Thema CORONAKRISE Fachbeiträge aus der Praxis und Forschung der Sozialen Arbeit - Integras
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Thema Sonderausgabe 01/2020 CORONAKRISE Fachbeiträge aus der Praxis und Forschung der Sozialen Arbeit Fachverband Sozial- und Sonderpädagogik Association professionnelle pour l’éducation sociale et la pédagogie spécialisée THEMA 1
Inhalt 3 Editorial Gabriele Rauser, Geschäftsführerin Integras 4 Eine Perspektive auf die Kinderrechte Lorène Métral, Responsable Suisse Latine Integras 6 Neue Chancen und Hindernisse – Gedanken aus dem Sonderschulbereich Andreas Wild-Studer, Gesamtleiter Sonderschulheim Mauren 8 Sicherheit im Alltag finden Jany Martin, Schulleiter Schule Friedheim 12 «Eine vorübergehende Rückplatzierung ist keine Option» Renato Levantino, Geschäftsführer Fachverband Sozialpädagogischer Kleininstitutionen Schweiz (SKI) 14 Beziehungsarbeit während des «Lockdowns» Julia Kapp, Geschäftsleiterin Subito Kriseninterventionen AG 18 Pflegefamilienbegleitung – Notizen aus der Forschung Daniela Reimer, Dozentin, Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) 20 Zwischen Realitäten und Paradoxien Luca Fumagalli, Stv. Leiter Dienst für Erwachsenen- und Jugendschutz 22 Ethische Fragen in der Kinder- und Jugendhilfe – Zwischen persönlicher Freiheit und gesellschaftlicher Solidarität Daniela Ritzenthaler, Heilpädagogin und Ethikerin 24 Covid-19 und zunehmende «Maltraitance»? Oliver Baud, ehemaliger Vizepräsident Integras THEMA 2
Liebe Leser_innen Es gibt Daten, an die man sich in aller Deutlich- keit erinnert. Montag, 16. März 2020 – wer von den Fachpersonen in der Kinder- und Jugendhilfe, in den Heimen und in Pflegefamilien erinnert sich nicht an jenen Montagmorgen, an dem wenig so war wie vorher? Schliessung der Schulen und Kitas, Anhalten des öffentlichen Lebens – innert Gabriele E. Rauser, Geschäftsführerin Integras kürzester Zeit entstanden viele komplexe Fragen mit einem dringenden Bedarf nach Antworten. Bei Integras liefen die Telefone heiss – wir such- Daseinsberechtigung, dass sie in schwierigsten ten den Dialog mit der SODK, der KOKES, dem Lebenssituationen Rahmenbedingungen wieder- Bundesamt für Justiz und anderen Verbänden. herstellen, die uns ermöglichen weiterzugehen Wichtig war, Rückhalt zu schaffen für die Institu- und Halt und Mut zu finden. Soziale Arbeit ist tionsleiter_innen und möglichst rasch übergeord- too important to fail! Wir bedanken uns bei allen nete Empfehlungen oder Leitlinien in Erfahrung Beteiligten für die wunderbaren neuen Lösungen, zu bringen, damit Kinder und Jugendliche auch für einen neuen Sinn der Zusammenarbeit und während der Corona-Krise weiterhin gut betreut hoffentlich auch für neue Erkenntnisse, was alles werden können. möglich sein kann. Institutionen der Kinder- und Jugendhilfe Wir haben Erfahrungen von Experten aus der haben sehr flexibel und umsichtig reagiert und Schweiz zusammen getragen – ohne den An- Rahmenbedingungen für Kinder und Jugendliche spruch auf Vollständigkeit, aber als Anregung und geschaffen, die vorher kaum denkbar waren. Die Austausch für und im Umgang mit dieser ausser- kantonalen Behörden stellten innerhalb weniger gewöhnlichen Erfahrung einer Pandemie. Tage oder sogar innerhalb weniger Stunden Hotlines bereit, sammelten Fragen und Antworten Wir bedanken uns bei allen Autor_innen für und erstellten Guidelines – sie müssen dafür ihre Unterstützung und ihre tollen Beiträge und so manche Nachtschicht eingelegt haben. Eine wünschen Ihnen viel Spass beim Lesen. grosse Solidarität entstand und ermöglichte un- geahnte Energien. Aber Moment ... eigentlich ist dies ihre Kern- Gabriele E. Rauser kompetenz der sozialen Arbeit, ihre Stärke und Geschäftsführerin Integras THEMA 3
Eine Perspektive auf die Kinderrechte Lorène Métral Responsable Suisse Latine Integras Dies sind besondere Zeiten. Die Covid-19-Pandemie hat unsere Routine abrupt gestört. Wie in allen Krisenzeiten hat sich unsere Sicht auf das tägliche Leben plötzlich verändert. Wir entdecken den Wert der Dinge wieder, die in unhinterfragten Alltagsroutinen unsichtbar geworden sind: das Recht auf Gesundheit und die Bedeutung eines starken Krankenhauswesens; das tägliche Engagement von Menschen, die sich für Kranke und Pflegebedürftige einsetzen; das Recht auf familiäre Beziehungen und die Stärke der Bindungen zu denen, die uns kostbar und wertvoll sind; die Freuden, kommen und gehen zu können, die Freiheit sich zu treffen und zusammen zu sein. Wir entdecken nicht nur die Bedeutung unserer Situation der Gefahr oder Unsicherheit befinden. Grundwerte wieder, sondern können in dieser Si- Einige Rechte laufen Gefahr, durch die Dringlich- tuation unsere Sicht schärfen. Auf eine besondere keit der Umstände vergessen zu werden, obwohl Weise sehen wir auf die komplexen Systeme, die sie gerade in Krisenzeiten genauso wichtig sind: eingerichtet wurden, um die Bildung und Be- das Recht auf den Schutz der Beziehungen von treuung von Kindern und Jugendlichen sicherzu- Kindern und Jugendlichen, die von einem oder stellen, die Schutz und eine vorübergehende oder beiden Elternteilen getrennt sind; das Recht auf kontinuierliche Unterbringung benötigen. Beteiligung von Kindern und Jugendlichen an Die Bedeutung der interdisziplinären Arbeit und Entscheidungen, die sie betreffen; das Recht auf der Zusammenarbeit zwischen den verschiede- klare und angemessene Informationen; das Recht nen Akteur_innen tritt in den Vordergrund, wie auf Bildung; das Recht auf Privatsphäre und die beispielsweise die Zusammenarbeit zwischen Frage der Aufrechterhaltung sozialer Beziehun- Heimen, Familien, Kinderschutzdiensten, Gesund- gen, insbesondere für Jugendliche. Die Situation heits- und Bildungsfachleuten für die bestmögli- ist ernst zu nehmen, und es ist unerlässlich, che Betreuung und Unterstützung der Kinder und koordiniert und kohärent zu handeln, um das Jugendliche in Heimen. Die Notwendigkeit der Wohlergehen von Kindern und Jugendlichen zu Solidarität liegt auf der Hand. gewährleisten und sie bestmöglich zu unter- stützen. Gleichzeitig, und trotz dieser wiedergewonnenen Weitsicht, schafft Covid-19 auch das Risiko, dass Trotz der herausfordernden Situation behalten wir etwas ausser Sicht lassen: Der Rückzug in die viele Fachpersonen die Lage besonders aufmerk- Privatsphäre macht bestimmte Kontexte unsicht- sam im Auge. Wir sehen sehr viele Initiativen, die bar, und es müssen Lösungen gefunden werden, den unterschiedlichen Bedürfnissen und Rechten um das Recht auf Schutz von Kindern und von Kindern und Jugendlichen vermehrt Aufmerk- Jugendlichen zu gewährleisten, die sich in einer samkeit schenken. Es wurde eine Vielzahl von THEMA 4
Tipps und Hilfsmitteln entwickelt, um das Virus mit der entsprechenden Sprache zu erklären, auch für Kleinkinder. Die Fachpersonen in den Heimen leisten eine enorme Arbeit bei der Unter- stützung der Kinder und Jugendlichen in ihrem täglichen Leben, aber auch bei der Aufrecht- erhaltung des Kontakts zu ihren Familien und Ver- wandten durch alternative Mittel, einschliesslich der Nutzung neuer Medien. Zusätzlich sind sie bemüht, den jungen Menschen die verschiedenen Kontext- oder Entscheidungsabläufe genau zu erklären. Lorène Métral, Kinderrechtsspezialistin, ist seit anfangs 2020 bei Integras als Ist es in diesen besonderen Zeiten möglich, noch Responsable Suisse Latine tätig. aufmerksamer auf die Rolle und die Partizipation von Kindern und Jugendlichen zu achten? Wäre diese Offenheit und Dynamik bei der Umsetzung von Lösungen nicht ein Reflex, den es beizube- halten gilt? Trotz des Bruchs, den diese Pandemiesituation verursacht hat, sollten wir sie als eine Gelegen- Integras erarbeitete eine Publikation zu heit betrachten, Situationen, die wir vielleicht Kinderrechten für die Praxis der Kinder- und zu gut kannten, neu zu betrachten. Die Rechte Jugendhilfe. Dieser Leitfaden setzt sich aus des Kindes sind in diesem Zusammenhang ein thematischen «Fichen» zusammen, in denen wesentliches Merkmal, um kreative, aufmerk- jeweils ein Kinderrechtsthema wie bspw. same und sinnvolle Massnahmen zu ergreifen. zum Respekt der Herkunftskultur, zur Platzie- Lassen Sie uns bewährte Praktiken austauschen, rung im Ausland, zu polizeilichen Inter- Ressourcen zuteilen und Verbindungen stärken, ventionen usw. erläutert wird. Die «Fichen» damit die Erkenntnisse aus dieser besonderen behandeln wie dieses Thema bisher in der Situation über die Krise hinaus Bestand haben: Rechtspraxis interpretiert wird und was die für die Kinder und Jugendlichen, und um Perspek- Gesetzesartikel aus der Konvention und die tiven zu öffnen. Richtlinien für die Umsetzung in der Praxis der Fremdplatzierung bedeuten. Der Leitfaden ist auf Französisch erhältlich: Explorer les droits de l‘enfant placé › Bestellen THEMA 5
Neue Chancen und Hindernisse – Gedanken aus dem Sonderschul- bereich Andreas Wild-Studer Gesamtleiter Sonderschulheim Mauren Zu Beginn des «Lockdowns» sahen wir eine erste die Unterrichtsinhalte bei vielen Kindern im Phase mit Unsicherheiten über die Gefährlich- praktischen Handeln liegen und die elektroni- keit der Situation, über die Massnahmen und die schen Hilfen dabei nicht das Mittel erster Wahl daraus folgenden Konsequenzen. Es entstanden sind. Eine weitere Herausforderung zeigt sich Ängste, aber es war sicher auch eine Portion bei einzelnen Eltern, die von der Notwendigkeit Spannung und Sensation mit dabei. Es gab das einer Sonderschulung nicht überzeugt sind, und Gefühl des Ausgeliefertseins, aber auch die nun die Gelegenheit nutzen, um ihre Kinder vom Notwendigkeit, aktiv zu werden. In der Schule Unterricht abzuschirmen. Hinzu kommt, dass bei sollten wir innert weniger Tage Fernunterricht manchen Familien die Lebensverhältnisse prekä- konzipieren und organisieren sowie die internen rer geworden sind. Oder es tauchen bei Eltern mit und externen Kommunikationskanäle aus- und unsicheren Arbeitsstellen nun grosse Zukunfts- aufbauen. Das haben wir geschafft. Die Heraus- ängste auf und die Prioritäten verschieben sich, forderung entfesselte viel Kraft und Ideen, damit was die Lernvoraussetzungen für manche Kinder innerhalb kürzester Zeit sowohl alle Kinder und verschlechtert. Eltern wie auch die Mitarbeiter_innen das Me- dium «Videokonferenz» bedienen konnten. Die Vorgabe, keinen Präsenzunterricht anzubie- ten, die Betreuung minimal zu halten und den Seit den Frühlingsferien sind wir in einer zweiten BAG-Empfehlungen immer zu folgen, können wir Phase: Wir müssen durchhalten. Daran, dass wir sicher grösstenteils, aber nicht immer einhalten. uns zur Begrüssung wohl längere Zeit nicht mehr Hier helfen unsere guten räumlichen Voraus- die Hand geben und Abstand voneinander halten setzungen und der Austausch mit den anderen müssen, haben wir uns schon etwas gewöhnt. Sonderschulen im Kanton. Wir beobachten in dieser Phase, dass die Be- lastungen zu Hause und damit der Wunsch nach Betreuung zunehmen. Wir haben die personellen und materiellen Mittel, hier gute Unterstützung zu bieten. Zum 125-jährigen Bestehen der Beim Fernunterricht werden ökonomische und Sonderschule wird diesen Sommer technische Schwierigkeiten zu Hause deutlich. Es eine Jubiläumsschrift veröffentlicht, fehlen an manchem Ort brauchbare Computer, die verschiedene Aspekte aus der das technische Wissen der Eltern oder schlicht Geschichte der Institution beleuchtet. das Geld, beispielsweise für Druckerpatronen. Darunter ist auch ein Kapitel über Als heilpädagogische Schule verfügen wir nicht Epidemien und Quarantäne zu finden. über Klassensets mit Tablets oder Laptops, weil THEMA 6
Eine erste Zwischenbilanz führt nun zu Erkennt- mittelbaren Kontakt und Dialog angewiesen und nissen, die wir ohne die Krise nicht so intensiv funktioniert auf die Dauer nicht per Fernunter- erlebt hätten, und die Hinweise für unsere Arbeit richt. Wir sehen die Wichtigkeit, die Strukturen im «Normalbetrieb» liefern. und Mittel in unserer Schule auf einem so guten Stand zu halten, dass wir eine solche Krise jeder- Die unfreiwilligen und plötzlichen Einschrän- zeit meistern können. Eine gute Informatik-Lö- kungen zwingen uns und die Familien zu neuen sung erleichtert die Kommunikation, geeignete Wegen und Mitteln. Für diejenigen, die das als Räume und genügend Mitarbeitende sind die Herausforderung sehen, ist es eine sehr interes- Voraussetzung dafür, dass wir belastete Familien sante Zeit. Wer hingegen vor allem die verlorenen entlasten können. Freiheiten sieht und/oder von den Entscheidun- gen anderer abhängig ist, wird diese Wochen Als wichtigste Güter erscheinen allerdings das als grosse Belastung erleben. Es wird zurzeit Vertrauen der Eltern zu unserer Schule und ein deutlich, wie stark Haltungen und Ressourcen Team aus Mitarbeitenden, welche mit vielen den Umfang und die Qualität der Unterstützung Ideen, Flexibilität und Tatkraft Lösungen für alle für die Kinder bestimmen. Der Lernerfolg ist Arten von Problemen finden. stark davon abhängig, ob die Eltern das nötige Verständnis für die angebotenen Inhalte und Me- thoden haben. Wir sehen deutlich, wie wichtig es ist, die Lebensumstände der Kinder gut zu kennen und mit den Eltern einen regen Austausch über schulische Inhalte zu haben. Da die Eltern viel enger mit den Kindern lernen und so einen tieferen Einblick in die Schule bekommen, müssen die Lehrkräfte die Zielset- zungen und Lernangebote ihnen gegenüber ganz anders erklären und verantworten. Die techni- schen Geräte eröffnen neue Möglichkeiten: Wir schicken Aufgaben per E-Mail, kommunizieren mit den Eltern und Kindern nicht nur per Telefon, sondern auch per Chat oder Bildtelefon. Einiges werden wir in die Zeit nach Corona übernehmen. Es wird aber auch deutlich sicht- bar, dass die digitale Transformation eh schon benachteiligte Menschen zusätzlich ausschliesst Andreas Wild-Studer leitet das Sonder- und beschämen kann, indem offengelegt wird, schulheim Mauren seit 19 Jahren. Das Son- wo die Voraussetzungen für technik-unterstütztes derschulheim Mauren ist eine Tagesschule Home-Office und Home-Schooling nicht vor- für Kinder, die in ihrem Lernvermögen stark handen sind. eingeschränkt sind und für die die Regel- schule kein passendes Angebot hat. Die 60 Einzelne Kinder überraschen mit ihrer Selbst- Kinder im Alter von 4–18 Jahren zeigen eine ständigkeit und werden in Zukunft von uns wohl grosse Bandbreite von Beeinträchtigungen mehr Freiräume bekommen. Bei den meisten und Bedürfnissen, persönlichen Geschichten zeigt sich, wie wichtig die engen Strukturen und und Lebensbedingungen. Führung sind. Die direkte Nähe zu den Schü- ler_innen fehlt, ein Teil der Kommunikation wird abgeschnitten. Gute Heilpädagogik ist auf un- THEMA 7
Sicherheit im Alltag finden Integras im Gespräch mit Jany Martin, Schulleiter Schule Friedheim Die Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen hat sich mit Beginn der Krise massgebend verändert. Einen Alltag herzustellen ist hierbei für die Heime eine zusätzliche Herausforderung. Im Gespräch mit Integras erzählt Jany Martin, Schulleiter der Schule Friedheim, welche Auswirkungen das Virus auf den Alltag der Kinder und Jugendlichen hat und mit welchen Massnahmen sie auf die Krise reagieren. Herr Martin, wie ist die aktuelle Situation in der Schule Friedheim? Jany Martin: Aufgrund der aktuellen Situation können einige Kinder und Jugendliche nicht nach Hause gehen. Somit sind sie stets in der Schule Friedheim. Das bedeutet auch, dass wir – soweit möglich – einen geordneten und strukturierten Tagesablauf mit ihnen organisieren. Dies, damit die Sicherheit auf allen Ebenen gewährleistet ist, aber auch um irgendwann den Übergang zur «alten Normalität» einfacher zu gestalten. Denn, wenn für längere Zeit alles ausser Kraft gesetzt ist, muss ganz schön viel zusätzlich aufgeräumt werden. Irgendwann werden sich die Hiergebliebenen mit den daheimgebliebenen Kindern wieder mischen. Und je mehr Bekanntes und Erfolgreiches erhalten bleibt, desto schneller fügen sich diese beiden Seiten wieder zusammen. THEMA 9
Wie sieht der Heimalltag aus? Martin: Zurzeit sind etwa noch 1/3 der Kinder und Jugendlichen im Internat. Das Wohnen wird Unsere Hauswirtschaft achtet im gewohnten Rahmen gestaltet mit gemeinsa- speziell darauf, dass es allen mem Kochen, Essen und Spielen. Die Ämtlis sind gut geht. Sie führte einen zu erledigen und Diskussionen, Austausch und täglichen «Durchhalte-Znüni» gemeinsames Planen – in eingeschränkter Form ein. Das hebt die Stimmung. – gehören zum täglichen Ablauf. Unsere zentrale Aufgabe ist jetzt: Den Kindern und Jugendlichen Sicherheit bieten, sich mit ihren Ängsten ausein- andersetzen und Antworten auf ihre Fragen zur Situation finden. Gibt es weiterhin einen Was hilft ihnen zurzeit am meisten? Schulunterricht? Martin: Eine grosse Unterstützung ist der Zivil- Martin: Die Kinder und Jugendlichen, die im schutz! Die eingeteilten Männer helfen unglaub- Internat wohnen, gehen soweit wie möglich im lich motiviert mit. So haben wir aktuell genügend gewohnten Tagesrhythmus zur Schule. Die Schul- Zeit zum Planen, was in einer verstärkten Krise zeiten sind mehrheitlich die gleichen geblieben. alles auf uns zukommen könnte. Wir arbeiten die Zivilschützer so ein, dass sie im logistischen Wie ist die Situation bei den Bereich zentrale Arbeiten übernehmen und Kindern, die nach Hause gingen? in der Betreuung eingesetzt werden können. Auch achten sie mit uns auf die Reinigung und Martin: Auch die Wohngruppen haben regen Hygiene in den Häusern. Wir üben immer wieder Austausch mit den Eltern, den Kindern und Notfallsituationen: So sind wir zum Beispiel Jugendlichen. Seitens der Schule verschicken wir bereits mehrmals von der Küche des Zivilschutzes wöchentlich Heimarbeiten in dicken Kuverts mit beliefert worden. Damit könnten wir Ausfälle im einem frankierten Rückantwortumschlag. So hat Personalbereich oder in Quarantänesituationen sich ein Hin und Her eingestellt und die Lehr- abfedern. personen telefonieren oft mit den Schüler_innen. Auch die Kinder und Jugendlichen rufen vermehrt In vielen Bereichen wird nun verstärkt an, da sie Fragen haben oder einfach mit uns digital gearbeitet. Wie ist das bei euch? reden möchten. Sie machen das mehrheitlich sehr gut. Martin: Wir haben neu «Microsoft-Teams» einge- richtet, eine Austausch- und Aufgabenplattform, die wir nach und nach aufbauen. Die Lehrper- sonen werden darin geschult und ebenfalls die Mit den Kindern und Jugend- Schüler_innen, in erster Linie jene daheim, damit lichen zu Hause sind wir täglich auch ein visueller Kontakt möglich ist. Über die in Kontakt. Plattform können wir Arbeiten direkt und prompt zuteilen oder ein Kolloquium einrichten. Und was ganz wichtig ist: Wir schreiben den da- heimbleibenden Kindern und Jugendlichen auch einfach einmal eine Karte, unterschrieben von allen, die an diesem Tag im Friedheim sind. THEMA 10
Die Schule Friedheim ist ein Schulheim in der Gemeinde Bubikon im Zürcher Oberland. Im Schulheim leben Kinder und Jugendliche der Mittel- und Oberstufe. Sie erhalten eine individuelle Betreuung in der Wohngruppe und Förderung in einer der drei Schulklassen. THEMA 11
«Eine vorübergehende Rück- platzierung zur Herkunfts- familie ist keine Option» Renato Levantino Geschäftsführer Fachverband Sozialpädagogi- scher Kleininstitutionen Schweiz (SKI) durch das Leiterpaar geleistet. Es muss dem Kind vermitteln, dass es auch in dieser unsicheren Situation vertraute Erwachsene an seiner Seite Die Pandemie ist für viele Kinder und deren hat. Das garantiert für die Kinder Kontinuität, Unterstützungssysteme nicht nur eine Umstel- was ihnen Sicherheit vermitteln kann und dazu lung, sondern eine zusätzliche Belastung des verhilft, Ängste abzubauen. Da aufgrund des Alltags. Für die Kinder hat sich einiges in ihrem eigenen Gesundheitsrisikos mehrere interne Alltag geändert: die Umstellung der Schule, der Mitarbeiter_innen ausgefallen sind, haben einige Ausfall von Freizeitaktivitäten und Treffen mit Kleinstinstitutionen ihre internen Stellenprozente Freunden usw. Darüber hinaus sind Therapien teil- aufgestockt und zusätzlich Fachpersonal anstel- weise oder gesamthaft ausgefallen, da sie nicht len müssen. In unserem Bereich, in welchem wir als Notfallbetreuung bzw. systemrelevant gelten. mit Beziehung und Bindung arbeiten, ist es für In Anlehnung an die Richtlinien des Bundesamts die Kinder verständlicherweise schwierig, rasch für Gesundheit (BAG) sind die Wochenend- und neue Bezugspersonen anzunehmen, vor allem Ferienaufenthalte bei den Herkunftsfamilien bei einer Vollzeitbetreuung. Daneben ist die Ein- und/oder den Entlastungsfamilien nicht mehr arbeitungszeit neuer Mitarbeiter_innen nicht zu möglich, da sie ein zusätzliches Verbreitungs- und unterschätzen und bedeutet für das Team eben- Ansteckungsrisiko darstellen. Aus einer fachlichen falls einen Mehraufwand. Eine Frage die hierbei Perspektive kommt eine kurzfristige Rückplatzie- ungeklärt bleibt, ist, wie sich die Leitung und rung in die Herkunftsfamilie bei den Kindern, die das Team in dieser Situation genügend erholen in einer Kleinstinstitution leben, nicht in Frage. Es können. Welche Entlastungsmöglichkeiten gibt es ist für die Familien, für die Kinder und auch für für diese Fachpersonen? uns nicht absehbar, wie lange die Situation so bleibt. Diese Situation löst bei Kindern, die bereits biografisch vorbelastet oder gar traumatisiert sind, Ängste und ein Gefühl der Unsicherheit aus. Eine Rückplatzierung wäre zu diesem Zeitpunkt eine zusätzliche Belastung für die Kinder und deren Familien. Solche Übergänge in die Her- kunftsfamilien müssen langfristig geplant und alle Betroffenen müssen begleitet werden. Die Krise hat somit Unsicherheit in bereits vulnerable Systeme gebracht, die durch einen Mehraufwand durch Fachpersonen aufgefangen werden müssen. Dieser Mehraufwand des Fach- personals wird bei Kleinstinstitutionen vor allem THEMA 12
Die vorgegebenen Massnahmen bringen neben diesen Fragen auch Paradoxien im Alltag hervor, auf die wir keinen Einfluss haben: Während sich die Kinder und alle Mitarbeitenden innerhalb der Kleininstitution an das «Social Distancing» halten müssen, und die Kinder als Konsequenz keine Freizeit mit ihren Herkunftsfamilien verbringen können, kann diese Distanz durch Mitarbeiter_in- nen nicht konsequent umgesetzt werden, da diese in ein eigenes soziales Umfeld eingebettet sind. Renato Levantino und seine Ehefrau Wir können in der Krise aber auch Chancen führen seit 25 Jahren eine eigene Klein- sehen. Einigen Kindern und Jugendlichen gelingt institution im Emmental im Kanton Bern. es, die neuen Medien zweckmässig zu nutzen. Seine Kleininstitution ist in der Auslaufphase Sie probieren Videotherapie aus oder haben per und wird Ende dieses Jahres aufgelöst. Seit Skype Kontakt mit ihren Eltern. Kleinstinstitu- einem Jahr ist Renato Levantino Geschäfts- tionen melden uns zurück, dass die Bindungen führer des Fachverbands Sozialpädagogi- und Beziehungen sogar vertieft werden konnten sche Kleininstitutionen Schweiz (SKI), ein und sich der Alltag entschleunigt hat. Bedingt gemeinnütziger, politisch unabhängiger und durch weniger Termine ergibt sich ein Freiraum konfessionell neutraler Verein. Er vertritt die für eigene Projekte und Gruppenerlebnisse Interessen und Anliegen der angeschlosse- innerhalb der Kleinstinstitution. Diese Dinge sind nen Kleininstitutionen und ihrer nicht ausser Betracht zu lassen. Dennoch können Betreuungsform. Videocalls nicht längerfristig zu einer besseren Beziehung beitragen. Vor allem nicht innerhalb jener Familiensysteme, die durch Sprachlosigkeit geprägt sind. Unsere Kinder und deren Unterstützungssyste- me sind aktuell sehr gefordert, neue Strategien in einem Bereich zu entwickeln, in welchem Ressourcen knapp sind. Umso mehr dürfen diese Kinder nicht vergessen werden. THEMA 13
Beziehungsarbeit während des «Lockdowns» Integras im Gespräch mit Julia Kapp, Subito Kriseninterventionen AG Julia Kapp, Geschäftsleiterin Subito Kriseninterventionen AG, berichtet im Ge- spräch mit Integras, welche Herausforderungen und Chancen sich in der Bezie- hungsarbeit für die Familienpflege nach den bundesweiten Massnahmen der Corona-Krise zeigen. Einerseits interessierte uns, wie die Fachpersonen ihrem Auftrag während des «Lockdowns» nachgehen können, andererseits fragten wir uns, wie die Familien mit der Krise umgehen. In ihrem spannenden Bericht beleuchtet Julia Kapp die Beziehungsarbeit im Dreieck zwischen Kindern, deren Eltern und den Pflegeeltern. Frau Kapp, welche Auswirkungen hat die Krise auf euch? Julia Kapp: Die Auswirkung des sogenannten «Lockdowns» ist vor allem für die Kinder und Jugendlichen massiv, da sie ihre Wochen- enden nicht mehr mit ihren Herkunftsfamilien verbringen können. Aber auch der Alltag der Eltern, Geschwister sowie der Pflegefa- milien wurde komplett umgestellt. Hierdurch hat sich auch unsere Arbeit als Fachmitarbeiter_innen verändert. Noch stärker als zuvor ist es in unserem Fachbereich wichtig, die Eltern-Kind-Beziehung zu schützen und zu begleiten. Aufgrund der aussergewöhnlichen Lage stellt die Pflege der Eltern-Kind Bezie- hung für die Herkunftsfamilien eine grosse Herausforderung dar. Was heisst das genau? Kapp: In normalen Zeiten können die Kinder und Jugendlichen jedes oder jedes zweite Wochenende nach Hause. Aufgrund des «Lockdowns» mussten diese Wochenendurlaube eingestellt wer- den, damit das Virus nicht verbreitet wird. Das heisst, die Kinder sind vorübergehend «Vollzeit» bei den Pflegeeltern. Damit sie jedoch weiterhin Kontakt und eine Beziehung mit ihren Eltern halten können, haben wir auf verschiedene Möglichkeiten des virtuellen Kontakts umge- stellt: FaceTime/WhatsApp/Skype. Somit können die Eltern weiter- hin ihre Kinder «sehen». Oder die Kinder und Jugendlichen können THEMA 14
Die Auswirkung des «Lockdowns» ist für die Kinder und Jugend- lichen, ihre Familien und Pflege- der Gesundheit der Kinder und Jugendlichen und familien massiv. Ihr Alltag wurde der Dienstelle für Soziales und Gesundheit. Wir komplett umgestellt. mussten aber auch eine Balance zwischen dem Kindswohl, der Sorgfaltspflicht gegenüber den Pflegeeltern, Kindseltern, Kindern und Jugend- lichen sowie den Besuchsrechten finden. sich mit ihren Eltern bei Spaziergängen treffen. Was hat sich im Alltag der Familien, Zum Glück spielt das Wetter so toll mit. Kinder und Jugendlichen geändert? Wie seid ihr zur Entscheidung gekommen, Kapp: Die Kinder und Jugendlichen betonen, dass die Kinder nun bei den Pflegeeltern wie schön es sei, dass sie keine Schule haben. bleiben? Vor allem ermöglicht die neue Lebenslage ein tieferes, gegenseitiges Kennenlernen sowohl für Kapp: Diese Entscheidung wurde in jedem Fall die Kinder und Jugendlichen wie auch für die individuell geprüft. Hierzu orientierten wir uns Pflegeeltern. an den Empfehlungen des Bundes zum Schutz «Die Kinder und Jugend- lichen wie auch wir merken, dass virtueller Kontakt nicht die persönliche Begegnung ersetzen kann.» THEMA 15
So berichtet eine Pflegefamilie: «Man lernt festigen kann, ist die Beziehungsgestaltung zwi- sich besser kennen, kommt sich näher als sonst schen den leiblichen Eltern und Kindern zurzeit und entdeckt neue Seiten. Auch tauchen neue nur bedingt möglich. So müssen sich einige Eltern Gesprächsthemen auf – welche ansonsten oft und Kinder am Ende der Krise wieder von neuem auf den Schulalltag begrenzt bleiben – und die annähern. Diese Ängste teilen die Eltern mit Gespräche sind tiefer und persönlicher.» uns. Sie sind eine Konsequenz aus den jetzigen bundesweiten Massnahmen. Wir bestärken die Die neue Lebenskonstellation bringt jedoch auch Eltern in der Beziehungsarbeit weiterhin präsent Herausforderungen mit sich. Es braucht bei- zu bleiben, beispielsweise durch regelmässige spielsweise von allen Seiten ein Bewusstsein von Telefonate oder Spaziergänge. Leider ist dies auf- Nähe, Distanz und Abgrenzung. Die Herkunfts- grund der sozioökonomischen und/oder gesund- und Pflegefamilien können in dieser Situation heitlichen Lage nicht bei allen Eltern möglich. nicht allein gelassen werden, sondern brauchen Wir unterstützen die Eltern dann auch bei der Ansprechpersonen. Neben den Fragen zur Er- Anschaffung von Geräten und in der Anwendung ziehung oder auch zu Strategien im Umgang von sozialen Medien. miteinander wollen die Familien Aufklärung über die bundesweiten, kantonalen und behördlichen Massnahmen. «Man lernt sich besser kennen, Ist Beziehungsarbeit in Zeiten kommt sich näher als sonst der Krise noch möglich? und entdeckt neue Seiten.» Kapp: Die Situation fordert von den Fachpersonen neue Ansätze in der Beziehungsarbeit. Womöglich sind diese neuen Möglichkeiten über soziale Me- dien oder FaceTime etc. sogar altersadäquater als die wöchentlichen Gespräche vor Ort. Die Kinder und Jugendlichen wie auch wir merken jedoch, dass nichts desto trotz die persönlichen Be- gegnungen fehlen. Nicht jedes Thema kann über die sozialen Medien besprochen werden. Uns ist wichtig, weiterhin eine präsente Ansprechperson für die Bedürfnisse der Kinder, Jugendlichen, Eltern und Pflegeeltern zu sein. Unsere Fachmit- arbeitenden besuchen die Pflegefamilien, Kinder und Jugendlichen nun virtuell oder auch bei Spaziergängen in der nahen Umgebung. Während sich die Beziehung zwischen den Pfle- geeltern und den Kindern und Jugendlichen nun Die Pflegeeltern leisten aktuell ausserordentlich viel. Nebst finanzieller Entschädigung bräuchte es im Sinne von «sozialer Anerkennung» unbedingt ein gesellschaftliches Dankeschön. THEMA 16
Was braucht die Familienpflege für die Zukunft? Kapp: Die Pflegeeltern leisten aktuell ausser- Subito Kriseninterventionen AG ist eine ordentlich viel. Innert kürzester Zeit mussten sie Familienplatzierungsorganisation mit Sitz im sich zum Wohle der Kinder und Jugendlichen der Kanton Luzern. Kindern, Jugendlichen und aktuellen Situation anpassen und Unterstützung jungen Erwachsenen, die kurz-, mittel- bis geben. Es braucht jedoch im Sinne von «sozialer langfristig nicht in ihrem angestammten Anerkennung» unbedingt ein gesellschaftliches Lebensumfeld bleiben können, bietet sie Dankeschön. unterschiedliche Platzierungsformen in Pfle- gefamilien an. Die Kinder und Jugendlichen Hinzu kommt, dass die Kantone und Behörden verbringen ihren Alltag in einer Pflegefami- gemeinsam pragmatische Lösungen finden lie, besuchen die Schule oder verbringen ihre müssen, welche das Kindswohl auch in dieser Tagesstruktur direkt bei der Familie. Sowohl schwierigen Situation unterstützen und die die Pflegefamilie wie auch das Kind oder die Möglichkeiten der Kindseltern und platzierenden Jugendlichen werden dabei eng von einer Stellen bedenken. pädagogischen Fachperson begleitet. THEMA 17
Pflegefamilienbegleitung – Notizen aus der Forschung Daniela Reimer Dozentin, Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) Überall in der Praxis der Pflegekinderhilfe sind in den letzten Wochen grosse Bemühungen zu erkennen, trotz verhängter Kontaktverbote den Umgang zu Pflegekindern und Pflegefamilien zu halten, in der Krise weiter präsent zu sein und Kinder wie Familien zu begleiten. Die Hand- lungszwänge wirken hier produktiv und bringen viel Kreativität und Ideenreichtum unter ext- rem schwierigen Bedingungen hervor. Forschung dagegen ist in der Regel nicht unter diesem Handlungszwang, sondern hat den Aussenblick auf das was in der Pflegekinderhilfe geschieht. Entsprechend gibt es derzeit noch keine Forschungen oder gar Ergebnisse zur Situation von Pflegekindern, Pflegefamilien und Fachkräften unter den Bedingungen des «Lockdowns». Doch auch Forschende machen sich selbstredend Gedanken und stellen ihr Wissen zur Pflege- kinderhilfe in den Kontext der aktuellen Situation. Die folgenden Ausführungen sind einige erste Überlegungen und Notizen dazu, was man aus einer Aussenperspektive in der aktuellen «Lockdown»-Situation für die Pflegekinderhilfe im Allgemeinen lernen könnte. Familien sind enorm leistungsfähige und wie anpassungsfähig und leistungsfähig Pflege- anpassungsfähige Gebilde – und gleich- familien sind und fordert zu grösstem Respekt auf. zeitig auch sehr fragil. Im ganzen Land leisten Die anhaltenden, auch medialen Diskussionen Familien mit Kinderbetreuung, Home-Office und um überforderte Familien verweisen allerdings Kontakteinschränkungen derzeit Unglaubliches. darauf, dass Familien auch sehr fragile Gebilde Eltern sind im Dauereinsatz, werden zu Privatleh- sind. Von aussen herbeigeführte Veränderungen rer_innen und sind ausserordentlich kreativ in der und Belastungen, auf die die Einzelnen wenig Begleitung ihrer Kinder wie in der Alltagsorganisa- Einflussmöglichkeiten haben, können Familien tion. Das gilt für Pflegefamilien in ganz besonderer in schwere Krisen führen. Familien, die zurzeit Weise. Die physische Präsenz von Fachkräften fällt schlicht überlastet sind mit den Ansprüchen von in der Begleitung überwiegend weg, Pflegefamilien aussen und/oder gar ökonomisch bedroht oder können nicht oder nur wenig auf ihre Unterstüt- wegen Familienmitgliedern, die zu Risikogruppen zungsnetzwerke für Entlastung zurückgreifen, Be- gehören, gesundheitlich besonders gefährdet suchskontakte zu Mitgliedern der Herkunftsfamilie sind, kämpfen sehr damit, ihr Gleichgewicht zu finden kaum oder unter neuen Bedingungen statt behalten. Manchen gelingt dies nur schwer oder und die ständige Nähe in der Pflegefamilie kann nicht. Die Pflegekinderhilfe kann aus der aktuellen für alle Beteiligten zu einer besonderen Heraus- Situation viel für den Umgang mit Pflegefami- forderung werden, die bei manchen Pflegekindern lien lernen. Einerseits gilt es, die Leistungen und auch mit Bewältigungsstrategien einhergeht, die Flexibilität von Pflegefamilien viel stärker als für die anderen Familienmitglieder sehr anstren- bisher zu würdigen und bewusst wertzuschätzen gend sind. Dass die meisten Pflegefamilien alle – aus der Pflegekinderforschung ist bekannt, dass diese Herausforderungen positiv bewältigen, zeigt, Pflegeeltern sich vor allem Wertschätzung für ihre THEMA 18
Tätigkeit wünschen. Andererseits gilt es, nicht nur keit einer dauerhaften Begleitung doch zentral: in der «Lockdown»-Situation einen sensiblen Blick Begleitung von Pflegekindern und Pflegefamilien darauf zu haben, welche Belastungen auf Familien braucht Vertrauen, Vertrauen entsteht nicht im einwirken, die sie überfordern können – und daran Vorübergehen, sondern durch eine dauerhafte und anknüpfend immer wieder zu überlegen, welche regelmässige Begleitung, durch Vertrauenswürdig- Möglichkeiten Fachkräfte haben, Belastungen keit auf beiden Seiten, oft auch durch gemeinsam abzufedern, indem sie der Pflegefamilie Ressour- positiv durchgestandene Krisen. Die Pflegekinder- cen zur Bewältigung zur Verfügung stellen oder hilfe tut gut daran, genau in solche dauerhaften zugänglich machen. vertrauensvollen Begleitungen zu investieren. Generell. Die Bedeutung physischer Präsenz. Für Pflegeeltern und Fachkräfte war es bisher selbst- Welche (Besuchs-)Kontakte sind die wirk- verständlich, auch im physischen Kontakt mitein- lich Wichtigen und was ist eigentlich das ander zu stehen. Wenn Fachkräfte Pflegefamilien Wohl des Kindes? Darüber hinaus regt die besuchen und mit Mitgliedern von Pflegefamilien derzeitige Corona-Krise an, über weitere zentrale sprechen, dann nehmen sie idealerweise sehr Fragen der Pflegekinderhilfe neu nachzudenken intensiv wahr, wie es den Gesprächspartner_innen und sie zu diskutieren. Zum Beispiel darüber, geht, was sie brauchen oder ob es einem Kind in welche Kontakte für das einzelne Pflegekind die einer Familie vielleicht nicht so gut geht, wie dies wirklich Wichtigen sind. Sind das wirklich immer wünschenswert wäre. Im Auswahlprozess von die leiblichen Eltern, zu denen es auch derzeit Pflegefamilien und im Vermittlungsprozess haben weiter Kontakt geben soll? Oder sind das vielleicht Fachkräfte oft ein gutes oder manchmal auch ein doch an manchen Stellen (Halb-)Geschwister, schlechtes «Bauchgefühl», man «spürt» ob die Grosseltern oder andere Personen? Und was ist «Chemie» stimmt oder eher nicht. Durch «Social eigentlich das Wohl des Kindes? Welchen Stellen- Distancing»-Gebote und Begleitung durch Telefon- wert haben physische, psychische und soziale oder Videokonferenzen fällt diese Wahrnehmungs- Dimensionen des Kindeswohls und wie können ebene an vielen Stellen weg. Aktuell ist dies unum- alle diese Dimensionen angemessen berück- gänglich. Dauerhaft könnte die Pflegekinderhilfe sichtigt werden? Solche Fragen können einzelne aus der aktuellen Situation lernen, die oft diffusen Forschende nicht am Schreibtisch beantworten. physischen Wahrnehmungen im persönlichen Dafür braucht es den Diskurs, in der Wissenschaft Kontakt bewusster zu erleben, anzuerkennen und und zwischen Forschung und Praxis. zu dokumentieren – und die physische Präsenz in der Begleitung so noch intensiver zu nutzen. Vertrauen ist der Schlüssel. Fachkräfte be- richten, dass sie sich derzeit am wenigsten Sorgen machen um die Pflegkinder und Pflegefamilien, zu denen bereits vor dem «Lockdown» ein intensiver und vertrauensvoller Kontakt bestand. Bei diesen Kindern und Familien sind sich die Fachkräfte sicher, dass sie die aktuell fordernde Situation gut bewältigen oder sich an sie wenden, wenn Schwierigkeiten auftreten. Sorge bereiten die Kinder und Familien, zu denen der Kontakt nie Dr. phil. Daniela Reimer ist Dozentin eine Vertrauensebene erreicht hat und die in der an der ZHAW im Institut für Kindheit, Begleitung schon immer eher zurückhaltend und Jugend und Familie. Ihre Arbeits- und zurückgezogen waren. Die Erkenntnis klingt viel- Forschungsschwerpunkte sind Pflegekinder leicht banal, aber ist auch aufgrund immer wieder und Pflegefamilien, Normalität und Kultur. aufkommender Diskussionen um die Notwendig- THEMA 19
Zwischen Realitäten und Paradoxien Luca Fumagalli Stv. Leiter Dienst für Erwachsenen- und Jugendschutz Für den ärmsten und verletzlichsten Teil unserer Bevölkerung ist die Eindämmung eine vor- beugende Massnahme, die das Problem eher verschlimmert als es zu lösen. Vor allem Kinder, die aufgrund der Pandemie die Einrichtung verlassen und in dasselbe Familienheim zurück- kehren mussten, aus dem sie entfernt worden waren, um dem Stress, der Böswilligkeit und sogar der psycho-physischen Gewalt ihrer Eltern zu entgehen, befinden sich inmitten eines Paradoxons. Trotz der Pandemie und ihrer widersprüchlichen Folgen muss der Kinderschutz, der im Zen- trum der staatlichen Aufgaben steht, aufrechterhalten und gewährleistet werden: aber wie? Wenn die Fremdplatzierung eines Kindes auf Wechsel stellt, nicht mehr das Recht, zur Schule einem defizitären familiären Umfeld beruht, wie zu gehen. Nach einigen kurzen, möglicherweise kann das Kind dann die Gründe für seine Rück- jubelnden Momenten stellt sich ein Gefühl der kehr in die Familie verstehen, geschweige denn Isolation und Verlassenheit ein: Es ist nicht mehr in Strategien entwickeln, dies zu akzeptieren? Und der Lage, sich seiner Bezugsperson anzuvertrauen, wer kann ihm dabei konkret helfen? Das Kind ist hat keine_n Beschützer_in mehr, an die es sich nicht nur verwirrt, sondern offensichtlich auch wenden kann, hat keine Kamerad_innen mehr, mit allein, ohne Ressourcen und ohne Auswege. Diese denen es den Alltag teilt und keine verlässlichen Distanz zu seinem institutionellen Umfeld, das per Freund_innen mehr, denen es seine Geheimnisse Definition Sicherheit gibt und schützend wirkt, anvertrauen kann. Wenngleich wir alle Momente schafft eine Leere, die umso beunruhigender ist, der Einsamkeit schätzen und dies auch zur norma- als sie zudem eine Sackgasse zu sein scheint. Die len Entwicklung eines jeden Menschen gehört, ob durch die Pandemie hervorgerufene wirtschaft- Kind, Erwachsener oder älterer Mensch, so stürzt liche und soziale Krise, gepaart mit der Angst und uns eine längere Einsamkeit, zudem ohne voraus- Besorgnis jener Eltern, die über eher begrenzte sagbares Ende, in ein Gefühl der Entfremdung. Ressourcen verfügen (insbesondere soziale, psychologische und finanzielle), ist ein Umstand, Zur Abmilderung dieser beunruhigenden Realität der Gewalt (sei diese verbal, symbolisch, physisch) haben alle kantonalen Kinderschutzdienste, die hervorrufen und verstärken kann. ebenfalls mit dieser unvorstellbar langen Pause konfrontiert sind, fast über Nacht begonnen, ihre Darüber hinaus hat das in dieser Situation ge- Methoden der Intervention, Unterstützung, Beglei- fangene Kind, abgesehen davon, dass es sich tung und Betreuung neu zu konzipieren. In erster Fragen zu diesem abrupten und destabilisierenden Linie Sozialarbeiter_innen, aber auch andere Fach- THEMA 20
kräfte, die sich in allen Formen des Hilfesystems weise – die Frage nach der Bewertung des Risikos, befinden, wurden aufgefordert, ihre Praktiken neu nämlich sich einerseits mit dem Virus zu infizieren zu erfinden. Sie suchten nach neuen Wegen, mit und andererseits in Bezug auf das Risiko der sozia- ihren Klient_innen in Kontakt zu treten, arbeiteten len, elterlichen und psychologischen Entfremdung. konkrete, pragmatische und teilweise improvisierte Die Antwort darauf wurde uns vom Bundesamt für Vorschläge aus, um ein Mindestmass an Präsenz Gesundheit (BAG) mit ausreichendem Nachdruck für Menschen mit besonderen Bedürfnissen zu vermittelt. Die Wahl allerdings zwischen kollektiver gewährleisten, und zwar in einem Kontext, in dem Gesundheit und individuellen Kontexten kann es keinen physischen Kontakt gibt. nicht beantwortet werden und lässt uns schlicht mit einem Dilemma zurück. Auch Fachpersonen des Kindesschutzes, sozialpäd- agogische Familienbegleitung und psychologische und psychotherapeutische Unterstützungsdienste sowie – natürlich – Erzieher_innen aus sonder- pädagogischen Einrichtungen waren gezwungen, die soziale Verbindung mit einer virtuellen aus- zutauschen, wobei die visuelle Verbindung glück- licherweise dank der guten Qualität der uns zur Verfügung stehenden Technologie aufrechterhalten werden konnte. Zugegebenermassen kann aber ein Touchscreen eine Beziehung von Angesicht zu Angesicht nicht ersetzen. Darüber hinaus konnten einige Dienstleistungen wegen der Ansteckungs- gefahr schlicht nicht aufrechterhalten werden (z. B. Ausübung des Besuchsrechts, Treffpunkte, Austauschpunkte, externe Betreuung). Covid-19 verlangte Anpassungen, so dass es jetzt etliche Wochen her ist, dass einige Kinder und Eltern sich berühren konnten! Wie alle aussergewöhnlichen, unvorhersehbaren und unerwarteten Ereignisse wird sich jeder Einzel- ne zeitlebens und sehr genau an diesen Frühling des Jahres 2020 und die dadurch verursachten weitreichenden, planetarischen Umwälzungen erinnern. Wir alle werden Erfahrungen zu teilen haben, Erinnerungen, die wir lieber verdrängen möchten und Wunden, die es zu heilen gilt. Die Wochen des «Lockdowns», welche Kinder ge- nerell und vor allem jene, deren Familien benach- teiligt sind oder in einer prekären Situation leben, Luca Fumagalli, lic. phil. I Sozialarbeit & erleiden mussten, haben Folgen: Trotz der Unter- Soziologie, ist derzeit stellvertretender Leiter stützung, welche die öffentlichen Kindesschutz- des Dienstes für Erwachsenen- und Jugend- behörden auf kleiner Flamme bieten konnten, schutz im Erziehungs- und Familiendeparte- mündeten diese Bemühungen bestenfalls in einer ment des Kantons Neuenburg. gewissen Isolation für das Kind, schlimmstenfalls jedoch in einem ungesunden oder gar bösartigen Umfeld. Damit stellt sich spontan – und legitimer- THEMA 21
Ethische Fragen in der Kinder- und Jugendhilfe – Zwischen persönlicher Freiheit und gesellschaftlicher Solidarität Daniela Ritzenthaler Heilpädagogin und Ethikerin Am 16. März 2020 hat der Bundesrat in der Menschen in Institutionen meist stärker isoliert Schweiz die «ausserordentliche Lage» gemäss als z. B. eine Familie, die gemeinsam zu Hause Epidemiengesetz ausgerufen. Das öffentliche und bleiben kann. Einige fremdplatzierte Kinder und gesellschaftliche Leben wurde heruntergefahren, Jugendliche konnten/mussten seit Beginn der die Schulen und die Grenzen wurden geschlos- Krise in der Institution bleiben. In diesen Fällen sen. Damit wurden die demokratischen und können die Kinder und Jugendlichen ihre Her- freiheitlichen Rechte der einzelnen Bürger_innen kunftsfamilie über einen längeren Zeitraum nicht sehr stark eingeschränkt. Die Einschränkung wird sehen. Einerseits zum Schutz bzw. in Solidarität mit dem Schutz der Bevölkerung und dem Erhal- der (Wohn-)Gruppe und andererseits zum Schutz ten der Gesundheit von Vielen und insbesondere von Risikogruppen wurden die Freiheit und der in Solidarität mit den Risikogruppen begründet. Schutz der Gesundheit über den Schutz der Be- ziehung gestellt. Andere Kinder und Jugendliche Die Werteabwägungen, die in dieser Ent- konnten/mussten zu Beginn der Krise zu ihrer scheidung getroffen wurden, sind allerdings Herkunftsfamilie gehen und konnten nicht mehr komplex. Auf der einen Seite wird der Wert der in die Institution zurückkehren. In diesen Fällen persönlichen Freiheit in dieser Krise besonders befürchten Fachpersonen, dass das Kindeswohl hervorgehoben: Es stellt sich die Frage, wie viel gefährdet sein könnte, was nicht unbegründet von der persönlichen Freiheit eingegrenzt werden ist. Das Leben auf engem Raum gestaltet sich für kann? Welche Konsequenzen und ggf. langfris- sozial benachteiligte Familien, die über längere tigen Konsequenzen entstehen bei vulnerablen Zeit in Quarantäne bleiben müssen, als schwierig. Personengruppen? Auf der anderen Seite wird Mit der Aufrechterhaltung der Schutzmass- insbesondere in dieser Notlage eine gesellschaft- nahmen über einen längeren Zeitraum können liche, aktive Solidarität gefordert. zusätzliche Problematiken der psychischen Krise Es stellt sich die Frage: Wie viel Solidarität1 mit als eine Folge der Selbstisolation entstehen. Die den Risikogruppen ist notwendig und wie viel Isolierung ist für fremdplatzierte Kinder und Solidarität kann von Kindern und Jugendlichen in Jugendliche auch schädlich und kann sich negativ Institutionen gefordert werden? auf die Lebensqualität und ebenso auf die Gesundheit auswirken. Hinzu kommt, dass Unter- Fremdplatzierte Kinder und Jugendliche sind im stützungssysteme der Kinder und Jugendlichen, Vergleich zu anderen Menschen schon durch wie zum Beispiel die psychologische Begleitung, ihr Leben in einer Institution in bestimmten nicht als systemrelevant angesehen werden und Belangen des Alltags weniger frei. Gerade diese teilweise komplett ausfallen. Personengruppen werden in ihrem Alltag vom Coronavirus noch stärker eingeschränkt: So be- Diese Überlegungen lassen den Rückschluss zu, stehen z. B. vielerorts Besuchsverbote. Damit sind sich die Frage zu stellen: Brauchen nicht auch THEMA 22
fremdplatzierte Kinder und Jugendliche die Solidarität der Gemeinschaft, damit sie trotz Schutz der Risikogruppen ihre Herkunftsfamilien sehen können und/oder damit für ihr Kindeswohl gesorgt werden kann? Welche Form der Solidari- tät benötigen vulnerable Personengruppen in der Krise? Eine letzte Frage ist, was Solidarität für Berufs- gruppen bedeutet, die ein grosses Risiko auf sich nehmen, selbst angesteckt zu werden? Vielleicht würde Solidarität bedeuten, am Ende der Krise Dr. phil. Daniela Ritzenthaler arbeitet jene Berufe, die systemrelevant sind, stärker an- selbständig als Heilpädagogin, Ethikerin und zuerkennen, z. B. mit einer besseren Bezahlung: Erwachsenenbildnerin: ethikbildung.ch. Dazu gehören Pflegefachpersonen, Detailhandels- angestellte, Angestellte des öffentlichen Dienstes und Fachpersonen der Sozialen Arbeit. Die Zivil- gesellschaft als Ganzes ist gefragt, um in einem deliberativen Diskussionsprozess (siehe Haber- mas), diese Fragen zu debattieren und gemein- sam für die Zukunft Antworten zu formulieren. 1 Solidarität steht zwischen dem Grundrecht der Gerechtigkeit und der freiwilligen Mehrleistung der Wohltätigkeit. Historisch gesehen kam erst später der Gedanke dazu, dass es auch in unterschiedlichen Gruppen «Solidargemeinschaften» gibt, in denen «alle im selben Boot sitzen» (Höffe, 2012, S. 237), in denen man sich auch gewisse Dinge schuldet. Lesen Sie mehr von Daniela Ritzenthaler Literatur Aus der Brunnentagung 2017 Bundesamt für Gesundheit BAG, Gesetzgebung zum Thema Fremdplatzierung und Ethik: Übertragbare Krankheiten – Epidemiengesetz (EpG): Philosophische Fragen zum «Kindswohl» https://www.bag.admin.ch/bag/de/home/gesetze-und- und des «Guten Tuns» bewilligungen/gesetzgebung/gesetzgebung-mensch- gesundheit/epidemiengesetz.html Bundesamt für Gesundheit BAG: https://www.bag. admin.ch/bag/de/home/krankheiten/ausbrueche- epidemien-pandemien/aktuelle-ausbrueche-epidemien/ novel-cov/massnahmen-des-bundes.html (Zugriff am 21.4.2020). Habermas, J. (1991): Erläuterungen zur Diskursethik. Suhrkamp, Frankfurt. Höffe, O. (2002): Lexikon der Ethik. München: Verlag C.H. Beck › Bestellen Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften SAMW (2020): https://www.samw.ch/ de/Ethik/Themen-A-bis-Z/Intensivmedizin.html THEMA 23
Covid-19 und zunehmende «Maltraitance»? Oliver Baud Ehemaliger Vizepräsident Integras Laut der UNICEF-Pressemitteilung vom 23. März früheren Zeiten die Schule- und Schulsozialarbei- 2020 wurden bereits in früheren Gesundheits- ter_innen, wichtige Akteure bei der Verhinderung krisen «ein Anstieg von Kindesmissbrauch und der von Misshandlungen, die Vorfälle gemeldet hätten. Ausbeutung von Kindern verzeichnet. Schul- Was die häusliche Gewalt betrifft, so wurde eine schliessungen aufgrund des Ebola-Ausbruchs reale Zunahme festgestellt. in Westafrika zwischen 2014 und 2016 führten beispielsweise zu einem Anstieg von Kinderarbeit, Ein weiterer beunruhigender Faktor ist, dass fast zu Vernachlässigung, sexuellem Missbrauch und 10 % der Kinder in Genfer Kinder- und Jugend- frühen Schwangerschaften. Allein in Sierra Leone heimen zu Beginn der Pandemie (vorübergehend verdoppelte sich die Anzahl der Teenager-Schwan- oder dauerhaft) zu ihren Familien zurückkehren gerschaften von 7 000 auf 14 000.» konnten. Diese Tatsache ist überraschend und zeigt (vielleicht), dass die Platzierung keine Ultima-Ra- In den Genfer Kinder- und Jugendheimen konnte tio-Entscheidung war. Eine rückwirkende Analyse aus objektiver Sicht kein Anstieg an Notfallplatzie- dieses Phänomens kann uns Einblicke in den rungen festgestellt werden. Wir hatten in diesem Platzierungsprozess und die Alternativen zur Plat- ersten Monat der Pandemie sogar mehrere Not- zierung geben, die vorgeschlagen hätten werden fall-Plätze zur Verfügung. Daraus kann allerdings können, wie z. B. die aufsuchende Familienarbeit nicht zwangsläufig geschlossen werden, dass die (AEMO), die es dem Kind ermöglicht, im familiären Massnahmen zur Eindämmung des Covid-19-Virus Kontext zu bleiben, aber mit spezifischer pädagogi- und die Schliessung der Schulen keine zusätzlichen scher Unterstützung für das Kind und seine Eltern. Probleme mit sich bringen. So berichtet der SRF am 23. April 2020: «Die Zahlen der Waadtländer Das Leben in Kinder- und Jugendheimen während Kindesschutzbehörde, die ein Spiegel der Gescheh- der Zeit des «Lockdowns» war nicht immer nisse in den anderen Kantonen sind und über die einfach, da es an Schulrhythmus und Bewegungs- alle Meldungen laufen, bestätigen diesen Stand freiheit fehlte. Um die Sicherheit von Kindern und der Dinge. Für den gleichen Zeitraum wurden im Fachkräften zu gewährleisten, wurde der Heimkon- vergangenen Jahr 271 Fälle verzeichnet, gegen- text an die strengen Vorgaben des Bundesamtes über 165 in diesem Jahr, und 53 Eltern baten 2019 für Gesundheit (BAG) angepasst. Die Kinder waren um Hilfe, gegenüber 30 während der Zeit des nicht mehr in der Lage, sich direkt mit ihren Eltern «Lockdowns». zu treffen oder Zeit im Elternhaus zu verbringen. Diese Entscheidung war nicht für alle verständlich. Möglicherweise wurde der Filter der sozialen Kon- Einige Eltern und Verwandte haben sogar eine trolle als Folge durchlässiger, so dass Verwandte Petition lanciert, um ihre Kinder «tatsächlich» oder Nachbarn eines Kindes (oder sogar das Kind treffen zu können und nicht über digitale Mittel selbst) keine Meldung machten. Wohingegen in wie Videokonferenzen. Andere Kinder wiederum, THEMA 24
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