Neofeudale Almosen Musiker*innen und Kulturarbeiter*innen fehlt eine Lobby. Das zeigt sich gerade in Corona-Zeiten. Von Berthold Seliger
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Picture Alliance /DPA Neofeudale Almosen Musiker*innen und Kulturarbeiter*innen fehlt eine Lobby. Das zeigt sich gerade in Corona-Zeiten. Von Berthold Seliger D ie Konzertbranche hat sich in auf das Immobiliengeschäft konzentriert und Festivals also nur noch veranstaltet, den letzten beiden Jahrzehn- und baut und betreibt einige der weltgrößten um »Content« für das höchst profitable Ge- ten dramatisch verändert. Aus »Live Entertainment Districts« in London, schäft mit den Eintrittskarten zu generie- einer unabhängigen Szene, in Las Vegas, Berlin, Beijing und Dubai. Die bei- ren. Der Gründer und Vorstandsvorsitzende der Musikliebhaber*innen den erstgenannten Konzerne setzen auf Tic- von CTS Eventim, Klaus-Peter Schulenberg, und Afficinados mit ihren privaten Firmen ketingfirmen, denn mit diesem weitgehend nennt als Unternehmensziel, die »Content- Konzerte und Tourneen in Pop, Jazz und risikolosen Provisionsgeschäft lassen sich Pipeline weiterzuentwickeln«. Klassik organisiert haben, ist ein weltweit nicht zuletzt dank des Internets die höch- Zum Geschäftsmodell der kapitalisti- agierender Wirtschaftszweig entstanden, der sten Renditen erzielen: Die Bruttomarge der schen Konzertwirtschaft gehört der Aufbau mittlerweile als »Live-Industrie« bezeichnet Ticketing-Abteilung beträgt bei CTS Even- weltweiter Imperien. Die genannten Groß- wird. Multinationale Großkonzerne bestim- tim sensationelle 60,5 Prozent (gegenüber konzerne sind seit Jahren auf Einkaufstour men das Geschehen: vor allem der deutsche 11,1 im »Live-Entertainment«), und Live Na- und reißen sich unabhängige Tournee- und Quasimonopolist CTS Eventim (Jahresum- tion macht im eigentlichen Konzertgeschäft Konzertveranstalter, -hallen und Festivals satz 2019: 1,44 Milliarden Euro), der welt- jedes Jahr sogar Verluste im deutlich zwei- unter den Nagel, das Konzert-Monopoly hat größte Konzertveranstalter Live Nation (Jah- stelligen Millionenbereich (2019 53,5 Mil- dramatisch Fahrt aufgenommen. Von den resumsatz: 11,55 Milliarden US-Dollar) und lionen US-Dollar), während das Ticketing zehn größten Live-Nation-Aktionären sind die Anschutz Entertainment Group (AEG). und der Bereich »Sponsorship & Adverti- acht Hedgefonds, also die berüchtigten Ka- Letztere hat sich neben weltweiten Tourneen sing« für die Profite (über 560 Millionen) pitalorganisatoren der westlichen Welt. Ende (von Ed Sheeran bis zu den Rolling Stones) sorgen. Eigentlich werden Großkonzerte April hat der Public Investment Fund of Sau- 44 konkret 6/20
You can’t always get what you want: siker*innen und neuer Bands sorgsam auf- ker*innen aus. Niemand weiß, wie lange die Die Rolling Stones im Homeoffice zubauen, wenn damit praktisch kein Geld zu konzertlose Zeit anhalten wird; frühestens verdienen ist? Sollten sie irgendwann erfolg- im Herbst dürften wieder Konzerte stattfin- di Arabia den Kauf von 5,7 Prozent der Ak- reich werden, kann man immer noch mit den, wahrscheinlicher ist ein Neustart 2021. tien von Live Nation bekanntgegeben – ein Geldbündeln wedeln und sie den unabhängi- Das bedeutet, dass den etwa 50.000 freien Fonds, der im Auftrag der Regierung des gen Konzert- und Tourneeveranstaltern ab- Musiker*innen und der deutlich sechsstel- Scharia-Staats Saudi-Arabien agiert und zum werben, die für die kulturelle Vielfalt sorgen. ligen Zahl von sogenannten Solo-Selbstän- viertgrößten Anteilseigner des Konzerns digen, Freiberuflern, Aufstockern oder Mi- wurde. Größter Aktionär von Live Nation mit Kulturarbeitsbienchen nijobbern, die Konzerte überhaupt erst einem unlängst auf den Mehrheitsanteil in der Corona-Ära möglich machen, mindestens sechs, wahr- von 50,1 Prozent erhöhten Aktienpaket bleibt »Das Virus macht uns alle gleich«, diese Be- scheinlicher neun und mehr Monate das allerdings Liberty Media Formula One, ein hauptung hört man jetzt häufig, in Leitarti- komplette Einkommen wegbricht. US-Medienkonzern, der Fernsehkanäle wie keln der Qualitätsmedien ebenso wie in den Hier rächt sich die festinstallierte Pre- Discovery (Eurosport), Online-Reisebüros sozialen Medien. Das Gegenteil ist richtig: karisierung weiter Teile der unabhängigen und Sportkonzerne (von der Formel 1 bis zu Covid-19 zementiert die in den letzten Jah- Szene, das Von-der-Hand-in-den-Mund-Le- Baseballmannschaften) betreibt und dessen ren etablierte Ungleichheit, global wie lokal, ben-Prinzip, das nicht nur in der Subkultur Präsident John Malone als Libertärer und ob für das Dienstleistungsprekariat oder für gang und gäbe ist. Die Popkultur ist wie die Trump-Förderer gilt. die Kulturschaffenden. Mittelschichtsange- Jazzszene längst Teil der etablierten Mit- Die Beteiligung von Hedgefonds und Pri- hörige, die über ihr vom Festgehalt gestütz- telschichtskultur, sie hat in Teilen das er- vate-Equity-Firmen an Konzertkonzernen tes Dasein im Homeoffice barmen, und Mil- setzt, was im 19. und 20. Jahrhundert dem ist in der Branche mittlerweile gang und gäbe. lionen Flüchtende weltweit, die unter de- Bürgertum die Klassik war. Allerdings hat sie Auch etwa ein Fünftel der Aktien von CTS saströsen hygienischen Bedingungen auf es nicht nur versäumt, sondern geradezu Eventim ist im Besitz derartiger Kapitalor- engstem Raum ausharren müssen, sind alles verschmäht, ebenso wie diese institutionell ganisatoren (der weltgrößte Anleihefonds andere als gleich. Die Quandt-Familie, die zu und sozial abgesichert zu werden. Sieht man und hinter Blackrock zweitgrößte Kapital- den allerreichsten Deutschen gehört, darf von wenigen deutschen Bands und Musi- organisator, die Vanguard Group, ist wie die auch während der Krise auf eine dreistellige ker*innen ab, die sich die Wirkohnmacht ih- Select Equity Group Großaktionär sowohl bei Millionen-Dividende von BMW zählen, wäh- rer Kunst wenigstens in Staatstheatern gut Live Nation als auch bei CTS Eventim), und rend die BMW-Arbeiter*innen in Kurzarbeit bezahlen lassen, hat sich das Gros geradezu bei der deutlich kleineren Deutschen Enter- auf gut ein Drittel ihres Einkommens ver- euphorisch auf die Narration von der »krea- tainment AG (DEAG, Jahresumsatz 2019: gut zichten müssen. Und selbst hier herrscht Un- tiven Klasse« und der damit verbundenen, 185 Millionen Euro) sind sogar rund drei gleichheit: Das Kurzarbeitergeld für leiten- von SPD und Grünen vorangetriebenen Ideo- Viertel aller Aktien im Besitz von Kapitalor- de Angestellte und gutbezahlte Facharbeiter logie des Unternehmertums eingelassen: ganisatoren. Da nimmt es sich schon einiger- ist häufig höher als das Gehalt von Vollzeit Jede*r eine kleine Ich-AG, alle sind Unter- maßen drollig aus, wenn sich der DEAG-Vor- arbeitenden Verkäufer*innen, Paketzustel- nehmer*innen ihrer selbst und kümmern standsvorsitzende und ehemalige Berliner lern oder anderen Arbeiter*innen der neuen sich beherzt um Selbstvermarktung und -op- CDU-Abgeordnete Peter Schwenkow in der prekären »Serviceklasse«. timierung – eine Art outgesourctes Experi- »Zeit« oder bei »Markus Lanz« über »die Be- Eine ähnliche Kluft herrscht im Kon- mentallabor, ganz die fleißigen Kulturar- deutung der privat finanzierten Kultur« aus- zertbetrieb. Sicher, Anna Netrebko, Madon- beitsbienchen mit verinnerlichtem Nicht- lässt und von »mindestens acht Monaten Be- na oder Elton John können derzeit ebenso- klassenbewusstsein, dafür allzeit bereit zur rufsverbot« schwafelt, das »die Politik gegen wenig öffentlich auftreten wie die jungen geradezu stolz gelebten Selbstausbeutung. uns verhängt hat«. Songwriter*innen oder Jazzmusiker*innen Kampf für Arbeitsrechte? Engagement für Auch auf niedrigerer Ebene waren Ka- in Neukölln, Giesing oder auf St. Pauli. Doch gute Bezahlung, für soziale Absicherung? Wo pitalorganisatoren in den vergangenen Jah- die Superstars verfügen über einen ausrei- kämen wir da hin. ren auf Einkaufstour durch die europäische chenden ökonomischen Background, um Zu dieser Haltung gehört, dass viele Festival- und Tourneelandschaft (siehe problemlos über die Runden zu kommen. Das Künstler*innen ihre Produktionen nur noch 5/19). Letzten Sommer hat der Pri- durchschnittliche Jahreseinkommen von als Ware verstehen. Musik wird im Zeitalter vate-Equity-Konzern Superstruct Entertain- Musiker*innen in Deutschland aber betrug der digitalen Verwertbarkeit als Vertreter- ment Mehrheitsbeteiligungen an den deut- zum 1. Januar 2019 laut Künstlersozialkasse ware herumgereicht, die Ich-AGs stromern schen Festivals Parookaville und Wacken er- gerade einmal 14.628 Euro, das der weibli- mit ihrem Bauchladen durch die Niederun- worben. Nicht mehr Impresarios haben chen sogar nur 12.222 Euro. Während Schu- gen des »Markts« und bieten Distinktions- heute im Konzertgeschäft das Heft in der lenberg Dollar-Milliardär ist und der CEO möglichkeiten feil. Ihre Waren wollen die Hand, sondern das globale Finanzkapital, das von Live Nation, Michael Rapino, laut »New Kulturschaffenden nicht ohne Gegenwert auf der Suche nach Superrenditen auf den York Times« über ein Jahreseinkommen von abgeben, woraus sich auch die latente Feind- Superstarmarkt gestoßen ist. Sex & Drugs & mehr als 70 Millionen Dollar und der Gema- lichkeit gegenüber Streaming-Angeboten, Rock’n’Roll? I wo. Heute gilt: Private Equity Vorstandsvorsitzende immerhin über mehr von Spotify bis Youtube, erklärt. Die Ware & Hedgefonds & Brands’n’Sponsoring! als 800.000 Euro verfügt, verdienen die zahl- soll einen Wert haben, sie darf nicht »kosten- Die oberen fünf Prozent der Musiker*in- reichen meist selbständigen Arbeiter*innen los« verbreitet werden. Dieser Warenfeti- nen und Bands generieren heute 85 Prozent im Konzertbetrieb, also die Bühnenarbei- schismus verbindet sich häufig mit einer aller Konzerteinnahmen weltweit. Für die ter*innen, Stagehands, Securities, Roadies, merkwürdigen Digitalfeindlichkeit, viele unteren 95 Prozent der Musiker*innen blei- Techniker*innen, Busfahrer und so weiter, wünschen sich Indiehausen als eine ewig ver- ben gerade einmal 15 Prozent aller Konzert- häufig gerade einmal Mindestlohn. Seit Be- längerte Unplugged-Session aus dem Wohn- einnahmen übrig. Für die Aktiengesellschaf- ginn des Lockdowns im März sind die mei- zimmer, und Jazz soll möglichst im kleinen ten reicht es also völlig aus, Events mit den sten dieser Arbeiter*innen im Kulturbereich Keller stattfinden, in dem hinterher der Hut Superstars zu organisieren – dort winkt der ohne jede Einnahme. Ähnlich sieht es bei den rumgeht. Seit einigen Jahren gibt es endlich größte Profit. Warum sich den Tort antun selbständigen oder von Medien und Politik den Mindestlohn – die Forderung nach Min- und die Karrieren junger, unbekannter Mu- euphemistisch als frei bezeichneten Musi- destgagen hat bei all den Ich-AGs und »frei- konkret 6/20 45
en« Musiker*innen hierzulande jedoch nie tenen Hamburger SPD-Haushaltspolitiker nator der Linkspartei den Solo-Selbständi- verfangen. und Bundeswehroberst Johannes Kahrs or- gen schon nach wenigen Wochen eine »lei- Ganz anders in Frankreich. Dort hat ganisiert (der kurz vor Drucklegung dieser stungslose« Soforthilfe hat zukommen las- Jack Lang als sozialistischer Kulturminister Ausgabe überraschend von der Fahne gegan- sen, die von einer sechsstelligen Zahl von in den achtziger Jahren das bereits seit 1936 gen ist). Das Museum der Moderne in Berlin Kulturarbeiter*innen in Anspruch genom- existierende System des »Intermittent du etwa sollte ursprünglich 130 Millionen Euro men wurde, und mittlerweile auch ein Sofort- spectacle« massiv ausgedehnt. Hierbei han- kosten, dafür bekomme man eine »Kathe- hilfepaket für kleine und mittlere Kulturbe- delt es sich um eine Art Arbeitslosenversi- drale der Moderne«. Dann stiegen die geplan- triebe installiert hat. Grütters aber schafft es cherung für freie Mitarbeiter*innen und ten Baukosten auf 200 Millionen, und En- nicht einmal, dafür zu sorgen, dass die be- Selbständige in der Kulturindustrie, zum Bei- de 2019 wurde in einer schwarzroten Hau- sonderen Lebens- und Arbeitsbedingungen spiel für Musiker*innen, Schauspieler*in- ruckaktion im Haushaltsausschuss unter der freischaffenden Künstler*innen im Pro- nen, Regisseur*innen, aber auch für das Ausschluss der Öffentlichkeit noch mal nach- gramm der Bundesregierung für Selbständi- technische Personal und die Arbeiter*innen, gelegt, jetzt ist man bei 450 Millionen Euro ge besondere Berücksichtigung finden – die- die für künstlerische Aufführungen notwen- angelangt, 354 Prozent mehr als ursprüng- se Unterstützung darf nicht für Lebenshal- dig sind. Wer in zehn Monaten 507 Arbeits- lich angesetzt, und das dürfte nicht das Ende tungskosten oder Krankenversicherung, stunden vorweisen kann (oder eine bestimm- der Fahnenstange sein. Niklas Maak mut- sondern nur für Betriebskosten aufgewendet te Zahl von Auftritten), erhält bei Nichtbe- maßte in der »FAZ«, Grütters wolle wohl ein werden. Sie wünscht sich stattdessen, dass schäftigung acht Monate lang Kompensati- Bauwerk, »das an ihre Amtszeit erinnert«, die Künstler*innen Geld vom an Hartz IV an- onszahlungen in nennenswerter Höhe, min- ein Bundes-Moni-Denkmal. Ohne das Muse- gelehnten Sozialschutzpaket abrufen, einer destens den französischen Mindestnettolohn um der Moderne – von »maßloser Größe bei Art Grundsicherung mit seitenlangen und von derzeit 1.521 Euro, maximal 4.380 Euro konzeptueller Armut« (»Süddeutsche«) – zum Großteil wirklichkeitsfremden Bedin- monatlich. Weit über 100.000 Kulturschaf- würde dereinst nur die alberne Einheitswip- gungen, und zeigt damit, wo sie die Kultur- fende Frankreichs profitieren von dieser Re- pe an die Kulturstaatsministerin erinnern. schaffenden sieht – am Katzentisch der Ge- gelung. Doch damit geben sich die Künst- Für ein »Soforthilfeprogramm für Kul- sellschaft, als Bettler*innen, die froh sein ler*innen dort nicht zufrieden. Auch in turzentren auf dem Land« hat Grütters gera- sollen, dass sie dabei sein dürfen, so »liest Frankreich liegt der Kulturbetrieb darnieder, de mal 1,5 Millionen, für die Rettung freier sie Künstlern im Kulturausschuss die Levi- alle großen Festivals und Veranstaltungen Orchester und Ensembles 5,4 Millionen Euro ten«, wie die »Berliner Zeitung« titelte. Ein wurden bis in den Herbst abgesagt. Fast alle zur Verfügung gestellt. Diese neofeudale Al- Strukturfonds für die Konzertbranche? Dazu Wirtschaftszweige hat die Regierung mit Ret- ist Grütters Ende April »gerne bereit«, Kon- tungsplänen bedacht, nur Kunst und Kultur kretes hat man jedoch noch nicht gehört. nicht. 230 Künstler*innen, von Catherine Habt Erbarmen, Auch braucht sie fast zwei Monate und etli- Deneuve und Isabelle Adjani bis zu Benjamin Monika Grütters che Versuche, den Ländern die Verantwor- Biolay und Patrick Bruel, haben von Präsi- dent Macron deshalb ein Rettungspaket ge- schläft schlecht tung zuzuschieben, bis sie endlich dafür sorgt, dass Freischaffende von Kulturinsti- fordert, einen »präzisen Plan für die Kultur«, tutionen Ausfallhonorare für abgesagte Auf- der unter anderem das Recht auf Entschädi- mosenpolitik hat System: Über einige Clubs, tritte erhalten – allerdings nur »bis zu 60 gungszahlungen für ein Jahr über den Zeit- Kulturzentren und Konzertveranstalter Prozent« bei Gagen unter 1.000 und »maxi- punkt hinaus, bis zu dem sie nicht arbeiten schüttet man einmal jährlich Brosamen in mal 40 Prozent« bei Gagen über 1.000 Euro. können, vorsieht. Höhe von insgesamt knapp 1,8 Millionen Aber wir sollten Erbarmen mit der Almosen- Deutsche Künstler*innen und Kulturar- Euro in Form eines Spielstättenpreises na- verteilerin haben: Im Kulturausschuss des beiter*innen können von einer derartigen mens »Applaus« aus, je 23 Clubs erhalten Bundestages gab sie zu Protokoll, dass sie Absicherung nur träumen. Beim großen Co- 38.000 beziehungsweise 18.000 Euro als schlecht schlafe, verzweifelt sei und ihr das vid-19-Beschlusspaket des Bundes und der »Auszeichnung«, dazu kommen 61mal 7.500 Herz blute. Auch das ein Kunstgriff feudaler Länder wurden Kunst und Kultur komplett Euro für Clubs und Programmreihen. Statt Zustände: Die darbenden Untertanen sollen ausgespart, sie rutschten in den Anhang, der einer dringend notwendigen institutionel- Mitleid mit den Herrschenden haben, die die Schließungsanordnungen für Gastronomie- len Förderung der Spielstätten in der Dimen- Verantwortung tragen. betriebe und Prostitutionsstätten aufführt, sion von 100 Millionen Euro verteilt auf fünf Die »Untertanen« sind an dieser Situa- also »zwischen Bier und Bordell« (Andreas Jahre gibt es nicht einmal ein Zehntel davon tion allerdings nicht unschuldig. Zu lange ha- Kilb). Der bayrische Ministerpräsident er- – dafür eine öffentliche Preisverleihung, auf ben Kulturschaffende ihre problematische geht sich auf Pressekonferenzen endlos zu der die Ministerin Sonntagsreden von den soziale Situation hingenommen und sich ir- Oktoberfest, Biergärten und Pediküre, und »Clubs als Schmelztiegel der Kulturen in un- gendwie durchgewurschtelt, ohne entschie- jeder zu öffnende Baumarkt scheint den Re- serer Gesellschaft« halten darf. Maria The- den für ihre Rechte und eine Absicherung zu gierenden wichtiger zu sein als die Kultur. resia hat dem Wunderkind Mozart weiland kämpfen. Jetzt, wo ein großzügig ausgestat- Die scheint für die Politiker*innen kein 100 Dukaten und bestickte Galakleider ge- teter Nothilfefonds benötigt wird, ein echtes Grundbedürfnis zu sein, also »die Idee vom schenkt, Monika Antoinette Grütters spen- Corona-Rettungssystem für die Vielfalt der Menschsein des Menschen« (Georg Lukács), diert den Clubs ein paar Euro, warme Worte Kultur, sowie ein mindestens drei, besser sondern ein Genussmittel, das man in guten und eine Party – und die freuen sich drüber, sechs Monate währendes Moratorium für die Zeiten zum Spaß und zur Unterhaltung kon- weil sie jeden Euro brauchen können. Mietzahlungen der Clubs, Kulturzentren und sumieren kann und das möglichst nichts ko- Die neofeudalen Strukturen der Kultur- Konzertveranstalter, das essentiell für das sten soll. politik treten in der Corona-Ära besonders Fortbestehen der kulturellen Infrastruktur Es sei denn, es handelt sich um Leucht- drastisch hervor. Dort, wo ein entschiedenes ist, fehlen die Erfahrungen mit Kampffor- turmprojekte – für Elphi, Humboldt Forum Eintreten der Staatsministerin für einen Ret- men, um derartige Forderungen durchzuset- oder ein Berliner Museum der Moderne sind tungsfonds für freie Künstler*innen und zen. Es fehlt eine emanzipatorische Selbst- immer Hunderte von Millionen da, die die Kulturarbeiter*innen nötig wäre, geschieht organisation der Musiker*innen und Kultur- Staatsministerin für Kultur, Monika Grüt- – nichts. Jedenfalls, wenn sie nicht das Glück arbeiter*innen, eine »wirkliche Bewegung, ters (CDU), Hand in Hand mit dem umstrit- haben, in Berlin zu leben, wo der Kulturse- welche den jetzigen Zustand aufhebt« (Marx). 46 konkret 6/20
Die bestehenden Interessenverbände reichen nicht aus. Die Gewerkschaft Ver.di etwa, in der einige Musiker*innen, Journa- list*innen und Autor*innen organisiert sind, vertritt häufig Positionen der Gegenseite, et- wa bei der Verschärfung des Urheberrechts: Ver.di und der Verband deutscher Schriftstel- lerinnen und Schriftsteller (VS) traten Hand in Hand mit SPD, CDU/CSU und Teilen der Grünen dafür ein, den Urheber*innen 30 (Print), 40 (Online) und 50 Prozent (Wissen- schaft) ihrer VG-Wort-Einnahmen zugun- sten einer Verlegerbeteiligung zu klauen (eine Kleine Anfrage der Linksfraktion im Bundestag zeigt: 80 Prozent der Verlagsaus- schüttung der VG Wort gehen an die obe- ren neun Prozent der Verlage). Dabei sind nur sieben Prozent der Urheber*innen selbst für eine Verlegerbeteiligung an den Aus- schüttungen. Wenn Gewerkschaften die »In- Christoph Krämer teressenidentität« (Paul Mattick) zwischen Kapital und Arbeit, zwischen Urheber*innen und Verwertungsindustrie gleichsam ver- innerlicht haben, kann man auf sie getrost verzichten. Musiker*innen und Kulturarbeiter*in- nen fehlt eine Lobby. Es gibt wichtige Ver- bände der Clubs und Spielstätten, der sozio- kulturellen Zentren, und es gibt zum Beispiel die IG Jazz oder Berufsverbände der an- gestellten Orchestermusiker*innen. Für selbständige, freie Musiker*innen gibt es keine Selbstorganisation und Vertretung. In Großbritannien existiert dagegen bereits seit 1893 die Musicians’ Union (MU). Diese kampagnenorientierte Organisation steht seit mehr als 120 Jahren im Zentrum aller wesentlichen Vereinbarungen, die Musi- ker*innen betreffen, und verhandelt mit al- len wichtigen Arbeitgebern. Dabei vertritt sie alle Musiker*innen, ob angestellt oder selbständig, ob sie in Orchestern spielen oder in Popbands, ob sie als Jazzer*innen oder Rapper*innen auftreten. Die MU versteht sie ausnahmslos als »workers«, als »beson- dere Art von Arbeiter*innen, die bezahlte Beschäftigung suchen«. Solange sich das kulturelle Prekariat hierzulande nicht als Arbeiter*innen, son- dern als Unternehmer*innen oder als klein- bürgerliche Bohème sieht, wird es unterbe- zahlter Akteur neoliberaler Ideologie bleiben. Es wird Zeit, dass sich Kulturarbeiter*innen aller Genres organisieren und vehement ihre Interessen artikulieren und durchsetzen, um dem neuen Kulturkonservatismus entgegen- zutreten, der im Angesicht der Corona-Kri- se der »Systemrelevanz« von Automobilin- dustrie, Fluggesellschaften und Banken das Wort redet und die Kultur zu nettem Beiwerk degradiert, das wenig kosten darf. Kultur ist systemrelevant. Genau wie jeder einzelne Mensch. l Berthold Seliger musste alle Tourneen sei- ner Agentur auf 2021 verlegen konkret 6/20
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