger wahrzunehmen? Was
kann sich jemand zumuten, welcher
nächste Schritt ist der richtige, ist
fremde Hilfe nötig? Dies bezieht sich
auf den Umgang mit der Krankheit
überhaupt, es betrifft aber auch ein-
zelne Fragen. Es kann zum Beispiel
heißen, daß jemand eine Operation,
vor der er oder sie bisher große Angst
hatte, als notwendig und sinnvoll
sehen lernt und sie optimistisch und
vertrauensvoll angeht. Es kann aber
auch heißen, eine scheinbar unaus-
weichliche Operation vermeiden zu
können. Im Prozeß des Übens liegt die
Möglichkeit, immer besser unterschei-
den zu können, mit was ich mich im
Augenblick abfinden muß und was
veränderbar ist. Und dies, ohne eine
einmal getroffene Position auf ewig
festzuschreiben. Yoga kann helfen,
selbst und freier zu entscheiden, offen
zu werden für unterschiedliche
Möglichkeiten.
u Yoga kann helfen, eine positive
Ausrichtung schaffen. Ein großer Teil
der Wirkung von Yogapraxis besteht

                                                      V I V E K A 6 , S. 44
Sie können auch lesen