Neue Materialien Saša Stanišić Experiment: Abitur über meinen Roman "Vor dem Fest"

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penZeitschrift für Germanistik | Neue Folge XXXII (2022), Peter Lang, Bern | H. 1, S. 199–205

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Saša Stanišić
Experiment: Abitur über meinen Roman „Vor dem Fest“

Vor dem Fest ist kein einfacher Text. Es war nicht                    Ich beging diese Treffen auch mit dem Ziel,
einfach, ihn zu schreiben, und ich war mir stets                   für alle Textfragen eine Antwort zu versuchen, die
sicher, er ist auch zum Lesen, aufgrund der mosa-                  musste aber keine Gültigkeit haben, sondern sollte
ikartigen Zeit- und Handlungsstruktur sowie der                    so oft wie möglich mit der Gegenfrage einherge-
großen Zahl an Protagonist*innen, eine ziemliche                   hen: „Was denkst Du denn?“
Herausforderung, zumal für Hamburger Schü-                            Bei einer dieser Veranstaltungen kam die Frage,
ler*innen, die mit dem Schauplatz – einem Dorf                     ob ich – wäre ich heute Schüler – Vor dem Fest als
in Brandenburg – wenig anfangen können.                            Abituraufgabe wählen würde. Ich war ehrlich: Die
    Als feststand, dass er verbindlicher Referenz-                 drei anderen Aufgaben hätten mir besser gelegen,
text für die Abiturjahrgänge 2019 und 2020 in                      und die Tatsache, dass es wenig Sekundärliteratur
Hamburg wird, stand auch für mich fest, mit den                    zu meinem eigenen Roman gab, hätte mich stark
Lehrkräften und mit den Deutschkursen daran                        verunsichert.
arbeiten zu wollen. Ich absolvierte in Folge knapp                    Die Frage hatte mich aber dann doch am Ehr-
sechzig Veranstaltungen, die zum größten Teil an                   geiz gepackt und ich beschloss – wenn es irgendwie
den Schulen selbst stattfanden und von den Schü-                   möglich sein sollte – die Prüfung parallel und unter
ler*innen gestaltet wurden. Ich versprach mir vom                  gleichen Voraussetzungen mit den Schüler*innen
Gespräch über Literatur mit einem, der Literatur                   zu schreiben. Neben der Neugier, wie ich wohl
schafft, eine positive Werbung fürs Lesen, für                     zurechtkommen und abschneiden würde, spielte
Fiktion, fürs Entzaubern strikter Textinterpre-                    auch der praktische Gedanke eine große Rolle:
tationen, ja für die Autonomie einer belegbaren                    Die Arbeit sollte interessierten Lehrkräften des
Lesart durch Schüler*innen und letztlich auch für                  nachfolgenden Abiturjahrgangs zur Verfügung
die Befreiung von der Frage: „Was wollte der Autor                 gestellt werden als Unterrichtsmaterial.
damit sagen?“ – indem der Autor gelegentlich                          Mitzumachen wurde mir ermöglicht, und das
zugab: Nichts Besonderes.                                          Ergebnis ist hier zu lesen (13 Punkte).

Der folgende Abdruck von Saša Stanišićs Abiturklausur, die er unter dem Pseudonym Elisabeth von Bruck
im Sommer 2019 in Hamburg mitschrieb und die ohne Kenntnis des Experiments bewertet wurde, entspricht
dem Original. Weder der Autor noch die Redaktion haben am Wortlaut nachträglich etwas verändert, le-
diglich kleine Flüchtigkeitsfehler wurden korrigiert. Wir danken der Schulbehörde für die Einwilligung zum
Abdruck der Klausur, die von großem literaturwissenschaftlichem und fachdidaktischem Interesse ist. Denn
die Interpretation eines Autors in einer realen Prüfungssituation ist sicher ein besonderer Ausnahmefall von
Selbstkommentierung. Die Aufgabenstellung, die hier nicht wörtlich zitiert werden kann, bestand aus drei
Teilen: II.1 Charakterisierung der Titelfigur im ersten Kapitel von Fontanes Roman „Cécile“; II.2 Vergleich
dieser Charakterdarstellung mit Lada in Stanišićs Roman „Vor dem Fest“ (S. 14–17); II.3 Hinzufügung
einer eigenen Szene in die Festbeschreibung des Romans (S. 89 f.), in der Fontanes Cécile zu Gast bei den
von Blankenburgs in Fürstenfelde ist.
                                                                                              Die Redaktion.

© 2022 Saša Stanišić - http://doi.org/10.3726/92171_199 - Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0
Internationalen Lizenz              Weitere Informationen: https://creativecommons.org/licenses/by/4.0
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II. 1 Bereits das erste Gesagte – der erste Dialog zwischen Cécile und Oberst – sowie im Anschluss
die Sitzplatzsuche im leeren Waggon deuten darauf hin, dass es sich bei der „schönen Frau“ (Z. 72) um
eine etwas schwierige „Dame“ (Z. 12) handeln könnte. Die schnelle Korrektur der Vermutung, dass
der zweite Wagen nach Thale fahren würde, und im Folgenden die längere Entscheidungsfindung, in
welchem „Compartiment“ man sich aufhalten solle – wobei ihr Begleiter Cécile die Wahl überlässt –,
könnten die Vermutung erlauben, die Reisende sei eine Pedantin, die noch dazu einen starken eigenen
Kopf und Durchsetzungsvermögen besitzt (Oberst gibt keine Widerworte, lässt sie gewähren). Die
meisten Zugreisenden würden in einem leeren Zug jedenfalls vermutlich wesentlich kürzer über ihren
Sitzplatz nachdenken, und als dann ihr eifriger, aber durchaus auch nervöser Begleiter, nachdem nun
die edle Dame sich endlich hingesetzt hatte, ein Gespräch eröffnet, wird auch dieses keine freundliche
Erwiderung hervorrufen, sondern ein – so meint man – eher Schnippisches: „Ich mag mich mit Menschen
nicht umgeben, wenn ich nicht unbedingt muss.“ Worauf das Gespräch prompt abbricht.
    Fontane macht das ganz wunderbar in der szenischen Episode dieser beginnenden Zugfahrt der
beiden Freunde – und dass es sich überhaupt um Freunde, gar Vertraute, ja ein Ehepaar, handelt, wird
man übrigens auch erst später im Text erfahren (die persönliche Du-Anrede, das gemeinsame Wissen
um Details einer augenscheinlich intimen „Geschichte“, die unsere Protagonistin bedrückt, und vor
allem wie fast zärtlich der ältere Herr sich um Cécile kümmert, sie zum Ausruhen anhält (Z. 62 ff.) und
ansieht). Er macht es wunderbar, uns, die Leser, in eine Vermutung zu locken, das Verhalten der jungen
Frau aus – allem Anschein nach – gutem Hause sei eben ein kurz angebundenes, geschehe gar vielleicht
aus Arroganz, Besserwisserei und einem verwöhnten Charakter (Sitzplatzwahl) heraus.
    Dann aber erfahren wir, dass dieser Reise ein Ereignis vorausliegt, wobei sich die Erzählerinstanz selbst
ein wenig absichert mit einem „Täuschte nicht alles“ (Z. 72) – und weiter: „… so lag eine ‚Geschichte‘
zurück, und die schöne Frau (…) war unter allerlei Kämpfen und Opfern errungen.“
    Im „errungen“ wird nun also die pers. Beziehung zwischen dem Obristen und Cécile angedeutet:
Ließen die ersten Zeilen eine fast dienerhafte Abhängigkeit und Zuwendung des älteren Herren der
Dame gegenüber vermuten, so wird spätestens in diesen Zeilen klar: die beiden sind mindestens (ein
ungleiches) Liebes- gar vielleicht Ehepaar auf einer gemeinsamen Urlaubsreise, von der sich der Oberst
freilich viel verspricht, viel mehr als die Dame an seiner Seite, wenn es heißt:
    „Vielleicht ist das Glück näher, als du denkst, und hängt im Harz an irgendeiner Klippe. Da hol ich
es dir herunter, oder wir pflücken es gemeinschaftlich“ (Z. 93).
    Worauf der Erzähler aber wieder sofort aus den Segeln die Romantik nimmt und (wieder im abge-
sicherten Modus, aber doch deutlich) beobachtet: „Es schien, daß ihr die Worte wohltaten, im übrigen
aber doch wenig bedeuteten …“ (Z. 102).
    Der erste Eindruck von Cécile also mag täuschend gewesen sein und ihr Verhalten nicht unbedingt
ein Resultat ihres schwierigen Wesens, sondern eher einer Laune, die wohl auch mit der Vergangenheit
zu tun hat, die gewiss schwierig war.
    So heißt es wieder in Andeutungen – aber auch recht klar ausgesprochen:
    „Ich sehe schon die Waage, drauf du gewogen wirst und dich mit jedem Tage mehr in die Gesundheit
hineinwächst. Denn Zunehmen heißt Gesundwerden.“
    Ist Cécile also krank gewesen, und die Reise dient ihrer Erholung?
    Gewiss ist wohl, dass sie unglücklich zu sein scheint, verlangt sie von ihrem Begleiter – Partner –
Geschichten von „Glück und Freude“ (Z. 88), zugleich aber stellt sie solche Geschichten als zweifelhaft
dar („Oder ist es bloß ein Märchen?“).
    Auch, dass sie sich nach dem Alleinsein sehnt, wirkt gegeben – mehrmals in dem vorliegenden
Abschnitt geht sie darauf ein, ungern von Menschen umgeben sein zu wollen –, im Zug wünscht sie
sich keine Gesellschaft, aber auch im Hotel im Harz ja keine gemeinsamen Abendessen mit anderen.

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXII (2022)                                              Peter Lang
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    Die meisten Werke von Fontane stellen die aristokratische Gesellschaft aus, die Protagonisten stammen
aus diesen „besseren“ Kreisen, sind aber eben oft gebrochen und ihrer gesellschaftlichen Rolle nicht mit
allen Fasern ihrer Wesenszüge entsprechend.
    Man ahnt bereits in dieser kurzen Passage, dass wir es bei Cécile mit einer ebensolchen Figur zu
tun haben, also, die nicht nur die Summe ist einer bestimmten „typischen“ und erwartbaren Position
innerhalb der Gesellschaft ist, sondern diffizil und nicht sofort fassbar: Realistische Helden, die sind
eben nicht mehr nur Helden. Sie leiden (Cécile vor allem wohl an der angedeuteten „Geschichte“ in
der Vergangenheit, aber durchaus auch vielleicht sogar an der Ehe (?) – Partnerschaft mit dem älteren
Herrn an ihrer Seite), sie haben Geheimnisse, Sehnsüchte, Fehler, sind müde und haben keine Lust –
Cécile z. B. gerade vielleicht – so scheint es – sich mit ihrem Begleiter zu unterhalten (die „scheinbar
Schlafende (Z. 69)).
    Auch die Art, wie der Obrist sie ansieht, während sie sich schlafend stellt, spricht Bände. So heißt es,
dass er an ihr Züge von „Herbheit, Trotz und Eigenwillen“ beobachten kann, die sich so stark herausstel-
len, dass sie gar die „freundliche Wirkung“ (Z. 71) mindern. Und auch das, diese im Grunde verheißende
kleine Sequenz, zeigt wie Fontane seine Charaktere baut: als komplexe Mixturen aus unseren (Leser-)
Annahmen, die wir uns aus dem szenischen Handeln der Figur zusammenreimen (die anfängliche kleine
Odyssee durch den leeren Zug, das Pedantisch-Schlechtgelaunte), aus vorsichtigen Erzählerkommentaren
(Fontane lässt uns hier nicht in die Gedankenwelt seines Personals blicken, womit wir quasi auf gleichem
Wissenshorizont wie er stehen) sowie nicht zuletzt überhaupt durch das Zurücktreten des Erzählers in
den Hintergrund dieser heterodiegetischen Erzählung, einem Hintergrund, in dem noch nicht klar ist,
was die Vergangenheit der Figuren diesen Figuren konkret ausmacht (außer, dass sie schwer wiegt im
Falle von Cécile), noch, was die Zukunft mit sich bringt (außer, dass man als Leserin „spürt“, Konflikte
liegen in der Luft – etwa die voraussichtliche Unmöglichkeit, „allein“ zu sein in einem Hotel). Oder ist
sogar mit Céciles: „Ich hoffe, dass wir viel allein sind.“ auch der Wunsch zur Distanz von ihrem Begleiter
gemeint? Ihr Verhalten zueinander in der vorliegenden Passage lässt auch diese Möglichkeit zu: dass hier
einer die Beziehung zu befeuern sucht (der Obrist), die nicht so verläuft, wie er sich das wünscht: Das
Glück scheint für Cécile ein Märchen, er will für sie und dieses Glück pompös kämpfen – „und überall,
wo ein Echo ist, laß ich einen Böllerschuß dir zu Ehren abfeuern.“
    Zusammenfassend lässt es sich sagen, dass Fontane in dieser fast expositorisch wirkenden Reise bereits
auf der Charakterebene viele Hinweise angelegt und lose Rahmen fixiert hat, die einen spannenden
Aufenthalt im Harz versprechen. Eine komplexe Frauenfigur mit gewisser Strenge im Umgang, dem
Wunsch nach Ruhe bei gleichzeitiger geheimnisvoller Beschattung durch ein „Ereignis“ in der Vergan-
genheit. Sie ist jemand, der sich wohl in adligen Kreisen bewegt und erkannt wird (am Bahnsteig etwa
Z. 54), der abstrakt von Glück spricht, allem Anschein gerade aber dieses Glück nicht empfindet. Die
Ambivalenz ist lesbar, man freut sich regelrecht auf die Ankunft des Paares im Harz, und auf mehr
„Herbheit, Trotz und Eigenwillen“ Céciles.

II.2 Lada ist kein Aristokrat. Lada ist jemand, der „als Dreizehnjähriger mit dem Lada von seinem
Großvater nach Dänemark gefahren ist.“ Lada ist jemand, der „heute zum dritten Mal binnen drei Monate
seinen Golf im Tiefen See geparkt“ habe. Lada ist vermutlich das Entfernteste von einem Aristokraten
in der ganzen Uckermark, ein Proll, ein Entrümpler.
   Dort sind wir nämlich nun, mit Lada, dem stummen Suzi und Johann, an einem uckermärkischen
See am „letzten warmen Tag dieses Jahr.“ (S. 16, Z. 2)
   Direkt auffällig ist der Unterschied sowohl in der Erzähler- als auch in der Figurenrede zwischen
dem „Cécile“-Ausschnitt und der Szene am See, in der Lada gerade wieder aus dem See auftaucht, „die
Kippe noch zwischen den Lippen“, sowie in der Erzählerhaltung.
   Während der Erzähler bei Fontane zwar an den Figuren nah dran ist, dialogisch arbeitet, uns auch aus
den Augen der Protagonisten etwa die Landschaft sehen lässt, sowie auch ihr Aussehen recht sachlich und
etwas museal beschreibt („schlanke, schwarzgekleidete Dame“ (Z. 12), „ein in ein Halblivree gekleideter
Diener“ (Z. 17), „der ältere Herr, ein starker Fünfziger“ (Z. 3), und dabei also die Figuren selbst direkt

Peter Lang                                                        Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXII (2022)
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zum ersten Mal zu „sehen“ scheint (ihm sind etwa deren Namen erst dann geläufig, nachdem sie in der
Erzählung genannt worden sind, etwa „Cécile“ in der direkten Ansprache durch den Obristen), ist die
Erzählerinstanz in „Vor dem Fest“ – das ominöse „Wir“ – mit den Figuren bereits vertraut, kennt ihre
Gegenwart und Vergangenheit (wo Fontane nur andeuten lässt, dass da eine „Geschichte“ sei) und ist
sich ihrer Talente etwa und Charaktereigenschaften sicher. So heißt es über Lada etwa zum Schluss des
Kapitels: „Lada ist jemand, der sein Wort hält“, oder als Zeugnis dessen Umgangs mit dem jüngeren
und körperlich unterlegenen Johann (Lada – die Muskulatur, Johann – die Rippen (S. 15, Z. 26 f.)):
„Manchmal labert Lada so was, um Johann zu erschrecken“ (S. 17).
    Überhaupt „labern“. Im Unterschied zu dem Erzähler von „Cécile“ nähert sich das „Wir“ von „Vor dem
Fest“ auch sprachlich „seinen“ Dorfbewohnern an. Der Ton – die Kunstsprache, der sich Stanišić hier
bedient – entspricht in den Erzählpassagen dem Ton seiner Figuren – den halbstarken, etwas prolligen
jungen Männern. Das „Labern“ gehört eindeutig zu einem eher jugendlichen Soziolekt, aber auch das
Wie des Erzählens ist augenfällig gefärbt mit Jugendsprech. So heißt es gleich zu Beginn des Kapitels:
„Die Tankstelle hat dichtgemacht, zum Tanken musst du nach Woldegk.“ „Dichtgemacht“ statt etwa
„zugemacht“ – „du“ statt „man“ sind bereits früh Hinweise, dass hier ein Erzähler sich tonal dem Milieu
annähert, das er uns näherzubringen sucht – den jungen Männern Brandenburgs, die gerade ein Auto
in den See gesetzt haben, und wie wir gleich erfahren werden, Wölfe in die Uckermark geholt haben
(Lada zumindest behauptet das).
    Doch zurück zum „Wie“. Bei Fontane haben wir es also mit einer Erzählerrede zu tun, die sich sprach-
lich im Graubereich der totalen Neutralität befindet: ja nicht auffallen: Die Sätze sind wohlgeformt und
mit klugen Appositionen gewappnet, adjektivische Formen kommen extrem oft vor, der Morgennebel
ist „dünn“, die Bahnbögen „hoch“, die Tische „grünstichig“ und die Seitenflügel „rauchgeschwärzt“,
insgesamt dient alles dem Zweck, Landschaft und Mensch detailreich vor Augen zu führen, ohne
ihnen wirklich so nah zu kommen, dass sich eine Identität herstellt im Sinne einer Verschmelzung des
Erzählten mit der Erzählung.
    Bei Stanišić dagegen „spricht“ der Erzähler – labert gewissermaßen, wenn man so will – ganz nach
dem Milieugeiste seiner Figuren. Nichts da mit Wohlgeformtheit und Adjektiven. Die Sätze sind fragmen-
tarisch, es fehlen Verben. Die Beschränktheit des Vokabulars beim Erzähler scheint der Beschränktheit
des Wortschatzes bei den Figuren zu entsprechen.
    Lada als Figur spricht also wie der Erzähler bzw. umgekehrt besteht eine Identität des erzählenden
Wirs mit Lada – Lada ist einer aus dem großen dörflichen Reigen, er gehört zu dieser Welt aus gerade
so nicht arbeitslosen jungen Männern, ist gewissermaßen ihr Anführer, und das möchte das Wir uns
auch weißmachen.
    Wir sind – wir, die Leser – sofort in medias res, was Lada angeht, und „res“ hier ist sein absolutes
Draufgängertum im Versuch einen Uferweg mit 200 km/h zu meistern, ein Vorhaben, das zum Zeitpunkt
des Erzählens zum dritten Mal in Folge nicht gelingt.
    Im Unterschied zu Fontane, wo wir zwar ebenfalls szenisch sehen können, wie sich Cécile und ihr
Begleiter verhalten, allerdings alles über deren Gegenwart hinaus im Vagen und Angedeuteten bleibt,
lernen wir über Lada das Wesentliche sofort:

–     Er ist ein Heißsporn (die Sache mit Großvaters Lada, die Sache mit 200 km/h)
–     Er ist tätowiert und darin von sich sehr überzeugt („The Legend“ (S. 16 u.))
–     Er ist handwerklich begabt („Was machst du jetzt mit der Karre?“, hat Johann Lada gefragt, und
      Lada, der in puncto Autos aus dem See holen und Wieder-zum-ordnungsgemäßen-Laufen-Brin-
      gen kein Anfänger ist, sagte: „Hol ich die Tage.“)
–     Er schätzt Stärke und findet im Gegenzug Schwächen, sowie alles, das er mit Schwäche assoziiert –
      wie die Art, wie man winkt (S. 16), Glockenläuten (S. 15), oder auch, was er an Wölfen gut findet,
      „Rudel“ – „Hammer oder? So eine Power in dem einen Wort!“ (S. 17)

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Und weiter, aus solchen Momentaufnahmen, in denen er Johann gegen die Schulter boxt, weil er der
Meinung sei, dessen jüngerer Freund winke falsch, zeigt sich in der Dynamik des Miteinanders dieser
drei jungen Männer, wer das Sagen hat (der stumme Suzi ist näher an Lada als an den etwas zurück-
haltenden, nerdigen (Rollenspiel) Johann, das wird sich aber erst etwas später im Verlauf der Handlung
zeigen. Dass aber auch er in einer Hierarchie der Halbstarken noch unter Lada steckt, zeigt der Abschluss
des Kapitels: Lada befiehlt mehr oder weniger, dass Suzi den Dreien einen ausgibt. Und „so kommt es
dann auch“ (S. 17 unten).
    Die Ambivalenz, die sich aus der Zeichnung der Figur von Cécile aufgrund des Fehlens zuverlässiger
Informationen (der Erzähler hält sich dort in weitgehend unwissender Distanz auf, wo er mit Ahnung
statt mit Gewissheit operiert) ergibt sich bei „Vor dem Fest“ erst einmal gar nicht. Lada scheint ein leicht
zu lesendes Blatt, und der/die Wir-Erzähler versorgen uns darüber hinaus mit konkreten Informationen
aus der Vergangenheit der Figur, die uns leicht folgern lassen: Wer mit 13 mit einem geklauten Auto
nach Dänemark abhaut, dem ist auch sonst alles zuzutrauen. Eben auch, dass er wirklich einen Weg
findet, Wölfe in die Uckermark zu holen (im Verlaufe der Handlung scheint sich zu bestätigen, dass
Wölfe jetzt da sind, sie reißen die Fuchswelpen).
    Und dennoch ist da doch mehr als nur die Beschreibung einer draufgängerischen Jugend. Dieser
Lada besticht auch durch Durchhaltevermögen (drei Mal versuchen, 200 km/h an einer augenscheinlich
dafür ungeeigneten Stelle zu fahren – dem gebührt ein wenig rührender Respekt auch), er stellt seine
Lebenserfahrung („Wie winkst du denn?“) in den Dienst der Freundschaft, wenn er Johann beizubrin-
gen sucht, wie man eben zu winken habe. Allerdings scheint nichts diese Gegenwart zu überschatten,
wie das der Fall bei Cécile und ihrer Vergangenheit ist, er ist insofern eindimensionaler und leicht zu
greifen, wiewohl man die Motivation seiner Handlungen – über das sich Beweisen hinaus – nicht nach-
vollziehen kann oder soll. Dass er den Touristen, die freundlich winken, den Mittelfinger zeigt, macht
ihn noch klarer in seiner Zeichnung als „Proll“, aber nicht wirklich unsympathisch. Es ist als sei man in
dem Augenblick ganz nah bei ihm und kann die kleine Verachtung gegen das Touristenboot durchaus
nachvollziehen. Das erzählende Wir hat dafür das nötige szenische Miteinander geschaffen, in dem wir
die drei Protagonisten nicht als bloße Skizzen aus literarisch auferlegten Eigenschaftsbündeln sehen,
sondern als – und da tut sich auch eine Parallele zu Fontane auf – realistische Menschen in realistischen
Lebenssituationen (wiewohl die See-Szenerie bei Stanišić stärker überzeichnet ist als die doch sehr viel
ruhiger gezeichnete Zugfahrt Céciles).
    „Auf Ladas Schulter fletscht ein Wolf die Zähne.“ Und das ist natürlich kein Zufall. Lada ist der
Wolf, auch Anführer des kleinen Rudels am See, Teil und Kopf einer Clique, die nicht nur Autos in
den See setzt, sondern im Verlauf der Handlung auch einen unschuldigen „Fremden“ (Adidas-Mann,
S. 252 ff.) verprügeln wird. Lada ist ein Bestandteil des Dorfes und gehört zum „Wir“ ebenso wie seine
beiden Freunde. Er wird bleiben in dem Dorf, und das ist für das Dorf wesentlich – dass nicht alle
verschwinden, dass gerade auch mal die Jüngeren in der Gegend bleiben.
    Dass das Wir – die Erzählinstanz – sich in der Szene am See der Milieusprache bedient, sich quasi
Lada andient, sprachlich sich identifiziert mit dem jungen Mann, und darüber hinaus in verschiedenen
Erzählmodi (etwa auch ganz figurenabhängig, nullfokalisiert) von den Jahreszeiten in der Gegend berich-
tet (S. 14 f.), dann wieder zurück in die homodiegetische Erzählung fällt (etwa, wenn wir durch Johanns
Augen auf seine Angst vor Lada blicken, einer internen Fokalisierung entsprechend), so haben wir hier
nun auf kürzester Distanz bereits die Bandbreite von Stanišićs Erzählen und Erzählung kennengelernt,
und in dieser Bandbreite eine auch weitaus größere Breite der erzählerischen Mittel (und Tonhöhen in
der Erzählerrede) als bei dem viel konzentrierterem „Cécile“.

II.3 Wir haben einen uneingeladenen Gast. Und wie bei allen uneingeladenen Gästen ist das doch so eine
Frage: War das Fest bis zum Augenblick des Auftretens des uneingeladenen Gastes ein hervorragendes Fest
mit gesungenen Liedern und getrunkenen Bieren und kein Kind ist beim Aufstehen an der Tischdecke
hängengeblieben und hat nicht die halbe Tafel inklusive aller Brathähnchen zu Boden gerissen, oder
war es aber, wie im Falle des letzten Festes derer von Blankenburg, ein deprimierend miserables Fest mit

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einem DJ aus Prenzlau, der im Laufe des Nachmittags eine halbe Stunde lang Wolfgang Petry aufgelegt
hatte, was nicht unbedingt das Schlechteste wäre, wenn er nicht die Singstimme selber übernommen
hätte, dieser Scheißkerl, Lada wollte ihn mitsamt DJ-Pult in den Tiefen See schmeißen, dann ist aber
eben der uneingeladene Gast erschienen, und Lada hat erstmal vergessen, warum er den DJ überhaupt
hochgehoben hatte und über Kopf hielt.
    Und allerseits: Stille. Wie im Western, ehrlich jetzt, wenn John Wayne in so ein Saloon ganz verstaubt
tritt, und auch alle anwesenden im Saloon sind verstaubt und hören auch sofort mit dem auf, was sie
gerade taten und die gucken John Wayne an, und es ist allen ganz klar: Entweder knallt es jetzt oder
eben nicht, sondern er wird umarmt, nur dass zum Glück nicht John Wayne der uneingeladene Gast
auf dem Fest derer von Blankenburg gewesen ist, sondern – Lada ließ den DJ wieder runter und strich
ihm die Haare sogar noch glatt, gedankenverloren –, sondern eine extrem seltsame junge Frau, wobei,
was heißt schon seltsam, wenn du dir zum Beispiel unseren Gastgeber, Poppo von Blankenburg, genauer
ansiehst, mitten im Sommer mit grünem Wollanzug unterwegs, grünem Hut und weißer, immerhin
weißer Feder, wie er, völlig verschwitzt und permanent außer Atem eben dieser, wie auch immer unein-
geladen gearteten Besucherin seines Anwesens, entgegeneilte mit einem Esprit, den man bei ihm das
letzte Mal so leidenschaftlich erlebt hatte, als der Dachstuhl seiner Villa in Flammen aufgegangen war.
Übrigens war es Lada damals, der als erster zur Stelle war und der die Löscharbeiten sofort delegierte,
als hätte er sein Leben lang nichts gemacht als Dachstühle barocker Villen zu löschen.
    Und da siehst du mal. Kaum taucht ein uneingeladener Gast bei uns irgendwo auf, schon werden wir
nervös, verlieren den Faden, erzählen von Gott und Welt und Dachstuhl, statt mal, wie unser Fontane,
erst mal schön zu beschreiben, wen man da zwischen den Trauerweiden überhaupt sieht, und wie sieht
der aus, den man da sieht.
    Also, hör gut zu jetzt, es ist nämlich auch ein wenig unwahrscheinlich, dass so jemand wie diese schöne
Frau überhaupt bei uns irgendwo auftaucht, aber wir müssen da jetzt gemeinsam durch, du hast ja auch
gar keine Wahl, es sei denn, du möchtest nicht wissen, wer hinter diesen Adjektiven steckt, zu denen nun
übrigens nicht nur Poppo von Blankenburg rennt, sondern auch unser Robert von Lada, und natürlich
ist das sofort auch ein Wettkampf, wer ist zuerst bei der schlanken Schönen, der nicht-so-schlanke Hüne
oder der durchtrainierte junge Mann, der schon seit dem Morgen als einziger der Anwesenden beim Fest
mit freiem Oberkörper herumlungerte und sich was von Wolfgang Petry wünschte.
    Ein bodenlanges, schwarzes Kleid, so bodenlang hat unser Boden hier seit ca. einem Jahrhundert
keinen Kleidersaum über sich streichen gefühlt, darüber ein Schalchen, so ein dünnes Ding, dass man
fast „Seide“ sagen möchte, aber woher sollen wir wissen, ob das Seide ist?
    Und so bleibt sie nun also stehen bei den Weiden, unwahrscheinlich, als sei sie dazwischen und aus
einer anderen Zeit oder Welt gekommen, gerader Rücken und die Frisur so, dass man denkt, mein lieber
Gesangsverein, das ist aber ein schöner Knoten!
    Knoten aller Knoten, und von zwei Seiten nähern sich die zwei Männer, der ältere grundlos zu viel
an, der jüngere mit gutem Grund zu wenig, und wir haben natürlich ein wenig übertrieben: die beiden
rennen nicht. Sie gehen gerade so schnell, dass das gerade kein Rennen ist. Der eine: adliger Nachfahr
– so viel dürfen wir wohl schon verraten – einer Familie, die schon zur Zeit, als die junge Frau geboren
wurde, unweit von hier gelebt hatte, der andere Nachfahr von Ulf, dem hier mal ein Acker gehört hatte,
kurzzeitig, als Dinge noch Leuten gehört hatten.
    Sie beide wissen nicht, wer sie ist. Wissen noch nicht, wie sich ihr Name – Cécile – anfühlt zwischen
Zunge und Zähnen, so wie sie in dem Augenblick nicht wissen, dass sie Teil einer Abitur-Prüfung sind
im fernen Hamburg im April 2019, und wenn sie es wüssten, wir sind uns sicher, wäre es ihnen egal.
    Sie möchten zur Schönen, sie möchten, dass sie ihren Namen selbst sagt, „haucht“, denkt Poppo
von Blankenburg, „sagt“, denkt Lada – denken wir, dass sie das denken, wir wissen es nur so ungefähr.
    Und dann sind die Männer da.
    Fürstenfelde, Brandenburg: Einwohnerzahl gerade. Plus ein uneingeladener Gast. Plus eine Figur
von Fontane. Und im letzten Schritt verlangsamt Lada doch, es ist ihr Blick, etwas erschöpft, etwas

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neugierig, der sich Poppo von Blankenburg widmet, ihm und nicht Lada, und wie das so ist mit Blicken
in erzählenden Geschichten, sie haben stets etwas zu bedeuten.
    Und hinter den Dreien, wie in fernen Zeiten, legt DJ Porree „Barfuß oder Lackschuh“ auf von Harald
Juhnke, weil Lada eben barfuß ist und Poppo von Blankenburg lackschuh ist, und die Grillen krakeelen
und die Stechmücken trinken und Poppo von Blankenburg sagt:
    „Wie darf ich Ihnen helfen?“
    Das natürlich ist eine super Frage. Sie impliziert eine Maid in Not, impliziert die Bereitschaft ihr zur
Seite zu stehen, ob sie nun aus Fleisch und Blut sei, oder aus Text und Literaturgeschichte, das ist uns
immer schon gleich gewesen, hier in Fürstenfelde.
    Und die Dame räuspert sich fein, lächelt noch feiner und sagt:
    „Habt ihr Aperol?“
    Wir haben Campari, wir haben keinen Aperol, aber das ist schon fast egal. Wichtig ist, die Dame
ist sofort beim „Du“, und als wolle sie das bekräftigen, zieht sie ihre Schuhe aus, lässt sie dort im Gras
liegen, aufs Wunderbarste achtlos, und sie bietet den Arm an – den linken Poppo, den rechten Lada,
und so laufen sie über die kleine Wiese hin zur Festtafel, und der Himmel ist rigoros blau, die paar
Wolken wie Buchstaben noch nicht zusammengefügt zu Wörtern, aus denen wir unsere Geschichten
erzählen, „Cécile“, sagt dann die junge Frau, und Fürstenfelde sagt: „Wir wissen das, wir wissen das.“
    Wir haben einen uneingeladenen Gast. Lada erzählt ihm, er habe mal Fontane in der Schule lesen
müssen und ganz geil gefunden habe er ihn. Poppo von Blankenburg erzählt dem Gast, Berliner hätten
ihm für seine Villa 400 000 Euro geboten, aber er wird nicht verkaufen, an Berliner schon mal gar nicht.
    Johann erzählt dem Gast, es geht doch immer darum, eine Welt zu schaffen, je geschlossener die
Welt ist, desto schöner sei es, wenn sie sich doch mal öffnet und jemanden hereinlässt – jemanden wie
sie – Cécile.
    Und je länger wir so erzählen und die Dinge verklären, wird uns klarer: Das müssen wir jetzt tun,
so lange wir Cécile erzählen, so lange lebt Cécile. Und wenn wir einmal aufhören, so wird die stille
Schöne aufstehen, sich bedanken für Campari-Spritz, und sie wird in ihre Geschichte zurückkehren,
„herb, trotzig und eigenwillig“ sich stürzen in kein gutes Ende für sich.

       Also erzählen wir.
       Wir erzählen Cécile von uns.
       Wie sagen „Wir“ und meinen auch sie, hier, jetzt, bei uns.
       Der DJ spielt DJ Bobo.
       Lada steht auf, schaltet die Anlage aus und setzt sich wieder.

Anschrift des Verfassers: Saša Stanišić, Kontakt über die Redaktion

Peter Lang                                                        Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXII (2022)
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