Mittendrin statt nur dabei - Ronald Hitzler und sein Team tauchen in die Kulturhauptstadt ein

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Mittendrin statt nur dabei - Ronald Hitzler und sein Team tauchen in die Kulturhauptstadt ein
Thema – Von der Kohle zur Kultur                                     mundo — 12/10

  Mittendrin statt nur dabei
  Ronald Hitzler und sein Team tauchen in die Kulturhauptstadt ein

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Mittendrin statt nur dabei - Ronald Hitzler und sein Team tauchen in die Kulturhauptstadt ein
mundo — 12/10   Thema – Von der Kohle zur Kultur

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Mittendrin statt nur dabei - Ronald Hitzler und sein Team tauchen in die Kulturhauptstadt ein
Thema – Von der Kohle zur Kultur                                                                                 mundo — 12/10

                                          Ohne regelmäßige Teamsitzungen läuft nichts.

                                          W     ir sind wie das Gegenteil von Wall-
                                                raff!« beschreibt Ronald Hitzler
                                          seinen ethnografischen Forschungs-
                                                                                         ment multipler Divergenzen tauchen der
                                                                                         Soziologe und sein Team zurzeit in die
                                                                                         Kulturhauptstadt ein. Das Ganze ist,
                                          ansatz. Ethnografie – das ist vor allem        wie der Untertitel des Projekts verrät,
                                          die Erforschung fremder Kulturen oder          eine Begleitstudie zur Organisation und
                                          Strukturen durch teilnehmende Beo-             Koordination des Mega-Event-Projekts
                                          bachtung. Genau wie der Enthüllungs-           Kulturhauptstadt Europas 2010. Bei der
                                          journalist geht Hitzler mitten in das von      RUHR.2010 GmbH laufen die Fäden der
                                          ihm untersuchte Feld und taucht regel-         Aktivitäten zusammen. Ob Schachtzei-
                                          recht darin ein. Auf diese Weise hat er in     chen, Still-Leben oder !SING – Day of
                                          der Vergangenheit schon eine Vielzahl          Song: Im Essener Büro der GmbH wer-
                                          von Szenen, Jugendkulturen oder Orga-          den alle 300 offiziellen Projekte, die
                                          nisationen untersucht. Aber er ist eben        sich über 53 Städte und Gemeinden
                                          doch ganz anders als Günter Wallraff,          verteilen, organisiert – von der Pro-
 abstract                                 denn Ronald Hitzler spielt mit offenen         grammplanung über die Gewinnung
 Ronald Hitzler and his team from the     Karten und verkleidet sich nicht. »Wir         von Sponsoren bis hin zum Marketing.
 Section for General Sociology are        wollen ja nichts aufdecken! Wir möch-          Organisatorisch sind die Projekte in die
 exploring the complex organization       ten nur herausfinden, was die da ma-           vier Handlungsfelder Stadt der Möglich-
 of RUHR.2010, the initiative to ce-      chen.« Die – das waren bislang unter           keiten, Stadt der Künste, Stadt der Krea-
 lebrate this year's European Capital     anderem die Akteure des Weltjugend-            tivität und Stadt der Kulturen aufgeteilt.
 of Culture. In a project entitled Ma-    tages, der Loveparade und der Spielhal-        »Das sind nun doch ziemlich komplexe
 nagement of Multiple Divergences,        len sowie Globalisierungskritiker. Und         Strukturen«, weiß Hitzler. Dass es dabei
 they aim to explore how this huge        die, das sind die aktuellen Akteure von        zu Divergenzen kommen kann, scheint
 event is managed and how conflicts       RUHR.2010.                                     auf der Hand zu liegen. Ob und wie die-
 may emerge in its multilayered struc-                                                   se – sogar multiplen – Divergenzen auf-
 tures. The sociologists are examining                                                   treten und wie mit ihnen umgegangen
 the organization as ethnographers.              Soziologe und sein Team                 wird, das untersuchen Hitzler und seine
 Essentially, they immerse them-            tauchen in die Kulturhauptstadt ein          Mitarbeiter.
 selves in the subject as participating
 observers and conduct research on-                                                      Sie beschäftigen sich also nicht mit
 site at RUHR.2010 GmbH, the event's      Im Rahmen des von der Deutschen                den einzelnen Kulturveranstaltungen,
 corporate organizer.                     Forschungsgemeinschaft (DFG) geför-            sondern mit der Organisation des kom-
                                          derten Forschungsprojekts Manage-              pletten Events durch die RUHR.2010

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Mittendrin statt nur dabei - Ronald Hitzler und sein Team tauchen in die Kulturhauptstadt ein
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GmbH. Hitzlers ›Mann in Essen‹ ist der      mente, interviewt die Menschen, schaut      bilden. Wenn Betz also etwas beobach-
Sozialwissenschaftler Gregor Betz. Er       genau hin und schreibt Beobachtungs-        tet und bestimmte Vermutungen an-
übernimmt den Part des teilnehmenden        protokolle. Ethnografie ist nur mit viel    stellt, versucht er diese anhand seines
Beobachters und ist vor Ort bei der Or-     Engagement möglich: »Wenn das Feld          Materials zu belegen – oder eben zu wi-
ganisation oder – wie er es nennt – »im     ruft, muss es direkt bestellt werden«,      derlegen. Dazu verdichtet er die Daten
Auge des Orkans«, dabei. Dazu mussten       so Hitzler. »Am Anfang war ich drei bis     mit Blick auf verschiedene Fragestel-
die Wissenschaftler zunächst einmal         vier Mal die Woche vor Ort. Mittlerweile    lungen ›trichterförmig‹ – arbeitet also
Geschäftsführer Prof. Oliver Scheytt        ist es nicht mehr so häufig – jetzt ziehe   vom Allgemeinen hin zum jeweils Spe-
von ihrem Vorhaben überzeugen. »Der         ich mich etwas zurück und analysiere        ziellen. Verschiedene solcher Daten-
war aber sehr sehr offen«, berichtet        das gesammelte Material«, erzählt Betz      ›Trichter‹ werden dann nach und nach
Hitzler. Und so nimmt Betz nicht nur        von seiner Tätigkeit als Teilnehmender      analysiert. So hat Betz beispielsweise
ganz selbstverständlich an den Team-        Beobachter. Genau das ist entschei-         festgestellt, dass die Mitarbeiter der
sitzungen und Geschäftsführerbespre-        dend für die Forschung an Hitzlers          GmbH höchst motiviert wirken: »Trotz
chungen teil – er hat sogar sein eige-      Lehrstuhl: hohes Engagement im Feld         der unheimlich hohen Belastung ist die
nes Büro und ist ganz normal in den         und bei der Datenerhebung – aber dann       Stimmung im Team stets konzentriert
Arbeitsalltag integriert. So wurde er       hohe Distanz bei der Auswertung.            und gut gelaunt.« Anders, so die An-
schnell nicht nur als Beobachter – als                                                  nahme von Hitzler, könne so ein Betrieb
der Forscher, der allen auf die Finger                                                  auch nicht aufrechterhalten werden.
schaut – sondern als Teil der Organi-             In die Trickkiste greifen und         Die ganze Kulturhauptstadt sei schließ-
sation aufgenommen. Mit Ressenti-                  abduktive Schlüsse ziehen            lich chronisch unterfinanziert. Offenbar
ments der Mitarbeiter hatte er nicht zu                                                 identifiziert sich die Belegschaft in be-
kämpfen. Dazu gibt es aber auch keinen                                                  sonderem Maße mit ihrer Tätigkeit und
Grund. Denn, so Hitzler nochmals: »Das      Beim Verarbeiten der vielen gesammel-       sieht darin mehr als einen Job. Infos und
ist keine kritische Sozialforschung. Wir    ten Informationen zu Annahmen und           Beobachtungen, die dieses Phänomen
wollen nur wissen, wie so etwas läuft.«     Schlüssen greifen Hitzler und sein          bestätigen und erklären, sortiert Betz
                                            Team in ihre methodische Trickkiste.        dann in den entsprechenden Trichter
Ja, und wie läuft so was? Und wie erfasst   Wichtig ist zunächst, das Material auf      ein. »Wichtig ist dabei immer, sich klar
man so ein riesiges Gebilde – eben so       verschiedenen Ebenen anzuordnen, um         zu machen: Wie weiß ich, was ich weiß?
ein Megaevent – wissenschaftlich? Um        die Übersicht zu behalten. »Dann zie-       Das muss stets hinterfragt werden und
die Kulturhauptstadt als Organisation       hen wir im Prinzip abduktive Schlüsse«,     nichts darf als selbstverständlich vo-
zu untersuchen, verbringt Betz einen        erklärt Betz. Bei der Abduktion geht es     rausgesetzt werden!« warnt Hitzler. Da
Großteil seiner Zeit bei der Ruhr.2010      darum, wirklich Neues zu finden und         die Daten von einem Menschen – noch
GmbH. Er sammelt Daten und Doku-            dann dafür erklärende Hypothesen zu         dazu einem hochgradig eingebundenen

                                                                                                                              31
Mittendrin statt nur dabei - Ronald Hitzler und sein Team tauchen in die Kulturhauptstadt ein
Thema – Von der Kohle zur Kultur                                                                         mundo — 12/10

                                                                                 Menschen – erhoben wurden, sind sie
                                                                                 natürlich völlig subjektiv. Bei der Ana-
                                                                                 lyse müssen sie dann so plausibilisiert
                                                                                 werden, dass es auch für Außenstehen-
                                                                                 de nachvollziehbar ist. »Man muss im-
                                                                                 mer wieder zurück auf den Boden der
                                                                                 Daten!«

                                                                                 Ein großer Schwerpunkt in der Analy-
                                                                                 se ist das Thema Temporalität. Denn
                                                                                 so eine Organisation auf Zeit hat ihre
                                                                                 ganz eigene Dynamik. Das fängt schon
                                                                                 bei scheinbar banalen Dingen wie Bü-
                                                                                 roräumen an. »Erst waren es nur sechs
                                                                                 Mitarbeiter – dann ganz schnell 150.
                                                                                 Die müssen ja irgendwo sitzen. Und
                                                                                 im nächsten Jahr schrumpft die GmbH
                                                                                 wieder zusammen«, umreißt Betz eines
                                                                                 der vielen eigentlich trivial erschei-
                                                                                 nenden Probleme. Da die Organisation
                                                                                 nur eine gewisse Zeit lang existiert, ist
                                                                                 der Weggang von Personal ein weiteres
                                                                                 Problem. »Typischerweise suchen sich
                                                                                 viele Mitarbeiter in den letzten Monaten
                                                                                 von temporären Gesellschaften schon
                                                                                 was Neues«, weiß Hitzler aus vergleich-
                                                                                 baren Konstrukten. Doch nicht nur
                                                                                 Räumlichkeiten oder Personalwechsel
                                                                                 sind Probleme für temporäre Organisa-
                                                                                 tionen. Auch die Organisation als solche
                                                                                 ist eine Herausforderung. »Eine Organi-
                                                                                 sation ist schließlich nichts anderes als
                                                                                 ein Bündel von Kommunikationsrou-
 Zur Person                              Zur Person                              tinen«, definiert Betz. Und diese Rou-
 Prof. Dr. Ronald Hitzler wurde 1950     Gregor Betz wurde 1983 in Aachen ge-    tinen haben kaum Möglichkeiten, sich
 im baden-württembergischen Kö-          boren. Von 2004 bis 2007 studierte er   zu entwickeln, wenn eine Organisation
 nigsbronn geboren. Er      studierte    Sozialwissenschaft und Erziehungs-      nicht kontinuierlich wächst, sondern
 von 1974 bis 1978 Soziologie, Poli-     wissenschaft an der Ruhr-Universität    direkt von Null auf Hundert schießt.
 tikwissenschaft und Philosophie an      Bochum. Direkt im Anschluss begann      Die Organisation hatte keine Zeit zu
 der Universität Konstanz. Im Juni       er dort das Masterstudium Stadt-        wachsen – plötzlich war sie da. Dabei
 1987 promovierte Hitzler zum Dr. rer.   und Regionalentwicklung. Bereits        braucht gerade ein Mammutprojekt wie
 pol. an der Universität Bamberg. Im     2008 forschte und publizierte er zum    die Kulturhauptstadt funktionierende
 April 1995 folgte die Habilitation in   Thema Kulturhauptstadt Ruhrgebiet.      Strukturen – Betz versucht also zu er-
 Soziologie an der Freien Universität    Durch diese Arbeiten wurde Prof.        gründen, wie und warum die Arbeit in
 Berlin. Seit 1997 ist Ronald Hitzler    Ronald Hitzler auf Betz aufmerksam      der GmbH dennoch möglich ist.
 Professor für Allgemeine Soziologie     und holte ihn an seinen Lehrstuhl,
 an der TU Dortmund. Modernisie-         wo er seit Januar 2009 als wissen-      Ein weiteres großes Problem der Kul-
 rung als Handlungsproblem ist der       schaftlicher Mitarbeiter tätig ist.     turhauptstadt 2010 ist die Sichtbarkeit.
 Rahmen seiner Forschungsarbeiten.       Kontakt: E-Mail: gregor.betz@fk12.      Hitzler bringt es auf den Punkt: »Wenn
 Häufig untersucht Hitzler Szenen        tu-dortmund.de                          man im vergangenen Jahr in Linz 50 Pla-
 und Events – beispielsweise die                                                 kate aufgehängt hat, dann hat man das
 Loveparade oder den Weltjugendtag.                                              in der Innenstadt schon wahrgenom-
 Kontakt: E-Mail:     ronald.hitzler@                                            men. Wenn man hier 50 Plakate auf-
 fk12.tu-dortmund.de                                                             hängt, ist noch nicht mal in jeder Kom-
                                                                                 mune eines.« Es ist schwierig, über fünf

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Mittendrin statt nur dabei - Ronald Hitzler und sein Team tauchen in die Kulturhauptstadt ein
mundo — 12/10                                                                                    Thema – Von der Kohle zur Kultur

                                                                                            Millionen Menschen anzusprechen.
                                                                                            »Und es ist auch schwierig, die Span-
                                                                                            nung über ein ganzes Jahr aufrecht
                                                                                            zu erhalten«, ergänzt Betz. Eine gute
                                                                                            Möglichkeit, den Fokus in den Kom-
                                                                                            munen wenigstens für eine Weile auf
                                                                                            RUHR.2010 zu lenken, sieht Betz in den
                                                                                            Local Hero-Wochen, bei denen jede Wo-
                                                                                            che eine andere Stadt im Mittelpunkt
                                                                                            steht. Und er setzt auf den Sommer: »In
                                                                                            der Open-Air-Saison wird das Ereignis
                                                                                            sicher verstärkt wahrgenommen!«

                                                                                            Reibungspotenzial gibt es reichlich.
                                                                                            Gregor Betz macht hier zwei Ebenen
                                                                                            aus: Zum einen die Divergenzen inner-
                                                                                            halb der RUHR.2010 GmbH, wo die Pro-
                                                                                            jekte und Handlungsfelder in ständiger
                                                                                            Konkurrenz um Ressourcen stehen.
                                                                                            Zum anderen nimmt er auch Diver-
                                                                                            genzen in der Region und zwischen den
                                                                                            Kommunen um Projekte und Aufmerk-
                                                                                            samkeit wahr. »Eigentlich soll die Kam-
                                                                                            pagne ja helfen, das Kirchturmdenken
                                                                                            der einzelnen Städte zu überwinden.
                                                                                            Aber das geht natürlich nicht von heute
                                                                                            auf morgen.« Ein großes Ziel ist der Auf-
                                                                                            bau einer regionalen Identifikation. Ein
                                                                                            weiteres Ziel ist es, das Image der Re-
                                                                                            gion zu verbessern und sie im Vergleich
                                                                                            zu anderen konkurrenzfähig zu machen.
                                                                                            Bei Hitzler selbst ist hier keine Über-
                                                                                            zeugungsarbeit mehr notwendig – er ist
                                                                                            ein bekennender Ruhrstadtfan. Für die
                                                                                            Imagepolitur hält er einen totalen Bruch
                                                                                            mit der Vergangenheit der Region nicht
                                                                                            für sinnvoll, sondern rät eher zu einem
                                                                                            Aufbau auf Bestehendem – ruhig auch
                                                                                            auf bestehenden Klischees: also einen
                                                                                            Wandel durch Kultur, aber keine kom-
                                                                                            plette Veränderung. Die Ruhr.2010-Pro-
                                                                                            jekte knüpfen vielfach an gängige Bilder
                                                                                            an – wie Bergbau und Bude oder Kum-
                                                                                            pel und Kohle. Und für Hitzler gibt es
                                                                                            keinen Grund, diese Historie verschämt
                                                                                            zu verstecken: »Wir haben hier total
                                                                                            spannende Sachen, die gibt es sonst
                                                                                            nirgendwo! Ich kann mir vorstellen,
                                                                                            dass so etwas wie eine Bergbau-Fol-
                                                                                            klore auch eine touristische Attraktion
                                                                                            sein kann und die Menschen zum Ur-
                                                                                            laub machen ins Ruhrgebiet kommen«,
                                                                                            so die Vision des Soziologen.
                                                                                                                Stephanie Bolsinger
Gelbe Ballons machten die Schachtzeichen im Mai 2010 sichtbar wie hier in Dortmund-Barop.

                                                                                                                                  33
Mittendrin statt nur dabei - Ronald Hitzler und sein Team tauchen in die Kulturhauptstadt ein
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