Thema CORONAKRISE Fachbeiträge aus der Praxis und Forschung der Sozialen Arbeit - Integras

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Thema CORONAKRISE Fachbeiträge aus der Praxis und Forschung der Sozialen Arbeit - Integras
Thema     Sonderausgabe
                     01/2020

                               CORONAKRISE
                               Fachbeiträge aus der
                               Praxis und Forschung
                               der Sozialen Arbeit

Fachverband Sozial-
und Sonderpädagogik
Association professionnelle
pour l’éducation sociale
et la pédagogie spécialisée
                                     THEMA 1
Thema CORONAKRISE Fachbeiträge aus der Praxis und Forschung der Sozialen Arbeit - Integras
Inhalt
 3   Editorial
     Gabriele Rauser, Geschäftsführerin Integras

 4   Eine Perspektive auf die Kinderrechte
     Lorène Métral, Responsable Suisse Latine Integras

 6   Neue Chancen und Hindernisse – Gedanken aus dem Sonderschulbereich
     Andreas Wild-Studer, Gesamtleiter Sonderschulheim Mauren

 8   Sicherheit im Alltag finden
     Jany Martin, Schulleiter Schule Friedheim

12   «Eine vorübergehende Rückplatzierung ist keine Option»
     Renato Levantino, Geschäftsführer Fachverband
     Sozialpädagogischer Kleininstitutionen Schweiz (SKI)

14   Beziehungsarbeit während des «Lockdowns»
     Julia Kapp, Geschäftsleiterin Subito Kriseninterventionen AG

18   Pflegefamilienbegleitung – Notizen aus der Forschung
     Daniela Reimer, Dozentin, Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW)

20   Zwischen Realitäten und Paradoxien
     Luca Fumagalli, Stv. Leiter Dienst für Erwachsenen- und Jugendschutz

22   Ethische Fragen in der Kinder- und Jugendhilfe –
     Zwischen persönlicher Freiheit und gesellschaftlicher Solidarität
     Daniela Ritzenthaler, Heilpädagogin und Ethikerin

24   Covid-19 und zunehmende «Maltraitance»?
     Oliver Baud, ehemaliger Vizepräsident Integras

                                            THEMA 2
Thema CORONAKRISE Fachbeiträge aus der Praxis und Forschung der Sozialen Arbeit - Integras
Liebe
Leser_innen
Es gibt Daten, an die man sich in aller Deutlich-
keit erinnert. Montag, 16. März 2020 – wer von
den Fachpersonen in der Kinder- und Jugendhilfe,
in den Heimen und in Pflegefamilien erinnert sich
nicht an jenen Montagmorgen, an dem wenig
so war wie vorher? Schliessung der Schulen und
Kitas, Anhalten des öffentlichen Lebens – innert       Gabriele E. Rauser, Geschäftsführerin Integras
kürzester Zeit entstanden viele komplexe Fragen
mit einem dringenden Bedarf nach Antworten.

Bei Integras liefen die Telefone heiss – wir such-     Daseinsberechtigung, dass sie in schwierigsten
ten den Dialog mit der SODK, der KOKES, dem            Lebenssituationen Rahmenbedingungen wieder-
Bundesamt für Justiz und anderen Verbänden.            herstellen, die uns ermöglichen weiterzugehen
Wichtig war, Rückhalt zu schaffen für die Institu-     und Halt und Mut zu finden. Soziale Arbeit ist
tionsleiter_innen und möglichst rasch übergeord-       too important to fail! Wir bedanken uns bei allen
nete Empfehlungen oder Leitlinien in Erfahrung         Beteiligten für die wunderbaren neuen Lösungen,
zu bringen, damit Kinder und Jugendliche auch          für einen neuen Sinn der Zusammenarbeit und
während der Corona-Krise weiterhin gut betreut         hoffentlich auch für neue Erkenntnisse, was alles
werden können.                                         möglich sein kann.

Institutionen der Kinder- und Jugendhilfe              Wir haben Erfahrungen von Experten aus der
haben sehr flexibel und umsichtig reagiert und         Schweiz zusammen getragen – ohne den An-
Rahmenbedingungen für Kinder und Jugendliche           spruch auf Vollständigkeit, aber als Anregung und
geschaffen, die vorher kaum denkbar waren. Die         Austausch für und im Umgang mit dieser ausser-
kantonalen Behörden stellten innerhalb weniger         gewöhnlichen Erfahrung einer Pandemie.
Tage oder sogar innerhalb weniger Stunden
Hotlines bereit, sammelten Fragen und Antworten        Wir bedanken uns bei allen Autor_innen für
und erstellten Guidelines – sie müssen dafür           ihre Unterstützung und ihre tollen Beiträge und
so manche Nachtschicht eingelegt haben. Eine           wünschen Ihnen viel Spass beim Lesen.
grosse Solidarität entstand und ermöglichte un-
geahnte Energien.

Aber Moment ... eigentlich ist dies ihre Kern-         Gabriele E. Rauser
kompetenz der sozialen Arbeit, ihre Stärke und         Geschäftsführerin Integras

                                                 THEMA 3
Thema CORONAKRISE Fachbeiträge aus der Praxis und Forschung der Sozialen Arbeit - Integras
Eine Perspektive
auf die Kinderrechte
Lorène Métral
Responsable Suisse Latine Integras

Dies sind besondere Zeiten. Die Covid-19-Pandemie hat unsere Routine abrupt gestört.
Wie in allen Krisenzeiten hat sich unsere Sicht auf das tägliche Leben plötzlich verändert.
Wir entdecken den Wert der Dinge wieder, die in unhinterfragten Alltagsroutinen
unsichtbar geworden sind: das Recht auf Gesundheit und die Bedeutung eines starken
Krankenhauswesens; das tägliche Engagement von Menschen, die sich für Kranke und
Pflegebedürftige einsetzen; das Recht auf familiäre Beziehungen und die Stärke der
Bindungen zu denen, die uns kostbar und wertvoll sind; die Freuden, kommen und gehen
zu können, die Freiheit sich zu treffen und zusammen zu sein.

Wir entdecken nicht nur die Bedeutung unserer             Situation der Gefahr oder Unsicherheit befinden.
Grundwerte wieder, sondern können in dieser Si-           Einige Rechte laufen Gefahr, durch die Dringlich-
tuation unsere Sicht schärfen. Auf eine besondere         keit der Umstände vergessen zu werden, obwohl
Weise sehen wir auf die komplexen Systeme, die            sie gerade in Krisenzeiten genauso wichtig sind:
eingerichtet wurden, um die Bildung und Be-               das Recht auf den Schutz der Beziehungen von
treuung von Kindern und Jugendlichen sicherzu-            Kindern und Jugendlichen, die von einem oder
stellen, die Schutz und eine vorübergehende oder          beiden Elternteilen getrennt sind; das Recht auf
kontinuierliche Unterbringung benötigen.                  Beteiligung von Kindern und Jugendlichen an
Die Bedeutung der interdisziplinären Arbeit und           Entscheidungen, die sie betreffen; das Recht auf
der Zusammenarbeit zwischen den verschiede-               klare und angemessene Informationen; das Recht
nen Akteur_innen tritt in den Vordergrund, wie            auf Bildung; das Recht auf Privatsphäre und die
beispielsweise die Zusammenarbeit zwischen                Frage der Aufrechterhaltung sozialer Beziehun-
Heimen, Familien, Kinderschutzdiensten, Gesund-           gen, insbesondere für Jugendliche. Die Situation
heits- und Bildungsfachleuten für die bestmögli-          ist ernst zu nehmen, und es ist unerlässlich,
che Betreuung und Unterstützung der Kinder und            koordiniert und kohärent zu handeln, um das
Jugendliche in Heimen. Die Notwendigkeit der              Wohlergehen von Kindern und Jugendlichen zu
Solidarität liegt auf der Hand.                           gewährleisten und sie bestmöglich zu unter-
                                                          stützen.
Gleichzeitig, und trotz dieser wiedergewonnenen
Weitsicht, schafft Covid-19 auch das Risiko, dass         Trotz der herausfordernden Situation behalten
wir etwas ausser Sicht lassen: Der Rückzug in die         viele Fachpersonen die Lage besonders aufmerk-
Privatsphäre macht bestimmte Kontexte unsicht-            sam im Auge. Wir sehen sehr viele Initiativen, die
bar, und es müssen Lösungen gefunden werden,              den unterschiedlichen Bedürfnissen und Rechten
um das Recht auf Schutz von Kindern und                   von Kindern und Jugendlichen vermehrt Aufmerk-
Jugendlichen zu gewährleisten, die sich in einer          samkeit schenken. Es wurde eine Vielzahl von

                                                    THEMA 4
Thema CORONAKRISE Fachbeiträge aus der Praxis und Forschung der Sozialen Arbeit - Integras
Tipps und Hilfsmitteln entwickelt, um das Virus
mit der entsprechenden Sprache zu erklären,
auch für Kleinkinder. Die Fachpersonen in den
Heimen leisten eine enorme Arbeit bei der Unter-
stützung der Kinder und Jugendlichen in ihrem
täglichen Leben, aber auch bei der Aufrecht-
erhaltung des Kontakts zu ihren Familien und Ver-
wandten durch alternative Mittel, einschliesslich
der Nutzung neuer Medien. Zusätzlich sind sie
bemüht, den jungen Menschen die verschiedenen
Kontext- oder Entscheidungsabläufe genau zu
erklären.                                                     Lorène Métral, Kinderrechtsspezialistin,
                                                                ist seit anfangs 2020 bei Integras als
Ist es in diesen besonderen Zeiten möglich, noch                   Responsable Suisse Latine tätig.
aufmerksamer auf die Rolle und die Partizipation
von Kindern und Jugendlichen zu achten? Wäre
diese Offenheit und Dynamik bei der Umsetzung
von Lösungen nicht ein Reflex, den es beizube-
halten gilt?

Trotz des Bruchs, den diese Pandemiesituation
verursacht hat, sollten wir sie als eine Gelegen-
                                                                Integras erarbeitete eine Publikation zu
heit betrachten, Situationen, die wir vielleicht
                                                              Kinderrechten für die Praxis der Kinder- und
zu gut kannten, neu zu betrachten. Die Rechte
                                                              Jugendhilfe. Dieser Leitfaden setzt sich aus
des Kindes sind in diesem Zusammenhang ein
                                                             thematischen «Fichen» zusammen, in denen
wesentliches Merkmal, um kreative, aufmerk-
                                                               jeweils ein Kinderrechtsthema wie bspw.
same und sinnvolle Massnahmen zu ergreifen.
                                                             zum Respekt der Herkunftskultur, zur Platzie-
Lassen Sie uns bewährte Praktiken austauschen,
                                                                rung im Ausland, zu polizeilichen Inter-
Ressourcen zuteilen und Verbindungen stärken,
                                                              ventionen usw. erläutert wird. Die «Fichen»
damit die Erkenntnisse aus dieser besonderen
                                                               behandeln wie dieses Thema bisher in der
Situation über die Krise hinaus Bestand haben:
                                                              Rechtspraxis interpretiert wird und was die
für die Kinder und Jugendlichen, und um Perspek-
                                                              Gesetzesartikel aus der Konvention und die
tiven zu öffnen.
                                                              Richtlinien für die Umsetzung in der Praxis
                                                                    der Fremdplatzierung bedeuten.

                                                              Der Leitfaden ist auf Französisch erhältlich:
                                                                 Explorer les droits de l‘enfant placé

                                                                             › Bestellen

                                                   THEMA 5
Thema CORONAKRISE Fachbeiträge aus der Praxis und Forschung der Sozialen Arbeit - Integras
Neue Chancen und Hindernisse –
Gedanken aus dem Sonderschul-
bereich
Andreas Wild-Studer
Gesamtleiter Sonderschulheim Mauren

Zu Beginn des «Lockdowns» sahen wir eine erste             die Unterrichtsinhalte bei vielen Kindern im
Phase mit Unsicherheiten über die Gefährlich-              praktischen Handeln liegen und die elektroni-
keit der Situation, über die Massnahmen und die            schen Hilfen dabei nicht das Mittel erster Wahl
daraus folgenden Konsequenzen. Es entstanden               sind. Eine weitere Herausforderung zeigt sich
Ängste, aber es war sicher auch eine Portion               bei einzelnen Eltern, die von der Notwendigkeit
Spannung und Sensation mit dabei. Es gab das               einer Sonderschulung nicht überzeugt sind, und
Gefühl des Ausgeliefertseins, aber auch die                nun die Gelegenheit nutzen, um ihre Kinder vom
Notwendigkeit, aktiv zu werden. In der Schule              Unterricht abzuschirmen. Hinzu kommt, dass bei
sollten wir innert weniger Tage Fernunterricht             manchen Familien die Lebensverhältnisse prekä-
konzipieren und organisieren sowie die internen            rer geworden sind. Oder es tauchen bei Eltern mit
und externen Kommunikationskanäle aus- und                 unsicheren Arbeitsstellen nun grosse Zukunfts-
aufbauen. Das haben wir geschafft. Die Heraus-             ängste auf und die Prioritäten verschieben sich,
forderung entfesselte viel Kraft und Ideen, damit          was die Lernvoraussetzungen für manche Kinder
innerhalb kürzester Zeit sowohl alle Kinder und            verschlechtert.
Eltern wie auch die Mitarbeiter_innen das Me-
dium «Videokonferenz» bedienen konnten.                    Die Vorgabe, keinen Präsenzunterricht anzubie-
                                                           ten, die Betreuung minimal zu halten und den
Seit den Frühlingsferien sind wir in einer zweiten         BAG-Empfehlungen immer zu folgen, können wir
Phase: Wir müssen durchhalten. Daran, dass wir             sicher grösstenteils, aber nicht immer einhalten.
uns zur Begrüssung wohl längere Zeit nicht mehr            Hier helfen unsere guten räumlichen Voraus-
die Hand geben und Abstand voneinander halten              setzungen und der Austausch mit den anderen
müssen, haben wir uns schon etwas gewöhnt.                 Sonderschulen im Kanton.
Wir beobachten in dieser Phase, dass die Be-
lastungen zu Hause und damit der Wunsch nach
Betreuung zunehmen. Wir haben die personellen
und materiellen Mittel, hier gute Unterstützung
zu bieten.
                                                               Zum 125-jährigen Bestehen der
Beim Fernunterricht werden ökonomische und                     Sonderschule wird diesen Sommer
technische Schwierigkeiten zu Hause deutlich. Es               eine Jubiläumsschrift veröffentlicht,
fehlen an manchem Ort brauchbare Computer,                     die verschiedene Aspekte aus der
das technische Wissen der Eltern oder schlicht                 Geschichte der Institution beleuchtet.
das Geld, beispielsweise für Druckerpatronen.                  Darunter ist auch ein Kapitel über
Als heilpädagogische Schule verfügen wir nicht                 Epidemien und Quarantäne zu finden.
über Klassensets mit Tablets oder Laptops, weil

                                                     THEMA 6
Thema CORONAKRISE Fachbeiträge aus der Praxis und Forschung der Sozialen Arbeit - Integras
Eine erste Zwischenbilanz führt nun zu Erkennt-           mittelbaren Kontakt und Dialog angewiesen und
nissen, die wir ohne die Krise nicht so intensiv          funktioniert auf die Dauer nicht per Fernunter-
erlebt hätten, und die Hinweise für unsere Arbeit         richt. Wir sehen die Wichtigkeit, die Strukturen
im «Normalbetrieb» liefern.                               und Mittel in unserer Schule auf einem so guten
                                                          Stand zu halten, dass wir eine solche Krise jeder-
Die unfreiwilligen und plötzlichen Einschrän-             zeit meistern können. Eine gute Informatik-Lö-
kungen zwingen uns und die Familien zu neuen              sung erleichtert die Kommunikation, geeignete
Wegen und Mitteln. Für diejenigen, die das als            Räume und genügend Mitarbeitende sind die
Herausforderung sehen, ist es eine sehr interes-          Voraussetzung dafür, dass wir belastete Familien
sante Zeit. Wer hingegen vor allem die verlorenen         entlasten können.
Freiheiten sieht und/oder von den Entscheidun-
gen anderer abhängig ist, wird diese Wochen               Als wichtigste Güter erscheinen allerdings das
als grosse Belastung erleben. Es wird zurzeit             Vertrauen der Eltern zu unserer Schule und ein
deutlich, wie stark Haltungen und Ressourcen              Team aus Mitarbeitenden, welche mit vielen
den Umfang und die Qualität der Unterstützung             Ideen, Flexibilität und Tatkraft Lösungen für alle
für die Kinder bestimmen. Der Lernerfolg ist              Arten von Problemen finden.
stark davon abhängig, ob die Eltern das nötige
Verständnis für die angebotenen Inhalte und Me-
thoden haben. Wir sehen deutlich, wie wichtig es
ist, die Lebensumstände der Kinder gut zu kennen
und mit den Eltern einen regen Austausch über
schulische Inhalte zu haben.

Da die Eltern viel enger mit den Kindern lernen
und so einen tieferen Einblick in die Schule
bekommen, müssen die Lehrkräfte die Zielset-
zungen und Lernangebote ihnen gegenüber ganz
anders erklären und verantworten. Die techni-
schen Geräte eröffnen neue Möglichkeiten: Wir
schicken Aufgaben per E-Mail, kommunizieren
mit den Eltern und Kindern nicht nur per Telefon,
sondern auch per Chat oder Bildtelefon.

Einiges werden wir in die Zeit nach Corona
übernehmen. Es wird aber auch deutlich sicht-
bar, dass die digitale Transformation eh schon
benachteiligte Menschen zusätzlich ausschliesst                Andreas Wild-Studer leitet das Sonder-
und beschämen kann, indem offengelegt wird,                   schulheim Mauren seit 19 Jahren. Das Son-
wo die Voraussetzungen für technik-unterstütztes               derschulheim Mauren ist eine Tagesschule
Home-Office und Home-Schooling nicht vor-                     für Kinder, die in ihrem Lernvermögen stark
handen sind.                                                    eingeschränkt sind und für die die Regel-
                                                               schule kein passendes Angebot hat. Die 60
Einzelne Kinder überraschen mit ihrer Selbst-                 Kinder im Alter von 4–18 Jahren zeigen eine
ständigkeit und werden in Zukunft von uns wohl                 grosse Bandbreite von Beeinträchtigungen
mehr Freiräume bekommen. Bei den meisten                      und Bedürfnissen, persönlichen Geschichten
zeigt sich, wie wichtig die engen Strukturen und                        und Lebensbedingungen.
Führung sind. Die direkte Nähe zu den Schü-
ler_innen fehlt, ein Teil der Kommunikation wird
abgeschnitten. Gute Heilpädagogik ist auf un-

                                                    THEMA 7
Thema CORONAKRISE Fachbeiträge aus der Praxis und Forschung der Sozialen Arbeit - Integras
«Die Schule ist noch immer
offen. Wir müssen offen
haben. Das wird sich auch
nicht ändern.»

                     THEMA 8
Thema CORONAKRISE Fachbeiträge aus der Praxis und Forschung der Sozialen Arbeit - Integras
Sicherheit im
                     Alltag finden
                  Integras im Gespräch mit Jany Martin,
                            Schulleiter Schule Friedheim

    Die Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen hat sich
mit Beginn der Krise massgebend verändert. Einen Alltag
    herzustellen ist hierbei für die Heime eine zusätzliche
                                         Herausforderung.

Im Gespräch mit Integras erzählt Jany Martin, Schulleiter
   der Schule Friedheim, welche Auswirkungen das Virus
 auf den Alltag der Kinder und Jugendlichen hat und mit
       welchen Massnahmen sie auf die Krise reagieren.

             Herr Martin, wie ist die aktuelle Situation
             in der Schule Friedheim?

             Jany Martin: Aufgrund der aktuellen Situation
             können einige Kinder und Jugendliche nicht nach
             Hause gehen. Somit sind sie stets in der Schule
             Friedheim. Das bedeutet auch, dass wir – soweit
             möglich – einen geordneten und strukturierten
             Tagesablauf mit ihnen organisieren. Dies, damit
             die Sicherheit auf allen Ebenen gewährleistet
             ist, aber auch um irgendwann den Übergang zur
             «alten Normalität» einfacher zu gestalten. Denn,
             wenn für längere Zeit alles ausser Kraft gesetzt
             ist, muss ganz schön viel zusätzlich aufgeräumt
             werden.

             Irgendwann werden sich die Hiergebliebenen mit
             den daheimgebliebenen Kindern wieder mischen.
             Und je mehr Bekanntes und Erfolgreiches
             erhalten bleibt, desto schneller fügen sich diese
             beiden Seiten wieder zusammen.

       THEMA 9
Thema CORONAKRISE Fachbeiträge aus der Praxis und Forschung der Sozialen Arbeit - Integras
Wie sieht der Heimalltag aus?

Martin: Zurzeit sind etwa noch 1/3 der Kinder
und Jugendlichen im Internat. Das Wohnen wird                     Unsere Hauswirtschaft achtet
im gewohnten Rahmen gestaltet mit gemeinsa-                        speziell darauf, dass es allen
mem Kochen, Essen und Spielen. Die Ämtlis sind                        gut geht. Sie führte einen
zu erledigen und Diskussionen, Austausch und                      täglichen «Durchhalte-Znüni»
gemeinsames Planen – in eingeschränkter Form                        ein. Das hebt die Stimmung.
– gehören zum täglichen Ablauf. Unsere zentrale
Aufgabe ist jetzt: Den Kindern und Jugendlichen
Sicherheit bieten, sich mit ihren Ängsten ausein-
andersetzen und Antworten auf ihre Fragen zur
Situation finden.

Gibt es weiterhin einen                               Was hilft ihnen zurzeit am meisten?
Schulunterricht?
                                                      Martin: Eine grosse Unterstützung ist der Zivil-
Martin: Die Kinder und Jugendlichen, die im           schutz! Die eingeteilten Männer helfen unglaub-
Internat wohnen, gehen soweit wie möglich im          lich motiviert mit. So haben wir aktuell genügend
gewohnten Tagesrhythmus zur Schule. Die Schul-        Zeit zum Planen, was in einer verstärkten Krise
zeiten sind mehrheitlich die gleichen geblieben.      alles auf uns zukommen könnte. Wir arbeiten
                                                      die Zivilschützer so ein, dass sie im logistischen
Wie ist die Situation bei den                         Bereich zentrale Arbeiten übernehmen und
Kindern, die nach Hause gingen?                       in der Betreuung eingesetzt werden können.
                                                      Auch achten sie mit uns auf die Reinigung und
Martin: Auch die Wohngruppen haben regen              Hygiene in den Häusern. Wir üben immer wieder
Austausch mit den Eltern, den Kindern und             Notfallsituationen: So sind wir zum Beispiel
Jugendlichen. Seitens der Schule verschicken wir      bereits mehrmals von der Küche des Zivilschutzes
wöchentlich Heimarbeiten in dicken Kuverts mit        beliefert worden. Damit könnten wir Ausfälle im
einem frankierten Rückantwortumschlag. So hat         Personalbereich oder in Quarantänesituationen
sich ein Hin und Her eingestellt und die Lehr-        abfedern.
personen telefonieren oft mit den Schüler_innen.
Auch die Kinder und Jugendlichen rufen vermehrt       In vielen Bereichen wird nun verstärkt
an, da sie Fragen haben oder einfach mit uns          digital gearbeitet. Wie ist das bei euch?
reden möchten. Sie machen das mehrheitlich sehr
gut.                                                  Martin: Wir haben neu «Microsoft-Teams» einge-
                                                      richtet, eine Austausch- und Aufgabenplattform,
                                                      die wir nach und nach aufbauen. Die Lehrper-
                                                      sonen werden darin geschult und ebenfalls die
  Mit den Kindern und Jugend-                         Schüler_innen, in erster Linie jene daheim, damit
  lichen zu Hause sind wir täglich                    auch ein visueller Kontakt möglich ist. Über die
  in Kontakt.                                         Plattform können wir Arbeiten direkt und prompt
                                                      zuteilen oder ein Kolloquium einrichten.

                                                      Und was ganz wichtig ist: Wir schreiben den da-
                                                      heimbleibenden Kindern und Jugendlichen auch
                                                      einfach einmal eine Karte, unterschrieben von
                                                      allen, die an diesem Tag im Friedheim sind.

                                                THEMA 10
Die Schule Friedheim ist ein Schulheim
in der Gemeinde Bubikon im Zürcher
Oberland. Im Schulheim leben Kinder und
Jugendliche der Mittel- und Oberstufe. Sie
erhalten eine individuelle Betreuung in der
Wohngruppe und Förderung in einer der drei
Schulklassen.

                                              THEMA 11
«Eine vorübergehende Rück-
platzierung zur Herkunfts-
familie ist keine Option»
Renato Levantino
Geschäftsführer Fachverband Sozialpädagogi-
scher Kleininstitutionen Schweiz (SKI)                    durch das Leiterpaar geleistet. Es muss dem Kind
                                                          vermitteln, dass es auch in dieser unsicheren
                                                          Situation vertraute Erwachsene an seiner Seite
Die Pandemie ist für viele Kinder und deren               hat. Das garantiert für die Kinder Kontinuität,
Unterstützungssysteme nicht nur eine Umstel-              was ihnen Sicherheit vermitteln kann und dazu
lung, sondern eine zusätzliche Belastung des              verhilft, Ängste abzubauen. Da aufgrund des
Alltags. Für die Kinder hat sich einiges in ihrem         eigenen Gesundheitsrisikos mehrere interne
Alltag geändert: die Umstellung der Schule, der           Mitarbeiter_innen ausgefallen sind, haben einige
Ausfall von Freizeitaktivitäten und Treffen mit           Kleinstinstitutionen ihre internen Stellenprozente
Freunden usw. Darüber hinaus sind Therapien teil-         aufgestockt und zusätzlich Fachpersonal anstel-
weise oder gesamthaft ausgefallen, da sie nicht           len müssen. In unserem Bereich, in welchem wir
als Notfallbetreuung bzw. systemrelevant gelten.          mit Beziehung und Bindung arbeiten, ist es für
In Anlehnung an die Richtlinien des Bundesamts            die Kinder verständlicherweise schwierig, rasch
für Gesundheit (BAG) sind die Wochenend- und              neue Bezugspersonen anzunehmen, vor allem
Ferienaufenthalte bei den Herkunftsfamilien               bei einer Vollzeitbetreuung. Daneben ist die Ein-
und/oder den Entlastungsfamilien nicht mehr               arbeitungszeit neuer Mitarbeiter_innen nicht zu
möglich, da sie ein zusätzliches Verbreitungs- und        unterschätzen und bedeutet für das Team eben-
Ansteckungsrisiko darstellen. Aus einer fachlichen        falls einen Mehraufwand. Eine Frage die hierbei
Perspektive kommt eine kurzfristige Rückplatzie-          ungeklärt bleibt, ist, wie sich die Leitung und
rung in die Herkunftsfamilie bei den Kindern, die         das Team in dieser Situation genügend erholen
in einer Kleinstinstitution leben, nicht in Frage. Es     können. Welche Entlastungsmöglichkeiten gibt es
ist für die Familien, für die Kinder und auch für         für diese Fachpersonen?
uns nicht absehbar, wie lange die Situation so
bleibt. Diese Situation löst bei Kindern, die bereits
biografisch vorbelastet oder gar traumatisiert
sind, Ängste und ein Gefühl der Unsicherheit aus.
Eine Rückplatzierung wäre zu diesem Zeitpunkt
eine zusätzliche Belastung für die Kinder und
deren Familien. Solche Übergänge in die Her-
kunftsfamilien müssen langfristig geplant und
alle Betroffenen müssen begleitet werden.

Die Krise hat somit Unsicherheit in bereits
vulnerable Systeme gebracht, die durch einen
Mehraufwand durch Fachpersonen aufgefangen
werden müssen. Dieser Mehraufwand des Fach-
personals wird bei Kleinstinstitutionen vor allem

                                                    THEMA 12
Die vorgegebenen Massnahmen bringen neben
diesen Fragen auch Paradoxien im Alltag hervor,
auf die wir keinen Einfluss haben: Während sich
die Kinder und alle Mitarbeitenden innerhalb der
Kleininstitution an das «Social Distancing» halten
müssen, und die Kinder als Konsequenz keine
Freizeit mit ihren Herkunftsfamilien verbringen
können, kann diese Distanz durch Mitarbeiter_in-
nen nicht konsequent umgesetzt werden, da
diese in ein eigenes soziales Umfeld eingebettet
sind.
                                                                Renato Levantino und seine Ehefrau
Wir können in der Krise aber auch Chancen                       führen seit 25 Jahren eine eigene Klein-
sehen. Einigen Kindern und Jugendlichen gelingt                institution im Emmental im Kanton Bern.
es, die neuen Medien zweckmässig zu nutzen.                  Seine Kleininstitution ist in der Auslaufphase
Sie probieren Videotherapie aus oder haben per                und wird Ende dieses Jahres aufgelöst. Seit
Skype Kontakt mit ihren Eltern. Kleinstinstitu-               einem Jahr ist Renato Levantino Geschäfts-
tionen melden uns zurück, dass die Bindungen                   führer des Fachverbands Sozialpädagogi-
und Beziehungen sogar vertieft werden konnten                  sche Kleininstitutionen Schweiz (SKI), ein
und sich der Alltag entschleunigt hat. Bedingt               gemeinnütziger, politisch unabhängiger und
durch weniger Termine ergibt sich ein Freiraum               konfessionell neutraler Verein. Er vertritt die
für eigene Projekte und Gruppenerlebnisse                     Interessen und Anliegen der angeschlosse-
innerhalb der Kleinstinstitution. Diese Dinge sind                  nen Kleininstitutionen und ihrer
nicht ausser Betracht zu lassen. Dennoch können                             Betreuungsform.
Videocalls nicht längerfristig zu einer besseren
Beziehung beitragen. Vor allem nicht innerhalb
jener Familiensysteme, die durch Sprachlosigkeit
geprägt sind.

Unsere Kinder und deren Unterstützungssyste-
me sind aktuell sehr gefordert, neue Strategien
in einem Bereich zu entwickeln, in welchem
Ressourcen knapp sind. Umso mehr dürfen diese
Kinder nicht vergessen werden.

                                                  THEMA 13
Beziehungsarbeit
während des «Lockdowns»
Integras im Gespräch mit Julia Kapp,
Subito Kriseninterventionen AG

Julia Kapp, Geschäftsleiterin Subito Kriseninterventionen AG, berichtet im Ge-
spräch mit Integras, welche Herausforderungen und Chancen sich in der Bezie-
hungsarbeit für die Familienpflege nach den bundesweiten Massnahmen der
Corona-Krise zeigen. Einerseits interessierte uns, wie die Fachpersonen ihrem
Auftrag während des «Lockdowns» nachgehen können, andererseits fragten
wir uns, wie die Familien mit der Krise umgehen. In ihrem spannenden Bericht
beleuchtet Julia Kapp die Beziehungsarbeit im Dreieck zwischen Kindern,
deren Eltern und den Pflegeeltern.

Frau Kapp, welche Auswirkungen hat
die Krise auf euch?

Julia Kapp: Die Auswirkung des sogenannten «Lockdowns» ist vor
allem für die Kinder und Jugendlichen massiv, da sie ihre Wochen-
enden nicht mehr mit ihren Herkunftsfamilien verbringen können.
Aber auch der Alltag der Eltern, Geschwister sowie der Pflegefa-
milien wurde komplett umgestellt. Hierdurch hat sich auch unsere
Arbeit als Fachmitarbeiter_innen verändert.

Noch stärker als zuvor ist es in unserem Fachbereich wichtig, die
Eltern-Kind-Beziehung zu schützen und zu begleiten. Aufgrund der
aussergewöhnlichen Lage stellt die Pflege der Eltern-Kind Bezie-
hung für die Herkunftsfamilien eine grosse Herausforderung dar.

Was heisst das genau?

Kapp: In normalen Zeiten können die Kinder und Jugendlichen
jedes oder jedes zweite Wochenende nach Hause. Aufgrund des
«Lockdowns» mussten diese Wochenendurlaube eingestellt wer-
den, damit das Virus nicht verbreitet wird.

Das heisst, die Kinder sind vorübergehend «Vollzeit» bei den
Pflegeeltern. Damit sie jedoch weiterhin
Kontakt und eine Beziehung mit ihren Eltern halten können, haben
wir auf verschiedene Möglichkeiten des virtuellen Kontakts umge-
stellt: FaceTime/WhatsApp/Skype. Somit können die Eltern weiter-
hin ihre Kinder «sehen». Oder die Kinder und Jugendlichen können

                                               THEMA 14
Die Auswirkung des «Lockdowns»
  ist für die Kinder und Jugend-
  lichen, ihre Familien und Pflege-                      der Gesundheit der Kinder und Jugendlichen und
  familien massiv. Ihr Alltag wurde                      der Dienstelle für Soziales und Gesundheit. Wir
  komplett umgestellt.                                   mussten aber auch eine Balance zwischen dem
                                                         Kindswohl, der Sorgfaltspflicht gegenüber den
                                                         Pflegeeltern, Kindseltern, Kindern und Jugend-
                                                         lichen sowie den Besuchsrechten finden.

sich mit ihren Eltern bei Spaziergängen treffen.         Was hat sich im Alltag der Familien,
Zum Glück spielt das Wetter so toll mit.                 Kinder und Jugendlichen geändert?

Wie seid ihr zur Entscheidung gekommen,                  Kapp: Die Kinder und Jugendlichen betonen,
dass die Kinder nun bei den Pflegeeltern                 wie schön es sei, dass sie keine Schule haben.
bleiben?                                                 Vor allem ermöglicht die neue Lebenslage ein
                                                         tieferes, gegenseitiges Kennenlernen sowohl für
Kapp: Diese Entscheidung wurde in jedem Fall             die Kinder und Jugendlichen wie auch für die
individuell geprüft. Hierzu orientierten wir uns         Pflegeeltern.
an den Empfehlungen des Bundes zum Schutz

                                            «Die Kinder und Jugend-
                                        lichen wie auch wir merken,
                                        dass virtueller Kontakt nicht
                                         die persönliche Begegnung
                                                     ersetzen kann.»

                                                   THEMA 15
So berichtet eine Pflegefamilie: «Man lernt            festigen kann, ist die Beziehungsgestaltung zwi-
sich besser kennen, kommt sich näher als sonst         schen den leiblichen Eltern und Kindern zurzeit
und entdeckt neue Seiten. Auch tauchen neue            nur bedingt möglich. So müssen sich einige Eltern
Gesprächsthemen auf – welche ansonsten oft             und Kinder am Ende der Krise wieder von neuem
auf den Schulalltag begrenzt bleiben – und die         annähern. Diese Ängste teilen die Eltern mit
Gespräche sind tiefer und persönlicher.»               uns. Sie sind eine Konsequenz aus den jetzigen
                                                       bundesweiten Massnahmen. Wir bestärken die
Die neue Lebenskonstellation bringt jedoch auch        Eltern in der Beziehungsarbeit weiterhin präsent
Herausforderungen mit sich. Es braucht bei-            zu bleiben, beispielsweise durch regelmässige
spielsweise von allen Seiten ein Bewusstsein von       Telefonate oder Spaziergänge. Leider ist dies auf-
Nähe, Distanz und Abgrenzung. Die Herkunfts-           grund der sozioökonomischen und/oder gesund-
und Pflegefamilien können in dieser Situation          heitlichen Lage nicht bei allen Eltern möglich.
nicht allein gelassen werden, sondern brauchen         Wir unterstützen die Eltern dann auch bei der
Ansprechpersonen. Neben den Fragen zur Er-             Anschaffung von Geräten und in der Anwendung
ziehung oder auch zu Strategien im Umgang              von sozialen Medien.
miteinander wollen die Familien Aufklärung über
die bundesweiten, kantonalen und behördlichen
Massnahmen.
                                                            «Man lernt sich besser kennen,
Ist Beziehungsarbeit in Zeiten                              kommt sich näher als sonst
der Krise noch möglich?                                     und entdeckt neue Seiten.»

Kapp: Die Situation fordert von den Fachpersonen
neue Ansätze in der Beziehungsarbeit. Womöglich
sind diese neuen Möglichkeiten über soziale Me-
dien oder FaceTime etc. sogar altersadäquater als
die wöchentlichen Gespräche vor Ort. Die Kinder
und Jugendlichen wie auch wir merken jedoch,
dass nichts desto trotz die persönlichen Be-
gegnungen fehlen. Nicht jedes Thema kann über
die sozialen Medien besprochen werden. Uns ist
wichtig, weiterhin eine präsente Ansprechperson
für die Bedürfnisse der Kinder, Jugendlichen,
Eltern und Pflegeeltern zu sein. Unsere Fachmit-
arbeitenden besuchen die Pflegefamilien, Kinder
und Jugendlichen nun virtuell oder auch bei
Spaziergängen in der nahen Umgebung.
Während sich die Beziehung zwischen den Pfle-
geeltern und den Kindern und Jugendlichen nun

  Die Pflegeeltern leisten aktuell
  ausserordentlich viel. Nebst
  finanzieller Entschädigung
  bräuchte es im Sinne von «sozialer
  Anerkennung» unbedingt ein
  gesellschaftliches Dankeschön.

                                                 THEMA 16
Was braucht die Familienpflege
für die Zukunft?

Kapp: Die Pflegeeltern leisten aktuell ausser-                  Subito Kriseninterventionen AG ist eine
ordentlich viel. Innert kürzester Zeit mussten sie              Familienplatzierungsorganisation mit Sitz im
sich zum Wohle der Kinder und Jugendlichen der                  Kanton Luzern. Kindern, Jugendlichen und
aktuellen Situation anpassen und Unterstützung                  jungen Erwachsenen, die kurz-, mittel- bis
geben. Es braucht jedoch im Sinne von «sozialer                 langfristig nicht in ihrem angestammten
Anerkennung» unbedingt ein gesellschaftliches                   Lebensumfeld bleiben können, bietet sie
Dankeschön.                                                     unterschiedliche Platzierungsformen in Pfle-
                                                                gefamilien an. Die Kinder und Jugendlichen
Hinzu kommt, dass die Kantone und Behörden                      verbringen ihren Alltag in einer Pflegefami-
gemeinsam pragmatische Lösungen finden                          lie, besuchen die Schule oder verbringen ihre
müssen, welche das Kindswohl auch in dieser                     Tagesstruktur direkt bei der Familie. Sowohl
schwierigen Situation unterstützen und die                      die Pflegefamilie wie auch das Kind oder die
Möglichkeiten der Kindseltern und platzierenden                 Jugendlichen werden dabei eng von einer
Stellen bedenken.                                               pädagogischen Fachperson begleitet.

                                                     THEMA 17
Pflegefamilienbegleitung –
Notizen aus der Forschung
Daniela Reimer
Dozentin, Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW)

Überall in der Praxis der Pflegekinderhilfe sind in den letzten Wochen grosse Bemühungen zu
erkennen, trotz verhängter Kontaktverbote den Umgang zu Pflegekindern und Pflegefamilien
zu halten, in der Krise weiter präsent zu sein und Kinder wie Familien zu begleiten. Die Hand-
lungszwänge wirken hier produktiv und bringen viel Kreativität und Ideenreichtum unter ext-
rem schwierigen Bedingungen hervor. Forschung dagegen ist in der Regel nicht unter diesem
Handlungszwang, sondern hat den Aussenblick auf das was in der Pflegekinderhilfe geschieht.
Entsprechend gibt es derzeit noch keine Forschungen oder gar Ergebnisse zur Situation von
Pflegekindern, Pflegefamilien und Fachkräften unter den Bedingungen des «Lockdowns».
Doch auch Forschende machen sich selbstredend Gedanken und stellen ihr Wissen zur Pflege-
kinderhilfe in den Kontext der aktuellen Situation. Die folgenden Ausführungen sind einige
erste Überlegungen und Notizen dazu, was man aus einer Aussenperspektive in der aktuellen
«Lockdown»-Situation für die Pflegekinderhilfe im Allgemeinen lernen könnte.

Familien sind enorm leistungsfähige und                 wie anpassungsfähig und leistungsfähig Pflege-
anpassungsfähige Gebilde – und gleich-                  familien sind und fordert zu grösstem Respekt auf.
zeitig auch sehr fragil. Im ganzen Land leisten         Die anhaltenden, auch medialen Diskussionen
Familien mit Kinderbetreuung, Home-Office und           um überforderte Familien verweisen allerdings
Kontakteinschränkungen derzeit Unglaubliches.           darauf, dass Familien auch sehr fragile Gebilde
Eltern sind im Dauereinsatz, werden zu Privatleh-       sind. Von aussen herbeigeführte Veränderungen
rer_innen und sind ausserordentlich kreativ in der      und Belastungen, auf die die Einzelnen wenig
Begleitung ihrer Kinder wie in der Alltagsorganisa-     Einflussmöglichkeiten haben, können Familien
tion. Das gilt für Pflegefamilien in ganz besonderer    in schwere Krisen führen. Familien, die zurzeit
Weise. Die physische Präsenz von Fachkräften fällt      schlicht überlastet sind mit den Ansprüchen von
in der Begleitung überwiegend weg, Pflegefamilien       aussen und/oder gar ökonomisch bedroht oder
können nicht oder nur wenig auf ihre Unterstüt-         wegen Familienmitgliedern, die zu Risikogruppen
zungsnetzwerke für Entlastung zurückgreifen, Be-        gehören, gesundheitlich besonders gefährdet
suchskontakte zu Mitgliedern der Herkunftsfamilie       sind, kämpfen sehr damit, ihr Gleichgewicht zu
finden kaum oder unter neuen Bedingungen statt          behalten. Manchen gelingt dies nur schwer oder
und die ständige Nähe in der Pflegefamilie kann         nicht. Die Pflegekinderhilfe kann aus der aktuellen
für alle Beteiligten zu einer besonderen Heraus-        Situation viel für den Umgang mit Pflegefami-
forderung werden, die bei manchen Pflegekindern         lien lernen. Einerseits gilt es, die Leistungen und
auch mit Bewältigungsstrategien einhergeht, die         Flexibilität von Pflegefamilien viel stärker als
für die anderen Familienmitglieder sehr anstren-        bisher zu würdigen und bewusst wertzuschätzen
gend sind. Dass die meisten Pflegefamilien alle         – aus der Pflegekinderforschung ist bekannt, dass
diese Herausforderungen positiv bewältigen, zeigt,      Pflegeeltern sich vor allem Wertschätzung für ihre

                                                  THEMA 18
Tätigkeit wünschen. Andererseits gilt es, nicht nur     keit einer dauerhaften Begleitung doch zentral:
in der «Lockdown»-Situation einen sensiblen Blick       Begleitung von Pflegekindern und Pflegefamilien
darauf zu haben, welche Belastungen auf Familien        braucht Vertrauen, Vertrauen entsteht nicht im
einwirken, die sie überfordern können – und daran       Vorübergehen, sondern durch eine dauerhafte und
anknüpfend immer wieder zu überlegen, welche            regelmässige Begleitung, durch Vertrauenswürdig-
Möglichkeiten Fachkräfte haben, Belastungen             keit auf beiden Seiten, oft auch durch gemeinsam
abzufedern, indem sie der Pflegefamilie Ressour-        positiv durchgestandene Krisen. Die Pflegekinder-
cen zur Bewältigung zur Verfügung stellen oder          hilfe tut gut daran, genau in solche dauerhaften
zugänglich machen.                                      vertrauensvollen Begleitungen zu investieren.
                                                        Generell.
Die Bedeutung physischer Präsenz. Für
Pflegeeltern und Fachkräfte war es bisher selbst-       Welche (Besuchs-)Kontakte sind die wirk-
verständlich, auch im physischen Kontakt mitein-        lich Wichtigen und was ist eigentlich das
ander zu stehen. Wenn Fachkräfte Pflegefamilien         Wohl des Kindes? Darüber hinaus regt die
besuchen und mit Mitgliedern von Pflegefamilien         derzeitige Corona-Krise an, über weitere zentrale
sprechen, dann nehmen sie idealerweise sehr             Fragen der Pflegekinderhilfe neu nachzudenken
intensiv wahr, wie es den Gesprächspartner_innen        und sie zu diskutieren. Zum Beispiel darüber,
geht, was sie brauchen oder ob es einem Kind in         welche Kontakte für das einzelne Pflegekind die
einer Familie vielleicht nicht so gut geht, wie dies    wirklich Wichtigen sind. Sind das wirklich immer
wünschenswert wäre. Im Auswahlprozess von               die leiblichen Eltern, zu denen es auch derzeit
Pflegefamilien und im Vermittlungsprozess haben         weiter Kontakt geben soll? Oder sind das vielleicht
Fachkräfte oft ein gutes oder manchmal auch ein         doch an manchen Stellen (Halb-)Geschwister,
schlechtes «Bauchgefühl», man «spürt» ob die            Grosseltern oder andere Personen? Und was ist
«Chemie» stimmt oder eher nicht. Durch «Social          eigentlich das Wohl des Kindes? Welchen Stellen-
Distancing»-Gebote und Begleitung durch Telefon-        wert haben physische, psychische und soziale
oder Videokonferenzen fällt diese Wahrnehmungs-         Dimensionen des Kindeswohls und wie können
ebene an vielen Stellen weg. Aktuell ist dies unum-     alle diese Dimensionen angemessen berück-
gänglich. Dauerhaft könnte die Pflegekinderhilfe        sichtigt werden? Solche Fragen können einzelne
aus der aktuellen Situation lernen, die oft diffusen    Forschende nicht am Schreibtisch beantworten.
physischen Wahrnehmungen im persönlichen                Dafür braucht es den Diskurs, in der Wissenschaft
Kontakt bewusster zu erleben, anzuerkennen und          und zwischen Forschung und Praxis.
zu dokumentieren – und die physische Präsenz in
der Begleitung so noch intensiver zu nutzen.

Vertrauen ist der Schlüssel. Fachkräfte be-
richten, dass sie sich derzeit am wenigsten Sorgen
machen um die Pflegkinder und Pflegefamilien, zu
denen bereits vor dem «Lockdown» ein intensiver
und vertrauensvoller Kontakt bestand. Bei diesen
Kindern und Familien sind sich die Fachkräfte
sicher, dass sie die aktuell fordernde Situation
gut bewältigen oder sich an sie wenden, wenn
Schwierigkeiten auftreten. Sorge bereiten die
Kinder und Familien, zu denen der Kontakt nie                 Dr. phil. Daniela Reimer ist Dozentin
eine Vertrauensebene erreicht hat und die in der                an der ZHAW im Institut für Kindheit,
Begleitung schon immer eher zurückhaltend und                   Jugend und Familie. Ihre Arbeits- und
zurückgezogen waren. Die Erkenntnis klingt viel-             Forschungsschwerpunkte sind Pflegekinder
leicht banal, aber ist auch aufgrund immer wieder            und Pflegefamilien, Normalität und Kultur.
aufkommender Diskussionen um die Notwendig-

                                                  THEMA 19
Zwischen Realitäten und
Paradoxien
Luca Fumagalli
Stv. Leiter Dienst für Erwachsenen- und Jugendschutz

Für den ärmsten und verletzlichsten Teil unserer Bevölkerung ist die Eindämmung eine vor-
beugende Massnahme, die das Problem eher verschlimmert als es zu lösen. Vor allem Kinder,
die aufgrund der Pandemie die Einrichtung verlassen und in dasselbe Familienheim zurück-
kehren mussten, aus dem sie entfernt worden waren, um dem Stress, der Böswilligkeit und
sogar der psycho-physischen Gewalt ihrer Eltern zu entgehen, befinden sich inmitten eines
Paradoxons.

Trotz der Pandemie und ihrer widersprüchlichen Folgen muss der Kinderschutz, der im Zen-
trum der staatlichen Aufgaben steht, aufrechterhalten und gewährleistet werden: aber wie?

Wenn die Fremdplatzierung eines Kindes auf              Wechsel stellt, nicht mehr das Recht, zur Schule
einem defizitären familiären Umfeld beruht, wie         zu gehen. Nach einigen kurzen, möglicherweise
kann das Kind dann die Gründe für seine Rück-           jubelnden Momenten stellt sich ein Gefühl der
kehr in die Familie verstehen, geschweige denn          Isolation und Verlassenheit ein: Es ist nicht mehr in
Strategien entwickeln, dies zu akzeptieren? Und         der Lage, sich seiner Bezugsperson anzuvertrauen,
wer kann ihm dabei konkret helfen? Das Kind ist         hat keine_n Beschützer_in mehr, an die es sich
nicht nur verwirrt, sondern offensichtlich auch         wenden kann, hat keine Kamerad_innen mehr, mit
allein, ohne Ressourcen und ohne Auswege. Diese         denen es den Alltag teilt und keine verlässlichen
Distanz zu seinem institutionellen Umfeld, das per      Freund_innen mehr, denen es seine Geheimnisse
Definition Sicherheit gibt und schützend wirkt,         anvertrauen kann. Wenngleich wir alle Momente
schafft eine Leere, die umso beunruhigender ist,        der Einsamkeit schätzen und dies auch zur norma-
als sie zudem eine Sackgasse zu sein scheint. Die       len Entwicklung eines jeden Menschen gehört, ob
durch die Pandemie hervorgerufene wirtschaft-           Kind, Erwachsener oder älterer Mensch, so stürzt
liche und soziale Krise, gepaart mit der Angst und      uns eine längere Einsamkeit, zudem ohne voraus-
Besorgnis jener Eltern, die über eher begrenzte         sagbares Ende, in ein Gefühl der Entfremdung.
Ressourcen verfügen (insbesondere soziale,
psychologische und finanzielle), ist ein Umstand,       Zur Abmilderung dieser beunruhigenden Realität
der Gewalt (sei diese verbal, symbolisch, physisch)     haben alle kantonalen Kinderschutzdienste, die
hervorrufen und verstärken kann.                        ebenfalls mit dieser unvorstellbar langen Pause
                                                        konfrontiert sind, fast über Nacht begonnen, ihre
Darüber hinaus hat das in dieser Situation ge-          Methoden der Intervention, Unterstützung, Beglei-
fangene Kind, abgesehen davon, dass es sich             tung und Betreuung neu zu konzipieren. In erster
Fragen zu diesem abrupten und destabilisierenden        Linie Sozialarbeiter_innen, aber auch andere Fach-

                                                  THEMA 20
kräfte, die sich in allen Formen des Hilfesystems            weise – die Frage nach der Bewertung des Risikos,
befinden, wurden aufgefordert, ihre Praktiken neu            nämlich sich einerseits mit dem Virus zu infizieren
zu erfinden. Sie suchten nach neuen Wegen, mit               und andererseits in Bezug auf das Risiko der sozia-
ihren Klient_innen in Kontakt zu treten, arbeiteten          len, elterlichen und psychologischen Entfremdung.
konkrete, pragmatische und teilweise improvisierte           Die Antwort darauf wurde uns vom Bundesamt für
Vorschläge aus, um ein Mindestmass an Präsenz                Gesundheit (BAG) mit ausreichendem Nachdruck
für Menschen mit besonderen Bedürfnissen zu                  vermittelt. Die Wahl allerdings zwischen kollektiver
gewährleisten, und zwar in einem Kontext, in dem             Gesundheit und individuellen Kontexten kann
es keinen physischen Kontakt gibt.                           nicht beantwortet werden und lässt uns schlicht
                                                             mit einem Dilemma zurück.
Auch Fachpersonen des Kindesschutzes, sozialpäd-
agogische Familienbegleitung und psychologische
und psychotherapeutische Unterstützungsdienste
sowie – natürlich – Erzieher_innen aus sonder-
pädagogischen Einrichtungen waren gezwungen,
die soziale Verbindung mit einer virtuellen aus-
zutauschen, wobei die visuelle Verbindung glück-
licherweise dank der guten Qualität der uns zur
Verfügung stehenden Technologie aufrechterhalten
werden konnte. Zugegebenermassen kann aber
ein Touchscreen eine Beziehung von Angesicht zu
Angesicht nicht ersetzen. Darüber hinaus konnten
einige Dienstleistungen wegen der Ansteckungs-
gefahr schlicht nicht aufrechterhalten werden
(z. B. Ausübung des Besuchsrechts, Treffpunkte,
Austauschpunkte, externe Betreuung). Covid-19
verlangte Anpassungen, so dass es jetzt etliche
Wochen her ist, dass einige Kinder und Eltern sich
berühren konnten!

Wie alle aussergewöhnlichen, unvorhersehbaren
und unerwarteten Ereignisse wird sich jeder Einzel-
ne zeitlebens und sehr genau an diesen Frühling
des Jahres 2020 und die dadurch verursachten
weitreichenden, planetarischen Umwälzungen
erinnern. Wir alle werden Erfahrungen zu teilen
haben, Erinnerungen, die wir lieber verdrängen
möchten und Wunden, die es zu heilen gilt.

Die Wochen des «Lockdowns», welche Kinder ge-
nerell und vor allem jene, deren Familien benach-
teiligt sind oder in einer prekären Situation leben,               Luca Fumagalli, lic. phil. I Sozialarbeit &
erleiden mussten, haben Folgen: Trotz der Unter-                  Soziologie, ist derzeit stellvertretender Leiter
stützung, welche die öffentlichen Kindesschutz-                   des Dienstes für Erwachsenen- und Jugend-
behörden auf kleiner Flamme bieten konnten,                       schutz im Erziehungs- und Familiendeparte-
mündeten diese Bemühungen bestenfalls in einer                           ment des Kantons Neuenburg.
gewissen Isolation für das Kind, schlimmstenfalls
jedoch in einem ungesunden oder gar bösartigen
Umfeld. Damit stellt sich spontan – und legitimer-

                                                       THEMA 21
Ethische Fragen in der Kinder-
und Jugendhilfe – Zwischen
persönlicher Freiheit und
gesellschaftlicher Solidarität
Daniela Ritzenthaler
Heilpädagogin und Ethikerin

Am 16. März 2020 hat der Bundesrat in der               Menschen in Institutionen meist stärker isoliert
Schweiz die «ausserordentliche Lage» gemäss             als z. B. eine Familie, die gemeinsam zu Hause
Epidemiengesetz ausgerufen. Das öffentliche und         bleiben kann. Einige fremdplatzierte Kinder und
gesellschaftliche Leben wurde heruntergefahren,         Jugendliche konnten/mussten seit Beginn der
die Schulen und die Grenzen wurden geschlos-            Krise in der Institution bleiben. In diesen Fällen
sen. Damit wurden die demokratischen und                können die Kinder und Jugendlichen ihre Her-
freiheitlichen Rechte der einzelnen Bürger_innen        kunftsfamilie über einen längeren Zeitraum nicht
sehr stark eingeschränkt. Die Einschränkung wird        sehen. Einerseits zum Schutz bzw. in Solidarität
mit dem Schutz der Bevölkerung und dem Erhal-           der (Wohn-)Gruppe und andererseits zum Schutz
ten der Gesundheit von Vielen und insbesondere          von Risikogruppen wurden die Freiheit und der
in Solidarität mit den Risikogruppen begründet.         Schutz der Gesundheit über den Schutz der Be-
                                                        ziehung gestellt. Andere Kinder und Jugendliche
Die Werteabwägungen, die in dieser Ent-                 konnten/mussten zu Beginn der Krise zu ihrer
scheidung getroffen wurden, sind allerdings             Herkunftsfamilie gehen und konnten nicht mehr
komplex. Auf der einen Seite wird der Wert der          in die Institution zurückkehren. In diesen Fällen
persönlichen Freiheit in dieser Krise besonders         befürchten Fachpersonen, dass das Kindeswohl
hervorgehoben: Es stellt sich die Frage, wie viel       gefährdet sein könnte, was nicht unbegründet
von der persönlichen Freiheit eingegrenzt werden        ist. Das Leben auf engem Raum gestaltet sich für
kann? Welche Konsequenzen und ggf. langfris-            sozial benachteiligte Familien, die über längere
tigen Konsequenzen entstehen bei vulnerablen            Zeit in Quarantäne bleiben müssen, als schwierig.
Personengruppen? Auf der anderen Seite wird             Mit der Aufrechterhaltung der Schutzmass-
insbesondere in dieser Notlage eine gesellschaft-       nahmen über einen längeren Zeitraum können
liche, aktive Solidarität gefordert.                    zusätzliche Problematiken der psychischen Krise
Es stellt sich die Frage: Wie viel Solidarität1 mit     als eine Folge der Selbstisolation entstehen. Die
den Risikogruppen ist notwendig und wie viel            Isolierung ist für fremdplatzierte Kinder und
Solidarität kann von Kindern und Jugendlichen in        Jugendliche auch schädlich und kann sich negativ
Institutionen gefordert werden?                         auf die Lebensqualität und ebenso auf die
                                                        Gesundheit auswirken. Hinzu kommt, dass Unter-
Fremdplatzierte Kinder und Jugendliche sind im          stützungssysteme der Kinder und Jugendlichen,
Vergleich zu anderen Menschen schon durch               wie zum Beispiel die psychologische Begleitung,
ihr Leben in einer Institution in bestimmten            nicht als systemrelevant angesehen werden und
Belangen des Alltags weniger frei. Gerade diese         teilweise komplett ausfallen.
Personengruppen werden in ihrem Alltag vom
Coronavirus noch stärker eingeschränkt: So be-          Diese Überlegungen lassen den Rückschluss zu,
stehen z. B. vielerorts Besuchsverbote. Damit sind      sich die Frage zu stellen: Brauchen nicht auch

                                                  THEMA 22
fremdplatzierte Kinder und Jugendliche die
Solidarität der Gemeinschaft, damit sie trotz
Schutz der Risikogruppen ihre Herkunftsfamilien
sehen können und/oder damit für ihr Kindeswohl
gesorgt werden kann? Welche Form der Solidari-
tät benötigen vulnerable Personengruppen in der
Krise?

Eine letzte Frage ist, was Solidarität für Berufs-
gruppen bedeutet, die ein grosses Risiko auf sich
nehmen, selbst angesteckt zu werden? Vielleicht
würde Solidarität bedeuten, am Ende der Krise                        Dr. phil. Daniela Ritzenthaler arbeitet
jene Berufe, die systemrelevant sind, stärker an-                   selbständig als Heilpädagogin, Ethikerin und
zuerkennen, z. B. mit einer besseren Bezahlung:                        Erwachsenenbildnerin: ethikbildung.ch.
Dazu gehören Pflegefachpersonen, Detailhandels-
angestellte, Angestellte des öffentlichen Dienstes
und Fachpersonen der Sozialen Arbeit. Die Zivil-
gesellschaft als Ganzes ist gefragt, um in einem
deliberativen Diskussionsprozess (siehe Haber-
mas), diese Fragen zu debattieren und gemein-
sam für die Zukunft Antworten zu formulieren.

1
 Solidarität steht zwischen dem Grundrecht der
Gerechtigkeit und der freiwilligen Mehrleistung der
Wohltätigkeit. Historisch gesehen kam erst später
der Gedanke dazu, dass es auch in unterschiedlichen
Gruppen «Solidargemeinschaften» gibt, in denen «alle
im selben Boot sitzen» (Höffe, 2012, S. 237), in denen
man sich auch gewisse Dinge schuldet.                                         Lesen Sie mehr von
                                                                              Daniela Ritzenthaler
Literatur
                                                                           Aus der Brunnentagung 2017
Bundesamt für Gesundheit BAG, Gesetzgebung                           zum Thema Fremdplatzierung und Ethik:
Übertragbare Krankheiten – Epidemiengesetz (EpG):                    Philosophische Fragen zum «Kindswohl»
https://www.bag.admin.ch/bag/de/home/gesetze-und-                             und des «Guten Tuns»
bewilligungen/gesetzgebung/gesetzgebung-mensch-
gesundheit/epidemiengesetz.html
Bundesamt für Gesundheit BAG: https://www.bag.
admin.ch/bag/de/home/krankheiten/ausbrueche-
epidemien-pandemien/aktuelle-ausbrueche-epidemien/
novel-cov/massnahmen-des-bundes.html (Zugriff am
21.4.2020).
Habermas, J. (1991): Erläuterungen zur Diskursethik.
Suhrkamp, Frankfurt.
Höffe, O. (2002): Lexikon der Ethik. München: Verlag
C.H. Beck
                                                                                   › Bestellen
Schweizerische Akademie der Medizinischen
Wissenschaften SAMW (2020): https://www.samw.ch/
de/Ethik/Themen-A-bis-Z/Intensivmedizin.html

                                                         THEMA 23
Covid-19 und
zunehmende «Maltraitance»?
Oliver Baud
Ehemaliger Vizepräsident Integras

Laut der UNICEF-Pressemitteilung vom 23. März            früheren Zeiten die Schule- und Schulsozialarbei-
2020 wurden bereits in früheren Gesundheits-             ter_innen, wichtige Akteure bei der Verhinderung
krisen «ein Anstieg von Kindesmissbrauch und der         von Misshandlungen, die Vorfälle gemeldet hätten.
Ausbeutung von Kindern verzeichnet. Schul-               Was die häusliche Gewalt betrifft, so wurde eine
schliessungen aufgrund des Ebola-Ausbruchs               reale Zunahme festgestellt.
in Westafrika zwischen 2014 und 2016 führten
beispielsweise zu einem Anstieg von Kinderarbeit,        Ein weiterer beunruhigender Faktor ist, dass fast
zu Vernachlässigung, sexuellem Missbrauch und            10 % der Kinder in Genfer Kinder- und Jugend-
frühen Schwangerschaften. Allein in Sierra Leone         heimen zu Beginn der Pandemie (vorübergehend
verdoppelte sich die Anzahl der Teenager-Schwan-         oder dauerhaft) zu ihren Familien zurückkehren
gerschaften von 7 000 auf 14 000.»                       konnten. Diese Tatsache ist überraschend und zeigt
                                                         (vielleicht), dass die Platzierung keine Ultima-Ra-
In den Genfer Kinder- und Jugendheimen konnte            tio-Entscheidung war. Eine rückwirkende Analyse
aus objektiver Sicht kein Anstieg an Notfallplatzie-     dieses Phänomens kann uns Einblicke in den
rungen festgestellt werden. Wir hatten in diesem         Platzierungsprozess und die Alternativen zur Plat-
ersten Monat der Pandemie sogar mehrere Not-             zierung geben, die vorgeschlagen hätten werden
fall-Plätze zur Verfügung. Daraus kann allerdings        können, wie z. B. die aufsuchende Familienarbeit
nicht zwangsläufig geschlossen werden, dass die          (AEMO), die es dem Kind ermöglicht, im familiären
Massnahmen zur Eindämmung des Covid-19-Virus             Kontext zu bleiben, aber mit spezifischer pädagogi-
und die Schliessung der Schulen keine zusätzlichen       scher Unterstützung für das Kind und seine Eltern.
Probleme mit sich bringen. So berichtet der SRF
am 23. April 2020: «Die Zahlen der Waadtländer           Das Leben in Kinder- und Jugendheimen während
Kindesschutzbehörde, die ein Spiegel der Gescheh-        der Zeit des «Lockdowns» war nicht immer
nisse in den anderen Kantonen sind und über die          einfach, da es an Schulrhythmus und Bewegungs-
alle Meldungen laufen, bestätigen diesen Stand           freiheit fehlte. Um die Sicherheit von Kindern und
der Dinge. Für den gleichen Zeitraum wurden im           Fachkräften zu gewährleisten, wurde der Heimkon-
vergangenen Jahr 271 Fälle verzeichnet, gegen-           text an die strengen Vorgaben des Bundesamtes
über 165 in diesem Jahr, und 53 Eltern baten 2019        für Gesundheit (BAG) angepasst. Die Kinder waren
um Hilfe, gegenüber 30 während der Zeit des              nicht mehr in der Lage, sich direkt mit ihren Eltern
«Lockdowns».                                             zu treffen oder Zeit im Elternhaus zu verbringen.
                                                         Diese Entscheidung war nicht für alle verständlich.
Möglicherweise wurde der Filter der sozialen Kon-        Einige Eltern und Verwandte haben sogar eine
trolle als Folge durchlässiger, so dass Verwandte        Petition lanciert, um ihre Kinder «tatsächlich»
oder Nachbarn eines Kindes (oder sogar das Kind          treffen zu können und nicht über digitale Mittel
selbst) keine Meldung machten. Wohingegen in             wie Videokonferenzen. Andere Kinder wiederum,

                                                   THEMA 24
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