Schmerzhafte Praxis dauert an - kritischer-agrarbericht.de
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Der kritische Agrarbericht 2020 Schmerzhafte Praxis dauert an Alternativen zur betäubungslosen Ferkelkastration – Bewertung, politischer Rückblick und Ausblick von Miriam Goldschalt Männliche Ferkel werden in Deutschland und in vielen anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union noch immer kastriert. Der Grund: Das Risiko der Entwicklung von Ebergeruch, den viele Verbraucher als ekelerregend empfinden, soll verringert werden. In Deutschland betrifft das rund 25 Millionen männliche Ferkel. Die Manipulation an den Tieren wird noch immer größtenteils ohne Betäubung durchgeführt. Da die betäubungslose Kastration den Ferkeln erhebliche Schmerzen zu- fügt, lehnen Tierschützer sie einheitlich und grundsätzlich ab. Als Alternativen zur betäubungslosen Kastration werden seit Jahren verschiedene Methoden diskutiert. Viele dieser Methoden werden im europäischen Ausland und darüber hinaus schon seit Langem erfolgreich eingesetzt. Auch in Deutschland kam in den letzten Jahren endlich Bewegung in die Diskussion. 2019 sollte die betäu- bungslose Ferkelkastration hierzulande verboten sein, doch Ende 2018 wurde der Termin auf den 1. Januar 2021 verschoben. Der folgende Beitrag fasst die politische Entwicklung zusammen, be- leuchtet die Situation der Ferkel in anderen europäischen Ländern, bewertet die Alternativen zur betäubungslosen Ferkelkastration aus Tierschutzsicht und gibt einen Ausblick auf mögliche zukünf- tige Entwicklungen. Am 4. Juli 2013 hatte die Bundesregierung mit dem Verfügung standen, bestand bereits damals kein ver- Dritten Gesetz zur Änderung des Tierschutzgesetzes nünftiger Grund mehr, Ferkel ohne Betäubung zu (TierSchG) die Kastration der unter acht Tage alten kastrieren. Ferkel neu geregelt. Revidiert wurden die §§ 5 und 6, Im Dezember 2016 legte die Bundesregierung dem Paragraf 21 Absatz 1 wurde neu gefasst. Ausgangs- Deutschen Bundestag ihren Bericht über den Stand punkt für diese Gesetzesänderung war ein Regie- der Entwicklung von Alternativmethoden vor.2 In der rungsentwurf, welcher im Mai 2012 vorgelegt worden Schlussfolgerung beurteilt sie die Alternativen Junge- war. Demnach sollte ein Verbot der betäubungslosen bermast, Immunokastration und chirurgische Kastra- Kastration bereits zum 1. Januar 2017 eingeführt wer- tion unter Betäubung »aus der Sicht des Tierschutzes, den. Auf Empfehlung des Bundestagsagrarausschus- der Arzneimittelsicherheit und des Verbraucher- ses wurde das Datum damals auf den 1. Januar 2019 schutzes als geeignet, die Praxis der betäubungslosen verschoben, »weil die Zeit erforderlich [sei], um die Ferkelkastration abzulösen«.3 Des Weiteren verweist dem Landwirt zur Verfügung stehenden Alternativen sie darauf, dass es für eine erfolgreiche Umstellung weiter zu entwickeln und zu optimieren«.1 Somit wäre entscheidend sei, »dass alle drei Alternativen auf allen die betäubungslose Kastration unter acht Tage alter Stufen der Lebensmittelkette gleichberechtigt Akzep- männlicher Ferkel ab dem 1. Januar 2019 vollständig tanz finden, um größtmögliche Flexibilität für alle Ak- verboten gewesen. teure zu erhalten.«4 Die Gesetzesänderung erfolgte 2013 vor dem Hin- Doch 2018 wurde erneut über die betäubungslose tergrund, dass, wie im Gesetz verankert, keinem Ferkelkastration diskutiert. In erster Lesung beriet Tier ohne vernünftigen Grund Schmerzen zugefügt der Bundestag am 9. November 2018 über einen Ge- werden dürfen (§ 1 TierSchG). Da Alternativen zur setzesentwurf der Koalitionsparteien (CDU/CSU und 278
Tierschutz und Tierhaltung SPD) zur Änderung des Tierschutzgesetzes. Die Re- Interessen derjenigen Unternehmer zu schützen, die gierungskoalition beantragte eine Verlängerung der sie begehen.« Übergangsfrist. Als Begründung führte sie an, die der- Am 29. November 2018 nahm der Bundestag – trotz zeit verfügbaren Alternativen würden den Anforde- der Kritik der Verbände und Wissenschaft – den Ge- rungen der Praxis nicht gerecht. Als spätester Termin setzesentwurf zur Vierten Änderung des Tierschutz- zum Ausstieg aus der betäubungslosen Ferkelkastra- gesetzes von CDU/CSU und SPD in der Fassung der tion wurde der 31. Dezember 2020 vorgegeben. Das Beschlussempfehlung des Ausschusses für Ernährung Betäubungsgas Isofluran sollte tierarzneimittelrecht- und Landwirtschaft an. Am 14. Dezember 2018 billigte lich für die Ferkelkastration zugelassen werden und der Deutsche Bundesrat das Gesetz zur Vierten Än- geschulte Landwirte sollten die Möglichkeit erhalten, derung des Tierschutzgesetzes. Es trat zum 1. Januar die Narkose selber durchzuführen. Zudem sollten 2019 in Kraft. Das 2013 beschlossene Verbot der be- Landwirte bei der Anschaffung der Geräte finanziell täubungslosen Ferkelkastration, das ab dem 1. Januar unterstützt werden.5 2019 und ursprünglich schon ab 2017 hätte gelten sol- In einer öffentlichen Anhörung des Bundestagsaus- len, war damit – nach fünfjähriger Übergangsfrist – in schusses für Ernährung und Landwirtschaft (Vorsitz: letzter Minute um weitere zwei Jahre verschoben wor- CDU/CSU) am 26. November 2018 sprach sich die den, auf den 1. Januar 2021. Mehrheit der eingeladenen Sachverständigen für eine Fristverlängerung aus – mit dem Argument, dass es Ferkelkastration im Ausland keine praxistauglichen Alternativen zur betäubungs- losen Ferkelkastration gäbe.6 Jens Bülte, Professor an In vielen europäischen und außereuropäischen Län- der Fakultät für Rechtswissenschaft- und Volkswirt- dern9 werden Alternativen zur betäubungslosen schaftslehre der Universität Mannheim, trat dieser Po- Ferkelkastration bereits erfolgreich großflächig ein- sition entgegen. Er sah in dem Gesetzentwurf der Re- gesetzt: gierungskoalition einen Eingriff in das Verfassungs- ■■ In Norwegen beispielsweise dürfen männliche Fer- rechtsgut Tierschutz. 2013 hatte die Koalition aus kel seit 2003 nicht mehr ohne Betäubung kastriert CDU, CSU und FDP das Verbot der betäubungslosen werden. Seitdem werden die Tiere vornehmlich von Kastration, das ab dem 1. Januar 2019 gelten sollte, mit Tierärzten unter lokaler Betäubung mit Schmerz- folgender Aussage begründet: ausschaltung kastriert. »Die Durchführung des Eingriffes ohne Betäubung ■■ In Schweden ist die betäubungslose Ferkelkastration ist für das Ferkel mit Schmerzen verbunden. Gemäß seit dem 1. Januar 2016 verboten. Nach einer ent- § 1 Satz 2 darf niemand einem Tier ohne vernünftigen sprechenden Schulung dürfen die Tierhalter ein lo- Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen. In- kales Betäubungsmittel (Lidocain) selbst anwenden. zwischen stehen mit der Durchführung des Eingriffs Die Ebermast konnte sich in Schweden bisher nicht unter Narkose, der Immunokastration oder dem Ver- durchsetzen. Sie macht nur einen Anteil von ein bis zicht auf die Kastration durch Ebermast verschiede- zwei Prozent aus. ne Alternativen zur betäubungslosen Kastration zur ■■ Zum 1. Januar 2019 hat auch Dänemark die Kastra Verfügung, die die Belastung der Tiere reduzieren und tion unter Lokalanästhesie vorgeschrieben.10 auch die Praktikabilität und den Verbraucherschutz ■■ In den Niederlanden werden männliche Ferkel für berücksichtigen. Ein vernünftiger Grund, Ferkeln den Exportmarkt unter Kohlenstoffdioxidbetäu- durch den Verzicht auf eine Betäubung bei der chi- bung kastriert. Die Tiere ohne Schmerzausschal- rurgischen Ferkelkastration Schmerzen zuzufügen, tung zu kastrieren, ist dort bereits seit dem 1. Januar besteht daher nicht mehr.«7 2009 verboten. Etwa 65 Prozent der männlichen Warum also eine weitere Verlängerung? Jens Bülte Tiere werden in den Niederlanden als Jungeber ge- sprach sich deutlich dagegen aus, die Frist zu verlän- mästet, da die größte Supermarktkette des Landes, gern. Die Begründungen der Befürworter, wonach Albert Heijn, bereits seit 2014 nur noch Fleisch von Kostensteigerungen und Wettbewerbsnachteile für unkastrierten Schweinen vermarktet. 2007 hatten Agrarunternehmen verhindert werden sollen, sind die niederländischen Schweinehalter angekündigt, seiner Meinung nach – und auch aus Sicht des Tier- die chirurgische Ferkelkastration bis 2015 zu been- schutzes – nicht ausreichend. Er argumentierte, die den (Erklärung von Noordwijk). Der Handel hat ein betäubungslose Kastration sei vermeidbares Tierleid früheres Ausstiegsdatum erzwungen – allerdings und damit verfassungswidrig. Die Fristverlängerung nur für den Inlandsmarkt. Die Immunokastration sei daher unvertretbar. In einem Artikel, der im Deut- wird in den Niederlanden bisher nicht als Alterna- schen Tierärzteblatt erschien,8 schrieb er: »Eine grund- tive akzeptiert. sätzlich als Straftat bewertete Handlung darf nicht als ■■ In Belgien werden bis zu 20 Prozent der männlichen generell legal bewertet werden, um wirtschaftliche Schweine als Eber gemästet, als Alternative wird die 279
Der kritische Agrarbericht 2020 Immunokastration angewendet. Belgien ist Vorrei- Bewertung der Alternativen ter bezüglich der Immunokastration mit dem Impf- stoff Improvac. Das Land hat nicht die Erfahrung Zu den tierschutzkonformen Alternativen zur betäu- gemacht, dass das Verfahren bei Verbrauchern auf bungslosen Ferkelkastration werden die Ebermast, die Ablehnung stößt. Im Gegenteil: Immunokastrierte Immunokastration und die Kastration unter Inhala Schweine erzielen in Belgien aufgrund ihrer besse- tionsnarkose mittels Isofluran gerechnet. ren Fleischqualität sogar einen Preiszuschlag. Insge- samt bleiben rund 40 bis 50 Prozent der männlichen Kastrationsfreie Alternativen: Schweine in Belgien unkastriert. Ebermast und Immunokastration ■■ In Großbritannien (98 Prozent) und Irland (rund In Bezug auf die Mast unkastrierter Eber hat sich im 100 Prozent) werden nahezu ausnahmslos Jungeber Rahmen verschiedener Studien und aufgrund der gemästet. Mit rund 80 Kilogramm Schlachtgewicht praktischen Erfahrungen durchführender Betriebe13 werden die Eber dort traditionell deutlich leichter gezeigt, dass die Haltung von Ebern bei Beachtung geschlachtet als in Deutschland. entsprechender Management-, Fütterungs- und ■■ Auch in Portugal (85 Prozent) und Spanien (75 Pro- Haltungsaspekte ohne tierschutzrelevante Probleme zent) werden schwerpunktmäßig Jungeber gemäs- realisierbar ist. Wichtig sind beispielsweise ausrei- tet. Etwa 17 Millionen Jungeber werden in Spanien chender Platz, damit die Tiere einander bei Rangord- jedes Jahr mit einem durchschnittlichen Gewicht nungskämpfen ausweichen können, eine angepasste von 80 Kilogramm geschlachtet. Rund 20 Prozent Fütterung und artgerechte Beschäftigung. Vorteile der männlichen Schweine werden kastriert. Die- der Ebermast sind bessere Leistungsmerkmale wie se Tiere sollen deutlich höhere Schlachtgewich- besseres Wachstumspotenzial, bessere Futterverwer- te erreichen. Sie werden für die Herstellung des tung und höhere Magerfleischanteile. Darüber hinaus traditionellen Iberico-Schinkens benötigt. Knapp entfallen sämtliche Kosten und der Zeitaufwand für drei Prozent der Landwirte im Land nutzen die die Kastration sowie die schmerzhafte Manipulation Immunokastration mit speziellen Vermarktungs- am Tier. Als Nachteil der Ebermast wird der Mehr- wegen. aufwand aufgeführt, der sich durch die getrenntge- ■■ In der Schweiz ist es schon seit 2010 verboten, Fer- schlechtliche Aufstallung ergibt. Auch besteht das kel ohne Betäubung zu kastrieren. Die Isoflurannar- Risiko, dass Ebergeruch auftritt. Aus Untersuchun- kose hat sich erfolgreich durchgesetzt. Nach einer gen weiß man, dass etwa drei bis vier Prozent der entsprechenden Schulung führen die Landwirte sie geschlachteten Eber geruchsauffällig sind.14 Schlacht- selbst durch. unternehmen investieren bereits in die Optimierung ■■ Österreich und Frankreich führen weiterhin mehr- der Detektion von Ebern mit Geruchsabweichungen heitlich die betäubungslose Kastration der Ferkel am Schlachtband. Neben Forschungsprojekten zur durch. Nur ein sehr geringer Anteil der Ferkel wird Geruchsdetektion widmen sich viele Studien dem unter Narkose kastriert. Der Anteil der Immunoka- Einfluss von Faktoren wie Fütterung, Genetik bzw. straten oder gemästeten Eber ist ebenfalls sehr ver- Rasseeinfluss und Schlachtgewicht, um auf diesem schwindend gering. Wege den Ebergeruch weiter zu reduzieren.15 ■■ Australien (35 Prozent) und Brasilien (60 Prozent) Die Ebermast ist bei Beachtung der genannten As- als nicht europäische Länder führen die Immuno- pekte eine tiergerechte und praxistaugliche Methode. kastration durch. Entscheidend für den Landwirt ist, dass Abnahme und Bezahlung der Eber garantiert sind. In den letzten Mo- Auf EU-Ebene hatten Vertreter von Landwirten, naten haben Schlachtunternehmen ihr Abrechnungs- Fleischindustrie, Einzelhandel, Forschung, Tierärz- verfahren für Schlachteber mehrfach geändert, wor- teschaft und Tierschutz 2010 das Ziel formuliert, die aufhin Schlachtkörper zunehmend schlechter bezahlt chirurgische Kastration von Ferkeln unter bestimm- wurden.16 Dies schürt bei Landwirten zu Recht die ten Voraussetzungen bis zum 1. Januar 2018 einzustel- Angst vor immer schlechter werdenden Vermark- len (Brüsseler Erklärung).11 Es mangelt jedoch an der tungskonditionen. Umsetzung. Auch das Ziel der Düsseldorfer Erklärung Die Impfung gegen Ebergeruch (Immunokastra- von 200812 wurde nicht eingehalten. Damals hatten tion) setzt eine mindestens zweimalige Impfung der Vertreter der deutschen Wirtschaft (Deutscher Bau- männlichen Tiere voraus. Als Wirkstoff der Impfung ernverband, Verband der Fleischwirtschaft und der fungiert ein Analogon des Gonadotropin-Releasing- Hauptverband des Deutschen Einzelhandels) erklärt, Faktors (GnRF). Das körpereigene GnRF führt wäh- sie wollten unter Ausschluss jeglicher Risiken für die rend der Pubertät zur Bildung von Androstenon in Verbraucher und die Tiere baldmöglichst auf die Fer- den Hoden. Es handelt sich bei dem Arzneimittel kelkastration verzichten. nicht um ein Hormon oder eine hormonähnliche 280
Tierschutz und Tierhaltung Substanz, sondern um eine Impfung. Denn im Gegen- tätsparametern wie dem intramuskulären Fettgehalt, satz zum körpereigenen GnRF ist das bei der Impfung dem Anteil an mehrfach ungesättigten Fettsäuren verabreichte Analogon nicht hormonell wirksam. Es und dadurch der Konsistenz und Oxidationsstabilität regt stattdessen das Immunsystem der Tiere dazu schneiden Immunokastraten besser ab als intakte Eber. an, Antikörper gegen das körpereigene GnRF zu bil- So bleibt zu resümieren, dass sich bei der Verar- den, woraufhin dieses in seiner Wirkung neutralisiert beitung von Schlachtkörpern geimpfter Tiere und wird. Infolge dessen wird die Androstenon-Bildung intakter Eber die Branche sicherlich umstellen und im Hoden unterdrückt und gleichzeitig der Leber- umgewöhnen muss. Auch der Verbraucher wird sich stoffwechsel dahingehend beeinflusst, dass Skatol bes- gegebenenfalls an Änderungen in den Produkten ge- ser abgebaut wird.17 Der Effekt der zweiten Impfung wöhnen müssen. Wie andere Länder aber zeigen, kann lässt sich sofort im Verhalten der Tiere erkennen.18 das bei entsprechender Unterstützung durch Politik, Sie werden ruhiger. Die Hoden bilden sich merkbar Lebensmitteleinzelhandel und die Fleischbranche gut zurück, wodurch am Schlachtband die Effektivität der und leicht gelingen. Zusätzlich kann durch das Vari- Impfung im Rahmen einer Wirkungskontrolle leicht ieren des zweiten Impftermins bei der Immunokast- überprüfbar ist. ration Einfluss auf die Fett- und Schlachtkörperqua- Die Impfung gegen Ebergeruch ist mittlerweile lität geimpfter Tiere genommen werden. So können sehr gut erprobt. Sie wird in vielen Ländern bereits Ebergeruch verhindert und gleichzeitig die Schlacht- großflächig eingesetzt, ohne auf Ablehnung durch körpermerkmale beeinflusst werden. Und bezüglich den Verbraucher zu stoßen. Seit 2009 ist ein Impf- der betriebswirtschaftlichen Auswirkungen liegen alle stoff (Improvac) EU-weit zugelassen. Erfahrungen in Rentabilitätskennzahlen der Immunokastration nahe deutschen Betrieben zeigen, dass die Impfung in der an denen der bisherigen Praxis, der betäubungslosen Praxis gut anzuwenden und effektiv ist.19 Die Impfung Ferkelkastration.22 verursacht keine Rückstände im Fleisch. Sie ist für den Konsumenten absolut unbedenklich. Vorteile der Im- Chirurgische Kastration: Inhalationsnarkose, munokastration sind, dass auch hier der schmerzhafte Injektionsnarkose und Lokalanästhesie Eingriff am Tier vollständig entfällt. Die erfolgreiche Die Inhalationsnarkose mit dem Narkosegas Isofluran Impfung führt zu einer wirksamen Reduktion des hat sich sowohl in der Kleintier- und Pferdechirurgie Risikos der Geruchsauffälligkeit (bei etwa fünf Pro- als auch beim Menschen seit Langem bewährt. Am zent Impfversagern, davon anteilig circa 3,5 Prozent 19. November 2018 hat das Bundesamt für Verbrau- geruchsauffälligen Tieren ergibt sich ein Anteil von cherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL) dem In- unter einem Prozent geruchsauffällige Tiere nach halationsnarkotikum Isofluran Baxter vet 1000 mg/g Immunokastration). Und da die Saugferkelkastration nun erstmalig auch für Schweine (Ferkel bis zum sieb- wegfällt, werden im Bereich der Ferkelerzeugung Zeit ten Lebenstag) die Zulassung erteilt.23 In dem für chi- und Kosten gespart.20 Nachteilig ist – entsprechend rurgische Eingriffe geeigneten Stadium der Narkose der Ebermast – die bis zur zweiten Impfung erhöh- (dem Toleranzstadium) kann die Kastration schmerz- te Aggressivität und Aktivität der männlichen Tiere. frei durchgeführt werden. Etwa zwei bis drei Minuten Daher sind weitreichende Umstellungen in Fütte- nach Entnahme aus den Narkosemasken sind die Fer- rung, Handling und Management notwendig. Weib- kel wieder vollständig wach und bewegen sich kont- liche und männliche Tiere müssen zudem getrennt rolliert.24 Die Narkose ist sehr schonend und Verluste aufgestallt werden. Wie sich vermehrt zeigt, sind vie- bei den Saugferkeln wurden bisher nicht bekannt. Da le Betriebe zwar dazu bereit, die Improvac-Impfung Isofluran den postoperativen (Wund-)Schmerz nicht durchzuführen, sie sehen aber keine Möglichkeit für lindert, müssen die Ferkel zusätzlich ein Schmerzmit- den Absatz der Tiere. tel erhalten.25 Manche Schlachtbetriebe und Lebensmitteleinzel- Die Erfahrungen haben allerdings gezeigt, dass Fer- handelsunternehmen lehnen die Jungebermast und kel, die nicht der »Normgröße« entsprechen, unter die Immunokastration ab. Mit positivem Beispiel Umständen nicht ausreichend betäubt werden. Wenn bezüglich der Vermarktung alternativer Kastrations- die Narkosemasken nicht genau passen, kann Gas ent- methoden geht in Deutschland hingegen die Müller weichen. Als FCKW-ähnliche Substanz hat Isofluran Gruppe voran.21 eine klimaschädigende Wirkung. Auch die Arbeits Die Fleischqualität von Ebern und Immunokastra- sicherheit der durchführenden Person kann gefährdet ten ist ebenfalls häufig Gegenstand von Diskussionen. sein. Isofluran kann beim Menschen Schläfrigkeit aus- Dabei bleibt zu beachten, dass sowohl geimpfte Tiere lösen, bei längerer oder wiederholter Exposition auch als auch Eber eine niedrigere Ausschlachtung, höhere zu Organschäden führen. Um das Risiko zu minimie- Magerfleischanteile und ein besseres Leistungsniveau ren, sind Narkoseanlagen mit einem Absaugsystem (verbesserte Futterverwertung) aufweisen. Bei Quali- ausgestattet, das die Abluft aus dem Gebäude leitet. 281
Der kritische Agrarbericht 2020 Vorteile der Inhalationsnarkose sind die kurze kel. Die Narkosewirkung ist bei richtiger Applika- Nachschlaf- und kurze Einleitungsphase. Probleme tion als sicher zu bewerten. Auch ein schmerzloser wie Hypoglykämien durch verpasste Saugakte und chirurgischer Eingriff, wie die Kastration, ist unter Hypothermien (Unterkühlungen) treten daraufhin dieser Narkose möglich. Nachteilig zu bewerten ist nicht oder nur selten auf. Nachteile der Inhalations- allerdings, dass die Wirkdauer der Narkose mehrere narkose sind der höhere Zeitaufwand und die Kos- Stunden betragen kann. Dies führt dazu, dass die Fer- ten für Gerät und Verdampfer. Außerdem erfolgt kel mehrere Milchmahlzeiten verpassen. Sie können ein Eingriff in die Unversehrtheit der Tiere, welcher daraufhin in eine Hypothermie sowie Hypoglykämie aus Tierschutzsicht abzulehnen ist. Aus betriebswirt- (Unterzuckerung) verfallen. Dies wiederum führt zu schaftlicher Sicht ist die Inhalationsnarkose – wie alle erhöhten Saugferkelverlusten. Da die Dosierung der Alternativen mit Betäubung – aufgrund der mit der Arzneimittel gewichtsabhängig erfolgen muss, ist eine Narkose verbundenen Kosten und Arbeitsstunden routinemäßige Anwendung der Injektionsnarkose zu- deutlich ungünstiger.26 Für die Durchführung einer dem schwer zu realisieren. Diese Methode ist also nur Narkose galt dem TierSchG zufolge zudem ursprüng- unter Einschränkungen als geeignet und tierschutz- lich ein grundsätzlicher Tierarztvorbehalt. Auch die konform zu bewerten. Inhalationsnarkose durften demnach nur Tierärzte Als weitere Methode steht die Kastration mittels ausführen. Diesen Umstand hat die Bundesregierung Lokalanästhesie im Raum. Die Lokalanästhesie wird durch eine Ferkelbetäubungssachkunde-Verordnung der im Dritten Gesetz zur Änderung des Tierschutz (FerkNarkSachkV) aufgelockert. Durch einen Sach- gesetzes festgelegten Definition der Betäubung nicht kundenachweis werden Landwirte demnach dazu gerecht. Nach aktuellem wissenschaftlichen Stand ist berechtigt, die Narkose selbst durchzuführen. Am die Lokalanästhesie keine gesetzeskonforme Alter 27. Juni 2019 wurde die Verordnung im Bundestag an- native, denn das Gesetz verlangt eine wirksame genommen und am 20. September 2019 stimmte auch Schmerzausschaltung.28 Untersuchungen ergaben bei der Bundesrat der Verordnung zu – entsprechend der Anwendung der lokalen Betäubung jedoch keine Re- Ausschussempfehlung.27 duzierung, sondern teilweise eine durch die Injektion Die Injektionsnarkose beruht auf einer Injektion und die Gewebereizung sogar gesteigerte schmerzbe- von Ketamin und Azaperon in den Muskel der Fer- dingte neuroendokrine Stressreaktion.29 Des Weite- ren liegen in Deutschland keine angemessenen Arz- neimittel für die Lokalanästhesie bei der Kastration Folgerungen & Forderungen von Ferkeln vor. Lediglich das Präparat Procain be- sitzt in Deutschland die Zulassung für das Schwein, ■■ Mit Ebermast, Immunokastration und der Isofluran nicht aber das weitaus besser wirksame und verträg- narkose stehen bereits heute drei praxis- und lichere Lidocain. Bei der Anwendung von Procain marktreife Alternativen zur betäubungslosen Ferkel kann es zusätzlich zu allergischen Reaktionen und kastration zur Verfügung. Nebenwirkungen bis hin zum Tod der Ferkel kom- ■■ Aus Tierschutzsicht sollten insbesondere die men. Die Lokalanästhesie ist somit aus Tierschutz- nicht- bis minimalinvasiven Alternativmethoden sicht unbedingt abzulehnen. unterstützt werden: die Ebermast und die Immuno- Die aufgezeigten Probleme und Unklarheiten, die kastration. bei der Inhalationsnarkose mit Isofluran und der Lo- ■■ Als Übergangslösung kann aus Sicht des Tierschutzes kalanästhesie bestehen, werfen die Frage auf, weshalb die Kastration unter Isoflurannarkose, mit zusätzli- beide Methoden noch immer von der Bundesregie- cher Schmerzausschaltung, aber auch eine Form der rung, aber auch von der Branche, forciert werden. So chirurgischen Kastration akzeptiert werden, aller- genehmigte das Bundesministerium für Ernährung dings nur unter Beibehalten des Tierarztvorbehaltes. und Landwirtschaft (BMEL) Projekte, welche die ■■ Dringend notwendig ist eine ausgeglichene Förde- Schmerzausschaltung bei der Lokalanästhesie und rung aller vorhandenen Alternativen, allen voran der verschiedene Maskengrößen sowie Insufflationszeit kastrationsfreien Methoden. bei der Isoflurannarkose untersuchen sollen.30 Bei ■■ Um die schnelle Umsetzung der kastrationsfreien beiden Projekten ist laut Planung nicht damit zu Alternativen zu ermöglichen, sind alle Beteiligten – rechnen, dass bis zum Fristende (31. Dezember 2020) Landwirte, Schlachtbranche, Tierärzteschaft, Einzel- Ergebnisse vorliegen. Warum gehen die beteiligten handel und Politik – gleichermaßen in der Pflicht. Branchen – Landwirtschaft, Schlacht- und verarbei- ■■ Der gängigen schmerzhaften Praxis der betäubungs- tende Branche – und auch die Politik nicht endlich losen Ferkelkastration muss endlich ein Ende gesetzt dazu über, die verbleibende Zeit und finanzielle Mittel werden! in die fristgerecht verfügbaren kastrationsfreien Alter- nativen zu investieren? 282
Tierschutz und Tierhaltung Das Thema im Kritischen Agrarbericht 14 M. Verhaagh und C. Deblitz: Wirtschaftlichkeit der Alternativen X X Heidrun Betz: Entwicklungen & Trends 2018: Die Gesellschaft zur betäubungslosen Ferkelkastration – Aktualisierung und will mehr Tierwohl – und die Politik? In: Der kritische Agrar Erweiterung der betriebswirtschaftlichen Berechnungen (Thünen bericht 2019, S. 244 f. Working Paper 110). Braunschweig 2019. – BMEL (siehe Anm. 2). X X Heidrun Betz: Entwicklungen & Trends 2017: Der Trend geht 15 BIOAktuell.ch – Die Plattform der Schweizer Biobäuerinnen und hin zu einem sensibleren Umgang mit Tieren. In: Der kritische Biobauern: »Forschungsgebiete in der Ebermast« (www.bio Agrarbericht 2018, S. 239. aktuell.ch/tierhaltung/schweine/ebermast/forschungsgebiete. X X Heidrun Betz: Entwicklungen & Trends 2015: Mehr gesellschaft html). liche Akzeptanz für den Tierschutz. In: Der kritische Agrar 16 Lehnert (siehe Anm. 15). bericht 2016, S. 234. 17 Zoetis Deutschland: Fakten zur Impfung gegen Ebergeruch – X X Wolfgang Apel: Von der Provokation zum Leitbild – 25 Jahre Die Impfung für mehr Tierwohl. Karlsruhe o. J., S.1–7. Neuland-Verein für tiergerechte und umweltschonende Nutz- 18 Lehnert (siehe Anm. 15). tierhaltung. In: Der kritische Agrarbericht 2014, S. 224–227. 19 Ebd. X X Elke Deininger: Ferkelkastration auf dem Prüfstand – Aktueller 20 Verhaagh und Deblitz (siehe Anm. 16). Wissensstand und Alternativen zur betäubungslosen Ferkel 21 »Positionierung der Müller Gruppe zu den Alternativen der kastration. In: Der kritische Agrarbericht 2009, S. 233–238. betäubungslosen Ferkelkastration«. Pressemitteilung der Mül- ler Gruppe vom Januar 2019. 22 BMEL (siehe Anm. 2). Anmerkungen 23 »Erstes Inhalationsnarkotikum für die schmerzfreie Ferkelkastra- 1 Deutscher Bundestag: Entwurf eines Dritten Gesetzes zur tion in Deutschland zugelassen«. Mitteilung des Bundesamtes Änderung des Tierschutzgesetzes. Drucksache 17/10572 vom für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL) vom 29. August 2012. 23. November 2018. 2 Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL): 24 C. Schwennen: Untersuchungen zur Anwendbarkeit der Isoflu- Bericht der Bundesregierung über den Stand der Entwicklung rannarkose bei der Ferkelkastration sowie deren Auswirkung alternativer Verfahren und Methoden zur betäubungslosen auf Produktionsparameter in der Ferkelerzeugung unter Ferkelkastration gemäß § 21 des Tierschutzgesetzes. Berlin konventionellen Produktionsbedingungen. Diss. Tierärztliche 1. Dezember 2016. Hochschule Hannover 2015. 3 Ebd., S. 24. 25 C. Schulz: Auswirkung einer Isofluran-Inhalationsnarkose auf 4 Ebd. den Kastrationsstress und die postoperativen Kastrations- 5 Deutscher Bundestag: Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/ schmerzen von Ferkeln. Diss. LMU München 2007. CSU und SPD, Entwurf eines Vierten Gesetzes zur Änderung des 26 BMEL (siehe Anm. 2) – Verhaagh und Deblitz (siehe Anm. 16). Tierschutzgesetzes. Drucksache 19/552 vom 6. November 2018. 27 Bundesrat Drucksache 335/19 und 335/1/19 (B). 6 »Betäubungsloses Kastrieren männlicher Ferkel noch zwei Jahre 28 Deutscher Bundestag: Beschlussempfehlung und Bericht des zulässig«. Meldung der Online-Dienste des Deutschen Bundes- Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucher- tags vom 27. November 2018. schutz (10. Ausschuss), Bundestag-Drucksache 17/11811 vom 7 BMEL (siehe Anm. 2). 11. Dezember 2012. 8 J. Bülte: Zur Verfassungswidrigkeit der fortgesetzten betäu- 29 A. Zankl: Untersuchungen zur Wirksamkeit und Gewebeverträg- bungslosen Ferkelkastration. In: Deutsches Tierärzteblatt 67/1 lichkeit von Lokalanästhetika bei der Kastration männlicher (2019), S. 18–22. Saugferkel. Diss. LMU München 2007. – S. Zöls, M. Ritzmann 9 Zum folgenden Länderüberblick siehe A. Wagner und J. Held: und K. Heinritzi: Einsatz einer Lokalanästhesie bei der Kastra Ferkelkastration: Wer macht es wie in Europa. In: Wir sind tion von Ferkeln. In: Tierärztliche Praxis 34 (2006), S. 103–106. T ierarzt (www.wir-sind-tierarzt.de/2016/12/ferkelkastration- 30 1. Projekt: »IdoFer«, Verbundprojekt von Tierärztlichen Hoch- wer-macht-was-in-europa/). schule Hannover und Ludwig-Maximilians-Universität Mün- 10 W. Herrmann: Ferkelkastration: Lokalanästhesie in Dänemark. In: chen; 2. Projekt: »Wirksamkeit der Schmerzausschaltung durch agrarheute vom 27. Dezember 2018 (www.agrarheute.com/tier/ Lokalanästhesie bei der Ferkelkastration«, Verbundprojekt schwein/ferkelkastration-lokalanaesthesie-daenemark-550553). von LMU München und Zentrum für Präklinische Forschung, 11 European Declaration on alternatives to surgical castration of Klinikum rechts der Isar der TU München. pigs (Brussels Declaration) 2010 (https://ec.europa.eu/food/ sites/food/files/animals/docs/aw_prac_farm_pigs_cast-alt_ declaration_en.pdf). 12 Deutscher Bauernverband, Verband der Fleischwirtschaft und Hauptverband des Deutschen Einzelhandels: Gemeinsame Dr. Miriam Goldschalt Erklärung zur Ferkelkastration (Düsseldorfer Erklärung) vom Tierärztin, Fachreferentin beim 29. September 2008 (www.dgfz-bonn.de/services/files/doku- Deutschen Tierschutzbund e.V. mente/Gemeinsame%20Erkl%C3%A4rung.pdf). 13 H. Lehnert: Welche Zukunft haben Ebermast und Improvac? Spechtstraße 1, 85579 Neubiberg In: top agrar 2019/2, S. 4–7. miriam.goldschalt@tierschutzakademie.de 283
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