Michael Haneke Gnadenlose Genauigkeit

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Michael Haneke Gnadenlose Genauigkeit
Michael Haneke
             Gnadenlose Genauigkeit
              Der Österreicher Michael Haneke zählt unbestritten zu den Virtuosen des Weltkinos. Mit seinen
              Filmen widmet er sich unablässig und ohne Kompromisse den Abgründen der Gesellschaft.
              Das Filmarchiv Austria zeigt nun die bislang umfassendste Retrospektive in Österreich, bei der
              nicht nur sein preisgekröntes Kino-Œuvre, sondern auch sein vielseitiges Fernseh(-film-)schaffen
              präsentiert wird.

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     Michael Haneke
Michael Haneke Gnadenlose Genauigkeit
LA PIANISTE/DIE KLAVIERSPIELERIN | F/D/PL/A 2001

LUKAS MAURER

Wer die Welt mit scharfen Augen betrachtet, ist
in seinen Zugängen nicht selten radikal. Michael
Haneke ist so jemand, ein Künstler, ein Filme­
macher, der mit kühler Präzision auf das Gebaren
der Gesellschaft blickt, der schonungslos und mit
provokativem Gestus den Horror des Alltäglichen
freilegt und die Grundbeschaffenheit der mensch-
lichen Existenz im Spiegel der Moderne durchleuch-
tet. Haneke übt Kritik an den Dingen, die ihn stören,
unumwunden – sei es das Fernsehen und seine
Zerstreuungspraktiken, die Beruhigungsstrategien
des Hollywood-Kinos oder einfach die Lieblosigkeit           Hanekes, welches den Figuren so gut wie keinen           DER SIEBENTE KONTINENT beschließt eine Linzer
im Miteinander, die »Vergletscherung der Gefühle«:           Fluchtpunkt bietet, ist im Zuge seiner Internationali-   Kleinfamilie, ihre weltlichen Zelte abzubrechen
Das Uneinverstandensein mit dem Zustand der                  sierung filmisch »weiträumiger« (die vielschichtigen     und gemeinsam in den Tod zu gehen. In BENNY’S
Welt ist der Motor seiner Kunst. Darüber hat er              sozialen Bewegungen in CODE INCONNU) und, wenn           VIDEO tötet ein mediensüchtiger Jugendlicher ein
zu einer Form, zu einer Sprache gefunden, die im             man so will, auch »wärmer« geworden (man denke           Mädchen mit einem Schlachtschussgerät (weil er
Gegenwartskino ohne Vergleich ist. »Michael Hane-            nur an den geradezu magischen Schluss in WOLF-           wissen will, wie das so ist). In DIE KLAVIERSPIELE-
ke ist der erste österreichische Spielfilmregisseur          ZEIT oder an das Liebeswerben zwischen Dorflehrer        RIN weiht eine verhärmte Bildungsbürgerin einen
der Nachkriegszeit, der als bedeutender auteur               und Kindermädchen in DAS WEISSE BAND), aber als          verführerischen Studenten in ihre sadomasochi-
wahr­genommen wird«, hat Alexander Horwath vor               Konzessionen an den Weltruhm sind diese (Auf-)           stischen Sehnsüchte ein. CACHÉ wiederum rückt
einigen Jahren geschrieben. Spätestens seit seiner           Brechungen freilich nicht zu deuten. Für das Kino        einen französischen Literaturjournalisten in den
Elfriede-Jelinek-Adaption DIE KLAVIERSPIELERIN,              von Michael Haneke gilt wie eh und je: Die Rigorosi-     Mittelpunkt, den anonyme Videobotschaften mit
allerspätestens seit seinem französischen »Polit-            tät ist seine wirksamste Kraft.                          einer Schuld aus der Kindheit konfrontieren. Und
Thriller« CACHÉ zählt er zu den weltweit wich-               Hanekes Filme sind tiefschürfende, (moral)philo-         DAS WEISSE BAND porträtiert eine norddeutsche
tigsten Autorenfilmern überhaupt – die Goldene               sophisch grundierte Erzählungen. Sie handeln von         Dorfgemeinschaft im Vormärz des Ersten Welt-
Palme und der anschließende Erfolgslauf seines               Schuld, Verdrängung, Entfremdung und, damit eng          krieges, hinter deren protestantischer Fassade
epischen Erziehungsdramas DAS WEISSE BAND hat                verbunden, von Gewalt. Letztere ist, als Thema           Unterdrückung und Verachtung keimt. Die Qualen
dieser Position nur noch die Krone aufge­-                   und Motiv, der zentrale Leitfaden in seinem Werk.        – sowohl die sichtbaren als auch die unsichtbaren –,
setzt.                                                       An ihr arbeitet er sich ab, unermüdlich, spürt ihren     welche seine Figuren ungelindert ertragen müssen,
Seine Kompromisslosigkeit hat darunter aber nicht            Strukturen nach, von den Medien angefangen bis           will Haneke stets auch dem Pub­likum zu spüren
gelitten. Gewiss: Das hermetische Kino Michael               hinein in die privaten, die intimsten Bereiche. In       geben. Und setzt dabei gerne auf die Wirkung des

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Michael Haneke
Michael Haneke Gnadenlose Genauigkeit
WER WAR EDGAR ALLAN | A/BRD 1985

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     Michael Haneke
Michael Haneke Gnadenlose Genauigkeit
DIE REBELLION | A 1993

sublimen Schocks – beispielsweise mittels extremer
Zeitdehnungen, die viele Einstellungen oft ins Un-
erträgliche steigern. Der Zuschauer soll sich gegen
seine Filme zur Wehr setzten. Das ist Hanekes
erklärte Absicht. Lösungen, sprich, Auswege bietet
er konsequenterweise keine an. Seine Filme sollen
im Kopf des Zuschauers weitergehen und ihn zur
Erkenntnis zwingen. In seiner »Gewalt-Parodie«
FUNNY GAMES (wie auch, klarerweise, in seinem             regisseur und wechselte zwischenzeitlich zur Gänze    hier vor allem: Zwang, Krankheit, Tod. Überhaupt
Shot-by-Shot-Remake FUNNY GAMES U.S.) wendet              ins Bühnenfach. 1974 drehte er für den SWR seinen     lassen sich die meisten von Hanekes Fernsehfilmen
sich einer der beiden Wohlstandsbengel, die eine          ersten Fernsehfilm UND WAS KOMMT DANACH?              (wie seine finster-elegante Ingeborg-Bachmann-
Kleinfamilie auf Sommerfrische mit einem absolut          (AFTER LIVERPOOL) nach einem Hörspiel von             Adaption DREI WEGE ZUM SEE oder das Heimkeh-
tödlichen Spiel überraschen, sogar direkt an das          James Saunders. Dass Haneke im Fernsehen auch         rer-Melodram FRAULEIN) als Bestandsaufnahmen
Publikum und macht es so zum Komplizen ihrer              ans Kino denkt, ist darin bereits klar zu erkennen:   der deutschen bzw. österreichischen Nachkriegs-
Grausamkeit. Haneke will denn auch seinen Film als        Der Film eröffnet mit einem Zitat von Jean-Luc        mentalität und ihrem Nachleben lesen: Die Wirk-
»Watschn’« verstanden wissen, die der Zuschauer           Godard: »Der Philosoph und der Cineast haben          lichkeit, das gibt Haneke auf verstörende Weise zu
für seine Schau- und folglich auch Gewaltlust             eine bestimmte Lebensweise gemeinsam, die einer       verstehen, hat immer auch eine Vergangenheit.
kassiert. Es sind nicht zuletzt Provokationstakti-        Generation eigentümliche Sicht auf die Welt«. Die     Als Michael Haneke mit DER SIEBENTE KONTINENT
ken wie diese, die ihn – neben seiner Etikettierung       folgenden Jahre in der Kreativzone »Fernsehspiel«     1989 im Kino debütierte (und damit auch gleich eine
als hoffnungsloser Sozial- und Kulturpessimist –          sollten für ihn prägend werden. Hier konnte er mit    Ein­­ladung nach Cannes erhielt), war er bereits ein
jahrelang in den Verruf der überzogenen (Kino-)           Formen experimentieren, seinen Stil suchen und        »kompletter Filmemacher« (Horwath). Die Geschich-
Pädagogik gebracht hat. Aber Haneke hat, das sagt         schärfen. 1979 legte er seine erste Fernseharbeit     te einer familiären Selbstauslöschung erzählt er mit
er selbst, nichts dagegen, der »böse Unke« zu sein.       nach eigenem Stoff vor. Der Zweiteiler LEMMINGE       der stilistischen Selbstverständlichkeit des Erfahre­
Er versteht sich als Aufklärer und Moralist, der          ist ein in Wiener Neustadt (Hanekes Ort der Kind-     nen. Die Elemente seines Kinos sind hier nahezu
seine Anliegen mit der nötigen Ernsthaftigkeit und        heit) angesiedeltes Generationendrama, in dem eine    schon vollständig versammelt: Die reduktionistische
Dringlichkeit formuliert.                                 Gruppe von Jugendlichen Ende der fünfziger Jahre      Inszenierungsweise, die modellhafte anti-psycholo-
Michael Haneke, Jahrgang 1942, hat seine Karriere         den Aufstand gegen die bürgerlichen Konventionen      gische Figurenzeichnung, die langen, insistierenden
beim Südwestfunk in Baden-Baden begonnen, wo              probt, aber schließlich doch in ihnen erwachsen       Einstellungen, die ausgewählten, wie Brücken ins
er Ende der Sechziger als Redakteur Dramaturg             werden muss. Das skeptizistische Weltbild Michael     Metaphysische erscheinenden Musikstücke oder die
in der Abteilung »Fernsehspiel« engagiert wurde.          Hanekes, sein sezierender Blick auf die Dinge, ist    genau platzierten Schwarzbilder, also jene selbst­
Darüber hinaus betätigte er sich auch als Theater-        dabei bereits deutlich präsent. Gesellschaft heißt    reflexiven Zäsuren, die immerzu harte Brüche in

                                                                                                                                                                        27
Michael Haneke
Michael Haneke Gnadenlose Genauigkeit
Le temps du loup/WOLFZEIT | F/A/D 2003

                                                                                                                    ihn ein essenzieller Begriff, ein moralischer Wert. Ihr
                                                                                                                    fühlt er sich verpflichtet, in allem was er tut – und
                                                                                                                    schätzt sie auch am Kino anderer.
                                                                                                                    Die Carte Blanche, die für Haneke im Rahmen dieser
                                                                                                                    Retrospektive ausgerichtet wird, ist dafür ein schö-
                                                                                                                    ner Beweis. Auf ihr finden sich Namen wie Robert
                                                                                                                    Bresson, Andrej Tarkowskij, Pier Paolo Pasolini,
                                                                                                                    Charlie Chaplin oder John Cassavetes: Filmemacher,
                                                                                                                    über die Michael Haneke gerne und leidenschaftlich
                                                                                                                    spricht, und die direkt (allen voran Bresson) oder
                                                                                                                    indirekt Einfluss auf sein Werk genommen haben.
                                                                                                                    Mit ihnen teilt er – bei aller Verschiedenheit ihrer
                                                                                                                    Kunst – vor allem eines: den Drang, mit dem Kino
                                                                                                                    zum Wahrhaften vorzudringen. Und dies ist, wie
                                                                                                                    man weiß, ohne Klarsicht nur selten zu erreichen.

                                                                                                                    Lukas Maurer, geb. 1973 in Oberpullendorf, Bgld. Studium der
                                                                                                                    Germanistik und Kunstgeschichte an der Universität Wien. Kurator
                                                                                                                    und Filmpublizist. Mitarbeiter des Filmarchiv Austria, Programmver-
                                                                                                                    antwortlicher und Moderator der Filmsendung Oktoskop bei dem
                                                                                                                    Fernsehsender Okto sowie Lehrbeauftragter für Filmgeschichte
                                                                                                                    am Filmcollege in Wien. Co-Herausgeber der Monografie Halbstark.
                                                                                                                    Georg Tressler: Zwischen Auftrag und Autor (2003).

     die Kino-Wirklichkeit schlagen (spe­ziell das Amok­    und Künstlichkeit, den er mit seinem Kino immer
     panorama 71 FRAGMENTE EINER CHRONOLOGIE                wieder vollführt. Haneke, so lässt es sich vielleicht
     DES ZUFALLS und das Plansequenz-Meisterstück           zusammenfassen, erzählt unentwegt vom Chaos,
     CODE INCONNU sind nach diesem Prinzip gebaut).         vom Krieg im Innersten der Gesellschaft, aber die
     Grundlegend für seine Handschrift ist aber auch die    Bilder, die er dafür findet, sind von bestechender
     überaus souveräne Führung der Schauspieler (das        Klarheit. Das ist das Paradoxe an seinen Filmen: Sie
     betrifft seine großartigen Kinderdarsteller ebenso     beschreiben stets die kältesten und trostlosesten
     wie die Weltstars Juliette Binoche, Isabelle Huppert   aller möglichen (Lebens-)Welten, aber in der Klar-
     oder Daniel Auteuil), die mit ihrem Spiel wesentlich   heit ihrer Form liegt immer auch etwas Tröstliches.
     beitragen zu dem Balanceakt zwischen Realismus         Genauigkeit, das betont Michael Haneke oft, ist für

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     Michael Haneke
Michael Haneke Gnadenlose Genauigkeit
Impressum

MEDIENINHABER UND HERAUSGEBER: Filmarchiv Austria, Obere Augartenstraße 1, 1020 Wien                           Veranstaltungspartner:
REDAKTION: Ernst Kieninger, Günter Krenn, Georg Tscholl
BILDREDAKTION: Marlis Schmidt
TEXTE: Thomas Ballhausen (tb), Ernst Kieninger, Günter Krenn (gk), Armin Loacker (al), Lukas Maurer (lm),
Kathrin Resetarits, Nikolaus Wostry (nw), Karl Wratschko
KURATOREN: »NITROSESSIONS«: Ernst Kieninger, Nikolaus Wostry, Karl Wratschko
KURATOR »MICHAEL HANEKE«: Lukas Maurer
KURATOREN »Silent Masters«: Ernst Kieninger, Günter Krenn, Nikolaus Wostry, Karl Wratschko
KOPIENBESCHAFFUNG & RECHTEKLÄRUNG: Raimund Fritz
MARKETING: Barbara Heumesser
LEKTORAT: Marlis Schmidt, Georg Tscholl                                                                        FÖRDERER:
COVERFOTO: Porträt Michael Haneke
GRAFIK: Judith Eberharter
DRUCK: alwa & deil, Wien
ADRESSE: filmarchiv – Programmzeitschrift des Filmarchiv Austria, Obere Augartenstraße 1, 1020 Wien,
Tel: (+43 1) 216 13 00, Fax: (+43 1) 216 13 00 100, augarten@filmarchiv.at, www.filmarchiv.at

DANK: Arsenal-Institut für Film und Videokunst e.V., Berlin (Gesa Knolle) | David Bohun, Wien | CCC Film-
kunst GmbH, Berlin (Marleen Dyett) | Centre National de la Cinematographie, Paris (Eric Le Roy) | Cine TV
(Matthias Weber) | Diagonale (Barbara Pichler), Wien | Faces Distribution Corp., Hazlet (Al Ruban) | Severin
Fiala, Wien | Filmladen, Wien (Doris Sumereder) | Französisches Kulturinstitut, Wien (Christine Vitel) |
Michael Haneke, Wien | Jupiter-Film, Neulengbach (Hans-Peter Blechinger) | Klett-Cotta, Stuttgart (Susanne
Habermann) | Mercredi Films, Paris (Elodie Lachaud) | Catalina Molina, Wien | Virgil A. Muellermann, Wien/
Paris | Thomas Müller, München | National Center for Jewish Film, Waltham (Juliet Burch) | Neue Visionen
Filmverleih, Berlin (Madita Lambrecht) | ORF, Wien (Marion Camus-Oberdorfer, Dagmar Fleischhacker, Hein-
rich Mis, Sabine Renner) | Piper Verlag GmbH, München (Nicola von Bodman-Hensler) | Ulrike Putzer, Wien |
rbb media GmbH, Berlin (Stefanie Lubke) | Peter Rosei, Wien | Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek (Michael
Töteberg) | Schorcht International Filmproduktion und Filmvertrieb GmbH, München (Karin Peter) | Stadt-
kino Filmverleih, Wien (Georg Horvath, Gabriela Mühlberger) | Saarländischer Rundfunk, Saarbrücken (Kor-       MEDIENPARTNER:
nelia Wilhelm) | Satel Film GmbH, Wien (Heinrich Ambrosch) | Sixpackfilm (Michaela Grill, Ute Katschthaler,
Wiktoria Pelzer), Wien | SWR Meida Services GmbH, Stuttgart (Markus Jochem) | Transit Film GmbH,
München (Daniele Guerlain) | Trigon-Film, Ennetbaden (Regula Dell‘Anno) | (Verlag der Autoren (Christiane
Altenburg) | WEGA-Film, Wien (Julia Heiduschka, Veit Heiduschka, Ulrike Lässer) | Mario Wirz, Berlin | ZDF
Enterprises GmbH, Mainz (Alexandra Burchard)

BILDNACHWEIS: Brandeis National Center for Jewish Film, Waltham, MA | Deutsche Kinemathek, Berlin |
Filmarchiv Austria, Wien | ORF, Wien | Österreichisches Theatermuseum, Wien | Peter Patzak, Klosterneu-
burg-Weidling | sixpackfilm, Wien | Gerald Zugmann, Wien

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 IMPRESSUM
Michael Haneke Gnadenlose Genauigkeit
ein persönlicher text über die arbeit mit
     Michael Haneke?
     KATHRIN RESETARITS

     ich komme gut mit ihm aus.                                zu drehen beginnt, oder eine schwierige einstellung,   es gibt auch andere arten, ein ziel zu erreichen,
                                                               die nach dem sechsten versuch endlich im rhyth­        aber sturheit kann eines der wichtigen hilfsmittel
     am norddeutschen set spricht er, ohne erst darüber        mus ist, abgebrochen wird, weil ein kutschpferd –      eines regisseurs sein, und dafür, dass sie eines der
     nachzudenken, österreichischen dialekt, auch mit          mit scheuklappen – in die kamera geschaut hat.         wichtigen hilfsmittel von Michael Haneke ist, ist er
     den kindern. was dazu führt, dass einer der kinder­                                                              eigentlich ungewöhnlich unstur und offen.
     darsteller überzeugt davon ist, sein filmvater, der im    Michael Haneke ist ermunternd genau und kann           weil er einfach ein interesse an der sache hat und
     drehbuch eigentlich keinen namen hat, heisse Eam.         ermüdend stur sein. genau sein heisst eben auch,       am leben, und deshalb schaut er genau hin und hört
     – »do schaust dann zu eam.«                               genau am punkt zu sein, und dieser punkt ist           auch zu. man kann ihm einiges an den kopf werfen,
                                                               manchmal ansichtssache.                                ohne das gesprächsklima zu zerstören.
     sein wiener neustädter spruch ist mir ein labsal in       aber darum geht es ja auch beim drehen. wenn es        die sache steht immer im vordergrund. das klingt jetzt
     vielen in- und ausländischen situationen. gerade be­      für ihn so wirkt, als würde das halbblinde pferd in    ein bisschen kärglich, ist es aber nicht. in meinen
     ginnt man sich unwohl und fehl am platze zu fühlen,       die kamera schauen, dann ist es möglich, dass auch     augen ist es eine grosse und wohltuende ausnahme.
     und der schmäh kommt einem abhanden, weil in der          jemand anderer sich davon irritieren lässt. man
     umgebung stark daran gearbeitet wird, kultiviert          kann eben immer nur von sich ausgehen.                 aber ob es wirklich stimmt, dass die drohgebärde
     und künstlerisch wertvoll zu erscheinen, da bezeich­      um sich verständlich zu machen, um zu verstehen,       die beste taktik ist, um mitarbeiter zu höchstleis­
     net er irgendjemanden (im besten fall abwesenden)         und um im drehprozess zu schnellen entschei­           tungen anzutreiben, wage ich zu bezweifeln.
     als vollkoffer. hallo! hier bin ich wieder zu hause. es   dungen zu finden.                                      da kann es gelingen, menschen so zu verunsichern,
     geht um etwas, nicht darum, so zu tun als ob.             da ist es schon besser, ein bisschen starrsinnig zu    dass sie nicht einmal mehr in der lage sind, einen
     da kann man auch gelassen bleiben, wenn die ge­           sein, wenn man findet, schneeflocken fallen un­        raum zu durchqueren ohne lang hinzuschlagen,
     nauigkeit den rahmen sprengt und über den                 glaubwürdig, weil zu langsam oder zu schnell.          kleindarsteller, deren aufgabe es ist, zwei worte
     bildrand hinauslappt, und hochbezahlte starschau­         und mit gewissen abstrichen muss ich zugeben,          durch eine tür zu rufen, die sprache verlieren, ame­
     spieler als dunkle flecken am bildrand sitzen und         dass es sogar glaubwürdige und unglaubwürdige          rikanische requisiteure kein auto mehr abstellen
     hervorragendes leisten, komparsen in geschätzten          milch in filmen gibt.                                  können, ohne den schlüssel darin einzusperren.
     zwei kilometern entfernung von der kamera drin­                                                                  ich beneide niemanden, der unter seinen miss­
     gend einen neuen bart ankleben müssen, bevor man                                                                 trauischen blicken artistisches zu leisten hat.

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     Michael Haneke
Michael Haneke Gnadenlose Genauigkeit
aber da es schwer zu beweisen ist, welchen anteil          da hat man es bei Haneke schon leichter. viele unge­
die verunsicherung am versagen der beteiligten hat,        nauigkeiten sind da nicht zu finden.
und in anbetracht des ergebnisses der hergang
keine rolle mehr spielt, ist der effekt nur eine wei­      das, was oft als sezierender blick beschrieben wird,
tere bestätigung seiner meinung.                           empfinde ich in der arbeit, aber auch im privaten
                                                           gespräch als befreiend. es ist ein aufmerksamer,
ich habe die filme von Michael Haneke nie kalt             offener und gewissenhafter blick, eine forschungs­
gefunden, im gegenteil, ich empfand es als tröstlich,      arbeit, wenn man so will. eine respektvolle zuwen­
themen, situationen und menschen mit grosser               dung.
sorgfältigkeit darin aufgegriffen zu sehen, die mich
selber manchmal verzweifeln lassen. wenn andere            als wir die klavierspielerin gedreht haben, war ich
sie auch sehen (und sich ihrer annehmen), dann             eine ziemlich junge frau, und er schon ein ziemlich
sind die dämonen zwar nicht vertrieben, aber doch          älterer herr, aber in der arbeit war das egal. ne­
auf kurze zeit gebannt. nicht immer ist geteiltes leid     beneinander im videozelt im sexshop war da keine
halbes leid, aber erkanntes leid, leid, das eine form      peinliche berührtheit, sondern die konzentration
gefunden hat, beweist einem wenigstens, dass man           auf die arbeit.
nicht der einzige ist, der in einer welt aus glücklichen   und dazwischen auch blödes gekicher.
cornflakeskindern und herrlich eingerichteten fern­        es ist so erfrischend einem klugen menschen zu
sehfamilien dinge sieht, die man nicht sehen sollte.       begegnen.

                                                           Kathrin Resetarits ist künstlerische Assistentin von Michael Haneke.
nach der arbeit an einem Hanekeset fernzusehen
                                                           Sie hat an der Wiener Filmakademie studiert und arbeitet als Schau­
kann anstrengend werden. die schlampereien häu­            spielerin, Regisseurin und Autorin.
fen sich. automatisch erstelle ich bei jeder einstel­
lung in meinem kopf listen. je schlechter der film,
desto länger.

                                                                                                                                  31
Michael Haneke
Michael Haneke Gnadenlose Genauigkeit
Programm
       Michael Haneke
       1. bis 20.10.2010
       Metro Kino

                                                                        SO 17.10., 17:00
       MO 11.10., 19:00
                                                                        Carte Blanche Michael Haneke
       Werkstattgespräch mit                                            THE GOLD RUSH US 1925
       Michael Haneke
                                                                        REGIE, BUCH, SCHNITT            Für die englische Filmzeitschrift Sight and Sound
                                                                        Charles Chaplin
       Michael Haneke im Gespräch mit profil-Kulturressort­             KAMERA Roland H. Totheroh       erstellte Michael Haneke 2002 eine Top-Ten-Liste
       leiter und Filmkritiker Stefan Grissemann.                       MUSIK Charles Chaplin (1942)    der für ihn persönlich wichtigsten Filme, darunter
                                                                        MIT Charles Chaplin, Georgia
                                                                        Hale, Mack Swain, Tom Murray,   auch jene fünf Filme, die hier in der Carte Blanche
       »Das Maß des künstlerischen Werts ist die Genauigkeit,           Henry Bergman                   zu sehen sind, somit auch GOLD RUSH, Charlie Cha-
                                                                        PRODUKTION Charles Chaplin
       und darin liegt pure Lust. Es ist die Verteidigung der           Productions                     plins Glückssucher-Komödie aus dem Jahre 1925, in
       Ordnung gegen das Chaos. Darum lohnt es sich zu ar-              LÄNGE 72 Minuten                der er die condition humaine mit berührendstem,
       beiten, und daraus entsteht Enthusiasmus. Damit muß ich          Originalfassung mit             hintergründigstem Slapstick ausleuchtet. Chaplin,
       niemanden beglücken wollen. Ich glaube, daß Genauigkeit          deutschen Untertiteln           der seinen Schuh kocht und wie einen Knochen
       per se beglückt. Jeder, der für künstlerische Äußerungen                                         abnagt, das ist wohl jene Szene, die seine Figur des
       empfänglich ist, wird beglückt sein, sofern etwas »gut ge-                                       Tramp zu einer der strahlendsten, reichsten Ikonen
       macht« ist. Aber nicht, weil der Künstler damit ein inhalt-                                      des Kinos erhob. Siegfried Kracauer formuliert
       liches Ziel verfolgt. Ich glaube nicht an Ziele. Ich glaube an                                   es folgendermaßen: »Charlie Chaplin, der den
       Genauigkeit.« (Michael Haneke)                                                                   GOLDRAUSCH gedichtet hat, geht durch seine
                                                                                                        Dichtung als eine Darstellung des Menschlichen, die
                                                                                                        aus fast verschütteten Quellen geschöpft ist. So ist
                                                                                                        das Menschliche in den Märchen gemeint, in dem
                                                                                                        dummen Hans und anderen Märchenhelden, die
                                                                                                        keine Helden sind, so meint es vielleicht der Spruch
                                                                                                        Laotses, dass das Ohnmächtigste die Welt bewege.«
                                                                                                        (lm)

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     Michael Haneke | PROGRAMM | 1. BIS 20. OKTOBER 2010 | METRO KINO
Michael Haneke Gnadenlose Genauigkeit
MO 4.10., 19:00                                                                            SA 2.10., 19:00

Carte Blanche Michael Haneke
                                                                                           DREI WEGE ZUM SEE A/BRD 1976
AU HASARD BALTHAZAR F/Schweden 1966

REGIE, BUCH Robert Bresson          Ein Kristall der Filmgeschichte: Robert Bressons       REGIE Michael Haneke              Kann man unbeschwert nach Hause zurückkehren?
KAMERA Ghislain Cloquet                                                                    BUCH Michael Haneke, Ingeborg
SCHNITT Raymond Lamy                nüchtern-präzise und gleichsam tief-empfindsame        Bachmann                          Als die zur Starfotografin avancierte Elisabeth
MUSIK Jean Wiener, Franz            Passionsgeschichte des Esels Balthazar, der von        KAMERA Igor Luther                Matrei anlässlich eines Besuchs bei ihrem Vater wie-
Schubert                                                                                   SCHNITT Helga Scharf
MIT Anne Wiazemsky, Walter          den beiden Kindern Marie und Jacques zunächst          KOSTÜME Barbar Langbein           der in ihre Heimatstadt Klagenfurt fährt, löst eine
Green, François Lafarge, Jean-      liebevoll getauft und umsorgt, von seinen späteren     MIT Ursula Schult, Guido          Wanderung durch die Schauplätze ihrer Kindheit
Claude Guilbert, Philippe Asselin                                                          Wieland, Walter Schmidinger,
PRODUKTION Mag Bodard               Besitzern aber als Lasttier, Zirkusattraktion und      Udo Vioff, Bernhard Wicki, Yves   eine Reihe von Selbstreflexionen aus. Insbesonde-
/ Athos / Parc / AB Svensk /        Schmugglergerät geknechtet und gequält wird. Eine      Beneyton, Rainer von Artenfels,   re eine unglückliche Liebesgeschichte, die ihrem
Svenska Filminstitutet                                                                     Jane Tilden
LÄNGE 95 Minuten                    wehrlose Kreatur, die stumm und geduldig die Grau-     PRODUKTION Südwestfunk            Lebensentwurf einen erst nachträglich erfahr-
FORMAT 35 mm, Farbe                 samkeit der Welt erträgt. Der Esel als Opfer und       (SWF); ORF                        baren Knick verpasst hat, kommt beim Gang zum
                                                                                           LÄNGE 97 Minuten
Originalfassung mit                 Märtyrer. Selten war der Tod im Kino so gnadenvoll     FORMAT Beta-SP                    Wörthersee wieder an die Oberfläche. Spielte schon
englischen Untertiteln              wie beiläufig.                                                                           die Literaturvorlage Ingeborg Bachmanns mit den
                                    AU HASARD BALTHAZAR ist ein Schlüsselwerk für                                            Optionen von Medialisierung und zu ergehendem
                                    Michael Hanekes filmisches Denken: »Kein Film                                            System aus Verweisen, findet sich dieser Zugang
                                    hat mir je Hirn und Herz so umgedreht wie dieser                                         in Hanekes wunderbarer Verfilmung in gesteiger-
                                    … Man spürt in BALTHAZAR wie in allen Filmen                                             ter Form wieder: Die weitere Sequenzierung der
                                    Bressons eine fast körperliche Aversion ihres                                            Handlung unterstreicht noch die Fragmentiertheit
                                    Autors gegen jegliche Form der Lüge, insbesondere                                        der narrativen Strukturangebote, die Kameraarbeit
                                    gegen jede Form des ästhetischen Betrugs. Diese                                          erinnert auf subtile Weise an die wechselnden Er-
                                    ingrimmige Abneigung scheint die Antriebskraft                                           zählperspektiven der literarischen Vorlage. Die Welt
                                    seiner gesamten Arbeit zu sein, und sie führt zu                                         ist aus den Fugen, ganz still. (tb)
                                    einer Reinheit der erzählerischen Mittel, die in der
                                    Filmgeschichte ihresgleichen sucht.« (lm)

                                                                                                                                                                               33
Michael Haneke | PROGRAMM | 1. BIS 20. OKTOBER 2010 | METRO KINO
DO 14.10., 19:00                                                                      MO 18.10., 18:00

     … UND WAS KOMMT DANACH? (AFTER LIVERPOOL)                                             Carte Blanche Michael Haneke
     BRD 1974                                                                              A WOMAN UNDER THE INFLUENCE US 1974

     REGIE Michael Haneke            … UND WAS KOMMT DANACH? (AFTER LIVER-                 REGIE, BUCH John Cassavetes       Ein Zentralwerk des american independent cinema,
     BUCH Michael Haneke nach                                                              KAMERA Mitch Breit, John Cas-
     einem Theaterstück und          POOL): Michael Hanekes kunstfertiges Fernseh-         savetes (ucr.), Al Ruban (ucr.)   wie die meisten von Cassavetes’ Filmen ein Liebes-
     Hörspiel von James Saunders,    filmdebüt nach einem Theaterstück/Hörspiel von        SCHNITT David Armstrong,          film oder vielmehr ein Film über die Liebe und ihre
     Deutsch von Hilde Spiel                                                               Sheila Viseltear
     KAMERA Gerd Schäfer, Jochen     James Saunders. Ein strenges und schmerzhaftes        MUSIK Bo Harwood                  existenziellen Erschütterungen. Die Geschichte
     Hubrich, Günter Lemnitz         Kammerspiel über die Unmöglichkeiten der Kom-         MIT Gena Rowlands, Peter Falk,    einer Frau (Gena Rowlands), die mit ihrem Mann
     SCHNITT Christa Kleinheister-                                                         Fred Draper, Lady Rowlands,
     kampf                           munikation. Ein Mann und eine Frau haben sich         Katherine Cassavetes, Matthew     (Peter Falk) und ihren Kindern nach außen hin ein
     TON Wilhelm Dusil               alles und nichts zu sagen. »Die Beziehungskrise       Laborteaux                        normal suburbian life führt, in ihrem Innenleben
     MIT Hildegard Schmahl, Dieter                                                         PRODUKTION Faces Internatio-
     Kirchlechner                    als Sprachkrise«, hat es Alexander Horwath auf        nakl Films, Inc.                  aber von Angst und Einsamkeit regiert wird – ein
     PRODUKTION Südwestfunk          den Punkt gebracht. (Selbst-)Reflexion auf allen      LÄNGE 146 Minuten                 Zustand, der sich zusehends in nackter Hysterie
     (SWR)                                                                                 FORMAT 35 mm, Farbe
     LÄNGE 89 Minuten                Ebenen. In das szenische Dialog-Ping-Pong immer                                         entlädt. Ein unerbittliches Beziehungsdrama, das
     FORMAT Beta-SP, Farbe           wieder eingeschoben: Bild- (The Beatles), Ton- (I     Originalfassung mit               seine Wirkung aus der radikalen Fokussierung auf
                                                                                           deutschen Untertiteln
                                     Can’t Get No Satisfaction) und Text-Zitate (Adorno,                                     seine Schauspieler bezieht: »Ihr Naturalismus«, so
                                     Rimbaud, Warhol, McLuhan …). Zu Beginn die Worte                                        Martin Schaub, »überfällt den Regisseur und seine
                                     von Godard: »Der Philosoph und der Cineast haben                                        technische Equipe, die sich zu wehren wissen. Das
                                     eine bestimmte Lebensweise gemeinsam, die einer                                         ist das Umwerfende, das Unwahrscheinliche dieses
                                     Generation eigentümliche Sicht auf die Welt«. Ein                                       Films: dass das reflexartige Zusammenspiel, die
                                     Fernsehspiel mit spürbarer Nähe zum Essayfilm.                                          Unberechenbarkeit, beispielsweise das Durcheinan-
                                     Hanekes Weg ins Kino ist vorgezeichnet. (lm)                                            der einer gestörten Frühstücksparty, ohne Rest in
                                                                                                                             eine Kamera und in ein Mikrofon gehen. Die Filme
                                                                                                                             von Cassavetes kann man nur von den Figuren her
                                                                                                                             erleben (also nicht von der Kamera, nicht von den
                                                                                                                             hinteren Fauteuils aus). Das ist ihre Begrenzung und
                                                                                                                             vitale Stärke.« (lm)

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        Michael Haneke | PROGRAMM | 1. BIS 20. OKTOBER 2010 | METRO KINO
SA 16.10., 18:45                                                                            FR 8.10., 23:00

Carte Blanche Michael Haneke                                                                Carte Blanche Michael Haneke
ZERKALO (DER SPIEGEL) SU 1975                                                               SALÒ O LE 120 GIORNATE DI SODOMA I/F 1975

REGIE Andrei Tarkovsky              Tarkovsky verbindet in ZERKALO die individuelle         REGIE Pier Paolo Pasolini        Im letzten Reich des faschistischen Italiens, der
BUCH Andrei Tarkovsky,                                                                      BUCH Pier Paolo Pasolini,
Aleksandr Misharin                  Geschichte der Hauptfigur Aleksei mit der Gesell-       Sergio Citti                     Republik Salò, inszenieren Großbürger angesichts
KAMERA Georgi Rerberg               schaftshistorie der Sowjetunion. Unter Nutzung          KAMERA Tonino Delli Colli        des nahenden Endes des Mussolini-Regimes ihre
SCHNITT Ljudmila Fejginowa                                                                  SCHNITT Nina Baragli
MUSIK Giovanni, Battista Pergo-     unterschiedlichster Bildquellen erzeugt er ein facet-   KOSTÜME Danilo Donati            Macht in Form grausamer Rituale: Ganz der litera-
lesi, J.S. Bach, Eduard Artemjew,   tenreiches Porträt, die Reflexion eines Sterbenden.     MUSIK Ennio Morriconi            rischen Vorlage de Sades verpflichtet, werden eine
Henry Purcell                                                                               MIT Paolo Bonacelli, Giorgio
MIT Margarita Terechova, Ignat      Im Rückblick dieses stark autobiografisch geprägten     Cataldi, Umberto Paolo Quin-     Reihe junger Menschen erniedrigt, gequält und
Danilzew, Oleg Jankowski, Filipp    Films, der wie SOLARIS unter Mitwirkung von             tavalle                          schließlich ermordet. Abseits aller Gewaltästheti-
Jankovski, Anatoli Solonizyn,                                                               PRODUKTION Produzioni Euro-
Alla Demidowa                       Aleksandr Misharin entstand, verfügen sich die pri-     pee Associati; Les Productions   sierung werden in diesem Film, der gleichermaßen
PRODUKTION Mosfilm                  vate Erfahrungen des Protagonisten, seine stories,      Artistes Associés                Wissenschaft und Gerichte beschäftigte, mensch-
LÄNGE 108 Minuten                                                                           LÄNGE 116 Minuten
FORMAT 35 mm                        mit der allgemeinen history. In der Folge beginnen      FORMAT 35 mm, Farbe              licher Machtrausch und Vernichtungslust nüchtern
                                    sich die Bilder wechselweise zu bedingen, zu kom-                                        inszeniert: »Der Film, der mich in meinem Leben am
                                                                                            Originalfassung mit
                                    mentieren und zu ergänzen. Poetische Frakturen          deutschen Untertiteln            meisten weiter gebracht hat, war seinerzeit SALÒ
                                    und verwobene Erzählstrukturen treten, getragen                                          ODER DIE 120 TAGE VON SODOM von Pasolini. Der
                                    von Gedichten seines Vaters Arseni Tarkovsky, an                                         zeigte Gewalt als das, was sie wirklich ist: Leiden
                                    die Stelle von Geradlinigkeit – ein Umstand, der Tar-                                    der Opfer. Das fand ich unerträglich. Das ist bis
                                    kovsky in seiner Heimat nicht nur Lob einbrachte.                                        heute der Film, der mich am meisten aus der Bahn
                                    Alekseis Suche nach seiner (verlorenen) Lebenszeit                                       geworfen hat. Damals habe ich mich ununterbro-
                                    ist ein starker filmischer Ausdruck subjektiven                                          chen gefragt: Halte ich das noch aus? Muss ich jetzt
                                    Erlebens und Empfindens, ein forderndes Bekennt-                                         kotzen? Aber der hat mich wirklich über sehr sehr
                                    nis zum Einzelnen (tb). »Nur eine Irritation bewirkt                                     viel nachdenken lassen. In einer Gesellschaft wie
                                    wirklich etwas. Man will ja aus dem Kino nicht so                                        der unserigen kann man Kino oder dramatische
                                    rauskommen, wie man reingegangen ist – das wäre                                          Kunst im weitesten Sinn nur so machen. Man kann
                                    verlorene Zeit.« (M. Haneke)                                                             sie nicht konsensuell machen. Dann ist man dumm.
                                                                                                                             Oder feig, oder zynisch.« (M. Haneke)
                                                                                                                                                                               35
Michael Haneke | PROGRAMM | 1. BIS 20. OKTOBER 2010 | METRO KINO
SO 3.10., 21:00                                                                         DO 7.10., 21:00

     LEMMINGE (ARKADIEN) A/BRD 1979                                                          LEMMINGE (VERLETZUNGEN) A/BRD 1979

     REGIE, BUCH Michael Haneke       Mit dem zweiteiligen, semi-autobiografischen           REGIE, BUCH Michael Haneke         LEMMINGE, zweiter Teil. Aus den verzweifelten
     KAMERA Jerzy Lipman, Walter                                                             KAMERA Jerzy Lipman
     Kindler                          Generationendrama LEMMINGE präsentiert sich            SCHNITT Marie Homolkova            Jugendlichen sind verzweifelte Erwachsene gewor-
     SCHNITT Marie Homolkova          Michael Haneke dem Fernsehpublikum erstmals als        MIT Monika Bleibtreu, Elfriede     den. Sigrid kehrt anlässlich des Todes ihres Vaters
     MUSIK Franz Schubert, Ludwig                                                            Irrall, Rüdiger Hacker, Wolfgang
     van Beethoven, Alexander         Regisseur und Autor in Personalunion. Und breitet      Hübsch, David Haneke, Norbert      von Wien nach Wr. Neustadt zurück. Doch sie findet
     Steinbrecher                     damit in aller inszenatorischen Dringlichkeit sein     Kappen, Guido Wieland, Vera        nichts als Leere vor. Und zwar nicht nur in den
     MIT Regina Sattler, Christian                                                           Borek, Wolfgang Gasser, Julia
     Ingomar, Eva Linder, Paulus      Weltbild aus. Die (moderne) Zivilisation ist – ver-    Gschnitzer                         (Erinnerungs-)Räumen der elterlichen Villa, sondern
     Manker, Bernhard Wicki, Elisa-   kürzt formuliert – ein Gefängnis und die Konvention    MUSIK J. S. Bach                   auch in den Gesichtern ihrer Jugendfreunde. Chri-
     beth Orth, Hilde Berger, Kurt                                                           PRODUKTION Schönbrunn-
     Sowinetz, Greta Zimmer, Ingrid   dessen Wärter. Im ersten Teil ARKADIEN porträtiert     Film; ORF; SFB (Sender Freies      stian, heute Oberleutnant, stellt bei einem gemein-
     Burkhardt, Kurt Nachmann,        er die Jugendjahre seiner Protagonisten: Evi, Chri-    Berlin)                            samen Essen zynisch fest: »… die Form hält etwas
     Rudolf Wessely                                                                          LÄNGE 107 Minuten
     PRODUKTION Schönbrunn-           stian, Fritz und das großbürgerliche Geschwister-      FORMAT Beta-SP, Farbe              zusammen, was längst auseinandergefallen ist«.
     Film; ORF; SFB (Sender Freies    paar Sigrid und Sigurd, fünf Gymnasiasten im Wr.                                          Eine Einsicht, aus der er aber letztlich die falschen
     Berlin)
     LÄNGE 113 Minuten                Neustadt der späten fünfziger Jahre – aufgerieben                                         Konsequenzen zieht …
     FORMAT Beta-SP, Farbe            zwischen den Versprechen der Popkultur, (schwie-                                          In finsterer Atmosphäre und mit nüchterner
                                      riger) Sexualität und der rigiden, überkommenen                                           Bildsymbolik inszeniert, weitet Haneke in VER-
                                      Werteordnung ihrer Väter, aus deren Klammern sie                                          LETZUNGEN seine Gesellschaftsdiagnose auf die
                                      sich mit allen Mitteln zu befreien versuchen. Doch                                        Verhältnisse der siebziger Jahre aus, zeichnet eine
                                      Haneke gibt ihnen keine Chance, lässt sie verzwei-                                        Welt, die sich wie ein undurchdringbares Netz aus
                                      felt in den Tod stürzen (Sigurd) oder in Resignation                                      Schuld, Angst, Entfremdung und Gleichgültigkeit
                                      erstarren. Nur Sigrid schafft es aus der Kleinstadt                                       darstellt. »Was gilt da noch?«, bricht es am Ende
                                      nach Wien – zwischenzeitlich. (lm)                                                        aus Christian heraus. Eine Frage, auf die selbst der
                                                                                                                                Pfarrer keine Antwort mehr weiß. LEMMINGE: Ein
                                                                                                                                Fernseh(-film-)Epos von tiefer, existenzialistischer
                                                                                                                                Traurigkeit. (lm)

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        Michael Haneke | PROGRAMM | 1. BIS 20. OKTOBER 2010 | METRO KINO
FR 8.10., 18:15                                                                         FR 15.10., 19:00

VARIATION BRD 1983                                                                      WER WAR EDGAR ALLAN? A/BRD 1984

REGIE, BUCH Michael Haneke      Variationen über die Liebe und ihre Schmerzen.          REGIE Michael Haneke             Mit »Wer war Edgar Allan?« versuchte sich Peter
KAMERA Walter Kindler                                                                   BUCH Hans Broczyner, Michael
MUSIK Egberto Gismonti, Jan     Der Lehrer Georg und die Journalistin Anna lernen       Haneke, Peter Rosei              Rosei 1977 erfolgreich im »Erzählen einer lite-
Garbarek, Charlie Haden         einander kennen und lieben. Doch ihre Zuneigung         KAMERA Frank Brühne              rarischen Halluzination« (K. E. Thorpe): In stark
MIT Elfriede Irrall, Suzanne                                                            SCHNITT Lotte Klimitschek
Geyer, Hilmar Thate, Monica     kann sich nicht frei entfalten. Georg ist, scheinbar    MUSIK Ennio Morricone            fragmentierter Form schildert er darin die Identi-
Bleibtreu, Eva Linder, Udo      glücklich, mit Eva verheiratet und Anna lebt in Be-     MIT Paulus Manker, Rolf Hoppe,   tätskrise eines Kunststudenten. Diverse Rausch-
Samel, Ilse Trautschold, Kurt                                                           Guido Wieland, Renzo Martini,
Hübner                          ziehung mit der Schauspielerin Kitty. Eine naturge-     Walter Garadi                    mittel zerrütten sein Selbstbild als Dandy, die
PRODUKTION SFB                  mäß vertrackte Situation, die für Kitty Hysterie und    PRODUKTION Neue Studio           Begegnung mit einem mysteriösen US-Amerikaner,
LÄNGE 98 Minuten                                                                        Film, ZDF, ORF
FORMAT Beta-SP, Farbe           für Eva stille Verlorenheit bedeutet. Georgs Schwe-     LÄNGE 83 Minuten                 dem titelspendenden Edgar Allan, und die Ver-
                                ster Sigrid wiederum erleidet eine Art emotionalen      FORMAT Beta-SP                   wicklung in mysteriöse Verbrechen führen zur
                                Kollatoralschaden, schneidet sich in der Badewanne                                       Verschlimmerung der Krise. Textlich offen gehalten,
                                die Pulsadern auf. Bei alledem ist VARIATION aber                                        mit Elementen einer möglichen Biografie Poes
                                keine >grausame< Tragödie, viel eher ein nachdenk-                                       durchsetzt, bot Roseis Vorlage die ideale Startbasis
                                licher Liebesfilm, in dessen schmuckloser, aber nicht                                    für ein offenes filmisches Erzählen. Wie der heim-
                                weniger avancierter Mise-en-scène ebenso viel küh-                                       liche Klassiker der österreichischen postmodernen
                                le Distanz wie zärtliche Nähe zum Ausdruck kommt.                                        Literatur, bleibt auch die Adaption eine einfache
                                »Haneke hat VARIATION einmal seinen ›John-                                               Lösung schuldig. Vielmehr dominieren das Labyrin-
                                Cassavetes-Film‹ genannt, weil bei all den Verlet-                                       thische und Verzweigte, treten gewinnbringend an
                                zungen, die jeder dem anderen zufügt, die Utopie                                         die Stelle einfacher (Krimi-)Linearität. Dass Rosei in
                                der Liebe erhalten bleibt« (Horwath). Tatsächlich                                        seiner Poetik den Leitlinien eines außermoralischen
                                zählt der Schluss zu den versöhnlichsten in Hanekes                                      Charakters der Grausamkeit und der existenziellen
                                Werk, ein Happy End ist es freilich nicht. (lm)                                          Ausweglosigkeit des Lebens verpflichtet ist, trägt
                                                                                                                         noch zum Reiz dieser Arbeit Hanekes bei. (tb)

                                                                                                                                                                              37
Michael Haneke | PROGRAMM | 1. BIS 20. OKTOBER 2010 | METRO KINO
FR 15.10., 21:00                                                                          FR 1.10., 19:30 | MO 4.10., 21:00

     FRAULEIN BRD 1985                                                                         DER SIEBENTE KONTINENT A 1989

     REGIE, BUCH Michael Haneke         Eine Mentalitätsstudie der deutschen Nach-             REGIE, BUCH Michael Haneke        Das Kinodebüt von Michael Haneke, 1989 in Cannes
     KAMERA Walter Kindler, Klaus                                                              KAMERA Toni Peschke
     Hohenberger                        kriegszeit, ein bitter-sarkastisches Melodram, von     SCHNITT Marie Homolkova           uraufgeführt und Auftakt zu seiner viel diskutierten
     SCHNITT Monika Sozbacher,          Haneke einmal als seine Antwort auf Fassbinders        MUSIK Alban Berg                  Trilogie der emotionalen Vergletscherung. Ein Film
     Monika Schreiner                                                                          MIT Birgit Doll, Dieter Berner,
     MIT Angelica Domröse,              DIE EHE DER MARIA BRAUN bezeichnet. Eine Frau          Leni Tanzer, Udo Samel, Robert    von stilistischer Präzision, wie man sie im österrei-
     Peter Franke, Lou Castel, Heinz-   hat es sich in ihrem kleinstädtischen Leben »gut«      Dietl, Georg Friedrich            chischen (Erzähl-)Kino bis dahin noch nicht gesehen
     Werner Kraehkamp, Cordula                                                                 PRODUKTION Veit Heiduschka;
     Gerburg , Chris Howland, Lisa      eingerichtet – mit ihren beiden Kindern und ihrem      Wega-Film                         hat. Über einen Zeitraum von drei Jahren zeichnet
     Helwig, Paulus Manker              Liebhaber, einem französischen Besatzungssol-          LÄNGE 104 Minuten                 Haneke den Alltag einer Linzer Mittelstandsfami-
     PRODUKTION Telefilm Saar                                                                  FORMAT 35 mm, Farbe
     Gmbh; SR (Saarländischer           daten und Amateur-Catcher. Bis ihr für tot erklärter                                     lie nach: Aufstehen, Zähneputzen, Frühstücken,
     Rundfunk)                          Ehemann aus der russischen Kriegsgefangenschaft                                          Arbeiten, nach Hause kommen, Lichtabdrehen.
     LÄNGE 108 Minuten
     FORMAT Beta-SP, s/w                zurückkehrt. Die Autonomie ist schlagartig dahin,                                        Vater, Mutter, Kind eingespannt in die Mechanik der
                                        und ihr Alltag fortan von Entfremdung, Isolation                                         kapitalistischen Lebensordnung. Dann, eines Tages,
                                        und Psycho-Terror bestimmt: Der Mann leidet nicht                                        die Wende. Das Ehepaar beschließt, gemeinsam
                                        nur am Trauma des Krieges, sondern auch am Trau-                                         mit der Tochter, in den Tod zu gehen – und vollzieht
                                        ma der Heimkehr. Hanekes bildästhetisch vielleicht                                       ihre Tat auf brachiale Weise. Ein Familienporträt
                                        ausladendster Fernsehfilm, nicht nur das Porträt                                         als Traktat über das »Grauen der Wirklichkeit«,
                                        einer Frau, die ihr »Glück« einfordert, sondern                                          unmissverständlich formuliert in einer Grammatik
                                        auch das Porträt einer deutschen Kleinstadt im                                           der Ausweglosigkeit: Schwarzblenden, strenge
                                        Taumel des Wirtschaftswunders. Das Kino als Ort,                                         Bildkadrage, kalte Farben, wie versteinert agierende
                                        in Hanekes Filmen nur selten präsent, ist dabei eine                                     Figuren. Haneke erklärt nichts, vertraut stattdessen
                                        zentrale Drehscheibe – und gerät am Ende – ganz im                                       ganz auf die Wirkungskraft der Zeichen. Ein zutiefst
                                        metaphorischen Sinn – zum Fluchtraum schlechthin.                                        verstörender Film, der in der Klarheit seiner Form
                                        (lm)                                                                                     aber nachhaltig zu transzendentaler Schönheit
                                                                                                                                 findet. (lm)

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         Michael Haneke | PROGRAMM | 1. BIS 20. OKTOBER 2010 | METRO KINO
DI 19.10., 18:45                                                                      DI 12.10., 20:30

NACHRUF FÜR EINEN MÖRDER A 1991                                                       BENNY’S VIDEO A/CH 1992

GESTALTUNG Michael Haneke    »Am 8. September 1990 schoß der 21jährige Felix          REGIE, BUCH Michael Haneke         Die Spektakelgesellschaft und ihre Vertreter stehen
SCHNITT Brigitte Pevny                                                                KAMERA Christian Berger
REDAKTION Wolfgang Ainber-   Zehetner aus Wien Florisdorf auf seine schlafenden       SCHNITT Marie Homolkova            im Zentrum von BENNY’S VIDEO: Der Film beginnt
ger, Evelyn Itkin            Eltern, richtete auf der Party benachbarter Freunde      TON Karl Schlifelner               mit dem statischen Rauschen der Bildschirme, dem
PRODUKTION ORF (»Kunst-                                                               MIT Arno Frisch, Angela Winkler,
stücke«)                     ein Blutbad an, streckte zwei Polizisten nieder und      Ulrich Mühe                        kalten Technikgeräusch der Tötung eines Schweins
LÄNGE 110 Minuten            tötete sich anschließend selbst. Fazit des Amok-         PRODUKTION Wega Film;              mittels Bolzenschussgerät. Benny, der wohlstandver-
FORMAT Beta-SP, Farbe                                                                 Bernard Lang
                             laufs: 6 Tote, 4 lebensgefährlich Verletzte. Drei Tage   LÄNGE 105 Mintuten                 wahrloste Sohn aus gutem Hause, thront in seinem
                             später fand im 2. Programm des österreichischen          FORMAT 35 mm                       Zimmerreich aus Bildschirmen, Gerätschaften und
                             Fernsehens aus diesem Anlass ein CLUB 2 mit dem                                             Abspielgeräten. Verschanzt in seinem Reich der
                             Thema ›Töten statt reden – Über den jugendlichen                                            Wirklichkeitsmanipulation und vermeintlicher All-
                             Gewaltrausch‹ statt. Sämtliche Fernsehsendungen                                             macht, ediert er seine eigenen Erfahrungen, kehrt er
                             dieses einen Tages (FS1 und FS2) bilden das allei-                                          immer wieder zur bewahrten Szenerie einer Schlach-
                             nige Material der folgenden TV-Collage. Länge, Posi-                                        tung zurück. Die Begegnung mit einem namenlosen
                             tion und Häufigkeit der Sendungsteile in der Collage                                        Mädchen, die er in einer Videothek trifft, führt nicht,
                             entsprechen proportional exakt der Länge, Position                                          wie es die filmischen Konventionen anbieten würden,
                             und Häufigkeit ihres Vorkommens im Tagespro-                                                zu einer sexuellen Erfahrung, sondern zu einem
                             gramm«: So liest sich die instruktive Texttafel im                                          kühlen Mord abseits des Sichtbaren. Das Fragen nach
                             Vorspann von NACHRUF FÜR EINEN MÖRDER, Ha-                                                  moralischen Rahmenbedingungen und Medienehtik
                             nekes nüchtern-zynische Reflexion über die mediale                                          bestimmen diesen gleichermaßen zugänglichen
                             Auseinandersetzung mit diesem Fall, die er nicht                                            wie sachlich anmutenden Film. Dass die elterliche
                             zuletzt überformt sieht durch den Bilderkreislauf                                           Generation in ihrer Verantwortungsverweigerung
                             des Entertainment. Fernsehkritik im Fernsehen, in                                           dabei kein gutes Bild abgibt, ist ebenso konsequent
                             ihren Mitteln so einfach wie komplex. (lm)                                                  wie klar. Das Prothesengedächtnis Video erweist sich
                                                                                                                         hier als bandlanger Stoff aus dem Alpträume und
                                                                                                                         generationsübergreifende Fesseln gewoben sind. (tb)
                                                                                                                                                                              39
Michael Haneke | PROGRAMM | 1. BIS 20. OKTOBER 2010 | METRO KINO
SA 9.10., 18:30 | MO 18.10., 21:00                                                         MO 11.10., 21:00

                                                                                                71 FRAGMENTE EINER CHRONOLOGIE DES ZUFALLS
     DIE REBELLION A 1993
                                                                                                A/D 1994

     REGIE, BUCH Michael Haneke         Michael Hanekes Verfilmung des gleichnamigen            REGIE, BUCH Michael Haneke    Letzter Teil von Michael Hanekes Trilogie der
     KAMERA Jirí Stibr                                                                          KAMERA Christian Berger
     SCHNITT Marie Homolkova            Romans von Joseph Roth, gedreht als Auftragsar-         SCHNITT Marie Homolkova       emotionalen Vergletscherung. Ein Gesellschafts-
     TON Karl Schlifelner               beit für das österreichische Fernsehen. Aber auf        TON Hannes Eder               Panorama im besten Sinne. Haneke gibt Einblicke
     MIT Branko Samarovski, Judith                                                              MIT Gabriel Cosmin Urdes,
     Pogány, Thierry Van Werveke,       das Kino vergisst Haneke dabei wieder einmal nicht:     Lukas Miko, Otto Grünmandl,   in die Lebensentwürfe verschiedener Menschen in
     Deborah Wisniewski, Ulrich         DIE REBELLION lässt sich in seinem Expressionis-        Anne Bennent, Udo Samel,      Wien – ein rumänischer Straßenjunge, zwei Ehe-
     Reinthaller, Katharina Grabherr,                                                           Branko Samarovski, Claudia
     August Schmölzer, Johannes         mus auch als Verbeugung vor den Sozialdramen des        Martini, Georg Friedrich,     paare, ein alter Mann oder ein Student. Sie stehen
     Silberschneider, Christian Spat-   Weimarer Kinos lesen. Es ist ein stiller, überaus ly-   Alexander Pschill             in keinerlei Verbindung zueinander, bis sie der Zufall
     zek, Karl Ferdinand Kratzl, Götz                                                           PRODUKTION Veit Heiduschka;
     Kauffmann, Georg Trenkwitz,        rischer Film, in seinen Farbtexturen feinsinnig gewo-   Wega-Film; ZDF; arte          am Ende zusammen führt: Kurz vor Weihnachten
     Udo Samel                          ben, mit einem glänzenden Schauspieler-Ensemble         LÄNGE 95 Minuten              läuft der Student Amok, eröffnet in einer Bank das
     PRODUKTION Wega-Film; ORF                                                                  FORMAT 35 mm, Farbe
     LÄNGE 105 Minuten                  besetzt und von Udo Samels unprätentiöser Erzähl-                                     Feuer und richtet sich im Anschluss selbst. In seiner
     FORMAT Beta-SP, Farbe, s/w         stimme durchdrungen. Andreas Plum (Samarovski)                                        Chronik der Ereignisse verweigert sich Haneke, so
                                        wird im Krieg ein Bein amputiert und – zurück in                                      will es seine rigorose Kino-Moral, jeglicher psycho-
                                        Wien – mit einer Drehorgellizenz »belohnt«. In                                        logischen Deutung des Falls, sucht vielmehr nach
                                        seiner Staatsgläubigkeit stets unerschüttert, gerät                                   dem größeren, soziokulturellen Zusammenhang und
                                        er allerdings jäh in Konflikt mit der Justiz. Plum                                    erstellt mit klinischer Genauigkeit ein Protokoll der
                                        verliert seine Lizenz, seine Frau und, nicht zuletzt,                                 existenziellen Überforderung. Gegliedert ist dieses
                                        auch seine Fassung. Er wird ins Gefängnis gesteckt                                    dabei in 71 Alltags-Szenen, die durch Schwarzfilm
                                        und nach seiner Enthaftung zum Toilettenaufseher                                      markant voneinander getrennt sind: Die mediale
                                        im Café Halali gemacht, wo er – in einer Schlussse-                                   Wirklichkeit ist ein komplexes, manipulatives Kon-
                                        quenz von klarstem Surrealismus – zu einer letzten                                    strukt. Das gibt uns Haneke hier in aller Dringlich-
                                        Erkenntnis gelangt. Die Geschichte vom Untergang                                      keit zu verstehen. Großes Kino der Beunruhigung,
                                        der Donaumonarchie als Geschichte einer Wahrneh-                                      so klar wie rätselhaft. (lm)
                                        mungsverschiebung. Eine Großtat. (lm)

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         Michael Haneke | PROGRAMM | 1. BIS 20. OKTOBER 2010 | METRO KINO
MI 20.10., 19:00                                                                        SO 17.10., 18:30

LUMIÈRE ET COMPAGNIE F/DK/ESP/Schweden 1995                                             DAS SCHLOSS A 1997

REGIE Theo Angelopoulos,          Glückwunschfilme an das Kino. 1995 feierte es         REGIE, BUCH Michael Haneke       Michael Hanekes geradlinige, bis zur Sachlichkeit
Peter Greenaway, Abbas                                                                  KAMERA Jirí Stibr
Kiarostami, Spike Lee, David      seinen 100. Geburtstag – begleitet von zahlreichen,   SCHNITT Andreas Prochaska        klare Umsetzung von Kafkas Literaturvorlage macht
Lynch, Michael Haneke, Jacques    internationalen Projekten. Unter anderem von          TON Hannes Eder                  deutlich, anders als vergleichbare Verfilmungen
Rivette u. a.                                                                           MIT Ulrich Mühe, Susanne
IDEE Philippe Poulet              diesem: Für LUMIÈRE ET COMPAGNIE wurden an die        Lothar, Frank Giering. Felix     des Romanfragments, wie wenig Raum ein positiver
MIT Jeffe Alperi, Romane Bohr-    150 Filmemacher eingeladen, mit einem der ersten      Eitner, Nikolaus Paryla, André   Entwurf hier haben kann: Landvermesser K. – selbst
inger, Bruno Ganz, Neil Jordan,                                                         Eisermann, Dörte Lyssewski,
Satchel Lee                       Zauberkästen des Kinos zu hantieren, nämlich mit      Branko Samarovski, Ortrud        in seinem Beruf mehr ein von Autoritäten Berufener
PRODUKTION Cinétévé; La           einer Original-Kamera der Gebrüder Lumière. Die       Beginnen, Otto Grünmandl,        denn Ausübender – kann nicht ins Schloss, das über
Sept Arte; Igeldo Komunikazioa;                                                         Johannes Silberschneider
Søren Stærmose AB; Canal+;        Spielregeln waren dabei für alle gleich: Die Filme    PRODUKTION arte; BR; ORF;        seinem Aufenthaltsort, dem entlegenen Dorf, liegt,
Arte                              müssen in der Kamera geschnitten werden, dürfen       Wega Film                        gelangen. Je mehr er sich bemüht, desto weiter
LÄNGE 88 Minuten                                                                        LÄNGE 123 Minuten
FORMAT 35 mm, s/w, Farbe          nicht länger als 54 Sekunden lang sein, über kein     FORMAT 35 mm                     rückt sein Ziel in die Ferne. Aufgabe und Existenz
                                  künstliches Licht und keinen zusätzlichen Ton                                          erliegen dem bürokratischen Dickicht und den
Originalfassung mit
deutschen Untertiteln             verfügen und in nicht mehr als drei takes gedreht                                      undurchsichtigen Entscheidungen wenig greif-
                                  werden. 40 Regisseure erklärten sich bereit, nach                                      barer Instanzen. K. bleibt ein Ausgelieferter ohne
                                  diesen Regeln zu spielen. Unter ihnen Virtuosen wie                                    Hoffnung oder Utopie, doch mit einer möglichen
                                  Peter Greenaway, David Lynch, Abbas Kiarostami                                         Botschaft: »Wenn es eine Utopie geben sollte, die
                                  oder eben auch Michael Haneke. In seinem Beitrag                                       man ernstnehmen kann, dann kann das nur eine
                                  sieht Haneke mit der Kamera fern, verdichtet eine                                      negative Utopie sein. Und die wiederum kann es nur
                                  Nachrichtensendung auf die vorgegebene Zeit:                                           geben, wenn man genau analysiert, meinetwegen
                                  Moderation, Politik, Chronik, Sport und das Wetter.                                    auch übertreibt, wenn man eine präzise Bestands-
                                  Die Aufzeichnungs-Prinzipien der geduldigen Welt-                                      aufnahme des Gegebenen bietet. Wenn ich das, was
                                  betrachter Lumière, auf denen die Regeln aufbau-                                       ist, wirklich radikal zu Ende formuliere, dann kann
                                  en, angewandt auf eine Wirklichkeit des medialen                                       aus den Einsichten, die der Zuschauer gewinnt,
                                  Bildüberschusses. Typisch Haneke also. (lm)                                            eine Form von Hoffnung, Utopie, von Kampfwillen
                                                                                                                         entstehen.« (M. Haneke) (tb)
                                                                                                                                                                          41
Michael Haneke | PROGRAMM | 1. BIS 20. OKTOBER 2010 | METRO KINO
DO 14.10., 21:00                                                                          SA 16.10., 21:00

                                                                                               CODE INCONNU: RÉCIT INCOMPLET DE DIVERS
     FUNNY GAMES A 1997
                                                                                               VOYAGES F/D/R 2000

     REGIE, BUCH Michael Haneke        Mit FUNNY GAMES, einem seiner bis heute um-             REGIE, BUCH Michael Haneke        Michael Hanekes erster internationaler Film,
     KAMERA Jürgen Jürges                                                                      KAMERA Jürgen Jürgens
     SCHNITT Andreas Prochaska         strittensten Filme, entfaltet Haneke eine negative      SCHNITT Andreas Prochaska,        vornehmlich produziert und gedreht in Frankreich
     TON Wolfgang Amann                Idylle: Die Tage am See führen für eine bürgerliche     Karin Hartusch, Nadine Muse       und mit einem Weltstar (Juliette Binoche) in der
     MIT Arno Frisch, Frank Giering,                                                           MUSIK Giba Goncalves
     Susanne Lothar, Ulrich Mühe,      Familie nicht zur gewünschten Erholung, sondern         MIT Juliette Binoche, Thierry     Hauptrolle besetzt. Haneke erzählt von Fremdheit,
     Stafan Clapczynski, Doris         geradewegs in den Tod. Medienreflexiv gezeichnet,       Neuvic, Alexandre Hamidi, Josef   Entfremdung und dem Mangel an Kommunikation
     Kunstmann, Christoph Bantzer,                                                             Bierbichler, Paulus Manker
     Wolfgang Glück, Susanne Me-       treten zwei junge Männer, deutlich referenzbela-        PRODUKTION MK2 Produc-            in der modernen, von Multikulturalität geprägten
     neghel, Monika Zallinger          dene Erinnyen, in das kleine Glück, führen als stille   tions; France 2 Cinéma; Canal+;   Gesellschaft, rückt Menschen in den Mittelpunkt – u.
     PRODUKTION Wega Film; ORF                                                                 Les Films Alain Sarde; Arte
     LÄNGE 108 Minuten                 Rasende nicht nur die Verletzbarkeit der Opfer, son-    France Cinéma; Bavaria Film;      a. eine Schauspielerin, eine rumänische Bettlerin,
     FORMAT 35 mm, Farbe               dern auch des Publikums vor. Schritt für Schritt wird   ZDF; Filmex Romania               einen schwarzen Musiklehrer, einen Kriegsfoto-
                                                                                               LÄNGE 118 Minuten
                                       die Kinosituation mitgemeint, macht der Schrecken       FORMAT 35 mm, Farbe               grafen –, die in ihren privaten oder öffentlichen
                                       der angespielten Genres vor dem extradiegetischen                                         Begegnungen keinen Zugang zueinander finden.
                                                                                               Originalfassung mit
                                       Raum nicht mehr Halt. Die scheinbar motivlosen,         deutschen Untertiteln             Wie der Titel bereits sagt: Code Unbekannt.
                                       psychischen wie auch physischen Gewaltdemonstra-                                          In seiner ästhetischen Strategie präsentiert sich Ha-
                                       tionen der Täter entfalten sich dabei im horriblen                                        neke dabei einmal mehr als brillanter, auf filmische
                                       Paradox von ausgesuchter Höflichkeit und gna-                                             Selbstreflexion fokussierter Konstruktivist. Er weist
                                       denloser Exekution. Mit dem Einbruch der beiden                                           seine Alltagsbeobachtungen explizit als Fragmente
                                       werden aber nicht nur die beklemmenden Folgen                                             aus und formt diese nahezu ausschließlich zu
                                       einer unhinterfragten Medialisierung von Wirklich-                                        Plansequenzen, welche in ihren vielschichtigen
                                       keit vorgeführt, sondern auf zweiter und wohl auch                                        (sozialen) Bewegungen ebenso die Konzentration
                                       gewichtigerer Ebene die vielfältigen Verknüpfungen                                        des Zuschauers fordern wie sie eine geradezu
                                       von Macht und Legitimation aufgerufen. (tb)                                               offene Empathie für die handelnden Personen in
                                                                                                                                 sich tragen – nicht zuletzt deshalb wohl Hanekes bis
                                                                                                                                 dato zugänglichster Kinofilm. (lm)

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         Michael Haneke | PROGRAMM | 1. BIS 20. OKTOBER 2010 | METRO KINO
FR 8.10., 20:15                                                                          SO 17.10., 21:00

LA PIANISTE/DIE KLAVIERSPIELERIN F/BRD/PL/A 2001                                         LE TEMPS DU LOUP / WOLFZEIT F/A/D 2003

REGIE Michael Haneke             Erika ist Mutters ganzer Stolz. Sie hat es weit         REGIE, BUCH Michael Haneke         Michael Hanekes WOLFZEIT geht das Spiel mit dem
BUCH Michael Haneke, nach                                                                KAMERA Jürgen Jürges
dem gleichnamigen Roman von      gebracht. »Frau Professor« wird sie am Konserva-        SCHNITT Nadine Muse, Monika        Apokalyptischen – genauer: mit dem Postapoka-
Elfriede Jelinek                 torium genannt. Die gesellschaftliche Anerkennung       Will                               lyptischen – ein. Zu Beginn der Handlung ist die
KAMERA Christian Berger                                                                  TON Jean-Pierre Laforce,
SCHNITT Nadine Muse, Monika      und das sichere Einkommen sollen sie für ihre           Guillaume Sciama                   Katastrophe schon geschehen, das alles verän-
Willi                            entgangene Weltkarriere als Pianistin entschädigen.     MIT Isabelle Huppert, Béatrice     dernde Ereignis ist atmosphärisch spürbar, bleibt
MUSIK Francis Haines                                                                     Dalle, Patrice Chéreau, Brigitte
MIT Isabelle Huppert, Annie      Kommt Erika am Abend zu spät nach Hause, gibt           Roüan, Olivier Gourmet             aber ungenannt. So wie sein Film CODE INCONNU
Girardot, Benoît Magimel,        es Streit und Vorwürfe, die oft erst in der Intimität   PRODUKTION Wegafilm;               (2000) die Frage danach stellt, wie lange es mit der
Michael Schottenberg, Susanne                                                            Bavaria Film; Canal+; CNC; Eu-
Lothar, Udo Samel, Cornelia      des gemeinsamen Doppelbettes, in dem Mutter             rimages; France 3 Cinéma; Les      westlichen Gesellschaft noch so weitergehen kann,
Köndgen, Georg Friedrich         und Tochter schlafen, besänftigt werden. Eines          films du Losange; arte France      werden hier anhand einer gewaltvoll zertrümmerten
PRODUKTION Wega Film,                                                                    Cinéma
Wien; MK2 Productions; Les       Tages beginnt ein junger Student, sich um Erika zu      LÄNGE 113 Minuten                  Kleinfamilie Fragen nach dem Weiterleben nach
Films Alain Sadre; Arte France   bemühen. Fluchtbewegungen sind es vor allem, die        FORMAT 35 mm, Farbe                der Katastrophe gestellt. Lösen große Hollywood-
Cinéma; Bayrischer Rundfunk;
P.P. Film Polski                 Haneke in gewohnt kühlen und distanzierten Bildern      Originalfassung mit                Produktionen diese Komplexe meist zugunsten
LÄNGE 131 Minuten                von seiner Klavierspielerin zeichnet. Fluchtversuche    deutschen Untertiteln              der wiederhergestellten familiären Einheit oder
FORMAT 35 mm, Farbe
                                 aus einem Leben ohne Liebe, Wärme und wirklich                                             Schicksalsgemeinschaft auf, trägt bei Haneke im-
Originalfassung mit              gelebte Sexualität – gnadenlos inszeniert und von                                          mer der Einzelne die Verpflichtung, Bürde und Last
deutschen Untertiteln
                                 Isabelle Huppert erschreckend intensiv dargestellt.                                        der Situation. Unter Rückgriff auf mythologische
                                 »Wie sich Menschen abarbeiten an der Kunst und                                             Elemente wird ein Ausweg geöffnet – und erst dann
                                 den Körpern, davon erzählt dieser Film, unbeirrt,                                          darf die Sonne wieder in voller Pracht Licht und
                                 zwei Stunden lang … Kunstfertiger war Europas                                              (trügerische?) Hoffnung spenden. (tb)
                                 Kino jedenfalls lange nicht.« (Stefan Grissemann)

                                                                                                                                                                              43
Michael Haneke | PROGRAMM | 1. BIS 20. OKTOBER 2010 | METRO KINO
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