MontagMorgens nach der apokalypse - Monika Rinck - Jonas Burgert

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Monika Rinck

           Montagmorgens
           nach der
           Apokalypse

48   XXX   gleich nur 2018 85 × 70 cm
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A   lle Wecker klingeln, die Morschen erheben sich, schauen sich um, zögern. So
                                viel Herbeigesehntes ist durchkreuzt und markiert. Etliches fehlt, wobei sich die
                                Summe der Gebrauchtwaren immens vermehrt zu haben scheint. Unscharfe Gestal-
                                ten pulsieren, lassen nach, sinken ab, um kurz darauf urplötzlich auszuholen, doch
                                gegen wen? Gibt es sie noch, die Gegner? Tentakeln versanden. Das Auge sperrt sich,
                                das Drehkreuz blockiert. Sturm auf das Drehkreuz! Ab hier gelten die Regeln der
                                Antimaterie, bei gleichzeitigem Überdauern der Reste. Unmöglich. Welchen Dingen
                                ähnelt das? Falsche Frage, ganz falsche Frage, seufzen die in bunten Bandagen schau-
                                kelnden Morschen. »Worin, warum und wie ähnelt dies nicht?«1, würde die Frage lau-
                                ten, stellte man sie auf die richtige Weise. Ein Glöckchen tönt hell und verstummt.
                                Das Hörnchen schaut auf. Es weiß eine einzige Sache jetzt sehr genau: Erst der Blick
                                macht die Ware zur Halde.

                                  D   ie Morschen stehen indes in kleinen Gruppen vor dem Geschehen. Sie bezeu-
                                gen das Hervortreten des Hintergrundes und können ihren Blick davon nicht ab-
                                wenden. Offenbar ist noch nicht alles zu Ende. Es lösen sich eigentümliche Formen
                                ab. Als hätte die Materie einen eigengesetzlichen Formwillen entdeckt, und zwar für
                                sich selbst, nur für sich selbst. Sie generiert und generiert und – leise meldet sich
                                Chaosangst an, den Morschen wird’s schaurig zumute. Was werden die Morschen
                                mit diesem Schauer anstellen? Zunächst müssen die Vorhänge herabgerissen und
                                in die Ecke getreten werden. So. Jetzt ist alles klar zu sehen: Also haben sich die
                                Flecken gegen die Dinge erhoben, sie fordern die Figuren heraus, machen selbst vor
                                dem Figürlichen nicht halt. Zu Hilfe! Der Doppelagent des Gegenständlichen betritt
                                beherzt die ernste Stelle: »Diese kleinen roten Flecken stellen zweifellos Blumen auf
                                einer Wiese dar.«2 Auf einer Wiese? Große Verwunderung herrscht. Es gibt doch seit
                                vielen hundert Jahren keine Wiesen mehr, denken die Morschen, sehr stumm. Der

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     Ruhstück 2018 85 × 70 cm   XXX                                                                                     51
Doppelagent des Gegenständlichen steht offenbar kurz vor seiner Enttarnung. Der          Minuten später vom Gerüst. Selbstverständlich ist das Ende der Welt nicht identisch
                               Gefahr bewusst, zieht er sich leise in den Bildhintergrund zurück und verwächst dort     mit dem Ende der Lohnarbeit. In der Ferne knallt die Luft wie eine Peitsche. Farb-
                               sogleich mit einer Kommode.                                                              spritzer retten die Spontanität. Die Spontanität zappelt wie ein Frosch in der Hand
                                                                                                                        eines Ahnungslosen. Das ist bestimmt eine Finte. Es ist eine Finte! Wieder knallt es.

                                 S  tets verschobene und unentwirrbar miteinander verknüpfte Visualitäten, die
                               vom Wind des Unheimlichen angeweht werden, nie in sich selber ruhen, sondern statt
                                                                                                                        Logische Relationen werden nicht eindeutig wiedergegeben, doch auf mehr als drei
                                                                                                                        unentschuldigte Fehltage folgt nach wie vor unvermeidlich die Kündigung.

                               dessen alles überwuchern oder aber in dunkle Tiefen verschwinden …«3 So sieht es
                               doch aus. Eine Projektion von Pigmenten, ein Wandbewurf. Wo sind die Gegenstände
                               der sichtbaren Welt? Hier!, sagt ein vogelfüßiger Morsch und weist mit knorpeligen
                                                                                                                          H   e, he, ihr überlebenden Leitartikler, was steht denn in der Zeitung am ersten
                                                                                                                        Montag nach der Apokalypse? Wurde nach dem großen Zusammenprall der Konti-
                               Fingern auf eine alte Reibe. – Wir haben auch Bohrer, knarrt er. Bohrer, Reiben und      nentalplatten endlich über das Inkarnationsdogma entschieden?, wollen die Mor-
                               verzinkte Tomatenstäbe sowie den einen oder anderen Blumenstrauß. Ist dies der           schen wissen. Wo steht der Dax? Har, har, har, lachen die Morschen tonlos. Es gibt
                               materielle Rest eines ungelösten Rätsels? Eine Spur, an der entlang der Betrachter       hier kein Nirgendwo mehr. Alle Medien verstummten. Die Morschen finden sich
                               sich zurückbewegt oder aber in die ganz andere Richtung geht, nämlich seinem Un-         am Montag nach der Apokalypse auf einem Ödland voller Flachkrater jenseits der
                               tergang entgegen? Da käme es jetzt drauf an, zu wissen, wo genau der Untergang sich      Schienen wieder und sind ganz ohne Sujet. Könnten sie selbst nicht gleichfalls in
                               befindet. Der Untergang hat zwar eine Zeit, aber keinen Ort, suggeriert ein banda-       die Unähnlichkeit hineinschlüpfen, sich darin verbergen und heute ausnahmsweise
                               gierter Taschendieb. Aber stimmt das auch? Am ersten Montag nach der Apokalypse          einen späteren Zug in die nächstbeste zerstörte Kreisstadt nehmen? Vergeht denn
                               verließ ein junger Morsch ganz früh am Morgen die Ruine seines Hauses – äußerlich        überhaupt noch Zeit? Solange Hunde vergehen, vergeht auch die Zeit, bestimmen
                               ganz unversehrt, nur etwas ungewöhnlich koloriert. Ein Stigma auf der Haut eines         die Morschen und lehnen sich sehr langsam zurück. Kein Lüftchen regt sich. Andere
                               Seligen, von ausgelassenen Unseligen mit Farbmatsch beworfen? Mag sein, doch je-         Frage: Fahren die Züge denn überhaupt noch? Das weiß man irgendwie nicht.
                               des Spiel ist einmal vorbei. So auch dieses. Der junge Morsch hat das Orakel erreicht.
                               Es ist eine sehr große Frau.
                                                                                                                          E   in Haufen Leute, die mehr ineinander verschlungen als aufeinander bezogen

                                 D   ie große Frau grollt. Die große Frau lehnt sich in die Luft hinein. Die große
                               Frau besteht aus Eis. Sie besteht aus Höhe und Erscheinung. Sie wird nicht unbedingt
                                                                                                                        sind, schauen in die Welt hinaus. Das ist die Manie vieler Einzelner, die selbst in
                                                                                                                        großer Masse keine Gemeinschaft bilden. Die einsame fette Taube im Regen auf dem
                                                                                                                        Zweig bewegt sich nicht. Nein, sie bewegt sich doch, aber es ist keine Taube. Das ist
                               gnädig sein. Die paradoxale Selbstdestruktion der großen Frau vollzieht sich fol-        der Augenblick, wo das Sichtbare in das Visuelle umkippt, im Kontrast, im Kontakt
                               gendermaßen: Je heftiger ihr sie anbetet, umso tiefer sinkt sie hinab. Doch sie wird     mit dem Surrealismus. Moment!, schreien ein paar Expressionisten, gibt es denn den
                               zur Riesin, in dem Moment, wo ihr euch von ihr abwendet. Jetzt überragt sie alle.        Surrealismus noch? Aber sicher!, antworten die Surrealisten und öffnen die Schub-
                               Der Hintergrund kommentiert das nicht, denn er ist dazu gar nicht befugt. Er wurde       laden, schließen sie wieder, öffnen sie erneut, reißen sie am Ende ganz heraus. Auf-
                               gebannt, indem man ihn zeilenweise schwärzte wie ein umstrittenes Dokument. All          hören, brüllt der Doppelagent des Gegenständlichen in seiner Kommode, hört doch
                               dies ist im höchsten Grade materiell, das Immaterielle auch.                             bitte endlich damit auf. Doch außerhalb der Kommode ist sein Ruf nur ein abstraktes
                                                                                                                        Kratzen. Das kann er natürlich nicht wissen.

                                 D   er Weltgeist, eine verborgene, ehemals rotbunte Schmiere am oberen Bildrand
                               – ist nicht mehr zu sehen. Das angeschlagene Mysterium, von längst verstorbenen            E   s gibt keine logischen Ketten im überzeitlichen Gewimmel, selbst stillgestellt
                               Archäologen Scherbe für Scherbe zunächst mühsam zusammengesetzt, fällt wenige            in einem beliebigen Moment des Verfalls bilden die Einzelteile keine Geschichte. Es

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     Stauber 2018 85 × 70 cm                                                                                            XXX                                                                                     53
gibt nichts, das nach einer kurzen Pause weitergehen könnte, außer eben dem Ver-         Abstraktion und Konkretion. Der frisch bereitgestellte Doppelagent des Abstrakten
           fall. All diese Körper, Bänder, Verbände und Bandagen. Der Knäuel ist die obsolete       fechtet im Spiegel gegen die von überall hineindrängenden Gegenstände. Einen nach
           Verbindung, von allem mit allem, die sich nicht mehr entwirren lässt, das Spruch-        dem anderen spießt er auf seine schlanke Waffe und schüttelt sie schließlich über der
           band ganz ohne Spruch, getragen von einem stolzen Absolventen der Zombie Aca-            Halde ab. Es gibt nicht eine Stelle, wo dies keine Spuren hinterließ. Mit den Spuren
           demy. Die logischen Ketten rasseln.                                                      tritt die Zeit hinein. Hier ist schon wieder dieser ernste Fleck. Wärme dient als Steu-
                                                                                                    erungseinheit. Die Morschen beobachten mit einer gewissen Skepsis das Überhand-

             U   nähnliche Ähnlichkeit. Die Figuren tragen schwer an ihrem Sinn. Sie sind ge-
           radezu von Sinn zerschmettert. Darin wiederum ähneln sie den Morschen, die am
                                                                                                    nehmen der Abstraktion und schleppen schnell weitere Dinge herbei, Stuhlbeine,
                                                                                                    Steine, Schädel, Schläuche und Kabel. Was ist das überhaupt, eine Steuerungsein-
                                                                                                    heit? Es ist in etwa so, als ob man mit Knochen Wunder bewirken könnte, die hinfort
           Montagmorgen nach der Apokalypse in den Trümmern nach ihren Steuerunterlagen             den Maßstab veränderten. Mit vielen verschiedenen Knochen. Heidnischen Gebei-
           suchen. Sind es denn noch Verkörperungen? Sicherlich. Heruntergekommene und              nen. Moosen. Steinen. Eingeweiden. Upperclass. Proportionsverschub und die Prä-
           dann in langen Jahren an den Wänden des dunklen Brunnens wieder heraufgeklet-            senz dessen, was nicht mehr da ist. Das Bild sagt nicht nein. Die Morschen sind jetzt
           terte Verkörperungen, die dünne Häutchen aussenden, die sich über der dampfenden         doch etwas gereizt, rasseln mit den logischen Ketten und bilden Haufen. Akkumula-
           Halde senken. »Viele der sichtbaren Dinge senden Körper aus. Teils werden sie lose       tion oder Debris, die herumfliegenden Teile bilden den unverzichtbaren Proviant, das
           zerstreut, so wie der Rauch, den Holz abgibt, oder die Wärme des Feuers. Andere          »Glücksarsenal des Kaputten«6. Wie sich der Ort doch der Normalität entwindet – am
           wiederum sind enger verbunden und dichter, so das zu eng gewordene Kleid, das            ersten Montagmorgen nach der Apokalypse.
           die Zikaden im Sommer abwerfen (…) Und wenn dies möglich ist, dann ist kaum zu
           bezweifeln, dass sich auch ein hauchdünnes Bildchen außen von den Dingen lösen
           kann: Warum sollten sich gröbere Häute leichter von den Dingen lösen und trennen
           als feinste Häutchen? Niemand hätte auch nur leiseste Gründe dafür.«   4
                                                                                                      A   llein die Tiere scheinen nicht weiter besorgt. Der große Kranich blickt auf viele,
                                                                                                    die sich winden. Irres Licht. Die Farben strahlen, doch das Geländer ist locker. Unter
                                                                                                    all den Schichten lebt noch eine ganze Sippschaft Gnome und fragt sich, wo ist unse-

             D   ie Wirksamkeit der Bilder, die Arbeit der Ähnlichkeit, die schwebenden Häut-
           chen in den »Zonen relativer Defiguration«. Was wird denn hier gespielt? Nüschte,
                                                        5
                                                                                                    re Lust geblieben, in dieser miesen, in eine Garage hineingebauten Mysteriengrotte.
                                                                                                    Ein hoher Verschmelzungsdruck liegt auf den arrangierten Quadern, das letzte der
                                                                                                    zahllosen Fin-de-Siècle-Picknicks scheint ein wenig aus dem Ruder gelaufen zu sein.
           murmelt der diensthabende Pierrot. Alle anderen bleiben eigentümlich stumm. Knis-        Sehen wir jetzt, was nicht mehr da ist?, fragen sich die Morschen. Nein, widerspricht
           tern und knastern, mithilfe der bereitgestellten Materialien und Immaterialien. Wie      der Doppelagent des Gegenständlichen: Wenn es nicht mehr da wäre, könntet ihr es
           klingen die Bilder? Hier, stell dich davor und frag dich, wie das klingt, schlagen die   nicht sehen. Ein stumpfes Guckloch wandert durch die Welt – wie weit muss man sich
           verbliebenen Morschen vor. Der Requisiteur als Sprengmeister hat sich des Arrange-       in die äußerste Finsternis begeben, um die Dinge endlich aus der Nähe zu sehen?,
           ments angenommen. Alles, was nach der Explosion irgendwo landete, blieb von da           wollen die Morschen von dem Doppelagent des Gegenständlichen wissen, doch die-
           an genau dort liegen, als werde es von seinem zufälligen Ort erzeugt. So finden die      ser hält sich erstaunlich bedeckt. Ein trotziger Neonhirsch taucht im Dickicht auf,
           Dinge mit ihrem Ort, der sich in der Postproduktion nicht weiter um sie zu kümmert,      taucht sogleich wieder ab. Noch ist kein einziger Schuss gefallen.
           zu sich selbst und treten sofort in einen heiteren Prozess der Verwahrlosung ein.

             E  s steht etwas zwischen den Stangen im Dunkeln. Ist es eine Züchtung? Nein, es
                                                                                                      G   roße Müdigkeit herrscht am ersten Montagvormittag nach der Apokalypse. Was
                                                                                                    ist denn übriggeblieben? Gegenstände oder Ungegenstände? Ist überhaupt etwas
           handelt sich vielmehr um ein Missverständnis. Etwas zwickte die Zange im Dunkeln.        übriggeblieben? Immerzu steht der Morsche inmitten der Defiguration und verhan-
           Überall ist Blütenstaub und Farbpigment, sowie eine harte Konkurrenz zwischen            delt mit seinem Willen, etwas zu erkennen. Kann ich etwas erkennen? Ein Griff, der

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ins Leere geht, ein sich lösender Krampf, eine krampfende Lösung in Gestalt einer
           Qualle. Was aber ist ein Gegenstand, fragt sich der Gnom, irr wie das Wetter. Eine
           ernste Stelle, von gestaltlosen Ornamenten durchtobt, die sogleich unter neuen Farb-
           schichten verschwunden ist. Wo sie waren, entstehen neue Flächen, denen noch der
           geringste Hauch von Wiedererkennbarkeit ermangelt. Die Augen stürzen daran vor-
           bei. Die Farbe hat sich von den Konturen befreit, in einem massiv gekippten Raum.
           Woher weiß der Gnom, dass der Raum gekippt worden ist? So etwas wissen Gnome                                              Monika Rinck
           einfach. Und hineinflutet in den gekippten Raum: Das Flirren der Fläche mit unzäh-
           ligen Dingen, Morschen und anderen Wesen, die einander auf unähnliche Art ähnlich
           erscheinen. Das ist ihr großer gekippter Raum, in dem sie sich weiter vermehren, am
           ersten Montag nach der Apokalypse.                                                                                        Monday Morning
                                                                                                                                     after the
                                                                                                                                     Apocalypse
           ANMERKUNGEN

           1_Georges Didi-Huberman: Fra Angelico. Unähnlichkeit und Figuration. Aus dem Französischen übersetzt von Andreas
           Knop. München 1995. Seite 10. 2_Georges Didi-Huberman: a.a.O. Seite 24. 3_Georges Didi-Huberman: a.a.O. Seite 14.
           4_Lukrez: Viertes Buch. Wie wir sehen. Über die Natur der Dinge. Neu übersetzt und reich kommentiert von Klaus Binder.
           Mit einer Einführung von Stephen Greenblatt. Berlin 2015. Seite 137. 5_Georges Didi-Huberman: a.a.O. Seite 37. 6_Alfred
           Sohn-Rethel: »Eine Verkehrsstockung in der Via Chiaia«, in: Das Ideal des Kaputten. Freiburg, Wien 2018. Seite 20.

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