Mit Wasser und Seife gegen die Grippe
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Leitthema: Hygiene im Alltag Bundesgesundheitsbl - Gesundheitsforsch - G. Meilicke · A. Weißenborn · W. Biederbick · C. Bartels Gesundheitsschutz 2008 · 51:1273–1279 Robert Koch-Institut, Berlin BRD DOI 10.1007/s00103-008-0701-8 Online publiziert: 20. November 2008 © Springer Medizin Verlag 2008 Mit Wasser und Seife gegen die Grippe Das Händewaschen als Infektionsschutz- Empfehlung für die Bevölkerung – 7 Hypothesen aus einer qualitativen Studie zu Hygiene, Grippe und Pandemie Hintergrund Pharmazeutische Maßnahmen allein Methode: Studie zu Hygiene, reichen für die Pandemievorbereitung al- Grippe und Pandemie. Schwer- Händewaschen kann das Infektionsrisiko so nicht aus [6]. Deshalb liegt in der kom- punkt „Händewaschen“ und die Weiterverbreitung von Erregern plementären Förderung des allgemeinen reduzieren. Daher wird das Händewa- Hygieneverhaltens ein großes Potenzial Im Rahmen einer qualitativen Studie über schen – und eine Reihe weiterer nicht für den Infektionsschutz. Im Fall einer Hygiene, Grippe und Pandemie wurde als pharmazeutischer Maßnahmen – zum Pandemie sind nicht-pharmazeutische ein Schwerpunkt das Thema „Händewa- Schutz der Bevölkerung im Pandemiefall Maßnahmen wie das Händewaschen für schen“ untersucht. Neun Fokusgruppen immer wieder diskutiert, untersucht und die Bevölkerung eine Möglichkeit, um diskutierten jeweils 2,5 Stunden über Hän- empfohlen [1, 2, 3, 4, 5]. Händewaschen ist selbst aktiv eine Ansteckung zu verhin- dewaschen und weitere Infektionsschutz- eine Infektionsschutzmaßnahme, die dern – und zwar, auch wenn für die ge- Maßnahmen im Kontext von Gesundheit, grundsätzlich von jedem erlernt und re- samte Bevölkerung ein Impfstoff zur Ver- Grippe und Pandemie. Jede Gruppe be- gelmäßig praktiziert werden kann. Phar- fügung steht. stand aus 6 Teilnehmern. Die Gruppen mazeutische Maßnahmen zur Prophylaxe wurden so zusammengesetzt, dass mög- sind für den Einzelnen nicht selbstständig Fragen lichst viele verschiedene Erlebniswelten in durchzuführen. Die Impfung beispiels- die Studie mit einfließen. Es wurden Teil- weise erfordert zunächst die Entwicklung, Um die Händehygiene in der Bevölkerung nehmer aus verschiedenen Lebensab- Produktion und Zulassung eines geeig- zu fördern, muss zunächst ermittelt wer- schnitten, Bildungsschichten, Bevölke- neten Impfstoffs sowie die Verabreichung den, wie das Händewaschen aktuell in der rungsgruppen und mit unterschiedlichen durch einen Impfarzt. Im Fall einer Influ- Bevölkerung verankert ist [7]. Welches Migrationshintergründen rekrutiert. Die enza-Pandemie kann ein Impfstoff nicht Wissen existiert bereits über dieses The- genaue Zusammensetzung der Gruppen sofort, sondern voraussichtlich erst nach ma? In welchem kognitiven und emotio- ist in . Tabelle 1 dargestellt. Die Studie und nach für die gesamte Bevölkerung zur nalen Kontext befindet sich das Händewa- wurde im Auftrag des RKI von H,T,P, Verfügung stehen. Und für viele alltäg- schen? Wie ist das aktuelle Händewasch- Concept vom 7. bis 24. August 2007 in liche Erreger wie Rhino- oder Noro-Viren verhalten der Bevölkerung? Wo liegt der Berlin durchgeführt. existiert bisher kein Impfstoff. Antivirale höchste Informationsbedarf und wo das Medikation wiederum kann eine Infekti- größte Motivationspotenzial zur Hände- Ergebnisse on nur verhindern, wenn sie präventiv hygiene im Alltag? bzw. frühzeitig erfolgt. Spätere Einnahme Im Folgenden werden die Studienergeb- kann lediglich die Dauer der Erkrankung nisse zum Thema „Händewaschen“ im verringern. Die Verordnung muss durch Kontext von Gesundheit und Grippe- einen Arzt unter Berücksichtigung mög- schutz dargestellt. Darauf aufbauend, wer- licher Nebenwirkungen erfolgen. den außerdem 7 Hypothesen formuliert, Bundesgesundheitsbl - Gesundheitsforsch - Gesundheitsschutz 11 · 2008 | 1273
Leitthema: Hygiene im Alltag Tabelle 1 untersuchungen und Impfungen. Im Ver- Zusammensetzung der Fokusgruppen der Studie zu Hygiene, Grippe und gleich zur Vergangenheit stellten die meis- Pandemie ten Teilnehmer bei sich selbst einen leich- ten Trend zu mehr Vorsorgebewusstsein F Gruppe 1 F Gruppe 6 und stärkerer gesundheitlicher Eigenver- 50 % Männer, 50 % Frauen 50 % Männer, 50 % Frauen antwortung fest. Wirklich gezieltes Be- 18 bis 24 Jahre Verschiedene Nationalitäten – mühen um Krankheitsvermeidung setzt Schüler und Studenten – ohne Kinder 25 bis 60 Jahre aber immer eine konkret erlebte Betrof- Berufstätige – mit und ohne Kinder fenheit voraus, beispielsweise durch ei- F Gruppe 2 F Gruppe 7 gene Erkrankung oder die Erkrankung 50 % Männer, 50 % Frauen 100 % Frauen nahestehender Personen. 25 bis 35 Jahre 66 bis 75 Jahre Stark verbreitet ist die Einstellung, dem Berufstätige – ohne Kinder Im Ruhestand eigenen Lebensabschnitt und gefühlten F Gruppe 3 F Gruppe 8 Gesundheitszustand entsprechend, bereits 100 % Frauen 100 % Männer viel für die Gesundheit zu tun. Dennoch 25 bis 45 Jahre 66 bis 75 Jahre gibt es häufig einen Widerspruch zwi- Berufstätige und Hausfrauen – mit Kindern Im Ruhestand schen Wissen und Verhalten, vor allem F Gruppe 4 F Gruppe 9 bei jüngeren und bei männlichen Teilneh- 100 % Männer Männer und Frauen mern. Da man sich im Alter generell we- 25 bis 45 Jahre 35 bis 55 Jahre niger gesund fühlt und sich außerdem Berufstätige – mit Kindern Angestellte mit Personalverant- stärker mit sich selbst beschäftigt, nehmen wortung bzw. Arbeitgeber auch das Bewusstsein und das aktive Ge- F Gruppe 5 sundheitsverhalten zu. Betroffenheit – ei- 50 % Männer, 50 % Frauen gene oder im Umfeld – bleibt mit zuneh- 46 bis 65 Jahre mendem Alter der wichtigste Auslöser für Berufstätige – mit und ohne Kinder eine Verhaltensänderung. Besonders gut sind die Voraussetzungen für eine nach- haltige Verhaltensänderung, wenn sich die als Grundlage für weitere Forschung weise gesunde Ernährung, Sport/Bewe- die emotionale Komponente aus der Be- und die Entwicklung von Fördermaßnah- gung und Stressvermeidung (. Abb. 1). troffenheit mit rationalem Wissen verbin- men zur Händehygiene dienen sollen. Ein Bezug zur Vermeidung konkreter det. Hypothese 1 lautet daher: Krankheiten wird kaum hergestellt. Ge- Gesundheit sundheit wird als Gesamtzustand verstan- Hypothese 1. Gesundheitstipps haben ei- den. Die Gesundheit und ihre Erhaltung ne höhere Chance auf Verhaltensände- Das Thema „Gesundheit“ wurde von den werden zwar als wichtig bewertet, doch rung, wenn sie dem Rezipienten die per- Teilnehmern der Studie zunächst vor Gesundheitsrisiken werden oft als zu all- sönliche Betroffenheit verständlich und allem mit individuellem Wohlbefinden gemein erlebt, um sich selbst betroffen zu erlebbar machen. und mit einem ganzheitlich gesunden Le- fühlen und tatsächlich präventive Verhal- . Übersicht 1 zeigt diesbezügliche bensstil verbunden. Mit Gesundheitser- tensweisen anzunehmen. Bisher bekannte Beispieläußerungen. haltung assoziierten die Teilnehmer einen und erlernte Präventionsmaßnahmen allgemein gesunden Lebensstil, beispiels- sind für die meisten Teilnehmer Vorsorge- Gesunde Ernährung Positive Lebenseinstellung Sport/Bewegung physisch Gesund bleiben psychisch Vermeidung von “Giften” Vermeidung von Stress (Rauchen, Alkohol,...) und Ärger Aktive Entspannung (Sauna, Yoga,...) Vernünftiger leben Gelassener leben Abb. 1 7 Spontan genannte Strategien zum Gesundbleiben 1274 | Bundesgesundheitsbl - Gesundheitsforsch - Gesundheitsschutz 11 · 2008
Zusammenfassung · Abstract Bundesgesundheitsbl - Gesundheitsforsch - Gesundheitsschutz 2008 · 51:1273–1279 DOI 10.1007/s00103-008-0701-8 © Springer Medizin Verlag 2008 G. Meilicke · A. Weißenborn · W. Biederbick · C. Bartels Mit Wasser und Seife gegen die Grippe. Das Händewaschen als Infektionsschutz-Empfehlung für die Bevölkerung – 7 Hypothesen aus einer qualitativen Studie zu Hygiene, Grippe und Pandemie Zusammenfassung Pharmazeutische Maßnahmen wie die Händehygiene. Die 7 Hypothesen lauten: wie er beobachtbar ist, also in Bezug auf Impfung und die antivirale Prophylaxe sind Hypothese 1 Gesundheitstipps haben eine Husten, Niesen und dabei entstehende nur 2 Bausteine zum Infektionsschutz der höhere Chance auf Verhaltensänderung, Tröpfchen. Hypothese 6 Das Bewusstma- Bevölkerung. Ein dritter, entscheidender wenn sie dem Rezipienten die persönliche chen des Übertragungswegs „Hand“ stei- Baustein sind einfache, nicht-pharmazeu- Betroffenheit verständlich und erlebbar gert die Motivation zum Händewaschen. tische Maßnahmen wie die Händehygiene. machen. Hypothese 2 Hygiene dient haupt- Hypothese 7 In der Pandemie erhöht sich In einer qualitativen Studie wird zunächst sächlich dem Wohlgefühl und der Gesell- der Informationsbedarf und die Bereit- ermittelt, wie das Händewaschen aktuell in schaftsfähigkeit. Hypothese 3 Eine emotio- schaft zum persönlichen Infektionsschutz. der Bevölkerung verankert ist. Darauf auf- nale Verbindung zwischen Hygiene und bauend werden 7 Hypothesen formuliert, Gesundheit besteht durch das Ekelgefühl. Schlüsselwörter die Bedarf für weitere Forschung zur För- Hypothese 4 Das Händewaschen wird Hygiene · Händewaschen · Kommunika- derung der Händehygiene aufzeigen. Das vorwiegend rituell und nach gefühltem tion · Influenza · Pandemie · Infektions- Potenzial für derartige Forschung liegt bei- Bedarf durchgeführt. Hypothese 5 Der schutz spielsweise in der Konzeption und Evalua- Ansteckungsweg von Grippe/Atemwegs- tion von Informationskampagnen zur infektionen ist bisher nur so weit bewusst, Fighting the flu with soap and water. Hand washing as an infection control recommendation to the popula- tion – 7 hypotheses from a qualitative study about hygiene, flu and pandemic Abstract Medical interventions like vaccination and communicate clearly and understandably ing, and the resulting visible droplets. Hy- antiviral prophylaxis are only two ways of the personal relevance of the information to pothesis 6 People are more motivated to protecting the population from infectious the recipients. Hypothesis 2 For many, wash their hands after learning that infec- diseases. A third and decisive method is to hygiene serves above all to make them feel tions can be spread via the hands. Hypoth- apply non-pharmaceutical interventions good and more comfortable around others. esis 7 A pandemic situation increases the like hand hygiene. A qualitative study iden- Hypothesis 3 The feeling of disgust is an population’s demand for information and tified the role hand washing actually plays emotional connection between health and people’s willingness to protect themselves in the daily life of the population. Based on hygiene. Hypothesis 4 People mainly wash from infection. the results, seven hypotheses are proposed their hands ritually and when they actually which point to the need for further research feel the need to clean their hands. Hypoth- Keywords about promotion of hand hygiene, e.g. the esis 5 As far as most people are aware, the hygiene · hand washing · communication · conception and evaluation of hand washing means of transmission of influenza and influenza · pandemic · infection control advertising campaigns. Hypothesis 1 Health other respiratory diseases are only the ones tips are more likely to be followed if they they can observe, namely coughing, sneez- Bundesgesundheitsbl - Gesundheitsforsch - Gesundheitsschutz 11 · 2008 | 1275
Leitthema: Hygiene im Alltag Übersicht 1 Hygiene Beispielaussagen zur persönlichen Betroffenheit Hygiene wird spontan mit Tätigkeiten verbunden wie Waschen, Duschen, Zahn- F „Meine Eltern haben auf gesunde Ernährung und genug Bewegung geachtet.“ hygiene, Kleidung wechseln, Putzen und F „Nicht zu viel darüber nachdenken – ein gesundes Immunsystem hält viel aus.“ Schmutz entfernen. Diese Handlungen F „Es muss mich persönlich betreffen – was in den Medien oder Werbung steht, habe ich sind anerzogen und laufen nun meist au- schnell wieder vergessen.“ tomatisiert ab, das heißt, die Motivationen F „Nachdem ich Magengeschwüre bekam, stellte ich meine Ernährung um und vermied wo hierfür sind oft unbewusst geworden. möglich Stress.“ Ebenso wenig bewusst ist die Funktion der Hygiene zur Gesundheitserhaltung. F „Seit bei einem meiner Freunde Krebs diagnostiziert wurde, gehe ich regelmäßig zur Hygiene wird als sozial gefordert wahrge- Vorsorge.“ nommen und wenig hinterfragt. Im per- Übersicht 2 sönlichen Erleben wird Hygiene mehr emotional als rational begründet. Man Beispielaussagen zur Hygiene will sich frisch, sauber und wohl fühlen. Anscheinend ist ein bestimmtes Grund- F „Das diktiert die Gesellschaft – in unserer Zivilisation gelten halt bestimmte Sauberkeits- regeln.“ bedürfnis an funktionaler Hygiene ein- fach abgedeckt, wodurch andere höhere F „Man kriegt das eingebläut, auch aus Respekt vor den Mitmenschen – an die Gründe Bedürfnisse in Verbindung mit Hygiene dafür denkt man nicht mehr.“ wichtiger werden. Daraus resultiert Hypo- F „Ich wasche mich, damit ich mich frisch fühle, nicht wegen irgendwelcher Erreger.“ these 2: Übersicht 3 Hypothese 2. Hygiene dient hauptsäch- Beispielaussagen zum Zusammenhang zwischen Hygiene und lich dem Wohlgefühl und der Gesell- Gesundheit schaftsfähigkeit. Entsprechende Beispieläußerungen F „Dreck reinigt den Magen.“ finden sich in . Übersicht 2. F „Zu viel Hygiene schwächt das Immunsystem.“ Zusammenhang zwischen Hygiene F „Leute, die sich ständig die Hände waschen, haben eine Phobie.“ und Gesundheit F „Meine Frau hat ein Desinfektionstuch mit in öffentlichen Verkehrsmitteln – das ist schon etwas neurotisch.“ Erst auf gezieltes Nachfragen wird der Zu- sammenhang von Hygiene und Gesund- heit bzw. Prävention rational erschlossen. Vor allem das Desinfizieren und „zu viel sich häufig in weniger gründlichem Wa- Hygiene wird dann vor allem mit dem Be- Waschen“ werden oft als zwanghaftes Ver- schen. Der Gesundheitsnutzen des Hän- kämpfen von „Keimen“, „Bakterien“ oder halten verstanden. Für viele Teilnehmer dewaschens wird etwas deutlicher, sobald „Pilzen“ verbunden. Es handelt sich dabei besteht eine fließende Grenze zwischen man sich im unkontrollierbaren öffent- um ein Allgemeinverständnis, dass Sau- sinnvoller und übertriebener Hygiene, die lichen Raum befindet. Dort wird die berkeit oder gar Sterilität Krankheiten nicht durch allgemein gültige Regeln defi- Schutzfunktion höher bewertet. Insge- abhalten kann, beispielsweise „Magen- niert ist. Daraus ergibt sich Hypothese 3: samt hat das Händewaschen innerhalb Darm-Infektionen“, „Fußpilz“, „Mund- der Hygiene einen hohen Stellenwert, schleimhaut-Entzündungen“, „Hausstaub- Hypothese 3. Eine emotionale Verbin- auch wenn die Handlung an sich weitge- allergien“ oder „durch Schimmel ausgelös- dung zwischen Hygiene und Gesundheit hend unbewusst abläuft. te Beschwerden“. Bei älteren Teilnehmern besteht durch das Ekelgefühl. Der Bezug zu Krankheitsvermeidung kommen auch Assoziationen mit „Krätze“ . Übersicht 3 zeigt die dazugehörigen wird zwar rational nachvollzogen, jedoch und „Läusen“ auf. Im Vordergrund steht Beispieläußerungen. wird das Händewaschen wie die Hygiene dabei vor allem der empfundene Ekel, we- allgemein vor allem verbunden mit Sau- niger die eigentliche Krankheitsvermei- Ritualisiertes Händewaschen berkeit und Wohlbefinden. Auslöser ist dung. häufig der sichtbare oder gefühlte Der Zusammenhang zwischen Hygie- Händewaschen wird nur selten spontan Schmutz, nur selten hingegen die Absicht, ne und Grippeschutz wird nicht spontan bei Hygiene-Aktivitäten genannt, da es unsichtbare Krankheitserreger zu beseiti- genannt. In allen Gruppen ist außerdem eine der am stärksten automatisierten gen (. Abb. 2). die Einstellung verbreitet, dass ein Über- Handlungen im Alltag ist – ein unbe- Die Frequenz des Händewaschens wird maß an Hygiene schadet und Allergien wusster Vorgang, bereits erlernt in der von den Befragten selbst als häufig einge- auslösen bzw. Krankheiten fördern kann. Kindheit. Das fehlende Bewusstsein zeigt schätzt. Bestimmte Benimmregeln schei- 1276 | Bundesgesundheitsbl - Gesundheitsforsch - Gesundheitsschutz 11 · 2008
und abstoßend empfunden wird – weni- Wohlbefinden Händewaschen Säubern ger, um sich bewusst vor Krankheitserre- gern zu schützen. Frische Wenn Menschen im Umkreis offen- Sauber v.a. von fühlen sichtlich stark erkältet sind, nimmt das Gegen Ekel sichtbarem Entspannung Gegen klebriges Schmutz Vermeidungsverhalten bei den meisten Gefühl Teilnehmern der Studie zu. Sie halten grö- Keime entfernen ßeren Abstand zu Erkrankten, vermeiden Körperkontakt, drehen sich weg und trin- Sichtbarer oder gefühlter Schmutz ist der häufigste Auslöser für das Händewaschen. Eine ken mit Erkrankten nicht aus der gleichen eher diffuse Verbindung zur Entfernung von Krankheitskeimen wird vereinzelt hergestellt. Flasche. Die Konfrontation mit Kranken hat mehr Einfluss auf das Verhalten als Abb. 2 8 Spontan genannte Gründe für das Händewaschen beispielsweise Meldungen zu Grippewel- len – und es geht einem in erster Linie darum, sich selbst zu schützen. Es bestehen Wissenslücken zur Defini- Übersicht 4 tion von Grippe, zu ihrer Übertragung Beispielaussagen zum ritualisierten Händewaschen und vor allem zur Einstufung der Gefähr- lichkeit. Den Teilnehmern sind diese Wis- F „Wenn ich Gartenarbeit gemacht habe, ansonsten reicht mir oft Wasser.“ senslücken jedoch wenig bewusst. Man F „Nach einem langen Tag reicht mir kaltes, klares Wasser zum Wohlfühlen.“ glaubt, bereits viel über das „seit Kindheit bekannte“ Krankheitsbild zu wissen und F „Nach dem Klo und vor dem Essen: Händewaschen nicht vergessen!“ sich dementsprechend genügend zu schüt- F „Eigentlich eher nach dem Essen.“ zen. Die Betonung liegt hierbei auf „sich“. Verantwortung zum Schutz anderer vor Ansteckung wird selten empfunden. Für nen fest verankert zu sein. Ritualisierte weise bei fettigen oder klebrigen Händen. die älteren Teilnehmer liegt die gefühlte Anlässe des Händewaschens sind: Zu Hause wird ansonsten oft Wasser als Relevanz des Themas Grippe etwas höher F nach der Toilette, sicherlich die ausreichend betrachtet. Hypothese 4 lau- als für die jüngeren. Daraus ergibt sich stärkste „Benimmregel“ – und von tet daher: Hypothese 5: niemandem erklärtermaßen gebro- chen, Hypothese 4. Das Händewaschen wird Hypothese 5. Der Ansteckungsweg von F integriert in das morgendliche und vorwiegend rituell und nach gefühltem Grippe/Atemwegsinfektionen ist bisher abendliche Waschen, Bedarf durchgeführt. nur so weit bewusst, wie er beobachtbar F man kennt die Regel, „vor dem Ko- In . Übersicht 4 finden sich entspre- ist, also in Bezug auf Husten, Niesen und chen bzw. Essen“ – scheint sie aber chende Beispielaussagen. dabei entstehende Tröpfchen (. Über- nicht immer zu befolgen, sicht 5). F nach Hause Kommen, Grippe F nach Fahrt in öffentlichen Verkehrs- Grippe und Händewaschen mitteln, Geldverkehr. Beim Übertragungsweg der Grippe herrscht unter den Befragten in einem Auf Nachfragen erschließen sich die Teil- Über diese Rituale hinaus wird Händewa- Punkt Konsens: Der Grippeerreger wird nehmer das Händewaschen als Mittel der schen oft als zwanghaft bewertet. durch die Atemluft übertragen, durch Krankheitsvermeidung. Sie nennen je- Die überwiegende Mehrheit gibt an, Husten oder Niesen. Der mögliche Über- doch spontan kaum konkrete zu vermei- meistens Seife zu verwenden, wobei auch tragungsweg über die Hand hingegen dende Krankheiten. Die Wirksamkeit des hier der Bezug zur Krankheitsvermeidung wird erst beim Rationalisieren erschlos- Händewaschens zum Schutz vor Grippe nicht präsent ist. Mit Seife wird die Reini- sen. Tröpfcheninfektion bedeutet für die ist den Teilnehmern nicht bewusst. Klärt gungswirkung als besser empfunden. meisten von Mund zu Mund, wenn auch man sie jedoch über den Zusammenhang Auch das Wascherlebnis und der Duft im übertragenen Sinne. Eine Anste- zwischen Händewaschen und Grippe- sprechen für die Seifenbenutzung. Männ- ckungsgefahr wird nur empfunden, wenn schutz auf, wird das Händewaschen als liche Befragte aus der Altersgruppe 66–75 andere offensichtlich stark erkältet sind, überraschend einfaches Mittel zur per- Jahre betrachten Seife teilweise auch als man auf die Gefahr hingewiesen wird sönlichen Gesundheitsvorsorge wahrge- Pflegemittel für die Hände. Vereinzelt ga- oder man sich die Übertragungswege ra- nommen. Die starke Motivationskraft der ben die Teilnehmer an, nicht immer Seife tional bewusst macht. Ein Wegdrehen und konkreten Schutzwirkung zeigt sich auch zu verwenden, sondern nur, wenn man eine Abkehr geschehen in der Regel, weil im Ergebnis einer 2 Wochen darauf durch- den Dreck sieht oder fühlt, also beispiels- ein Anhusten oder Anniesen als unhöflich geführten Anschlussbefragung bei den Bundesgesundheitsbl - Gesundheitsforsch - Gesundheitsschutz 11 · 2008 | 1277
Leitthema: Hygiene im Alltag Übersicht 5 Gruppen-Teilnehmern. Das „Händewa- schen als Grippeschutz“ wurde ungestützt Beispielaussagen zur Grippe erinnert und war in der Zwischenzeit be- reits Freunden und Bekannten weiterer- F „Durch das Niesen kommen Erreger in die Luft.“ zählt worden. Hieraus folgt Hypothese 6: F „Ich besuche niemanden, der krank ist.“ F „Wenn um einen herum alle husten, verkrieche ich mich in meinen Schal.“ Hypothese 6. Das Bewusstmachen des F „Ab und zu habe ich eine Grippe, die ich dann ausschwitze.“ Übertragungswegs „Hand“ steigert die Motivation zum Händewaschen (. Über- F „Man stirbt nicht dran.“ sicht 6). F „Ich bekomme keine Grippe.“ F „Dann zieht man sich im Winter immer warm an und isst viel Obst – dann bekommt man Pandemie auch keine Grippe.“ Der Begriff „Pandemie“ ist nur wenigen F „Ich hatte Grippe und bin dadurch stärker geworden.“ Teilnehmern geläufig und weckt kaum Übersicht 6 Assoziationen. Er wirkt neuartig, abstrakt und wissenschaftlich – und suggeriert da- Beispielaussagen zum Zusammenhang von Grippe und Händewaschen durch Bedeutsamkeit. Beim Versuch der F „Erst niest jemand und gibt dir dann die Hand.“ Deutung wird er nur von wenigen Teil- nehmern richtig erschlossen als „eine F „Du fasst irgendwo an und nimmst dann die Hand in den Mund beim Essen.“ Krankheit globaler Ausmaße“, beispiels- F „Es bestärkt einen, die Hände zu waschen.“ weise hergeleitet aus der Verwandtschaft F „Das ist da (auf öffentlichen Toiletten) eh so eklig – fällt einem nicht schwer.“ zu „Paneuropa“ und „Epidemie“. Konfrontiert mit der Möglichkeit einer Übersicht 7 „Grippe-Pandemie“ wird diese bereits spontan als wesentlich schwerwiegender Beispielaussagen zur Pandemie als eine saisonale Grippewelle empfun- F „Wenn richtig viele erkranken – mehr weiß ich nicht darüber.“ den. Durch die hohe Anzahl von Erkrank- ten und die schnelle globale Verbreitung F „Das klingt so lateinisch – da müssen sich viele schlaue Leute Gedanken gemacht bekommt die Grippe-Pandemie auch in haben.“ der Wahrnehmung der Teilnehmer grö- F „Wenn ich es in der Zeitung lesen würde, wäre ich sehr beunruhigt.“ ßere Dimensionen als die Grippe an sich. F „Die Ärzte sind ohnmächtig.“ Sie wird von den Teilnehmern als unkal- F „Erst berichten die Medien täglich darüber (Vogelgrippe), und dann kommt es doch kulierbare Gefahr eingestuft. Der Zusatz nicht.“ „Pandemie“ verändert also stark die Ein- schätzung der Gefährlichkeit der Grippe. F „Es ist sehr wichtig, dass man Vorsichtsmaßnahmen trifft.“ Allerdings taucht auch der Vorwurf der F „Ich würde nicht mehr so lässig reagieren.“ „Panikmache“ durch die Medien auf, ge- F „Wenn sie (die Pandemie) jetzt kommt, weiß ich, was zu tun ist.“ rade im Rückblick auf die Berichterstat- tung zur Vogelgrippe. Im Wesen der Pandemie liegt es, dass sie weltweit auftritt. Daher erkennen die Hypothese 7. In der Pandemie erhöhen Händewaschen sind unter Gesichtspunk- Teilnehmer, dass auch sie davon betroffen sich der Informationsbedarf und die Be- ten des Infektionsschutzes zu wenig ver- sein werden. Sie fühlen sich hilflos gegen- reitschaft zum persönlichen Infektions- ankert. Für Fördermaßnahmen ergeben über einem solchen ausweglosen Ereignis. schutz. sich Ansatzpunkte auf rationaler und Das Ausmaß der Bedrohung für sich selbst In . Übersicht 7 werden wieder ent- emotionaler Ebene. einzuschätzen und zu verarbeiten fällt sprechende Beispieläußerungen gelistet. Auf rationaler Ebene geht es zunächst schwer. Dadurch steigt zum einen der Er- um das Bewusstmachen des möglichen klärungsbedarf stark an, zum anderen Fazit für die Förderung der Ansteckungsrisikos. Dazu muss der Über- wächst die Bereitschaft, Verhaltensweisen Händehygiene tragungsweg „Hand“ verständlich werden. wie das Händewaschen zum Selbstschutz Einstiegshilfe ins Thema kann beispiels- umzusetzen. Dass man selbst etwas tun Die Studienergebnisse weisen auf Förde- weise eine Visualisierung oder Demons- kann, macht die Pandemie ein kleines rungsbedarf beim Händewaschverhalten tration der Übertragung und der Verbrei- Stück beherrschbar. Auch wenn den Teil- der Bevölkerung hin. Insbesondere das tung sein. Auf emotionaler Ebene sind nehmern ein Impfschutz natürlich am Bewusstsein über Ansteckungsrisiken, die beim Händewaschen Wohlfühl- und sozi- liebsten wäre. Hypothese 7 lautet folglich: Seifenbenutzung und die Motivation zum ale Aspekte schon sehr präsent. Diese As- 1278 | Bundesgesundheitsbl - Gesundheitsforsch - Gesundheitsschutz 11 · 2008
Buchbesprechung pekte in der Hygieneförderung zu beto- steigern. Der Einsatz und die Evaluation Ralf Reintjes, Silvia Klein (Hrsg.) nen lässt daher wenig zusätzliche Motiva- dieser Medien ist für Herbst/Winter Gesundheitsberichterstattung tionskraft erwarten. Auch eine reine 2008/2009 vorgesehen. und Surveillance – Messen, Positivargumentation im Sinne von Entscheiden und Handeln. „Durch Händewaschen bleibe ich gesund“ Danksagung Bern: Hans Huber 2007. 1. Auflage, 234 S., scheint wenig Erfolg versprechend, da der Wir danken Dr. Axel Fehlauer, Sebastian 29.00 EUR Begriff „Gesundheit“ als zu weitläufig und Haupt, Mareike Leder, Daniel Matro, Dr. unspezifisch wahrgenommen wird. Die Klaus Riedmann, Tobias Schmidt. In der Reihe „Lehrbuch Gesundheitswissen- Erfolgschance von Fördermaßnahmen ist schaften“ des Huber-Verlages haben die bei- umso höher, je besser es ihnen gelingt, die Korrespondierender Autor den Herausgeber jetzt ein kurzes, aber aktu- persönliche Betroffenheit für den Einzel- elles Lehrbuch zusammengestellt, auf das nen deutlich zu machen. Die Konse- Gerald Meilicke, M.A. viele in der Gesundheitsberichterstattung quenzen für das eigene Leben müssen Tätige seit langem gewartet haben. Auf ca. Robert Koch-Institut nachvollziehbar werden. Erst wenn man 230 Seiten und in mehr als 20 Einzelbeiträgen Informationsstelle des Bundes für Biologische sich selbst einem konkreten Angriff von Sicherheit geben die Autoren methodische Anleitung Krankheitserregern gegenübersieht, ist Seestraße 10 und praktische Beispiele für Anfänger und 13353 Berlin, BRD Fortgeschrittene der GBE. Beginnend mit man bereit, Schutzmaßnahmen zu ergrei- E-Mail: meilickeg@rki.de dem nach wie vor sehr aktuellen Zitat von fen. Die Einsicht in die persönliche Be- Einstein: „Nicht alles, was gezählt werden troffenheit ist unangenehm. Sie korre- kann, zählt, und nicht alles, was zählt, kann spondiert mit Gefühlen wie Ekel vor der Literatur gezählt werden“, werden in der ersten Sek- mangelnden Hygiene und Angst um die tion die bis in das 14. Jahrhundert zurück- eigene Gesundheit. 1. Ejemot, Ehiri, Meremikwu, Critchley (2008) Hand washing for preventing diarrhoea (Review). The reichenden Anfänge der GBE und deren Besonders wirkungsvoll dürften An- Cochrane Library, Issue 1 historische Bedeutungsentwicklung bis sätze sein, die rationales Bewusstmachen 2. Jefferson, Foxlee, Del Mar, et al. (2008) Interventions heute dargestellt. In der zweiten Sektion und emotionales Erleben kombinieren. for the interruption or reduction of the spread of re- spiratory viruses (Review). The Chochrane Library, werden methodische Grundlagen eingeführt. Die Herausforderung dabei ist, medizi- Issue 1 Die dritte Sektion erläutert spezielle metho- nischen Laien ein einfaches und für sie 3. Nonpharmaceutical interventions for pandemic in- dische Anwendungen an verschiedenen hilfreiches Verständnis über den nicht be- fluenza, National and community measures (Policy Surveillance-Systemen und Sentinel-An- Review), World Health Organization Writing Group, obachtbaren Ansteckungsweg zu vermit- http://www.cdc.gov/ncidod/EID/vol12no01/ sätzen; u.a. geht es um Frühwarnsysteme zur teln. Nur mit einem solchen Verständnis 05-1370_app.htm Ausbruchsdetektion von Infektionskrank- kann sich das Händewaschen als Kompe- 4. Sandora, Shih, Goldmann (2008) Reducing absen- heiten oder die Analyse räumlicher Daten. teeism from gastrointestinal and respiratory illness tenz zum Schutz vor Infektionsrisiken in elementary school students: a randomized, con- Die vierte Sektion stellt praktische Beispiele angemessen etablieren. Wer über diese trolled trial of an infection-control intervention. vor, sei es die Krebsregistrierung und -be- Kompetenz verfügt, ist im doppelten Sinn Pediatrics (in press) richterstattung, die betriebliche oder die um- 5. Aiello, Coulborn, Perez, Larson (2008) Effect of hand weltbezogene Gesundheitsberichterstattung. geschützt. Das Ansteckungsrisiko wird hygiene on infectious disease risk in the community unmittelbar gesenkt und gleichzeitig das setting: A meta-analysis. J Public Health, e-publica- Alle Kapitel können unabhängig vonei- Bewusstsein gestärkt, sogar in einer Pan- tion nander gelesen werden, wobei es sich emp- 6. Nationaler Pandemieplan, Stand Mai 2007, Exposi- fiehlt, die einleitenden methodischen Grund- demie selbst etwas zum Schutz der Ge- tionsschutz der Bevölkerung, S 89f. (http://www.rki. sundheit tun zu können. de/cln_091/nn_197444/DE/Content/InfAZ/I/ lagenbeiträge vorab zu studieren. Das Buch Influenza/Influenzapandemieplan.html?__nnn= richtet sich an alle, die im öffentlichen Dienst, true) in Kommunen, Krankenkassen, Behörden Ausblick 7. Bergler, Borneff (1987) Hygiene as a behaviour und Institutionen auf Landes- und Bundes- problem. Zentralblatt für Bakteriologie, Mikro- biologie und Hygiene, März ebene, Daten mit Gesundheitsbezug erfassen Die vorliegende Arbeit liefert eine explo- und darstellen wollen oder sollen. Allen Bei- rative Momentaufnahme des Händewa- trägen sind kurze Zusammenfassungen schens im Erleben der Bevölkerung. vorangestellt, am Ende werden Leseempfeh- Außerdem zeigt sie Ansatzpunkte und lungen und Lernaufgaben angeboten. Erfreu- Potenzial für die Förderung des Hände- lich die jeweiligen ausführlichen und aktu- waschens auf. Quantifizierung und Mobi- ellen Literaturverzeichnisse. lisierung dieses Potenzials erfordert die Dieser Band ist sein Geld wert und allen Erforschung und die Umsetzung kon- zu empfehlen, die der Gesundheitsberichter- kreter Fördermaßnahmen. Das RKI und stattung und den Ansätzen der Surveillance die Bundeszentrale für gesundheitliche im deutschsprachigen Raum neue Impulse Aufklärung (BZgA) haben im Rahmen und mehr politisches Gehör geben wollen. eines Forschungsprojekts inzwischen Me- dien erstellt, um in der Bevölkerung die Günter Schmolz (Stuttgart) Aufmerksamkeit für Händehygiene zu Bundesgesundheitsbl - Gesundheitsforsch - Gesundheitsschutz 11 · 2008 | 1279
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